Hinter blutroten Schatten - Gereon Krantz - E-Book

Hinter blutroten Schatten E-Book

Gereon Krantz

0,0

Beschreibung

Ein Kommissar mit Todessehnsucht auf dem Dach eines Berliner Hotels — ein grausamer Mord am S-Bahnhof Alexanderplatz. Tattoos, Rote Grütze und Polka im Untergrund — die skurrile Suche nach einem unberechenbaren Serienkiller führt die Ermittler Harder und Vogt bei ihrem zweiten Fall an die Grenzen des Wahnsinns, und zu allem Überfluss müssen sie auch noch einen Todgeweihten der besonderen Sorte beaufsichtigen. Welches perfide Spiel treibt der Therapeut, der im Hintergrund die Fäden zieht? Nachdem sie in "Unter pechschwarzen Sternen" schon einmal gemeinsam auf Mörderjagd gingen, müssen die beiden Kommissare sich nun ein weiteres Mal zusammenraufen, um einem weiteren gefährlichen Psychopathen das Handwerk zu legen. Vogts messerscharfer Verstand wird auf eine harte Probe gestellt. Währenddessen tappt Harder mit reichlich Sarkasmus bewaffnet durch den Nebel seines eigenen wirren Geistes. Da scheint nur noch der Biss in eine Chili zu helfen, um einen klaren Kopf zu behalten …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 470

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Gereon Krantz

Hinter blutroten Schatten

Kriminalroman 

Prolog

Der Tod war überall.

Man entdeckte ihn nicht gleich in dem regen Treiben, das schon frühmorgens auf dem Alexanderplatz herrschte. Auf den Straßen drängte sich das übliche Stop-and-go: Mittelklassewagen mit genervten Angestellten, die zu spät zur Arbeit kamen, Taxis, die es immer eilig hatten, Rollerfahrer, die sich durch die schmalsten Lücken schlängelten. An der Haltestelle warteten Studenten auf die Tram, rauchten und schrieben WhatsApp-Nachrichten. Bauarbeiter mit gelben Helmen und orangen Westen besserten die Fahrbahn aus. Geschäftsleute in Anzügen, das Handy am Ohr, hasteten mit Aktenkoffern zu ihren Terminen. Touristen mit Berlin-Kappen posierten vor der Weltzeituhr für Erinnerungsfotos.

Und mitten unter ihnen der Tod.

Man hörte ihn nicht gleich in dem Gehupe und Motorengebrumm, dem Geklingel der Radfahrer, dem Rattern des Presslufthammers, den Gesprächsfetzen und dem Gelächter. Man roch ihn nicht gleich in dem Gemisch aus Parfüm, Deo und Schweiß, Baustaub, Smog und Zigarettenrauch.

Aber er war da.

Er leuchtete in den Scheinwerfern der Autos, türmte sich auf in den Bussen, dröhnte und schnaufte in den Lastwagen. Er summte in den Oberleitungen der Tram, klirrte in den Scherben einer zerbrochenen Flasche, an die jemand mit dem Fuß stieß, schwebte in den Abgasen der Autos und den Dämpfen des heißen Straßenbelags an der Baustelle.

Sogar im Fernsehturm, der hinter der S-Bahn-Station in den Morgenhimmel ragte, war er erkennbar. Verheißungsvoll schimmerte er in der silberglänzenden Kugel.

So viele Arten, zu sterben. So viele Arten, zu töten.

Es fiel schwer, sich zu entscheiden.

1

 

Der Wichser hatte ihn in Stücke gesprengt.

Domi hätte kotzen können. Er war auf dem fettesten Kill Streak seiner Karriere gewesen. Die ersten Runden waren nicht besonders gelaufen. Mal hatte ihn ein Sniper aus dem Hinterhalt erwischt. Mal war seine Munition gerade in dem Moment alle gewesen, als er einem Gegner direkt vor die Mündung gerannt war. Aber dann, nach drei, vier Stunden, war er heiß gelaufen. Sturmgewehr, Schrotflinte, 9mm Automatik — mit jeder Wumme nichts als Volltreffer. Wie Rambo auf Speed war er über die Map gehetzt, hatte Feinde rechts und links niedergemäht. Run and gun, Baby! Im Nullkommanichts hatte sein Kill Count die 50 geknackt, war auf 60 gestiegen, auf 70, immer weiter.

Kill um Kill.

Wie im Rausch.

Er hatte nicht mehr bloß auf seinem Bett vor der Konsole gesessen, auf den Flachbildschirm gestarrt und Knöpfe auf dem Controller gedrückt. Er war in dem Spiel drin gewesen. Micha hatte ihm über das Headset Positionen durchgegeben, ihn gewarnt, wenn einer ihm auflauerte, ihm den Rücken freigehalten. Der perfekte Support.

100 Kills. 120. 130.

BAM! BAM! BAM!

Um ihn herum waren Köpfe wie Knallerbsen zerplatzt.

Drei Kills noch und er wäre die Nummer Eins der Bestenliste geworden. Drei Kills bis zur Multiplayer-Legende.

Plötzlich war Micha weg gewesen, seine Anweisungen und Warnungen im Kopfhörer verstummt. Das hatte Domi durcheinandergebracht. Für einen Moment hatte er nicht aufgepasst. Und genau in dem Moment war dieser Noob gekommen, so ein verdammter Freizeitzocker, der das Spiel nicht mal ernst nahm, sondern einfach nur wild um sich schoss. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht und hatte ihn — und sich gleich dazu — mit einer Frag Grenade zur Hölle geschickt.

KAWUMM!

Das war es gewesen mit seiner Legende.

Drei verdammte Kills.

Fucker!

Seit er aus seiner Bude raus war, lief in seinem Kopf das Replay der Kill Cam, spulte zurück, startete von neuem. Den ganzen Weg über den Alex, zwischen den Touris, Pennern und Business-Spacken hindurch, hatte es ihm gezeigt, wie die Granate ihn zerfetzte, ihn und den Rekord, an dem er so knapp vorbeigeschrammt war. Mit jeder Stufe auf der Treppe zur S-Bahn hatte es ihm sein Scheitern vor Augen geführt, und auch jetzt, auf dem zugigen Bahnsteig, ließ es ihm keine Ruhe. Wieder und wieder sah er sich selber verrecken. Sein Tod in der Endlosschleife.

Über ihm wölbte sich das Bogendach. Werbeplakate priesen das neueste Smartphone an. Blaue Anzeigetafeln verkündeten die baldige Ankunft oder Verspätung der Züge. Gelbrote S-Bahnen rauschten in die Station, hielten und rauschten wieder hinaus.

Domi bekam davon kaum etwas mit.

Er sah sich in der Hausruine, in der er draufgegangen war. Steinhaufen. Zerbrochene Balken. Eingeschlagene Fenster.

Ein alter Sack mit grauem Vollbart blätterte auf einer der Metallbänke in seiner Zeitung. Eine schlanke Blondine in rotem Kostüm tippte neben dem Ticketautomaten auf ihrem Handy herum. Ein junges Pärchen studierte die Fahrpläne in den Aushangkästen.

