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Band 1 der Seelenmachtsaga Der Krieg zwischen Engeln und Teufeln ist vorüber, übrig geblieben sind nur Asche und Wut. Eine Wahrheit in den falschen Händen, und plötzlich hängt das Schicksal der Erde am seidenen Faden. Niranjana: Wenn es um das Los der Welten geht, ist kein Preis zu hoch. Taiowa: Auch nicht die eigene Freiheit? Wir müssen zahlen, damit alle anderen leben? Davon war nicht die Rede, als Vater uns Unsterblichkeit versprach. Zoé: Ihr beiden wollt die Opfer dieser Geschichte sein? Sagt das mal Zyan ... Oh, halt. Geht nicht. Er ist tot, weil ihr euch für Götter haltet. Aber ihr könnt bluten – und das werdet ihr. „Engel und Teufel neu interpretiert: Eileen Stortz entführt mit dieser Geschichte in eine Welt voller Magie, Gefahren und Geheimnisse!“ – Anastasia Glawatzki
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Zeit des Zwielichts
Band 1 der Seelenmachtsaga
Eileen Stortz
Impressum
Copyright © 2023 Eileen Stortz
Coverdesign: Jaqueline Kropmanns
Lektorat: Lauren Tebbe
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Eileen Stortz, c/o WirFinden.Es, Naß und Hellie GbR, Kirchgasse 19, 65817 Eppstein
E-Mail: [email protected]
ISBN Taschenbuch: 9783757946418
Für Mama und Papa, weil ihr immer da seid.
Leseempfehlung
Ab 16 Jahren
Dies ist der erste Band einer Trilogie. Die Geschichte wird in den Bänden Tag des Vollmonds und Nacht des Neumonds fortgesetzt.
Du musst zuvor kein anderes Buch der Autorin gelesen haben, kannst jedoch mit dem Prequel Himmelsherrscher beginnen, um die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge zu erleben.
Contentwarnung
(kann geringfügige Spoiler enthalten)
Einige der im Buch behandelten Themen könnten bei manchen Leser*innen persönliche Trigger oder Unwohlsein auslösen. Darunter fallen zum Beispiel: Kindesmisshandlung, Diskriminierung, explizite physische und psychische Gewalt, Achluophobie, Verstümmelung, Misshandlung von Tieren, Blut, Tod, Trauer, Verlust, Vergewaltigung (von Kindern/Jugendlichen), (versuchter) Suizid, Konsum von Alkohol und Alkoholabhängigkeit (am Rande), explizite sexuelle Handlungen
Bitte sei vorsichtig, wenn du dich mit diesen Themen unwohl fühlst!
Teil 1
Dunkles Erwachen
Prolog
Tag und Nacht
werden die Entscheidung bringen,
der Vater zweier Kinder,
die seine Macht empfingen.
Das Schicksal allen Lebens,
wird bringen ihren Tod,
wenn Mond und Sonne zaudern,
im Antlitz ihrer Not.
Das Zeichen ist am Himmel erschienen und schließt jeden Zweifel aus: Der Friede trügt. Das Geheimnis ist in Gefahr. Es ist nur eine Frage der Zeit, ehe die Massen an diesem Ort einfallen und das Ende der Welt, wie sie bekannt ist, einleiten. Dann wird sich alles entscheiden. Sie werden alles entscheiden. Meine Kinder, werdet ihr standhaft bleiben? Kann ich auf eure Stärke vertrauen oder wird eure Schwäche zu unserem Untergang?
Für mich heißt es nun abwarten, Kraft sammeln, mich vorbereiten. Wenn ihre Ketten gesprengt werden, fallen auch meine.
Kapitel 1: Botschaft aus der Unterwelt
Wie oft in den letzten Wochen stand Taiowa in dieser Nacht auf der Terrasse und starrte in den Himmel hinauf. Seine Arme stützte er dabei auf die steinerne Brüstung, die ebenso schlicht konstruiert war, wie der Rest seines Palasts.
Die Sterne bohrten ihr Licht durch die Schwärze des Universums, ohne ihr Einhalt zu gebieten. Der Vollmond dagegen weichte die Dunkelheit auf, tränkte Schwarz mit Grau. Er brachte die Sandkörner am Strand zum Glitzern und sprenkelte die Wellen des Ozeans, die sich weit unten gegen die flache Seite der Insel Angavu warfen.
Taiowa schnupperte Seeluft und seufzte. Wie gern würde er mal wieder etwas anderes riechen. Die Sehnsucht sandte Licht in das Gold seiner Augen, dass sie die Nacht vor seinem Gesicht erhellten. Er streckte eine Hand aus und tauchte sie ins Mondlicht. Glut glomm unter der hellen Haut seiner Arme und streute weiter, je fester er sich darauf konzentrierte. In seiner hohlen Hand verdichtete sie sich, brach aus und formte eine Kugel, die wie eine kleine Sonne zwischen seinen Fingern brannte. Doch kaum wuchsen ihre Strahlen, verblasste der Mondschein im Umkreis.
Taiowa schüttelte den Kopf, ballte die Hand zur Faust und löschte sein Licht. In letzter Zeit waren derartige Spielereien alles, wofür er seine Magie nutzte. Dabei konnte sie so viel mehr. Das bringt nur nicht viel im Exil. Sein Mundwinkel zuckte. Er sollte wieder hineingehen und sich schlafen legen. Es gab keinen Grund für Fernweh, keinen Anlass für trügerische Sehnsucht. Seine Insel im Himmlischen Ozean war wunderschön mit ihren steilen Klippen, grasbewachsenen Hängen und dem weißen Strand – und mit seinen Askari hatte er die beste Gesellschaft, die er sich wünschen könnte. Gegen das Gefühl der Nutzlosigkeit, das ihn ständig erfüllte, schuf all das dennoch keine Abhilfe.
Taiowa schlang den Morgenmantel fester um die Schultern und wandte sich zur gläsernen Terrassentür um. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Ein Knistern in der Luft. Etwas war anders. Immer war alles gleich, aber jetzt …
Er fuhr herum. In seinem Inneren erwachte sie. Sie war nie fort, schlief manchmal, doch rührte sich selten in letzter Zeit. Jetzt riss sie an seiner Kontrolle. Die Knie sackten ihm ein, und er knurrte. Er packte die Seelenmacht mit purer Gedankenkraft, stopfte sie zurück, wohin sie gehörte, als wäre sie ein verbotener Wunsch. Der Drang nach Vernichtung. Mit zitternden Händen umklammerte er die Brüstung. Sein Atem beruhigte sich. Dass sich Raay Jeevan derart zur Wehr setzte, war ihm in dreiundneunzig Jahren Exil nicht einmal untergekommen. Warum jetzt? Was hat das zu bedeuten?
Der Puls dröhnte ihm in den Ohren. Seine Augen zerfraßen die Nacht um ihn her fast wie Glühlampen. Er riss sie auf, um nichts zu verpassen, denn irgendwo musste dieses Gefühl herkommen, das ihn plötzlich heimsuchte. Es war wie eine elektrische Ladung, die seine Synapsen in Aufruhr versetzte. Sein Blick glitt über den Horizont, und Taiowa keuchte auf.
Eine Lichtsäule schoss das Firmament empor, erreichte den Mond und vereinte sich mit dessen Glanz zu einem blauschimmernden Rund. Lapislazuli und Mondlichtsilber. Niranjana! Taiowa wusste, was seine Halbschwester ihm mit ihrer Warnung mitzuteilen versuchte. Trotzdem schlug ihm das Herz härter gegen die Rippen, weil er den Schatten ihrer Präsenz spürte, der dem Strahl aus Macht und Mondlicht wie ein Echo folgte. So lange Zeit hatte er nichts mehr von der Herrin des Mondes gehört. Weil er zu einer Gefangenschaft verdammt war, ohne ein Verbrechen begangen zu haben. Nun gut, darüber ließ sich streiten. Diese Botschaft jedoch … vielleicht leitete sie das Ende dieser Ära und den Anfang einer verheißungsvolleren ein.
Eines nahm Taiowa sich fest vor, als er den Palast betrat, um seine Leute zu versammeln: Er würde nicht wieder im Hintergrund herumsitzen und alles vom Wohnzimmer aus beobachten. Diesmal würde auch er etwas zum Schutz der Macht beitragen – sollte sein Vater sagen, was er wollte.
Er riss die Tür auf und durchquerte den Wohnraum mit großen Schritten. Viel zu viel Zeit hatte er in diesem Zimmer verbracht und das Geschehen in den drei Welten verfolgt, ohne einzugreifen. Die Sitzecke mit ihren Sofas und Sesseln streifte er nur mit den Augenwinkeln. Dem kristallenen, hüfthohen Sockel nickte er im Vorbeigehen zu. Gleich würde der Würfel, der darauf ruhte, zum Einsatz kommen. Die Fliesen im Flur müssten kalt sein unter bloßen Füßen, aber Taiowa spürte die Kälte nicht, dafür sorgte sein Blut. Die Lichtmagie, die ihn durchströmte wie der Atem seine Lungen, widersetzte sich ihm niemals, sondern war ein Teil von ihm. Anders als die Seelenmacht, die in seinem Körper wohnte wie ein Parasit.
Taiowa stieg die breite Treppe hinauf, nahm immer zwei Stufen auf einmal. Sonst genoss er das Panorama seiner Insel, das man durch eine riesige Scheibe bewundern konnte. Heute schien es ihn zu verhöhnen. Ich bin dein Gefängnis. Du darfst mich nicht verlassen. Außer du möchtest schuld daran sein, dass die Welten untergehen.