Domi sah nur eins: Seinen Körper, von der Detonation auseinandergerissen. Fliegende Gliedmaßen. Spritzendes Blut.

Alles in Zeitlupe.

Ein Rollkoffer ratterte irgendwo hinter ihm entlang. Lautsprecherdurchsagen schepperten durch die Halle. Stimmen verwirrten sich ineinander. Gelächter wallte auf.

Aber all das ging unter in dem gewaltigen Knall der Explosion.

KAWUMM!

Ein Schwindel durchfuhr ihn und für einen Moment schwankte er.

Das war alles viel zu echt.

Er rieb sich seine brennenden Augen. Vielleicht hätte er sich doch ein paar Stunden hinhauen sollen. Aber er hätte eh nicht pennen können. Nicht nach geschätzten drei Litern Energydrink. Er trank einen Schluck aus der schwarzen Dose. Der künstlich süße Geschmack erinnerte ihn immer an Hustensirup. Die Kohlensäure prickelte auf seiner Zunge. Wenn man eine Weile nur auf diesem chemischen Treibstoff lief, kam man sich irgendwann vor wie ein Zombie, dem man einen Elektroschocker in den Arsch gesteckt hatte, um ihn auf den Beinen zu halten. Zwischendurch bekam man Herzrasen und Schweißausbrüche. Aber ohne das Zeug ging jetzt gar nichts mehr. Sein Hirn lief auf Standby. Er brauchte irgendwas, das ihn durch den Tag brachte: Sechs Stunden Berufsschule. Sechs Stunden auf einem harten Holzstuhl. Ihm tat sowieso schon alles weh: Rücken verspannt, Nacken steif, weil er vorgebeugt gesessen hatte, dicht am Bildschirm, hochkonzentriert; Finger verkrampft, weil er sie so fest um den Controller geklammert hatte. Und als wären die unbequemen Stühle nicht schlimm genug: Sechs Stunden Lehrergelaber. Mathe. Statistik. Das hatte nicht mal richtig was mit Informatik zu tun, war nur unnötiger Shit, mit dem sie ihm auf den Sack gingen und der ihm nie was nützen würde. Er würde mehr als die eine Dose brauchen, um sich wachzuhalten…

Zum Glück würde sich all das bald erledigt haben. Wenn er erst Profi-Gamer war, würde er als Allererstes seine Ausbildung schmeißen. Er würde die Nächte durchzocken und die Tage gemütlich verratzen. Außerdem würde er sich einen von diesen Gaming-Stühlen besorgen, in denen man stundenlang sitzen konnte, ohne sich die Wirbelsäule zu verbiegen. Nein: Er würde sich einen schenken lassen. Von seinem Sponsor. Jeder Profi-Gamer hatte einen Sponsor. Mit all seinen Kills würde er problemlos einen finden. Die würden sich um ihn reißen. Sobald er heute Abend wieder zuhause war, würde er weiterzocken, weiter an seiner Karriere arbeiten.

Aber erstmal musste er durch diesen beschissenen Tag.

„Yo, Domi!“

Er drehte sich um.

Da hinten kam er. Micha, der Verräter. Keiner hatte ihn abgeknallt. Seine Internet-Verbindung hatte nicht schlappgemacht. Der Arsch hatte sich ausgeloggt, mitten im Spiel. Er hatte ihn seinen Rekord gekostet. Vor allem aber: Er hatte ihn auf dem Schlachtfeld im Stich gelassen.

Jetzt watschelte er auf ihn zu, klein und pummelig und mit einem verlegenen Grinsen. Er wusste genau, was für ne Scheiße er gebaut hatte. 

„Was geht, Bro?“, fragte Micha und hob die Hand.

Domi schlug ein. Sie stießen Brust an Brust zusammen und klopften einander auf den Rücken. Aber nur kurz. Domi löste sich sofort wieder von ihm.

„Was ging mit dir gestern?“, fragte er. „Du warst auf einmal offline.“

Micha schob sich seine roten Haare aus der Stirn. Wie immer, wenn er sich wegen irgendwas mies fühlte. Die Haare fielen direkt wieder zurück.

„War nichts. Ich war halt müde.“

Müde am Arsch, dachte Domi.

Vor ein paar Monaten hätte Micha ihn nicht hängenlassen. Da wäre er rübergekommen, sie hätten in Domis Bude den zweiten Bildschirm angeschlossen und Seite an Seite bis in die Morgenstunden ein Deathmatch ans nächste gereiht. Aber das hatten sie ewig nicht gemacht. Seit Micha mit dieser Bitch Elisa zusammen war. Er schaute kaum noch bei ihm vorbei, und wenn er sich blicken ließ, haute er vor Mitternacht wieder ab. Er kiffte auch nicht mehr. Er war richtig lahmgeworden. Demnächst würde er wahrscheinlich abends vor dem Fernseher Kamillentee trinken und gleich nach der Tagesschau ins Bett gehen.

Die Bitch war richtig schlechter Einfluss.

„Ich hatte so einen krassen Lauf, und da wäre noch was gegangen. Aber kurz nachdem du raus warst, hat mich einer erwischt.“

Der feindliche Soldat in seiner schwarzgrauen Tarnuniform. Die Granate, die auf ihn zukullerte. Ein greller Blitz. Eine Erschütterung, die alles zum Wackeln brachte. Sein Kopf, der sich in einer Blutfontäne vom Rumpf löste.

KAWUMM!

„Ich hätte dich echt gebraucht, Mann.“

Micha stopfte die Hände in die Taschen seines blauen Hoodies mit dem Minecraft-Logo.

 „Sorry, Alter. War kacke, ich weiß. Ich war halt…“

Was?, dachte Domi. Notgeil? Wolltest lieber einen wegstecken, als für deinen Kumpel da zu sein.

Er begriff sowieso nicht, wie der Mops mit seinen blassen Speckbacken an eine Freundin gekommen war. Vor allem an so eine. Elisa war ne Bitch, keine Frage. Aber geil. Hammertitten. Mega-Arsch. Er checkte nicht, warum die sich von einem wie Micha vögeln ließ. Er, Domi, sah viel besser aus. Er war größer als Micha und außerdem nicht fett. Zum Stich war er allerdings lang nicht gekommen. Er hatte an ein paar von den Tussis in der Berufsschule rumgebaggert. Aber die Fotzen waren sich zu gut für ihn. Ansonsten war grad Flaute, was fickbare Weiber anging.

Die Blondine da hinten beim Ticketschalter war einigermaßen heiß. Vielleicht ein bisschen zu alt für ihn. Aber geil in dem knatschengen Kostüm. So eine richtige MILF. Die hätte er sofort geknallt. Sie sah allerdings nicht aus, als wollte sie unbedingt mit zu ihm. Der Blick, mit dem sie von ihrem Handy auf und zu ihm rübersah, war eher kühl. Wahrscheinlich fühlte sie sich belästigt, bloß weil er sie anguckte. Scheiß drauf. Er hatte eh keinen Bock, so eine verschrumpelte Alte in den Wechseljahren zu bumsen.