Der obere Flur war schmaler als unten und fast vollkommen dunkel. Nur durch die länglichen Fenster in der Decke fiel das Licht des Mondes ein. Rechts und links gingen die Türen der einzelnen Schlafräume ab.
Taiowa stieß seine auf.
»Nyota!«
Sie lag nackt in seinem Bett. Ihr schwarzes Haar umgab ihr Gesicht wie eine Gewitterwolke, die vollen Lippen waren im Schlaf leicht geöffnet. Als er zu ihr trat und sich niederbeugte, regte sie sich.
»Es gibt Neuigkeiten. Wir müssen alle zusammentrommeln«, murmelte Taiowa dicht neben ihrem Ohr und streichelte ihr sanft mit dem Finger über die Wange. Sie blinzelte. Taiowa war immer wieder verzückt von dem Kontrast, den ihre goldenen Augen zu ihrer dunklen Haut bildeten.
»Was ist passiert?«, fragte sie mit ihrer samtenen Stimme; tief für eine Frau.
»Niranjana hat mir ein Zeichen gesandt. Wir müssen ins Darubin schauen.«
Langsam richtete Nyota sich auf. »Jetzt?«
»Teufel schlafen nicht nachts.« Taiowa griff nach ihrer Hand, um ihr aufzuhelfen. »Vielleicht solltest du dir etwas anziehen, während ich die Runde mache.« Vorsichtig strich er über ihre nach Pfefferminz duftende Haut.
Sie hob die Brauen. »Sollte ich wohl.« Mit einer fließenden Bewegung erhob sich die Engelin und entzog sich seinem Griff.
Er runzelte die Stirn »Unnahbar. Ich werde einfach nicht schlau aus dir.«
Schweigen erfüllte den Raum mit der hohen Decke, die in der Mitte in eine gläserne Kuppel mündete. An sonnigen Tagen flutete Licht durch die Scheiben der Kuppel und der Fensterfront, die zum Meer hinausging. Der kristallene Sockel mit dem Darubin funkelte dann in den Farben des Regenbogens, warf sie wider und sprenkelte das Parkett. In dieser Nacht schimmerte alles in silbrigem Schein. Nyota zog die Vorhänge zu. Sie bauschten sich auf wie Geisterwesen. Der Vollmond schien der Kuppel so nah, dass er jeden Moment auf sie herabzustürzen drohte.
Taiowa rechnete es seinen Leuten hoch an, dass sie auf eine Erklärung warteten und nicht wild durcheinanderredeten. Es waren zweiunddreißig Kriegerinnen und Krieger, noch ein wenig zerzaust und in hastig übergeworfenen Roben, doch sie standen wachsam um das Darubin herum. Das Mondlicht lag gespenstisch auf ihren dunklen Gesichtern und verwandelte ihre Mienen in lebendige Schattenrisse.
»Freunde, ihr wisst, ich würde euch nicht ohne guten Grund mitten in der Nacht um ein Treffen bitten. Ich habe vor etwa einer halben Stunde eine Botschaft von meiner Schwester erhalten.«
Ein Raunen ging durch die Versammelten. Aliou riss die Augen auf, Nyota biss sich auf die Unterlippe und Tijani brummte etwas in seinen grauen Bart.
Taiowa wandte sich an den hochgewachsenen Engel: »Tijani, wir müssen uns Gewissheit verschaffen.«
Ihr Ältester schlurfte aus dem Kreis, den die Krieger um den Kristallsockel gebildet hatten, nach vorn. Als Nabii trug er das Gewand eines Propheten, das schwer an seiner Gestalt herunterhing. Schweigend schlug er den roten Samt zurück und offenbarte das Darubin, das sich darunter verborgen hatte. Es war ein gläserner Würfel mit einem blauen Stein in der Mitte, der sich schwebend um sich selbst drehte. Tijani legte seine Hände um den Würfel und schloss die Augen.
Taiowa hatte seinen Kriegern nur winzige Fetzen der Seelenmacht übertragen – gerade genug, um ihnen die Unsterblichkeit zu gewähren. Trotzdem fiel es ihnen schwer, die Macht zu nutzen. Sie war störrisch, und es erforderte Konzentration und Schulung, die Kontrolle nicht zu verlieren.
Ein blaues Band entfloss Tijanis Händen und wehte dem sich drehenden Lapis entgegen. Als Nachfahre eines alten Sehergeschlechts hatte nur der Nabii die Fähigkeit, aus der Energie im Darubin ein Bild zu formen. Nicht einmal mithilfe der Seelenmacht könnte Taiowa das Glas kontrollieren. Er trat von einem Bein auf das andere. Die Magie benötigte ihre Zeit.
Tijanis Macht erreichte den Stein, der in seiner Drehung verharrte und aufleuchtete. Wie immer wurde der Raum dabei von bläulichem Licht erhellt, und im Würfel festigten sich Bilder, die auf die weißen Wände und Vorhänge übertragen wurden.
Taiowa kannte den Ort nicht, den das Darubin zeigte: Ein Feldweg in der Mittleren Welt, der aus einem kleinen Waldstück herausführte. Der Mond stand über den Wipfeln der Bäume, und weil der Würfel diesen an der Wand abbildete, war es, als gäbe es mit dem jenseits der Kuppel zwei. Beide waren sie voll. Zeigt es uns dieselbe Nacht? Das Glas konnte Vergangenes zeigen, doch Tijani suchte nach der Bedrohung, vor der sie heute gewarnt worden waren, und mithilfe der Seelenmacht konnte er kontrollieren, welcher Ort und Zeitpunkt oder welche Begebenheit sich ihnen offenbarte.
Vier Gestalten lösten sich aus dem Schatten der Bäume und wanderten mit seltsam schweren Schritten den Weg entlang. Ganz vorn lief ein junger Mann mit schwarzer Augenklappe und vernarbtem Gesicht. Man könnte ihn für einen Menschen halten, sogar für einen Engel. Aber an der Frau, die seine Hand hielt, klebten Nebelschwaden. Eine Nebelteufelin. Sie wandte sich halb zu den beiden um, die ihnen folgten. Ein drahtiger Mann nickte ihr zu. Flammen züngelten in seinem Haar, ohne sie zu verbrennen und warfen ihr Flackern auf die blasse Miene der Teufelin neben ihm. Diese strahlte eine Kälte aus, die Taiowa schaudern ließ. Krieger, Nebel, Feuer und Tod. Das ist die Einsatztruppe, die vor kurzer Zeit im Himmel war.
Fast hätte Taiowa den fünften Reisenden übersehen. Eine Teufelin, deren schwarzes Haar in alle Richtungen stand. Sie stapfte hinter den anderen her; ihre Schultern fielen nach vorn. Um ihren Körper herum zogen Schwaden der Finsternis.
Taiowa wollte Tijani gerade bitten, das Sichtfeld zu verschieben, damit sie die Bedrohung fanden, die seine Schwester gemeint hatte, da schob die Dunkelteufelin eine Hand in ihre Umhängetasche und wühlte darin herum. Von den anderen unbemerkt zog sie einen flachen, rechteckigen Gegenstand hervor. Tijani schloss die Augen und der Ausschnitt des Bildes vergrößerte sich. Es handelte sich um ein Buch, in dunkelblaues Leder eingeschlagen, der Titel aus silbernen Lettern gestanzt: Die Friedenschroniken.
Taiowa japste. Das ist unmöglich! Wie ist sie da herangekommen?
Die Dunkelteufelin schlug das Buch auf.
Mundilfari und sein Vermächtnis. Die Kapitelüberschrift stach in Taiowas Augen, doch der Text darunter verschwamm. Das kann nicht wahr sein. Das darf nicht wirklich passieren! Er schnappte nach Luft und sammelte sich, um nicht zu verpassen, was sie nachlas. Ihr Zeigefinger wanderte über die Zeilen und blieb an einem Wort hängen: Niranjana.
Taiowa erstarrte.
Zorn glomm in ihren Augen auf wie eine eisblaue Flamme.
Er umschlang seinen Oberkörper mit den Armen und atmete tief durch. Du musst wissen, was sie denkt. Es widerstrebte ihm, Raay Jeevan zu nutzen. Besonders jetzt, da sie geradezu auf eine Gelegenheit lauerte, ihm zu entkommen. Aber sie war sein größter Trumpf und wenn er Gewissheit wollte, brauchte er sie. Die Entfernung spielte keine Rolle, solange er die Dunkelteufelin vor sich sah. Ihr Bewusstsein war für ihn ebenso leicht zu öffnen wie für sie das Buch in ihren Händen.
Ein Schwall ihrer Emotionen schwappte ihm entgegen, aber er wehrte sie ab, bevor sie seinen Verstand infiltrierten. Ganz gleich, was sein Vater behaupten mochte: Er hatte seine Lektionen gelernt. Er betrachtete das Chaos in ihrer Seele nur von außen. Zorn, Angst und Hoffnung tummelten sich unter schwarzen Trauerschwaden. Taiowa griff mitten hinein. Der Schmerz zerrann ihm zwischen den Fingern, die Wut war greifbar. Und endlich vernahm er ihre Gedanken in seinem Kopf, als spräche sie zu ihm: Du hast gesagt, unser Ziel sei falsch gewesen, aber er ist nicht umsonst gestorben. Und ich werde seine Aufgabe vollenden.