Aber es war halt auch nicht fair, dass ihn so lange keine rangelassen hatte und er sich selber einen runterholen musste, während Micha jeden Abend an Elisas Titten durfte.

Geschah ihm recht, dass er sich deswegen jetzt mies fühlte.

„Das ging einfach nicht anders“, sagte Micha. „Wir haben diese Woche doch Prüfung und ich musste noch lernen. Ich darf die auf keinen Fall verhauen.“

Wie er sich wand, der kleine Dicksack. Er konnte ihm nicht mal in die Augen schauen. Glotzte nur auf seine Sneaker, mit denen er einen Kronkorken auf dem Boden rumkickte. Früher, auf der Realschule, hatte er nur davon träumen können, ne Freundin zu haben. Überhaupt Freunde. Er hatte froh sein können, mit Domi abhängen zu dürfen. Domi hatte ihn mitgezogen, dafür gesorgt, dass er nicht mehr der totale Außenseiter war. So dankte er es ihm.

Die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher verkündete eine Zugdurchfahrt auf ihrem Gleis. Kurz darauf bretterte die Bahn in die Station und Full Speed an ihnen vorbei, ein zischendes, rumpelndes gelbrotes Geschlirre. Zig Tonnen Stahl mit einhundert Sachen in der Stunde, wie ein gigantischer Rammbock, der alles platt machte, was ihm in den Weg kam. Der Fahrtwind, der nach heißem Metall und Schmieröl roch, klatschte Domi ins Gesicht, schlug ihm die hellbraunen Haare nach hinten. Er stand so nah an der vorbeirasenden Bahn, dass er die Hand ausstrecken, sie hätte berühren können. Unwillkürlich trat er hinter die Linie zurück, die den Sicherheitsabstand vor der Bahnsteigkante markierte. Ein leichtes Zittern, wie Schüttelfrost, fuhr durch seinen Körper.

‚Scheiß drauf‘, dachte er. ‚Bringt ja nichts, wenn wir uns gegenseitig abfucken.‘

„Okay“, sagte er. „Ist halt passiert. War echt lahm. Aber kein Ding.“

Er hielt Micha seine Faust zum Fistbump hin. Micha schlug seine erleichtert dagegen.

„Lass uns blau machen“, sagte Domi und nahm einen weiteren Zug aus seiner Dose. „Berufsschule pack ich heut eh nicht, so durch wie ich bin. Wir fahren rüber zum Ostkreuz, essen was auf dem Kiez und gehen dann zu mir und zocken ne Runde. Was meinste?“

Micha presste seine Lippen zusammen. Es wurde kein Strich daraus. Dazu waren seine Lippen zu schwulstig. Er sah aus wie ein Ochsenfrosch, der seine Prinzessin knutschen wollte. Prinzessin Elisa.

„Ich kann nicht.“

Domi verdrehte die Augen. Das war auch so eine Sache. Micha war immer schon ein Streber gewesen. Aber wie er sich in die Ausbildung reinhängte, war echt übertrieben. Elisa pushte ihn bestimmt noch extra. Dabei lief es bei ihm. Programmieren hatte er drauf. Der Chef hatte sogar schon zugesagt, ihn nach dem Abschluss als Informatiker und Web-Designer in den Betrieb aufzunehmen. Alles safe. Wenn sich einer von ihnen hätte Sorgen machen müssen, dann Domi. Wegen seiner ganzen Fehltage und Krankmeldungen hatte er schon zwei Abmahnungen kassiert. Noch eine und er war raus. Aber er vergaß trotzdem seine Kumpels nicht. Wenn er das locker nahm, konnte Micha das ja wohl erst recht.

In drei Minuten kam die Bahn. Bis dahin musste er ihn überzeugt haben.

„Komm schon, Bro. Einmal schwänzen wird dir schon nicht deinen kostbaren Notenschnitt versauen. Nächste Woche ist das Turnier. Da müssen wir’s voll draufhaben, wenn wir gegen die Spitzen-Teams was reißen wollen. Vor allem, weil da bestimmt auch Scouts von den Sponsoren aufkreuzen.“

Micha kickte wieder den Kronkorken.

„Ich kann auch nicht mit zu dem Turnier.“

Wieder wallte dieser Schwindel in Domi auf, traf ihn wuchtig wie der Fahrtwind des Zuges. Es war, als würde seine Müdigkeit gegen die Wirkung des Energydrinks kämpfen, gegen die Chemikalien, die Hormone aus Stierhoden oder was auch immer die dareinmischten. Er fühlte sich weggetreten und gleichzeitig hellwach, aufgeputscht und benommen. Er war voll da, aber nicht so richtig. Oder alles andere war nicht richtig da.

„Was?“, rief er, ohne sich um die Spackos zu kümmern, die mit ihnen auf die Bahn warteten. Sie schauten von ihren Handys oder Zeitungen auf, um ihn verwundert oder missbilligend anzugaffen, die Blondine, der alte Sack, das Pärchen bei den Aushangkästen und all die anderen Idioten ringsum. Als wäre er ein randalierender Ghetto-Assi. Okay, vielleicht war er etwas zu laut gewesen. Aber bei dem, was hier gerade ablief, musste man ja wohl austicken.

„Was meinst du, nicht zu dem Turnier? Das ist seit Wochen abgemacht. Das ist unsere Chance, in die Szene reinzukommen, auf uns aufmerksam zu machen. Wenn wir die verpassen, müssen wir ewig auf die nächste warten.“

Er hob die Hand zum High-Five.

„Wir sind doch ein Team.“

Aber Micha schlug nicht ein.

„Ich muss mich langsam darauf konzentrieren, was aus meinem Leben zu machen, mir was aufzubauen. Prioritäten setzen. Solltest du auch.“

Domi nahm die Hand runter. Wo kam dieser Scheiß denn jetzt her?

Aber es war ja klar, wo er herkam. Verfickte Bitch!

„Komm schon, Alter“, sagte Micha. „Denk mal nach. Wenn du die Prüfung versaust, wird’s eng für dich. Du hängst jetzt schon hinterher. Du kannst nicht so weitermachen. Lass uns zur Schule fahren. Die paar Stunden schaffst du. Die nächsten Tage helf ich dir beim Lernen. Du schreibst die Prüfung, schleimst dich beim Chef ein bisschen ein und machst die Ausbildung fertig. Ist doch nicht mehr lange.“

Er ließ den Blick fallen. 

„Das mit dem Gamen wird doch eh nichts.“

Explodierende Granaten. Ein Kopf, der vom Rumpf platzte. Spritzendes Blut.

KAWUMM!

Domi kniff die Augen zu, drängte die Bilder aus seinem Kopf.

Für einen Moment zuckte in ihm der Gedanke auf, dass Micha recht hatte. Jeder Vollpfosten, der sich im Multiplayer einloggte, hielt sich für den Chuck Norris der Ego-Shooter. Aber kaum einer schaffte es, in ein Profi-Team zu kommen und bei den großen E-Sport-Turnieren gegen Spitzenspieler aus aller Welt zu bestehen. Er war gut. Das hatte er letzte Nacht bewiesen. Aber was, wenn er nicht gut genug war? Vor allem ohne Micha. Wenn er in der Berufsschule verkackte oder aus der Ausbildung flog, hätte er nichts. Er sah sich in seiner winzigen Bude hocken, ohne Freundin, ohne Freunde, ohne Job, ohne Zukunft. Hartz IV. Fraß von der Tafel und Schlangestehen beim Arbeitsamt zum 1-Euro-Schuften auf dem Bau oder Müllaufsammeln im Park. Der totale Loser.

Aber er konnte Micha nicht zeigen, welche Angst ihm das machte, konnte vor ihm nicht das Weichei raushängen lassen. Er hatte immer den Ton angegeben, hatte Micha auf seine erste Party mitgenommen, ihm sein erstes Bier gegeben, die erste Kippe. Mit ihm hatte Micha, der immer Schiss gehabt hatte, was die Lehrer oder seine Eltern sagen würden, zum ersten Mal einen durchgezogen und danach ordentlich gekotzt. Durch ihn war er cool geworden. Und auf einmal sollte es Micha sein, der blasse pummelige Micha, der sagte, was Sache war? Nur weil er Elisa mit den geilen Titten fickte?

Das ging gar nicht.

„Wie, das wird nichts?“, rief er. „Weißt du, wie viele Kills ich gestern hatte? Das wären noch viel mehr gewesen, wenn du nicht so eine Pussy wärst.“

Herzrasen. Kalter Schweiß wie im Fieber. Dröhnen im Schädel. Wie Explosionen, eine nach der anderen. KAWUMM! KAWUMM! KAWUMM! Alles von dem Scheiß-Energydrink. Er knüllte die Dose zusammen und pfefferte sie auf die Schienen. Am liebsten hätte er Micha eine reingehauen, dem Deserteur, dem Streber, dem verdammten Verräter. Die Spackos auf dem Bahnsteig glotzten ihn an wie einen Psycho. Sollten sie doch. Fucker.

„Alles nur, weil so ne Bitch dich an den Eiern hat.“

Der alte Sack faltete seine Zeitung und stand auf. Die Blondine mit dem kühlen Blick kam näher. Das Pärchen rückte vor. Als wollten sie ihn umzingeln. Auch alle anderen schienen plötzlich auf ihn einzudringen. Kurz bekam er Panik. Er wollte sie wegschieben, ihnen ins Gesicht brüllen, dass sie sich verpissen und ihn in Ruhe lassen sollten. Aber dann merkte er, dass es gar nicht wegen ihm war.

Der Zug raste heran, donnernd und scheppernd.

„Komm schon, Alter“, sagte Micha. „Elisa hat nichts damit zu tun. Ich…“

Domi hielt ihm den Mittelfinger hin, machte ein paar Schritte rückwärts, drängte sich durch die Menge der Wartenden.

„Fick dich, Bro!“

Er rempelte einen der Spackos an. Es war ihm scheißegal. Die Arschlöcher hier konnten ihn alle mal. Micha konnte ihn mal. Kein Wort würde er mehr mit dem Verräter wechseln. Er war durch mit ihm. Er wollte einfach nur abhauen, nach Hause, einen buffen, pennen. Die ganze Scheiße vergessen.

Aber bevor er sich umdrehen konnte, versetzte ihm jemand einen Stoß. Erst dachte er, es wäre Micha gewesen. Aber der stand zwei, drei Meter entfernt. Bevor er feststellen konnte, wer es gewesen war und dem Drecksack eine langen konnte, wurde er von neuem geschubst, dieses Mal fester.

„Hey, pass auf, Mann“, rief er und stolperte zur Seite, über die Abstandslinie. Es gelang ihm gerade noch, sich auf der Kante zu halten. Der Zug war schon ganz nah. Domi ruderte mit den Armen, versuchte, irgendetwas, irgendjemanden zu fassen zu kriegen. Aber er griff ins Nichts, verlor das Gleichgewicht, stürzte. Im Fallen sah er die schockierten Gesichter der Leute auf dem Bahnsteig, zwischen ihnen Micha. Er sah ihren Schrecken, ihre Angst. Spürte sie. Echte, nackte Angst um sein Leben.

Der Aufprall, mit dem er ins Gleisbett krachte, erschütterte seine Glieder, trieb ihm die Luft aus den Lungen. Er stöhnte und ein schwarzer Blitz zuckte durch seinen Kopf. Aber er wusste, er konnte nicht liegenbleiben, konnte nicht warten, bis der Schmerz nachgelassen hatte und er wieder zu Atem gekommen war. Er musste hier weg, und zwar sofort. Verzweifelt versuchte er, sich auf die Beine zu stemmen, die Hände zu greifen, die sich nach ihm ausstreckten. Sie mussten ihn wieder nach oben ziehen, zurück auf den Bahnsteig, in Sicherheit.

Aber es war zu spät. Der Zug türmte sich vor ihm auf, größer und größer. Hämmernd und schnaufend. Unaufhaltsam donnerte er auf ihn zu. Wie in Zeitlupe und doch rasend schnell. Unwirklich wirklich. Schreie mischten sich in das Kreischen der Bremsen. Domi wusste nicht, ob einer der Schreie aus seinem Mund kam. Er wusste gar nichts mehr, dachte nichts mehr, konnte nichts mehr denken. In ihm war nur noch Panik. Aus dem unsinnigen Drang heraus, irgendwo Halt zu finden, packte er die Schienen, als könnte es ihm etwas nützen, als könnte er sich an ihnen festklammern, um nicht von dem Zug davongerissen zu werden. Er spürte sie unter seinen Fingern zittern und beben, und sein Körper bebte und zitterte mit. Das gelbrote, gigantische Ungetüm wuchs über ihm empor, kam näher und näher, bis er nichts anderes mehr sah, es nichts anderes mehr zu geben schien als diese gelbrote, ihm unerbittlich entgegenrückende Wand aus Stahl. Das durchdringende Tröten des Signalhorns löste einen letzten Gedanken in ihm aus.

Game Over.

Dann rammte ihn die S-Bahn ins Nichts.

 

2

 

Harder schwebte.

Die Schwerkraft streckte sich nach ihm aus, wollte ihn zur Erde zu ziehen. Er machte sich noch leichter, löste sich aus ihrem Griff und stieg mühelos empor, in kosmische Sphären, wo sie ihn nicht zu fassen bekam.

„Thomas? Thomas, hörst du mich?“

Unter ihm erwachte die Stadt. Wie ein junges Mädchen, das sanft von den ersten Sonnenstrahlen liebkost wird, stieß sie ein wohliges Seufzen aus. Sie blinzelte in den Himmel, über den goldschimmernde Wölkchen trieben, streckte ihre geschmeidigen Glieder und begrüßte die Welt mit einem Lächeln.

Bullshit, dachte Harder.

Berlin kam zu sich wie ein Alki nach dem Komasaufen. Die Wolkenschlieren hatten die gleiche Farbe wie der ausgerotzte Schleim einer Kettenraucherkehle. Autos spritzten ihre Abgase aus den Auspuffen wie Donnerfürze. So war Berlin am frühen Morgen. Eine verkaterte Großstadt.