Taiowa taumelte. Seine Macht hatte Tijanis gefunden und krallte sich hinein, als wollte sie mit ihr verschmelzen. Taiowa riss sie zurück. Mit einem Atemzug sog er Raay Jeevan in sein Innerstes und schob den Riegel vor. Verdammt, das war knapp. Er sollte viel öfter üben, sie zu kontrollieren.
Tijani nahm die Hände vom Darubin, und das Bild um sie herum verschwand. Das Licht erlosch, und der Raum wurde nurmehr von einem Mond erhellt. Der Nabii schnaufte schwer; Ruan trat zu ihm, um ihn zu stützen. Der Stein im Würfel drehte sich wieder, und Tijani schlug es in Samt ein.
»Die Friedenschroniken?«
»Aber das bedeutet, dass …«
»… Niranjana in Gefahr schwebt und mit ihr das gesamte Geheimnis.« Nyotas Brauen berührten einander fast.
»Diese Teufelin kennt Niranjana und ihr Geheimnis! Wenn sie dieses Wissen verbreitet, fliegt ihre Deckung auf«, keuchte ihre jüngere Schwester Sarabi und wickelte sich fester in ihre Decke.
»Das ist noch nicht alles«, brummte Taiowa, und die anderen verstummten. »Erkennt ihr sie nicht? Wir haben sie schon einmal durch das Darubin gesehen. Diese Teufel waren es, die das Mosaik zerschlugen.«
Aufatmen wogte durch die Askari wie eine Meereswelle. Ruan sprach aus, was alle dachten: »Dann wissen sie um die Gefahr, die davon ausging, und werden nicht nach Raay Jeevan suchen.«
Wenn es nur so wäre. Taiowa schüttelte den Kopf. »Sie haben das Mosaik nicht der Gefahr wegen zerstört, sondern, weil sie es dem Himmel nehmen wollten. Nicht, dass es ihnen viel gebracht hätte.« Er gestikulierte zu dem runden Beistelltisch in der Sitzecke hinüber. Darauf lagen die wichtigsten Teile des Mosaiks unter dem Staub des letzten Jahrhunderts. Einst hatte es den Thronsaal des Himmelspalastes in der Goldenen Stadt geziert. Vollständig ergaben die Steine eine Karte, die den Weg zur Quelle der Seelenmacht wies. Jahrzehntelang hatten sich Engel und Teufel im Kampf darum gegenseitig abgeschlachtet. Erst seine Vernichtung und die neue Himmelsherrscherin hatten vor kurzem ein Friedensabkommen ermöglicht. Taiowa hatte die Fragmente auf dem Tisch ausgelegt, um sich daran zu erinnern, welche Rolle er in all dem spielte. Er trug Verantwortung an dem Gemetzel. Er hatte in diesem Raum gesessen und zugesehen, wie Soldaten seinem Diebstahl zum Opfer fielen. Aber zuzusehen war anders als selbst zu erleben. Und die Zeit hatte sein Gewissen nach und nach stumpf geschmirgelt, wie Wasser, das sich durch Felsen höhlt.
Taiowa riss den Blick von den Bruchstücken des Mosaiks los. »Sie sind nicht das Problem. Die Teufelin mit dem Buch dagegen kann uns sehr gefährlich werden. Das ist Zoé Simons. Sie hat im Krieg ihre Liebe verloren.«
»Und sie wird nicht zulassen, dass man ihr auch ihren Lebenssinn nimmt.« Aliou rümpfte die Nase, dass seine Sommersprossen tanzten.
Taiowa nickte. »Mosaik hin oder her. Sie will Raay Jeevan, vielleicht aus Rachedurst, vielleicht aus Selbstgerechtigkeit. Und ihr wisst, was geschieht, wenn jemand mit den falschen Absichten die Quelle findet. Wir müssen Niranjana helfen.«
»Rede keinen Unsinn. Wenn du die Insel verlässt, wird die Gefahr nur umso größer.« Tijani runzelte die Stirn.
»Ich kann nicht ewig hier herumsitzen und nichts tun!« Taiowa schritt zwischen seinen Leuten auf und ab wie ein Löwe im Käfig. Goldene Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht, und er blinzelte sie fort. »Das habe ich schon viel zu lange.«
»Das ist der Preis, den du zahlen musst und …«
»… den ich nie bezahlen wollte.« Feuer brannte unter seiner Haut. »Ich werde nicht hierbleiben, wenn meine Schwester in Gefahr ist, und auch euch hält die Macht schon zu lange hier fest. Niranjana und ihre Mondwächter leben auch nicht von allem abgeschottet. Wir sind Krieger, zum Kämpfen geboren. Und wenn es einen Kampf gibt, gehen wir ihm nicht mehr aus dem Weg.«
Aliou nickte heftig. »Gut gesprochen, mein Freund. Wir sollten uns mit deiner Schwester zusammenschließen. Wir werden Zoé finden und unschädlich machen, bevor es umgekehrt passiert.« Seine grünen Augen funkelten. Einige Askari wiegten ihre Köpfe hin und her, andere schüttelten sie. Taiowa lächelte seinem besten Freund zu. Aliou verstand, wie nutzlos er sich fühlte. Ihr Prophet nicht.
»Seid vernünftig! Ich weiß selbst, wie schwer es fällt, hierzubleiben. Aber es ist besser so.«
»Wir werden uns aufteilen.« Taiowa würde diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. »Tijani wird mit dem Großteil der Truppe hierbleiben, die Insel bewachen und uns mithilfe des Darubin im Auge behalten.«
»Sobald du bei Niranjana bist, werde ich dich nicht mehr sehen können. Auch sie ist eine mächtige Seherin, und ihre Energie stößt meine ab. Es sollte nicht nötig sein, dich daran zu erinnern, und es sollte nicht nötig sein, mit dir zu diskutieren, warum du diese Insel um keinen Preis verlassen darfst!« Tijanis Falten zitterten, und er stieß Ruans Arme von sich, um sich aufzurichten.
Taiowa hob die Hände. »Wir sind nicht auf uns gestellt, und das Kämpfen haben wir lange nicht verlernt. Niemand wird es wagen, uns zu nahe zu kommen, und wenn doch, dann wird ihm das höchstens ein kurzes Vergnügen sein.«
Tijani blitzte ihn aus verengten Augen an. »Wozu brauchst du einen Propheten, wenn du es ohnehin vorziehst, ihn zu ignorieren? Immer mit dem Kopf durch die Wand, aber wehe, wenn am Ende alles zugrunde geht. Ich lasse mir die Schuld nicht zuschieben, ist das klar?« Er hatte den Zeigefinger erhoben und schüttelte nach jedem Satz den Kopf.
»Ich übernehme die volle Verantwortung«, versprach Taiowa.
Der Nabii schnaubte. »Wenn du nur wüsstest, was das ist, Junge. Unsterblich und trotzdem ein Kindskopf … Kaum zu glauben.« Tijani verstummte, als Aliou ein Prusten unterdrückte. Er zerrte sein Gewand zurecht und schritt erhobenen Hauptes aus dem Zimmer.
»Dem Himmel sei Dank tut sich etwas. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wann er dir zuletzt die Leviten gelesen hat.« Aliou tätschelte Taiowas Schulter. »Ich hatte schon Sorge, er sei vielleicht krank.«
»Ich weiß nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass er übertreibt, aber ich denke trotzdem …« Er seufzte und sah hinauf zum Vollmond, der über ihnen hing wie ein Vorwurf. »… wir haben keine andere Wahl.«
Auszug aus den Friedenschroniken:
Mundilfari und sein Vermächtnis
Es ist seit jeher ein Geheimnis, wo der Ort liegt, an dem die Seelenmacht zu empfangen ist. Nur wenige Eingeweihte hatten das Glück, von einer Ausbildung Mundilfaris, des Wächters der Macht, zu profitieren. Es waren diejenigen, von denen man Großes erwartete.
Doch schon bald wurde klar, dass Raay Jeevan der Welt ebenso viel Schaden wie Nutzen brachte, und Mundilfari entließ seine Schüler. Die meisten von ihnen verbrauchte die Macht auf die Dauer. Raay Jeevan zerfraß und verließ ihre Körper und kehrte an den Ort ihres Ursprungs zurück.
Nur zwei von Mundilfaris Auserwählten sind stark genug, einen Teil davon in sich zu tragen. Dass der Wächter diese beiden der Macht unterwies, ist kein Zufall; es sind seine eigenen Kinder. Seine Tochter Niranjana zeugte Mundilfari mit der Teufelin Jamini. Taiowa stammt von der Mutter Moisha, die ein Engel war. Raay Jeevan macht die Halbgeschwister und ihr Wissen zu einer Waffe, vor der die Welt geschützt werden muss.
Nachdem sie ihre Anteile der Macht in sich aufgenommen hatten, bildeten die Kinder Mundilfaris ihre eigenen Allianzen, doch je näher die Neugierigen ihnen kamen, desto mehr gerieten sie in Bedrängnis.
Schließlich zogen sich die beiden aus dem Geschehen zurück und verblassten zu Legenden, so wie die Macht, die sie angeblich in sich tragen. Mit ihnen gingen die Portale zur Unterwelt und bedeutsame Teile des Mosaiks verloren. Ereignisse, die altvergessene Feindschaft aus ihrem Schlummer rissen und einen Krieg zwischen Engeln und Teufeln begründeten.