„Thomas, könntest du vielleicht… Ich meine, wäre es eventuell okay für dich, wenn wir…“

Aber hier oben, fand Harder, weit weg von allem, ließ es sich aushalten.

Das Hoteldach war sein Lieblingsplatz, um die Nacht ausklingen zu lassen und den Tag einzuläuten. Wann immer es ihm möglich war, schlich er sich in den frühen Morgenstunden durch die Hintertür rein, die einer der Portiers, ein alter Freund, für ihn offen ließ. Er konnte schlecht unter dem roten Baldachin durch den Haupteingang reinspazieren. Mit seiner abgewetzten Lederjacke, seinem Drei-bis-Fünf-Tage-Bart und seinem schwarzen Wirrschopf fügte er sich nicht gerade stilecht in das Interieur der prunkvollen Eingangshalle mit ihren filigranen Polsterstühlchen, güldenen Leuchtern und dem ganzen Marmor- und Mahagonigedöns — wobei man ihn im Zweifelsfall für einen abgehalfterten Rockmusiker hätte halten können, der wie Schauspieler, Sänger und sonstige Mitglieder der internationalen High-Society in einer der Edelsuiten für horrende Summen Quartier bezogen hatte. Harder allerdings genügte die Gratis-Loge unter freiem Himmel. Wie so oft hatte er auch dieses Mal über die Servicetreppe den obersten Stock erreicht und war durch eine Luke nach draußen gelangt. Er hatte die Dachterrasse überquert und war neben den mannshohen Buchstaben, die den Hotelnamen bildeten, über die Brüstung geklettert. Von hier aus war er nach einer kurzen Rutschpartie auf einem der Erker gelandet, die kurz vor der Kante den Abschluss des Daches bildeten. Es brauchte ein wenig Feingefühl im Hintern, um nicht zwischen ihnen hindurch oder mit zu viel Schwung über sie hinweg zu schlittern. Ein solcher Patzer hätte mit dreißig Metern freiem Fall und einem Bauchplatscher auf dem Pariser Platz geendet. Vor allem im Dunkeln war es kein ganz leichtes Unterfangen. Aber so geübt, wie Harder inzwischen war, hätte er es sogar mit ein bis zwei Promille hingekriegt.

Allerdings kam er immer nüchtern hierher. Oder jedenfalls nur noch mit Restalkohol. Das Brandenburger Tor, das in seiner nächtlichen Beleuchtung wirkte wie aus Gold gegossen. Der Reichstag mit seinem wuchtigen Schweigen, wie eine Trutzburg, auf die man den Deckel eines riesigen Eierkochers gesetzt hatte. Der Tiergarten, der sich nach Sonnenuntergang in einen Urwald verwandelte, in dem, wenn nicht Bären und Wölfe, so doch Wildschweine, Füchse und Waschbären herumstreunten. Die Stille über der Stadt. Das Gefühl, ganz für sich, der Welt entzogen zu sein. All das war zu erhebend, um es dumpf bedröhnt nur am Rande wahrzunehmen.

„Thomas!“

Außerdem fand er hier oben einen Rausch, der besser war als alles, was ihm Alkohol, Gras oder sonstige Drogen bescheren konnten. Es war der Rausch, der ihn beim Blick in eine Pistolenmündung überkam, bei voller Fahrt in seinem Auto, wenn ein einziges Verreißen des Lenkrads zu einer Kollision oder einem Überschlag führen würde — oder eben in einer Höhe, von der aus er bei einem Sturz nicht mit einem gebrochenen Bein davonkäme. Der Rausch der Todesnähe. Er machte alles wirklicher. Jede Farbe wirkte kräftiger, jedes Geräusch deutlicher, und alles war verlangsamt, sodass Harder Zeit hatte, etwa eine Taube, die an ihm vorüberflatterte, ganz in Ruhe und in allen Einzelheiten zu betrachten.

Im Hintergrund spielten Faith No More Easy, den Song, der diesen Zustand jedes Mal begleitete. Heute war es eine entspannte Unplugged-Version, lässiges Gitarrengeschrammel, bei dem man sich zurücklehnen und den Kopf locker im Takt wiegen konnte. Harder summte mit. Ein sanftes Wummern pulsierte unter dem Bass, umschloss ihn, hob ihn empor in diese Schwerelosigkeit, die ihn über allen Dingen schweben ließ. Das Wummern, rhythmisch wie ein Herzschlag, wollte ihn ganz an sich, in sich, mit sich ziehen. Es verlockte ihn, sich nach vorn zu beugen, nur ein kleines Stückchen weiter, die Augen zu schließen und sich fallenzulassen, voller Vertrauen hinein in die ewige Geborgenheit, die Erlösung, die es ihm versprach, die mütterlich liebevolle Umarmung des Todes.

Aber er gab sich ihr nicht hin. Er war nicht hergekommen, um sich dem Tod in die Arme zu werfen.

Jedenfalls nicht heute.

Harder nahm noch eine Chili aus der Plastiktüte, fuhr mit den Fingern über die glatte Oberfläche der länglichen, leicht gebogenen Frucht und biss krachend hinein. Schärfe prickelte auf seiner Zunge. Tränen stiegen ihm in die Augen. Das Wummern wich zurück, ohne sich jedoch gänzlich von ihm zu lösen. Der Drang, sich in die Tiefe zu stürzen, ließ nach. Zurück blieb die Leichtigkeit, ein zärtlicher Rausch, in dem er selig trieb, während er die Beine baumeln ließ, die Aussicht genoss, Freiheit spürte.

Glück.

„Komm schon, Thomas. Du kannst mich nicht die ganze Zeit ignorieren.“

Harder seufzte und legte den Chilistrunk in die Tüte.

Mit seinen Glücksgefühlen war es vorbei.

In den letzten paar Minuten war auf dem Pariser Platz ein Tumult ausgebrochen. Polizeiwagen waren mit heulenden Sirenen herangerast und mit quietschenden Bremsen zum Stehen gekommen. Ein Feuerwehrtruck war herangebrettert, kurz darauf ein Notarztwagen. Inzwischen wuselten dort unten mindestens zwei Dutzend Uniformierte durcheinander und veranstalteten einen Krawall, bei dem man sogar die sanfte Nähe des eigenen Todes vergessen konnte.

Erst hatte Harder gehofft, es handele sich um einen Alarm in der amerikanischen Botschaft, eine Bombendrohung oder einen Amoklauf.

Aber natürlich ging es um ihn. 

Er war selber schuld. Er war zu lange geblieben. Normalerweise verschwand er im Schutz der Dunkelheit so unauffällig, wie er gekommen war. Aber dieses Mal war er so berauscht gewesen, dass er nicht daran gedacht hatte, wie ausgestellt er hier oben war und dass ihn jemand, der ihn entdeckte, kaum für einen Dachdecker oder einen sonderbaren Wasserspeier halten würde. Und jemand hatte ihn entdeckt. Einer der Touristen vielleicht, der sein Kamerastativ vor dem Brandenburger Tor aufgebaut hatte, um es im Licht der aufgehenden Sonne zu fotografieren. Oder jemand, der in einem der umliegenden Palais arbeitete, sich für eine Zigarette aus dem Fenster gelehnt, ihn erspäht und es als seine bürgerliche Pflicht erachtet hatte, die Behörden über den mutmaßlichen lebensmüden Springer auf dem Hotel in Kenntnis zu setzen.

Harder fand es dreist.

Natürlich lag es nah, eine abgerissene Gestalt, die auf einem Dach hockte, für einen Selbstmörder zu halten.

Aber man konnte ja wenigstens mal fragen.

„Thomas“, wieder diese quäkende Stimme, von schräg hinten und oben.

Harder gab seine Hoffnung auf, zumindest noch ein paar Minuten Ruhe zu haben, bis die Feuerwehrleute ihre Leiter ausgefahren hätten und ihn zwingen würden, nach unten zu klettern. Er konnte vielleicht vorübergehend der Schwerkraft entkommen. Aber offenbar galt das nicht für penetrante Polizeipsychologen.

„Mein Gott, Sören, was ist denn?“

Harder machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu drehen. Er sah nicht ein, für diesen Quälgeist einen Nackenkrampf zu riskieren.

„Thomas, könntest du nicht vielleicht bitte raufkommen?“

„Nö.“

Er trank einen Schluck Milch aus der Packung, die neben ihm auf dem Erker stand, und spülte die Chilischärfe aus seinem Mund. Das Wummern wallte zwar nochmal auf, und auch Faith No More legten sich nochmal ins Zeug. Aber Harder wusste, seinen schönen Rausch konnte er vergessen. Wie sollte er sich bitteschön seiner Todessehnsucht hingeben, wenn unter ihm Bullen, Sanitäter und Feuerwehrmänner herumsprangen und ihm zu allem Überfluss auch noch ein quengelnder Seelenklempner in den Ohren lag?

„Wenn du dich unterhalten willst, musst du dich schon hier herunterbemühen.“

„Aber Thomas, ich bin doch nicht schwindelfrei.“

„Dein Pech, Sören. Daran hättest du denken sollen, bevor du angefangen hast, mich zu nerven.“

Ein selbstmitleidiges Stöhnen erklang, gefolgt von einem metallischen Scheppern, als Sören über die Brüstung stieg. Das Ende eines Kletterseils fiel auf den Erker neben Harder, zuckte und wand sich, während Sören schlitternd und schlurrend Stück für Stück über die Schräge nach unten rutschte. Er kommentierte seinen Abstieg mit einem ununterbrochenen „OhGottOhGottOhGott!“. Es hielt gefühlte zehn Minuten an, bis seine Birkenstocks mit dem orthopädischen Fußbett neben Harder erschienen und, bevor sie aufsetzten, erst einmal mit der Spitze prüften, ob der Erker auch halten würde. Sören trug seine Sandalen stilecht mit weißen Socken. Abgesehen von einem Senkfuß und einer Zehen-Fehlstellung hatte er den Hang, sich beim kleinsten Windzug zu erkälten. Unter der braunen Cordhose schlotterten seine Knie, wobei das wohl eher auf seine Höhenangst als auf die frische Morgenluft zurückzuführen war. Harder schaute zu ihm auf. Sörens Oberkörper, in braunem Tweedjackett mit aufgenähten Lederflicken, war in ein Gurtsystem mit diversen Karabinerhaken geschnallt. Seine Hände, in schwarzen Kletterhandschuhen, krampften sich um das Seil. Seine mit Sommersprossen gesprenkelten Wangen waren vor lauter Anstrengung — oder Anspannung — gerötet. Seine braunen, chaotischen Locken schlängelten sich unter einem roten Helm hervor.

„Schick, Sören“, sagte Harder. „Willst du nach der kleinen Aufwärmübung gleich noch den nächsten Achttausender besteigen? Oder wenigstens den Teufelsberg? Wir könnten für ein bisschen Frühsport auch zusammen den Fernsehturm erklimmen.“ Er wies auf den Turm, dessen silberne Kugel in der Morgensonne glänzte. „Auf dem war ich schon lang nicht mehr.“

„Lass mal, Thomas“, sagte Sören. „Den Teufelsberg schaffe ich gerade noch. Aber beim Fernsehturm muss ich passen. Da würde ich schon auf halber Höhe eine Panikattacke kriegen.“

„Echt? Warst du noch nie da oben? Ist ne super Aussicht.“

„Vielleicht schaffe ich das irgendwann mal“, sagte Sören. „Wenn ich meine Höhenangst überwunden habe. Bis dahin finde ich es hier schon schlimm genug.“

Er bemühte sich angestrengt, nicht nach unten zu sehen, wo die Polizisten Absperrbänder spannten, um die Gaffer zurückzuhalten, die alle übrigen Sehenswürdigkeiten vergessen und sich vor dem Hotel versammelt hatten. Nicht wenige hatten ihre Smartphones gezückt in der Hoffnung, Freunden und Familien neben ihren Urlaubsfotos auch das unterhaltsame Filmchen eines Selbstmörders präsentieren zu können.

 „Also“, sagte Sören. „Ich bin hier. Und jetzt?“

„Ich weiß nicht“, antwortete Harder. „Du hattest doch Gesprächsbedarf. Worüber möchtest du reden?“

Es kam selten vor, dass er sich freiwillig mit einem Psychologen unterhielt. Seit ihn während seiner Kindheit und Jugend eine ganze Armee von Quacksalbern nach Strich und Faden durchanalysiert hatte — ohne zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen — lag er mit dem gesamten Berufsstand im Clinch. Umso mehr, seit bei seinem letzten Fall, den Morden eines irren Mittelalterfans mit Enthauptungsfaible, ausgerechnet ein Therapeut eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hatte.

Aber Sören war in Ordnung, was Harders Meinung nach nicht zuletzt daran lag, dass er mehr Störungen aufwies als all seine Patienten zusammen.

„Wir könnten mit deinen suizidalen Tendenzen anfangen“, sagte Sören. „Von da aus könnten wir uns zu deiner quasi nicht existenten Sozialkompetenz vorarbeiten. Zwischendurch könnten wir einen Abstecher hin zu deiner emotionalen Instabilität unternehmen. Was meinst du, Thomas?“

Harder nahm noch eine Chili und biss ein Stück ab.

„Wir kennen uns doch jetzt schon eine Weile, Sören“, sagte er. Als einziger im gesamten Kommissariat durfte er sich rühmen, in Sörens Aktenschrank ein eigenes Fach zu haben. Er arbeitete auf einen eigenen Schrank hin. „Nenn mich Harder. Was nun meine angeblichen suizidalen Tendenzen angeht, müsstest du mir dafür erstmal empirische Hinweise liefern.“

Über sein Fachgebiet zu reden flößte Sören sichtlich Mut ein. Er lockerte sogar ein wenig seinen Griff um das Seil.