Kapitel 2: Unruhe
Niranjana durchmaß den Torbogen der Mondhöhle und trat hinaus auf den Dorfplatz von Chandra Daiya. Durch Risse im roten Gestein drang das Glimmen der Lava an die Oberfläche. Zusammen mit den Funken, die sich hoch oben von der Höllendecke lösten und den Feuerherden, die auf manchen Felsen züngelten wie vergessene Lagerfeuer, hüllte es die Kulisse in dämmriges Licht. Hinter Rauchfahnen wuselten Gestalten vor dem Stallgebäude hin und her oder verschwanden mit Karren voller Getreide zwischen den Lehmhütten. Die Teufel des Dorfes gingen emsig ihrer Arbeit nach – so wie jede Nacht. Manchmal beneidete Niranjana sie.
Rechts und links des Höhlentorbogens standen zwei ihrer Chanpahra, die ihr Allerheiligstes vor Eindringlingen schützten. Das zumindest hatte sie angenommen, aber jemand hatte sie getäuscht. Irgendwem war es gelungen, den mondgesegneten Augen ihrer Wächter zu entgehen, sich Zugang zur Chandra Kshidra zu verschaffen und das Buch zu stehlen. Ob es das Mädchen selbst, oder ein anderer gewesen war, spielte dabei kaum eine Rolle. Der Diebstahl resultierte jedenfalls in einer Katastrophe.
Niranjana nahm einen zitternden Atemzug. War es richtig, ihnen diese Warnung zu senden? Sie musste sich zusammenreißen, um ein Schaudern zu vermeiden. Die Unruhe vor ihren Wächtern zu verbergen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Ihr Herz flatterte wie ein Schmetterling im Dornenbusch. Aber nicht einmal die Chanpahra durften wissen, was genau auf dem Spiel stand. Ihre Fragen marterten Niranjanas Verstand.
Ich weiß noch nicht, wie ernst es ist, gab sie ihnen zu verstehen. Ich hatte eine Vision. Es könnte sein, dass jemand mich bedroht. Das reichte. Ihre Wächter waren wach. Sie summten in ihrem Schädel wie ein Bienenschwarm. Entschlossen rang Niranjana ihren Aufruhr nieder. Wenn wir früh genug eingreifen, können wir ihr Einhalt gebieten. Ja, sie würde sich mit Zoé auseinandersetzen müssen; ihr klarmachen, welche Gefahr ihr Handeln barg. Dann würde ihre Warnung umsonst gewesen sein, und alles würde weitergehen, irgendwie. Niemand musste die Wahrheit erfahren, niemand die Konsequenzen erleiden.
Niranjana war halb über den Platz gelaufen, da wurde Chandra Daiya von Unruhe ergriffen. Stimmen hallten aus den unbefestigten Straßen des Dorfes, Johlen und Applaus.
Die Krieger, Herrin. Ravin richtete seine silbernen Augen in die Richtung des Lärms. Eine Teufeltruppe wankte aus einer der Gassen zwischen den Häusern hervor. Ihre Gesichter waren schmutzig und von Schnitten übersät, Rüstungen und Schilde von zerfledderten Rissen geprägt, und nicht wenige Klingen waren stumpf, blutig oder gar zerbrochen. Sie traten Niranjana gegenüber und neigten die Köpfe.
Eldur, der mit seinen vierzehn Jahren der Jüngste von ihnen war, humpelte nach vorn. Riesige Klauen hatten seine Hosen aus feuerfestem Tairna-Leder zerfetzt und die Sehne seines Langbogens entzweigerissen. »Wir haben es getötet, wie Ihr uns aufgetragen habt, aber dann kamen noch mehr von den Biestern.« Auf seiner knochigen Schulter tanzte Tandri hin und her. Das Feuerwesen sah aus wie eine weiße Flamme, etwa so groß wie der Kopf ihres Trägers. In seinem Schein warf die Narbe, die sich über Eldurs Schläfe zog, einen unregelmäßigen Schatten auf seine Haut.
»Wir mussten fliehen.« Karunas blaues Haar bildete ein Knäuel. Ihr Schwert steckte mit heiler Klinge in der Scheide. Es war aus Akshay, dem unzerstörbaren Metall, das nur Kriegerteufel bearbeiten konnten.
»Nun, das kennen wir ja schon.« Niranjana seufzte und wandte sich an Hervir, einen kahlköpfigen Racheteufel, der den Trupp leitete. »Du weißt, was zu tun ist: Schicke einen Boten nach Sainik Shastra. Wir brauchen dringend neue Waffen.« Hervir stampfte in Richtung des Haupthauses, das neben der Mondhöhle lag und mit seinen drei Stockwerken das höchste Gebäude in Chandra Daiya war.
»Ihr anderen geht sofort zu Ura. Und bitte hört auf ihre Anweisungen. Keine verfrühten Entlassungen.«
Zusammen schlurften die restlichen Teufel in Richtung Heilerhaus davon, wo Todesteufelin Ura ihre medizinischen Wunder vollbrachte. Nur Eldur blieb zurück. Niranjana hatte nichts anderes erwartet. Seit seine Mutter bei einem Kampf gegen ebenjene Ungeheuer getötet worden war, die er heute bekämpft hatte, wich er kaum von ihrer Seite. Obwohl er – wie die anderen – nicht wusste, dass sie Raay Jeevan in sich trug, kannte er doch einige ihrer Fähigkeiten, und so ließ er seine Wunden auch jetzt von ihr heilen. Blaue Fäden der Macht sprossen aus ihren Fingern und schlossen den Schnitt an seinem Bein, als wäre er nie gewesen. Es war gefährlich, sich zu offenbaren, doch Eldur würde ihr niemals Unterstellungen machen, sie niemals verraten.
»Niranjana?« Seine Augen glommen wie Sterngranat.
»Ja?« Sie fuhr über eine Schramme an seinem Oberarm, die unter ihrer Berührung verschwand.
»Ich möchte ein Chanpahra werden. Nicht irgendwann. Bald.«
Niranjana seufzte innerlich. Sie wusste, wie lange dieser Wunsch bereits in ihm gedieh und wie fest seine Wurzeln in Eldurs Seele verankert waren. Zu fest, sie herauszureißen, schon gar nicht mit Worten. Er war jünger als alle anderen Mondwächter bei ihrer Einweisung gewesen waren, doch sie nickte. »Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Ich denke, du bist so weit.«
»Ach!« Für einen Moment strahlte er und sah mehr denn je aus wie der Junge, der er war. Schnell rang er sein Grinsen nieder.
»Wir sollten uns einen Termin für den Aufnahmeritus überlegen.«
Eldur nickte. »Ja, Herrin.«
»Aber jetzt geh erst einmal etwas essen. Du wirst deine Kräfte brauchen.«
»Ja, Herrin.« Mit flatternden Haaren, die sich wie ein Nest aus hellbraunem Feuerflachs um seinen Kopf rankten, stürmte das Kind davon, um sich an Benitas Feuerstelle mit einer warmen Mahlzeit zu versorgen. Niranjana sah ihm stirnrunzelnd nach. Noch schlimmer wäre es, ihm seinen Wunsch nicht zu gewähren.
An diesem Tag wälzte sich Niranjana in ihrem Bett von einer Seite zur anderen. Ihre Träume kamen in Fetzen, trieben vorüber, ehe sie sie fassen konnte: Höllenungetüme kämpften gegen Teufel, darüber waberte eine dunkle Wolke wie eine Warnung. Dann wandelte sich das Bild: ein blonder Mann, strahlend wie die Sonne und aufgedreht wie zehn wilde Wolfswelpen. »Ich bin unterwegs, Schwesterlein«, sagte er immer wieder, und seine Gefolgsleute, die Askari, wuselten herum wie Ameisen und trafen Vorbereitungen für eine lange Reise.
Niranjana fuhr aus dem Schlaf. Ihr Zimmer ganz oben im Haupthaus war klein, und durch das Fenster flackerten die Lichter der Hölle. Das rote Gestein der Wände war nicht mehr zu erkennen. Kalenian hatte den Raum dunkelblau angestrichen und silberne Sternbilder eingezeichnet, damit sie den nächtlichen Himmel nicht missen musste, obwohl er von hier unten nicht zu sehen war. Das Kunstwerk funkelte lebendig im Schein des Feuers, das Licht und Schatten in anmutigem Spiel darüber tanzen ließ.
Sie legte eine Hand auf ihre schmerzende Stirn. Was hatte das zu bedeuten? Taiowa durfte nicht herkommen. Seit sie ihre Warnung ausgesandt hatte, hatte sie wieder häufiger an ihren Halbbruder gedacht. Er war schon immer impulsiv und voller Tatendrang gewesen, stets derjenige, der die Strenge des Vaters missachtet und seinen Willen durchgerungen hatte. Trotzdem würde er sein Exil nicht verlassen, weil sogar er wusste, dass das nur zum Untergang führen konnte. Ihre Träume mussten von der tief sitzenden Sorge rühren, die sie nie ganz losließ und durch die jüngsten Ereignisse an die Oberfläche getrieben war. So muss es sein. Von Visionen habe ich ein für alle Mal genug!
Sie erhob sich aus dünnen Laken und verblassenden Traumbildern, gähnte und rieb sich die Augen. Egal, was sie bedrückte, die Hölle brauchte sie stark und ungebrochen. Das durfte sie niemals vergessen. Mit einer Bürste fuhr sie sich durchs Haar, trennte Silbersträhnen von Dunkelbraun. Sie zog das nachtblaue Kleid über und schob die beiden Mondsicheln zusammen, die ihre Gürtelschnalle bildeten, als sich die Nachricht mit ihren Gedanken verwob: Zoés alte Truppe ist auf dem Weg zum Portal.
Natürlich. Niranjanas Puls beschleunigte sich. Erst jüngst war wieder ein Portal entdeckt worden. Immer mehr Teufel aus der Mittleren Welt strömten in die Hölle und hofften auf ein neues Zuhause. Zoés Freunde hatten die Unterwelt vor Kurzem gefunden – und versprochen, zurückzukehren. Hoffentlich ist sie auch dabei.Oder sollte ich mir das Gegenteil wünschen?
Niranjana betrachtete ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel, der im Badezimmer über dem Waschbecken angebracht war. Die dunkelblauen Augen glänzten, und Netze von Lachfältchen sprossen in ihren Winkeln, da sie die Lippen zu einem Lächeln verzog. Ihr Teint offenbarte selten Blässe. Andere mochte sie täuschen können, sich selbst jedoch nicht. Hinter Stäben aus Macht und Selbstkontrolle lauerte die Angst, verfolgte jeden ihrer Schritte und lachte, wenn sie strauchelte. Das Gespräch mit Zoé war unausweichlich und kam schneller als erwartet. Es war ihre Pflicht, dem Mädchen klarzumachen, dass Hass und Zorn sie nicht weiterbringen würden. Dass Raay Jeevan sie und alles um sie herum zerstören konnte.
Niranjana rang um Ruhe, bevor sie ihrem Chanpahra antwortete: Behalte Zoé im Auge. Sie darf die Gruppe nicht verlassen. Bring sie zu mir.
Es dauerte einige Minuten, bis der Krieger auf den Befehl reagierte. Sie nahm den Reiterbogen von der Wand, um ihn sich wie den Köcher mit Silberpfeilen umzuhängen. Als sich die Gedanken des Chanpahra endlich wieder bündelten, verkrampfte sich ihr Griff um den Bogen.
Sie sind jetzt in der Hölle. Zoé ist nicht unter ihnen.
Auszug aus den Friedenschroniken:
Geschichte der Hölle
Bereits vor der Bevölkerung der Unterwelt existierten irdische Teufelsarten. Es handelte sich um naturverbundene Stämme, deren Macht aus den Elementen der Erde entstand.
Eines ihrer ursprünglichen Dörfer trägt den Namen Deshandhera, was mit Heimat der Nacht zu übersetzen ist. Diesem Ort entstammt die Teufelin Niranjana, deren Gene ihr große Affinität zur Nacht und ihren Elementen bescheren.
Durch politische Umstände war jene Teufelin gezwungen, sich in der Hölle niederzulassen. Sie nutzte ihre Macht dazu, die chaotischen Zustände der Dörfer einer gewissen Ordnung zu unterziehen. Mit ihrer Hilfe entstand ein System der gegenseitigen Unterstützung. Niranjana verbreitete außerdem die Sprache ihres Heimatvolkes, die im Rahmen des unterweltlerischen Neubeginns großen Zuspruch fand.
Die Unterwelt vermochte ihr jedoch nicht den nötigen Rückzugsort zu verschaffen, und gewisse Fraktionen trachteten noch immer nach Krieg. So beschloss Niranjana, die Hölle von den mittelweltlerischen Teufelskolonien abzusondern, um die Ordnung des Systems und ihr Exil zu sichern.
Mithilfe ihrer Wächter und über den Verlauf mehrerer Jahre gelang es ihr, einige Portale mit Runenmagie zu verschleiern. Andere löschte sie aus der Mittleren Welt, indem sie Aufzeichnungen vernichtete oder die Erinnerungen einzelner Teufel manipulierte.
Allerdings ist Runenmagie eine brüchige Angelegenheit. Ein verwischtes oder verblasstes Symbol reicht aus, den Zauber zu vernichten und das Portal wieder freizugeben.
Eine Zeit lang lebten die meisten Dörfer in Freundschaft oder Neutralität zueinander, aber je mehr Teufel aus der Mittleren Welt eintreffen, umso stärker gerät Niranjanas System ins Wanken.
Kapitel 3: Schicksalsreise
Zoé wartete mit aufeinandergepressten Lippen, bis auch die Letzten von ihnen zwischen den Bäumen verschwunden waren. In rascher Folge wippte sie auf den Fußballen vor und zurück, in Gedanken noch immer beim Abschied von ihren Freunden.
»Bist du sicher, dass du uns nicht begleiten willst?«, hatte Ramona gefragt und sie viel zu verständnisvoll angesehen.
Zoé hatte die Lider gesenkt, um ihr schlechtes Gewissen zu verbergen. »Ich kann noch nicht dorthin zurück. Die Hölle wird mich immer an mein Scheitern erinnern. Was in der Todesgrotte geschehen ist …« Dieses Argument zog.
»Du weißt, es war nicht deine Schuld, dass es nicht funktioniert hat.« Drake tätschelte ihre Schulter.Seine Worte gaben dem Zorn Nahrung. Der Todesteufel, der den Tod besiegt hat. Ein Dreckskerl! Ihre Hand schloss sich wie von selbst um die lange Narbe auf ihrem rechten Unterarm, tastete über die Kanten, als wollte sie prüfen, dass sie verschlossen war.
»Wenn du dich umentscheidest, weißt du, wo du uns findest.«
Das wusste sie.
»Du kannst jederzeit zu uns stoßen.«
Das würde sie nicht.
»Wir könnten auch … mit dir hierbleiben.«
Auf keinen Fall!
»Es geht mir gut. Ich brauche jetzt Zeit für mich, und ihr braucht eure neue Zukunft.« Jetzt, wo der Krieg vorbei ist. Sie hatte nicht einmal geweint bei diesen Worten, hatte sich fest in die Innenseite ihrer Wange gebissen, als sie heraus waren. So viele Jahre lang hatten sie Seite an Seite gekämpft, gelebt – überlebt. Nun, da sie einen Zugang zur Hölle gefunden hatten, brach eine neue Ära an. Sie versprach ein Zuhause, in dem ihre Existenz kein Geheimnis war und wo sie ihre Fähigkeiten nicht zu verstecken brauchten. Sie konnte ihnen nicht den Frieden nehmen, den sie sich so sehr wünschten. Zoé hasste es, zu lügen. Sie hasste es, das Vertrauen ihrer Freunde zu missbrauchen, und sie hasste es, nicht einfach mit ihnen zu gehen und ein neues Leben zu beginnen. Aber sie war den ganzen Tag wachgelegen und hatte mit diesem Entschluss gerungen. Für sie gab es keinen anderen Weg.
Allein stand sie nun in der Nacht und schlang sich die Arme um den Körper, um das Zittern zu dimmen. Das Geräusch einer Träne, die auf die Karte in ihren Händen tropfte und vorwurfsvoll im Papier versickerte, riss sie aus ihren Gedanken. Ich bin auch allein ganz! Energisch wischte sie sich mit dem Saum ihres Jackenärmels über das Gesicht und zog die Nase hoch. Von den anderen war weder etwas zu hören noch zu sehen. Sie mussten in ihrem neuen Leben angekommen sein. Zoé hatte einen anderen Weg im Sinn. Die Karte, die Jorgenthal ihr gegeben hatte, war alt; die Informationen darauf von unschätzbarem Wert.
Wenn du wüsstest, Jorgenthal. Zoés Mundwinkel zuckten. Er hatte ihr die Karte nur anvertraut, weil er sich darauf verlassen hatte, dass sie im Falle ihres Scheiterns keine Rolle mehr spielen würde. Die Genugtuung lenkte Zoé von ihrem Schmerz und den Schuldgefühlen ab, die nach wie vor an ihrem Herzen ziepten. Was sie tat, war nicht falsch. Es war das einzig Richtige.
Ihr dunkelgrauer Roller war alt, klapprig und vermutlich verkehrswidrig. Wahrscheinlich war er deshalb nie gestohlen worden. Sie schwang sich auf den Sattel, den Rucksack auf dem Rücken und den schwarzen Dolch am Gürtel, und startete den Motor. Er hustete eine Rauchwolke in die Nacht. Ihr Weg führte sie zunächst durch einen Wald, dann durch den beschaulichen Ort Eppengrund. Sie sah nicht zu der Tür mit der Nummer 49 hinüber, als sie daran vorüberfuhr. Die Narben an ihrem Unterarm ziepten; ihr war, als hörte sie Hundegebell. Sie gab Gas. Nur weg hier.
***
»Was hast du, Orcus?« Er trat ans Fenster und sah in sein Spiegelbild: faltenzerfurchtes Gesicht und fahle Haut. Seine Augen waren wie Löcher in einem Totenschädel und durchdrangen die Dunkelheit ohne Mühe. Durch die Spiegelung seines eigenen Antlitzes fuhr sie vorüber. Ein Lächeln spielte um die dünnen Lippen von Jonathan Joachim Joseppo Jorgenthal. »Sieh einer an. Zoé Simons lebt noch. Haben die anderen sie also doch noch gefunden, bevor es zu spät war.« Er zwinkerte dem Hund zu, der schwach mit dem Schwanz wedelte. »Seltsam, sie scheint keinen Wert darauf zu legen, mich zu besuchen.«
Zoés Roller verschwand hinter dem nächsten Haus. Jorgenthal wandte sich um und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Das von Staubfäden umsponnene Bücherregal und die rostige Ritterrüstung in der Ecke sah er nicht einmal mehr an. Ächzend ließ er sich in seinen abgewetzten Sessel fallen.