„Du meinst, auf Hoteldächern rumzukraxeln reicht dir als empirischer Hinweis nicht aus? Willst du behaupten, das spräche für deine geistige Gesundheit? Da muss ich dich leider enttäuschen, Thom… Harder. Im Gegenteil lieferst du selbst damit — schon wieder, wenn ich das anmerken darf — ein eindeutiges Symptom für die Persönlichkeitsstörung, die ich an dir diagnostiziert habe und die gekennzeichnet ist durch impulsives, selbstzerstörerisches Verhalten, einen Mangel an klarer Selbstidentität, Alkohol- und Drogenmissbrauch und ein Unvermögen, stabile Beziehungen aufrechtzuerhalten. Um es einmal auf den Punkt zu bringen: Du hast einen totalen Sockenschuss.“

„Wem sagst du das.“ Harder puhlte einen Chilisamen aus seinen Zähnen. „Sag mal, musst du eigentlich immer noch 147 Mal das Licht ein- und ausschalten, bevor du deine Wohnung verlässt, weil sonst die Welt untergeht?“

Sören antwortete kaum hörbar.

„Ich bin bei 135.“

„Glückwunsch. Dann kannst du ja morgens länger pennen.“

Spätestens jetzt, dachte er, bereute Sören es, seinen Patienten bei einer ihrer von der Chefetage verordneten Sitzungen zu stark ins Vertrauen gezogen und ihm von seinen eigenen seelischen Belastungen und Marotten erzählt zu haben.

„Hier geht es nicht um mich und meine Zwänge“, sagte der Psychologe. „Wenn du nicht mit mir runterkommst, habe ich keine andere Wahl, als bei deiner nächsten Beurteilung substanzielle Zweifel an deiner Diensttauglichkeit zu äußern.“

„Tu, was du nicht lassen kannst, Sören. Was macht eigentlich deine Höhenangst?“

Auf das Stichwort fuhr Sören zusammen, als hätte er bis dahin einigermaßen erfolgreich verdrängt, wo er sich befand. Mit aller Kraft klammerte er sich wieder an das Seil, machte jedoch den Fehler, nach unten zu schauen. Aus seinem Gesicht floss das letzte bisschen Farbe, bis es so weiß war wie Harders Milch.

„Oh Gott, Harder, warum tust du mir das an?“

„Sieh es als Konfrontationstherapie. Das ist doch eine bewährte psychologische Methode.“

„Schon. Aber bevor ich mich dafür in lebensgefährliche Situationen begebe, wollte ich eigentlich erstmal meine Angst vor Spinnen überwinden. Gott, ich hätte mich heute krankmelden sollen. War ja klar, dass sie mich nicht zu irgendeinem umgänglichen 08/15-Selbstmörder schicken, sondern ausgerechnet der eine Irre hier oben auf mich wartet, der alle anderen Irren dieser Stadt in den Schatten stellt.“

Sören löste vorsichtig eine Hand von dem Seil, steckte sie in die Tasche seines Tweedjackets und förderte ein Pillendöschen zutage. Da er beide Hände brauchte, um es zu öffnen — und es offenbar nicht für ratsam hielt, Harder um Hilfe zu bitten und ihm Medikamente auszuhändigen —, wickelte er einen Arm um das Seil. Vor Nervosität riss er den Deckel des Döschens mit solcher Hektik auf, dass ein Stoß Tabletten in die Luft flog und auf den Pariser Platz prasselte.

„Macht nichts“, sagte Harder. „Wir sagen einfach, das waren meine TicTacs. Die nächsten Hunde, die da unten vorbeikommen, werden auf jeden Fall die entspanntesten Tölen der Stadt sein. Komm, setz dich“, er klopfte mit der flachen Hand auf den Erker. „Mach’s dir bequem. Dann können wir ganz in Ruhe plaudern, von einem Bekloppten zum anderen.“

„Ich bin nicht bekloppt“, sagte Sören und blieb trotzig stehen. Er kippte sich einige der verbliebenen Tabletten in die Hand und steckte sie in den Mund. Er zerkaute sie und würgte sie trocken hinunter. „Ich habe lediglich leichte Neurosen.“

„Klar doch“, sagte Harder. „Die Kollegen haben dir auch nur deshalb den liebevollen Kosenamen Psycho-Sören gegeben, weil du unser hochgeschätzter Polizeipsychologe bist.“

Er hielt Sören die Tüte hin.

„Willst du ne Chili?“

Sören schüttelte den Kopf.

„Du weißt doch, ich hab Reizdarm. Von den Dingern krieg ich Magenkrämpfe und flotten Otto. Und ganz ehrlich, ich hab jetzt schon fast die Hosen voll.“

„Kein Problem“, sagte Harder. „Wenn du mal musst, hock dich einfach hin und häng den Arsch über die Kante. Wir sind direkt am Regierungsviertel. Wenn du hier vom Dach kackst, triffst du auf jeden Fall den Richtigen.“

Sören versuchte ein Lächeln. Es sah aus, als hätte der Dünnpfiff bereits eingesetzt.

„Ansonsten“, sagte Harder und hob die blaugrüne Packung, „kann ich dir nur einen Schluck Milch anbieten.“

„Die bläht mir den Bauch auf. Ich bin doch laktoseintolerant.“

„Sorry, hätt ich mir denken können.“

„Hör mal, Harder.“ Sören ging vorsichtig in die Hocke. „Ich verstehe, warum du hier oben bist. Jeder von uns muss hin und wieder seine Grenzen austesten, den Thrill spüren, sich so richtig lebendig fühlen. Aber es ist wichtig, auch den richtigen Zeitpunkt zum Absprung zu finden — also nicht zum Absprung, ich meine den Moment, um auf den Boden der Tatsachen zurückzu… Wann es genug ist! Findest du nicht, es ist genug? Hm?“

Er streckte die Hand aus, um sie Harder auf die Schulter zu legen. Doch seine Haltung war so wackelig, dass er dabei aus dem Gleichgewicht geriet. Einer seiner Birkenstocks rutschte weg. Sören verlor den Halt und wäre über die Kante gestürzt, wenn das Seil nicht an den Karabinerhaken seiner Schutzmontur befestigt gewesen wäre. Einige der Zuschauer auf dem Platz stießen erst aufgeregte „Ahs“, dann enttäuschte „Ohs“ aus, als der erwartete Absturz ausblieb.

„Hey, Achtung“, ermahnte ihn Harder. „Nicht vordrängeln. Ich war zuerst da. Wenn ich nach dir springe, sehe ich wie ein blöder Nachäffer aus.“

Sören fand sein Gleichgewicht wieder. Er setzte zum Sprechen an. Aber dann schüttelte er nur den Kopf und ließ sich vorsichtig auf dem Erker nieder. Angstschweiß glänzte auf seinen Wangen.

„Ist doch gar nicht so übel hier, oder?“, fragte Harder. „Schöne Aussicht, ein bisschen Entertainment.“ Er wies nach unten, wo die Polizisten und Feuerwehrleute inzwischen mit ihren Verrichtungen fertig waren und abwarteten, ob Sören mit seinen Bemühungen Erfolg haben würde. Nachdem er sie mit Beruhigungspillen beworfen hatte und fast vom Dach gefallen war, schienen sie sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen. „So kann man es aushalten, oder?“

Sören starrte betrübt auf das Brandenburger Tor.