Der Schmerz kam von innen. Er kannte ihn besser als die Freunde, die er nicht hatte. Er wusste, dass dies keine Altersbeschwerden waren. Jorgenthal war alt. Er war lange vor dem letzten Krieg geboren worden, doch es war nicht das Alter, das ihn verzehrte. Es war dieselbe Kraft, die ihn am Leben erhielt. Sie fraß ihn auf, jeden Tag ein bisschen mehr; ließ ihm keine Wahl, keine Möglichkeit, sie zu kontrollieren. Nacht und Tag hatte er nach einer Lösung gesucht, doch sie hatte ihn verraten. Nur einmal hatte sie ihm wahrlich gehorcht: Als er die Friedenschroniken in seinen Besitz gebracht hatte.
»Orcus«, hatte er in jener Nacht gekrächzt, dem Tod schon näher als dem Leben. »Suche jemanden, der verloren hat, was er liebt. Einen Teufel, der bereit ist, durch die Hölle zu gehen, um es zurückzuholen. Das Buch wird ihn zu uns führen, und wenn es klappt, wird er uns retten.«
Der Hund hatte getan, was Jorgenthal ihm aufgetragen hatte. Das Mädchen hatte getan, was Jorgenthal ihm aufgetragen hatte. Der Plan war gescheitert, die Rettung dahin. Jorgenthal wurde weiterhin von derselben Macht zerfressen, von der er sich einst alles erhofft hatte. Und irgendwann, wenn er genug durchlitten hatte, würde der Todesteufel, der den Tod besiegt hatte, sterben.
***
Der Gegenwind fuhr scharf durch ihr kurzes Haar und ließ sie frösteln. Der September neigte sich dem Ende, und die Nächte wurden zunehmend kühler. Mit einer Hand zog Zoé die schwarze Lederjacke vor der Brust zusammen, die sie zuvor umflattert hatte wie dämonische Flügel.
Hätte sie die anderen einweihen sollen? Sie schüttelte den Kopf, dass ihr der Fahrtwind abwechselnd in die Ohren rauschte. Ihre Freunde waren nicht die Richtigen für ihr Vorhaben. Sie dachten anders, verstanden sie nicht und würden eher versuchen, ihr alles auszureden als sie zu unterstützen. Selbst wenn sie ihnen erzählen würde, was sie nun wusste, wären sie weiterhin davon überzeugt, es wäre besser, Raay Jeevan aufzugeben, statt Niranjana zur Rechenschaft zu ziehen.
Zorn köchelte ihre Eingeweide herauf. Sie krallte die Finger fester in die abgenutzten Griffe am Lenker des Rollers. Es konnte der uralten Teufelin auch nicht schwergefallen sein, Drake und Ramona nach ihren Vorstellungen zu manipulieren. Aber nicht mehr lange. Wenn Niranjana die Macht in sich tragen konnte, warum dann nicht andere Teufel mit besseren Absichten? Sie musste sie nur finden, Verbündete und den Ursprung der Seelenmacht. Ein Kinderspiel. Sie schnaubte.
Die Feldlandschaft um sie herum wurde auf einmal von winzigen Häusern abgelöst. Fast so, als entstünde die Kulisse erst mit ihrer Anwesenheit, stahl sie sich still und leise um sie wie ein Szenenwechsel im Traum. Ein Dorf mit Fachwerkhäusern, Ställen und grünen Weiden. Klobige Straßenlaternen verbreiteten ihr schummriges Licht, und Zoé fühlte sich in einen alten Film versetzt. Melancholie drohte sie zu überfallen.
Sie bremste, und der Roller kam knatternd zum Stehen. Sie wollte die Stille hören, die zu diesem Ort passte. Tief atmete sie die Landluft ein und hob den Blick zu den Sternen. Dunkle Ewigkeit; das Funkeln zu fern, als dass es ihr etwas anhaben könnte. Schön. Perfekt beinahe, als wäre Zyan bei ihr und sie noch ganz. Der Schmerz kroch durch das Licht der nächsten Laterne auf sie zu und erfasste kalt ihre Haut. Wut bäumte sich in ihrer Brust auf.
»Lass mich in Ruhe!« Ihr Schrei zerstörte die Stille und bohrte sich in die Idylle um sie herum. Sie zersprang wie dünnsplittriges Glas. Dunkelheit stieg aus dem Asphalt empor und fraß das spöttelnde Licht. Ich bin auch allein ganz. Der Schmerz ließ nach. Die Nacht schloss sich um sie wie ein Kokon, gab ihr Kraft, während ihr das Heraufbeschwören des schwarzen Nebels gleichzeitig welche entzog.
Zoé wollte Gas geben und dieses heuchlerische Dorf auf schnellstem Wege hinter sich lassen. Aber was war das? Ein Schatten, dunkler als sie selbst. Er verharrte an einer Häuserwand und – starrte sie an? Sie kniff die Augen zusammen. Blaues Glühen. Mit einer einzigen Bewegung war Zoé von ihrem Roller gesprungen, auf den Schatten zu. Er blieb, wo er war, musterte sie. Seine Form wurde deutlicher. Eine Katze. Schwarz und dürr, das Fell struppig und glanzlos. Doch ihre Augen waren wach und von einem strahlenden Blau, das Zoé noch nie bei einem Tier gesehen hatte. Sie stand ganz ruhig da, machte keine Anstalten, davonzulaufen.
»Du weißt, dass ich dir nichts tue, oder?« Zoé ging in die Hocke und streckte die Hand aus. Sie schluckte. Dasselbe schwarze Haar, dieselben blauen Augen, genauso heruntergekommen, genauso allein. »Komm her. Das willst du doch schon die ganze Zeit. Warum bist du sonst noch hier?«
Die Katze schnurrte. Sie löste sich von der Häuserwand und kam durch die Schwaden der Dunkelheit auf sie zu, fand Zoés kalte Finger und strich unaufhörlich schnurrend um ihre Hand. Ihr Fell war trotz ihres Zustands weich und der magere Körper darunter warm und voller Energie. »Komm mit mir.« Zoé kraulte die Katze am Kopf. »Wir sind nicht verloren.«
Die Katze blickte sie an, folgte ihr und sprang mit einem geschmeidigen Satz hinter den Lenker des Rollers. Herausfordernd starrte sie Zoé an, als wollte sie sagen: Worauf wartest du noch?
Zoé folgte der Hauptstraße des Dorfes über eine schmale Brücke und hielt sich weiter nach Osten. Sie hatte die Karte inzwischen so oft studiert, dass sie sich ihr Bild immer vor Augen rufen konnte. Der Fluss, den sie gerade überquert hatte, machte hinter der Brücke einen Knick und verlief neben der unbeleuchteten Straße. Sein Plätschern und das Knattern des Rollers waren die einzigen Geräusche weit und breit. Sie durchbrachen die Nacht wie Donnergrollen. Viel zu laut. Doch die Katze schnurrte vor sich hin, als gäbe es nicht einen Grund für Sorge.
Gleich würden sie ankommen; dort hinten sah man es schon: ein paar kleine Laternen am Eingang zu einem weitläufigen Parkgelände. Ein schmiedeeisernes Tor unterbrach die meterhohe Hecke, die das Anwesen umgab. Privatgelände, aber kein Wohnhaus – Zoé hatte gut recherchiert. Der Park hatte einst einem wohlhabenden Makler gehört, der in dem kleinen Bauerndorf aufgewachsen war, das sie zuvor durchquert hatte. Nach seinem Tod war das Grundstück dann in den Besitz ebenjener Gemeinde gelangt.
Zoé fuhr noch ein Stück um die Hecke herum, stellte ihren Roller im Schatten des Dickichts ab und tätschelte seinen Sattel. Ob ich dich wohl jemals wiedersehe? Sie spähte zwischen die Blätter, fand nur Dunkelheit. Hatte der ehemalige Besitzer von dem Geheimnis gewusst, das sein Park hütete? Die Menschen aus dem Dorf sicherlich nicht.
Durch ihre dunkle Kleidung getarnt schlich Zoé zurück zum Tor. Die Katze stolzierte hintendrein. Nichts deutete auf die Anwesenheit eines anderen hin, und auch ihre neue Begleiterin blieb ruhig. Vorsichtshalber umgab sich Zoé trotzdem mit etwas mehr Dunkelheit, als die Nacht zu bieten hatte. Sie rüttelte an dem Tor, doch es ließ sich kaum bewegen, geschweige denn öffnen. »Also klettern …«
Die Katze setzte sich und beobachtete mit gespitzten Ohren, wie Zoé tief Luft holte und die Eisenstäbe mit beiden Händen packte. Jetzt zahlte sich ihre dreijährige Soldatenausbildung aus. Mit geübten Bewegungen zog sie sich am Gitter empor. Ihre Füße fanden keinen Halt mehr, und so hangelte sie sich Stück für Stück mit den Armen voran. Dann erfassten ihre Hände die eiskalten Spitzen des Gitters. Mit Schwung zog sie sich hoch und, ohne an den Zacken hängen zu bleiben, hinüber. Sie minderte die Wucht des Aufpralls, indem sie in die Hocke sank. Kurz verharrte sie in dieser Position, spähte umher und lauschte in die Nacht. Aber alle Vorsicht schien umsonst; hier war wirklich niemand.
»Komm, Kleine«, lockte sie die Katze, die immer noch auf der anderen Seite saß. Sie erhob sich und schlängelte den knochigen Körper mühelos durch das Gitter. Zoé schmunzelte, als sie sich schnurrend an ihre Beine schmiegte. »Weiter jetzt.«
Ab hier gab die Karte keine genauen Auskünfte mehr, nur eine Richtung, doch der spitz zulaufende Obelisk war hinter einigen Bäumen schon zu sehen. Zoé steuerte darauf zu, umrundete sauber angelegte Beete und weiße Engelsstatuen; nackte Babys mit Pausbäckchen und Harfen in den Händen. Sie kicherte. »Sehr authentisch.«
Der Kiesweg führte an stillgelegten Springbrunnen und aufwendig frisierten Rhododendronbüschen vorbei. Als spürte sie, dass sie ihrem Ziel immer näher kamen, überholte die Katze Zoé und lief voraus; unter einem eisernen Torbogen hindurch auf eine runde Rasenfläche. Dort ragte der Obelisk wie ein drohender Zeigefinger über ihnen auf, und die Katze blieb stehen.
»Wir sind fast da.« Ein Schauer rieselte über Zoés Rücken, als sie sich der schwarzen Granitsäule näherte. Sie hob sich deutlich von all den anderen Kunstwerken des Parks ab, mied deren Idylle und störte das Bild der unnatürlichen Ordnung, die an diesem Ort herrschte. Dunkle Ranken wucherten daran empor und umschlossen das Mal wie krallenbewährte Finger.
Zoé umrundete die vierkantige Säule, bis sie endlich fand, wonach sie gesucht hatte: Halb verdeckt von Brombeerranken war etwas in den Stein gemeißelt. Zoé schob die Zweige beiseite. Paith stand da, unterstrichen von einer schnörkeligen Linie. »Komm jetzt, Katze. Bleib dicht bei mir.« Die Schwarze schlängelte sich um ihre Beine und schnurrte. Zoé starrte auf die Schrift, und als gäbe es keine andere Antwort auf die Fragen in ihrem Kopf, hoben sich ihre Hände wie von selbst. Sie legte die Spitzen ihrer Zeigefinger in die schlangengleiche Rille; eine an den Anfang, eine ans Ende. Dunkelheit wölkte aus ihren Fingern, floss in die Kerbe im Stein und füllte sie aus. Sie dehnte sich im Anthrazit der Säule, erklomm ihre Arme, durchdrang ihre Haut. Ein Kribbeln jagte durch ihre Glieder, als die Finsternis sie erfasste, sie flutete, bis kein klarer Gedanke mehr möglich war, und ihr Körper zerfiel.
»Sie ist böse! Sie wollte mir wehtun!«
»Zoé? Ist das wahr? Habe ich dir nicht gesagt, dass du damit aufhören musst?«
»Aber ich wollte ihr nicht wehtun! Ich hab doch nur –«
»Das reicht. Gott bestraft Mädchen wie dich.«
»Fräulein Peggie, bitte! Ich kann nichts dagegen tun.«
»Das liegt daran, dass du vom Teufel besessen bist.«
»Nein, nicht! Ich gebe mir doch Mühe. Bitte! Au! Neeein!« Die Tränen sind heiß auf meinem Gesicht. Nicht so sehr jedoch wie der Schmerz. Das Mädchen, das ich angeblich verletzen wollte, hat sich längst verzogen. Dabei ist Fräulein Peggie die Einzige hier, die Spaß daran hat, anderen Schmerz zuzufügen.
Der Gürtel hinterlässt mit jedem Schlag pure Glut auf meiner Haut. Immer wieder saust er herab, presst mir den Atem aus den Lungen und heiseres Schluchzen aus der Kehle, während die Heimleiterin mir den Teufel austreiben will. Nicht zum ersten Mal. Und später in der trügerischen Wärme unter der klumpigen Bettdecke weiß ich, dass es auch nicht das letzte Mal gewesen ist. Aber ich kann doch nichts dafür. Die Dunkelheit kommt einfach so aus mir heraus, wenn ich vergesse, mich zu kontrollieren, wenn ich traurig bin. Oder wütend. Doch sie tut niemandem etwas, hat noch nie jemandem wehgetan. Im Gegenteil: Manchmal glaube ich, sie ist das einzig Gute auf dieser Welt.
Meine Augen brennen, aber es sind keine Tränen mehr übrig, die im Kissen versickern könnten. Ich presse meine Nase hinein. Würde ich ersticken? Wenn ich einfach so liegenbliebe?
Ich weiß nicht, warum ich anders bin. Ich weiß nicht, warum ich sehe, wenn das Licht aus ist. Warum mir die hellen Lampen, die Straßenlaternen und die grellen Scheinwerfer der Autos auf den Straßen mehr Angst machen als die nächtlichen Schatten, die die anderen Mädchen so fürchten. Ich weiß nicht, warum ich nachts kaum ein Auge zutue, aber beim Morgengebet auf der Kirchenbank einschlafe. Ich weiß nicht, warum meine Eltern mich im Stich gelassen haben. Warum ich hier sein muss, wo ich jeden Tag zu spüren bekomme, wie anders ich bin.
Erschöpft lasse ich mich nun doch zur Seite rollen, atme die kühle Luft des Schlafsaales ein. Und zucke zusammen, sobald mein wunder Rücken das Laken berührt. Fräulein Peggie sagt, Gott hat mich nicht gewollt. Ich sei besessen, eine Ausgeburt der Hölle. Ich liege auf dem Rücken und spüre den Schmerz, schüre das Feuer und starre in die Finsternis, die mir mehr offenbart, als das Licht es je könnte.
Vielleicht bin ich krank, aber sie bringt mich nicht zum Arzt. Sie will nicht, dass ich gesund werde. Immer wenn sich meine Augen verdunkeln, wenn ich vor dem Schein der Sonne zurückweiche, oder sich die Dunkelheit schmeichelnd um mich sammelt, mich tröstet und mir ihre Wärme schenkt, kommt sie, um mich zu züchtigen – wie sie es nennt. Es sei notwendig, sagt sie. Ich sei böse und gefährlich.
Ich sitze allein – wie immer – habe die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und starre blicklos geradeaus; hinweg über die Schüssel voll klebriger Hafergrütze, vorbei an den anderen Mädchen. Sie meiden mich – wie immer. Es ist mir gleich. Ich brauche niemanden, außer mich selbst und meine Dunkelheit, die jetzt ständig bei mir ist, auch dann, wenn niemand sie sehen kann. Manchmal füllt sie nur meinen Kopf, manchmal mein Herz; flüstert Trost und spendet Frieden.
Fräulein Peggie hat meinen Geburtstag nicht vergessen. Dann bereitet es ihr die meiste Freude, mich zu quälen. »Zoé, Kind«, sagt sie. »Heute ist es wieder ein Jahr her, dass deine Eltern die richtige Entscheidung trafen, dich hier abzugeben. Wollten sich nicht mit dir herumschlagen. Nun haben wir dich am Hals.«
Normalerweise antworte ich nicht auf Fräulein Peggies Tiraden. Ich habe gelernt, sie zu ignorieren. Doch sie spricht sonst nie von meinen Eltern. Ich weiß gar nichts über sie. »Haben sie mich persönlich hierhergebracht? Wann?« Meine Stimme ist klar und zittert nicht. Ich habe längst keine Angst mehr. Der Gürtel wirkt freundlicher mit der Zeit; der Schmerz erträglicher. Seit die Nacht mir hilft, ihn auszuhalten.
»Sie haben dich abgegeben, kaum dass du geboren warst. Schon damals warst du das hässlichste Kind, das ich jemals gesehen habe. Sie wussten wohl, dass in deinem verseuchten Herz der Teufel wohnt.«
»Wie hießen sie? Wie sahen sie aus?« Ich habe diese Fragen schon oft gestellt. Vielleicht bekomme ich heute endlich meine Antworten. Die anderen Mädchen haben aufgehört zu essen. Sie beobachten uns, belauschen jedes Wort. Mir doch egal.
Fräulein Peggie schenkt mir ein nikotingelbes Grinsen. »Hässlich, wie du es bist.« Sie bläst mir stinkenden Atem ins Gesicht.
»Was haben sie gesagt?« Ich sehe ihr starr in die wässrigen Augen.
»Dass du es nicht verdienst, eine Familie zu haben. Dass du erfüllt bist von Dunkelheit. Dass wir dafür beten sollen, dass du niemandem etwas zu leide tun wirst.«
»Du lügst.« Mein Ton ist weiterhin ruhig. Ich glaube ihr kein Wort.
»Du wagst es, an meiner Ehrlichkeit zu zweifeln? Mich der Lüge zu bezichtigen? Unehrlichkeit ist eine Sünde.« Es gelingt ihr nicht so gut wie mir, ihre Emotionen zu verbergen. Ihr Atem geht schneller, die Wangen sind rot.
»Bei dir bin ich mir nie sicher, ob es Unehrlichkeit ist oder bloß Dummheit.« Meine Worte hängen im Raum wie Gewitterwolken. Ich genieße das Knistern, erwarte den Sturm. Die anderen haben die Luft angehalten und starren mit riesigen Glasmurmelaugen zwischen mir und Fräulein Peggie hin und her. Unter ihrer Haut brodelt es. Beinahe rechne ich damit, dass Rauch aus ihren Ohren quillt, und muss mich anstrengen, ein Grinsen zu unterdrücken.
»Mitkommen«, presst sie schließlich hervor. Nur dieses eine Wort, aber meine Nackenhaare stehen stramm, als ich ihr aus dem Speisesaal folge. Ihr Büro kenne ich gut. Auch den Tisch aus blankem Holz, das sich kalt anfühlt auf nackter Haut. Den Gürtel kenne ich besser. Und als sie danach greift und mein Rücken hart wird, ich die vertrauten Narben vor meinem inneren Auge brennen sehe, halte ich inne. Diesmal tue ich es mit Absicht. Ich habe noch nicht vollständig gelernt, es zu kontrollieren, aber es wird besser. Wann immer sie mich einsperrt, ohne Essen und Trinken, damit ich mich von meinen Sünden reinwasche, übe ich. Und ich werde Tag für Tag stärker. Dunkle Wolken steigen aus dem Boden unter meinen Füßen empor und kriechen meine Beine herauf.
»Wie kannst du es wagen?!« Ihre Augen funkeln. Das war ein Schritt zu weit. Blitzschnell bewegt sich ihre Hand, weg vom Gürtel, hin zum Schrank. Zieht einen Gegenstand heraus, den ich nur aus Büchern kenne. Der Lauf der Pistole ist genau auf mein Gesicht gerichtet. Fräulein Peggie bebt, doch nicht vor Furcht. »Hör sofort auf damit, Teufelsbrut!« So siegessicher. So von ihrer Macht überzeugt. Aber diesmal gewinnt sie nicht.
»Nein.« Spricht die Dunkelheit aus mir? Oder ist es mein eigener Verstand, der mein Schicksal besiegelt? Für einen Moment ist sie sprachlos. Damit hat sie nicht gerechnet. Aber der Lauf ihrer Waffe bewegt sich kein Stück. Mein Herz springt gegen meine Rippen wie ein Gefangener gegen die Stäbe seines Käfigs. Wieder und wieder. Es gibt kein Entrinnen.
»Ich tue es!« Ihre Augen werden größer, ihre Hände zittern.
»Okay.« Die Nacht umhüllt mich. Ich habe keine Angst. Nicht so viel, wie sie bereuen wird.
Sie drückt ab.
Auszug aus den Friedenschroniken:
Raay Jeevan
Der Name Raay Jeevan bedeutet in einer geläufigeren Sprache in etwa Macht der Seele. Was genau sich hinter diesem Begriff verbirgt, kann kaum jemand mehr sagen. Überlieferungen der alten Zeit ist zu entnehmen, dass die Macht einem uralten Ort entspringt, an dem sie von einem unsterblichen Ritter bewacht wird.
Oft wird die Farbe Blau mit Raay Jeevan in Verbindung gebracht, aber ob die Vorstellung einer Art blauen Nebels Wissen oder reiner Fantasie entstammt, ist nicht erwiesen. Es heißt weiter, Raay Jeevan ermögliche Gewalt über Gedanken und Gefühle anderer und auch über Krankheit und Tod.
Selbst als Legende dient sie zum Gegenstand allgemeinen Erstrebens – von einigen Parteien wird sie gar als Religion anerkannt. Und je stärker das Bemühen ist, etwas zu verbergen, umso gewaltiger wird das Verlangen, es sich dennoch zu eigen zu machen.
Vor langer Zeit besaß die Goldene Stadt des Himmels ein Mosaik, eine Karte, die einen Weg zur Quelle der Seelenmacht zeigte. Auch Kompasse mit jener Fähigkeit sollen einst existiert haben. Sie sind jedoch ebenso verschollen wie die wichtigsten Fragmente des Mosaiks, das inzwischen völlig zerstört worden ist.
Kapitel 4: Bis hinter den Horizont
Auf dem Hof, der zwischen dem Palast und einer grasüberwachsenen Hügelkuppe eingebettet lag, herrschte geschäftiges Treiben. Zehn der Askari würden Taiowa auf seine Reise begleiten. Die Übrigen ließen es sich nicht nehmen, bei den Vorbereitungen zur Hand zu gehen, und so glich die Insel heute einem dicht bevölkerten Ameisenhügel.
Trotz des Schattens, der von Anbeginn über ihrem Vorhaben schwebte, und Tijani, der nicht aufhörte, Warnungen in seinen Prophetenbart zu grummeln, strahlte Taiowa. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Gesang hallte so laut über die Szene, dass einige der gischtweißen Himmelsseemöwen zeternd das Weite suchten. Vorbei an den kalkweißen Mauern und dunkelbraunen Ziegeln seines kleinen Palastes flogen sie auf den Himmlischen Ozean hinaus. Vielleicht würden die Winde sie bis an die Ufer der Goldenen Stadt wehen; sie war gar nicht so fern von Angavu. Und schon bald würden die Adler den Möwen folgen. Taiowas Herz hüpfte auf und ab wie ein Kind. In fliegender Hast fuhr er mit einem Tuch über seinen Sattel, um ihn zu entstauben.
Während die anderen Askari bereits ihre Adler aufzäumten und das Gepäck für die Reise in den Satteltaschen verstauten, gab Aliou seinem stählernen Zweihänder den letzten Schliff. Er strich mit dem Daumen über die Klinge. Blut quoll über das Eisen, und sein Grinsen spiegelte sich darin. »Autsch. Perfekt.«
»Bring dich nicht um, bevor wir aufgebrochen sind.« Nyota schnaubte und drückte ihm ein Stofftaschentuch in die Hand, damit er nicht den ganzen Boden besprenkelte.
»Ihr geht damit viel zu leichtfertig um.« Tijani rümpfte die Nase, als er sie bei einer seiner Runden über den Hof passierte.
Taiowa hievte den frisch polierten Sattel vom Bock in seine Arme. »Jetzt sei doch nicht so ein Schwarzseher, Tijani. Es ist ein wunderbar sonniger Morgen.« Zur Bekräftigung seiner Worte schoben die Strahlen der Sonne auch die letzten Wolken beiseite und ergossen sich über den Hof.
»Soll mich das jetzt überraschen, Sonnengott …?«, grollte der Nabii und schlang seine Kutte fester um den Körper.
Taiowa stimmte die nächste Strophe an und marschierte außer Hörweite und hinein in den schattigen Stall. An den Abteilen der Adler vorbei, ging er ganz nach hinten zu Akos’ Box. Der Greif streckte seinen Kopf über das Gatter.
»Na, alter Freund? Bereit für eine weite Reise?«
Akos schüttelte sein dunkelbraunes Gefieder und klackerte mit dem Schnabel. Sobald Taiowa in seine Reichweite getreten war, durchsuchte
er ihn mit akribischer Sorgfalt nach Leckereien. »Gleich, mein Guter.«
Taiowa legte ihm den Sattel auf, direkt hinter die Stelle, an der das Federkleid auf Hals und Kopf vom goldenen Fell abgelöst wurde. Akos schlug immer rascher mit dem Schwanz und scharte abwechselnd mit seinen ungleichen Füßen. Vorn waren es Adlerkrallen, hinten die Pranken eines Löwen. Unter hektischem Geflatter rangierte er seine Flügel in dem Geschirr, das man eigens für ihn angefertigt hatte.
»Braver Junge.«
»Taiowa? Bist du so weit?« Aliou musste sich endlich genug Finger abgesäbelt haben. Grinsend kam er durch die Stallungen geschlendert und trug zusätzlich zu dem Zweihänder auf seinem Rücken noch einen weiteren bei sich.
Taiowa schob den Riegel zurück und trat aus der Box. »Du ahnst nicht, wie sehr ich das vermisst habe.« Seine Hände kribbelten. Mit Schwung entriss er die Waffe ihrer Hülle, und unter der Haut seiner Finger breitete sich glühendes Leuchten aus. Warm und vertraut ruhte sie in seinem Griff. Die geschliffene Klinge warf Taiowas Licht wider, malte staubflirrende Muster in die Morgenluft.
Aliou schmunzelte. »O doch, das weiß ich ganz genau.«
Taiowa betrachtete seine Waffe noch einmal lächelnd, bevor er sie zurück in die Scheide schob und sich ebenfalls auf den Rücken schnallte. »Aliou?« Mit dem Gurt auf seiner Haut war auch das Gewicht auf seinen Schultern zurück. Er biss sich auf die Unterlippe, wusste, was er sagen wollte, aber nicht so recht, wie.
»Ja?« Sein Freund musterte ihn mit erhobenen Brauen.
»Ich … ich fürchte, ich wirke leichtsinnig auf euch. Aber … ich weiß um die Gefahr, die uns erwartet. Tijanis Warnungen sind nicht spurlos an mir vorübergegangen.« Er sprach schnell und laut, so, als wollte er sich selbst mit seinen Worten überzeugen. »Ich kenne das Risiko, das unser Aufbruch bedeutet. Wenn wir aber bleiben, könnte das noch viel schlimmere Folgen haben. Wenn sie fällt, ist die Macht nicht mehr sicher. Ich tue das nicht nur, weil sie meine Schwester ist oder weil ich nicht mehr herumsitzen und die Unendlichkeit abwarten will. Ich tue das, weil die ganze Welt in Gefahr ist. Und ich trage eine Verantwortung dabei, die ich nicht ignorieren kann.« Er ließ die Hände sinken, die er zuvor gewrungen hatte, ohne es zu bemerken, presste die Lippen aufeinander und schielte zu Aliou hinüber.
»Du tust das Richtige und ich vertraue dir. So wie wir alle. Du kennst doch Tijani und seine Schwarzseherei.« Aliou klopfte ihm auf die Schulter.
Wann immer er seine Krieger in unbekannte Gefilde führte, sie ein weiteres Mal dazu ermutigte, ihre Leben zu riskieren, haftete ihm die Schuld wie eine Klette im Genick. Natürlich hatte er dafür gesorgt, dass ihnen die Zeit nichts anhaben konnte, doch das machte sie nicht unverwundbar. Er nickte Aliou aufatmend zu, griff nach Akos’ Zügeln und folgte seinem Freund nach draußen.