„Toller Psychologe bin ich.“

Harder klopfte ihm auf die Schulter, sachte, damit Sören nicht gleich den nächsten Schreck kriegte.

„Mach dir nichts draus. Ich hab schon ganz andere verschlissen.“

Sören lächelte schwach. Alle Versuche, ihn aufzuheitern, schienen vergeblich.

Er deutete auf Harders Tüte.

„Chilis und Milch — ist das jetzt dein übliches Frühstück?“

„Nur hier oben. Normalerweise rauche ich morgens nur eine. Von den Chilis habe ich dir doch erzählt.“

„Ja“, sagte Sören. „Du nutzt sie, um durch starken körperlichen Impuls deine dissoziativen Zustände im Zaum zu halten, so wie andere Patienten einen spitzen Stein drücken oder sich ein Gummiband gegen das Handgelenk flitschen, wenn sie das Gefühl haben, aus der Wirklichkeit zu fallen.“

„Genau“, sagte Harder, ohne sich an der Bezeichnung ‚Patient‘ zu stoßen. „Eigentlich sind diese Zustände ganz angenehm. Man lässt den ganzen Alltagsscheiß hinter sich. Aber wenn ich sie überhandnehmen lasse, baue ich Mist. Mit den Chilis habe ich sie im Griff. Ich habe angefangen, damit herumzuexperimentieren. Hier“, er hob die Tüte. „Die grünen sind die mildesten, die nehme ich, wenn das Gefühl nur schwach ist. Die gelben, schon etwas schärfer, brauche ich, wenn es so richtig in Gang gekommen ist. Wenn das Gefühl zu stark nachlässt und ich es wieder anfachen will, trinke ich Milch gegen die Schärfe und es nimmt wieder zu. So kann ich mich immer auf dem richtigen Level halten. Für den absoluten Notfall, wenn es brenzlig wird, habe ich diese roten. Das sind die Schärfsten, die ich finden konnte. Die ätzen dir den Rachen weg. Die holen mich sofort zurück in die Realität. Brillant, oder?“

Trotz dieser wissenschaftlich fundierten Herangehensweise sah Sören nicht aus, als finde er Harders System aus fachlicher Sicht überzeugend.

„Aber mit der Zeit wirst du dich gegen die Schärfe abhärten“, sagte er. „Sie wird dir immer weniger ausmachen und du wirst immer schärfere Chilis brauchen, um aus dieser Todessehnsucht herauszukommen. Was machst du, wenn sie gar nicht mehr wirken? Dich mit einem Gummiband flitschen?“

„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“

„Auf lange Sicht wirst du eine andere Lösung brauchen, um gegen die Ursache deiner Dissoziationen vorzugehen, in der ich übrigens ein Trauma vermute.“

„Kann schon sein, Sören. Du bist der Experte.“

Sören wischte sich den Schweiß ab. Ein leichter Wind spielte mit seinen Locken. Sein Gesicht war immer noch blass. Aber in seinen Augen glänzten frischer Mut und Tatendrang.

„Wenn du Lust hast, können wir gerne zusammen runtergehen und dann setzen wir uns in mein Büro und bereden das Ganze. Wenn wirklich ein Trauma dahintersteckt, das dich belastet, finden wir vielleicht heraus, was es ist und können zusammen daran arbeiten, dich von diesen Episoden zu heilen.“

„Netter Versuch, Sören“, unterbrach ihn Harder. „Aber damit kriegst du mich nicht hier weg. Ich meine, so verlockend das auch wäre, stundenlang mit dir über meine psychischen Störungen zu plaudern, ich passe. Die spontane Therapiestunde hier oben ist mir schon genug. Ich schlage vor, dafür lassen wir meine nächste Pflichtsitzung ausfallen.“

„Jetzt mal ernsthaft, Harder. Du kannst doch nicht den ganzen Tag hier rumhängen.“

„Klar kann ich das. Solange ich meine Chilis und meine Milch habe, gibt es absolut nichts, was mich von diesem Dach runterkriegt.“

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als eine Frauenstimme, verstärkt von einem Megafon, zu ihm heraufschmetterte.

 „Harder, du Schwachkopf!“

Harder lugte über die Kante und schnitt eine Grimasse.

„Ernsthaft, Sören? Du hast Vogt verständigt? Ich hatte mehr von dir erwartet. Ich dachte, wir hätten so ein Therapeuten-Patienten-Verhältnis mit Schweigepflicht und allem Drum und Dran. Da kannst du mich doch nicht einfach verpetzen. Und mit dir wollte ich meine Chilis teilen.“

„Was sollte ich denn machen?“, fragte Sören. „Ich hatte befürchtet, nicht zu dir durchzudringen. Was sich durch deine Sturheit und mangelnde Kooperationsbereitschaft ja auch bewiesen hat. Vogt ist nun mal die Einzige, auf die du zumindest zwischendurch mal hörst.“

„Kann ja sein“, sagte Harder. „Aber ihr deswegen ein verdammtes Megafon zu geben, damit sie auch hundertprozentig unüberhörbar ist, geht ein bisschen weit.“

Wieder plärrte Vogt zu ihnen herauf.

„Harder, lass den Scheiß und komm runter.“

„Oh, Mann“, sagte Harder. „Die Frau nervt. Du hättest ihr wenigstens sagen können, dass man Selbstmörder nicht anbrüllen darf.“

Er gab Sören einen Stoß mit dem Ellenbogen.

„Bist du sicher, dass du nicht kacken musst?“

„Mach voran, Harder“, rief Vogt. „Wir haben einen Fall.“

„Was ist das für eine Welt“, stöhnte Harder, „in der man nicht mal in Ruhe frühmorgens auf einem Hoteldach seinen dissoziativen Zuständen frönen kann? Das ist doch wirklich nicht lebenswert. Also gut, packen wir’s.“

Er steckte die Tüte mit den Chilis ein und stand auf. Auch Sören erhob sich, erleichtert, endlich auf die Dachterrasse zurückkehren zu können. Er gab den Polizisten, die oben an der Brüstung warteten, ein Zeichen, woraufhin sie ein weiteres Sicherheitsgeschirr mit Karabinerhaken zu Harder hinunterließen. Harder achtete nicht darauf, wandte ihnen den Rücken zu und stellte sich an die Kante des Erkers. Er streckte sich und lockerte seinen Nacken. Die Spitzen seiner Turnschuhe ragten ins Nichts.

„Was soll das, Harder?“, fragte Sören. „Was machst du? Leg bitte das Geschirr an, damit die Kollegen dich hochziehen können. Ich verspreche dir, wir machen hier keine große Sache draus. Ein ungeplanter Einsatz mit drei, vier Polizeiwagen, Feuerwehr, Notarzt, zwei Dutzend Einsatzkräften… Was soll’s? Dann war der Pariser Platz halt für eine Stunde gesperrt und die amerikanische Botschaft wurde geräumt… Halb so wild.“ Er machte Anstalten, nach Harder zu greifen, wagte es aber nicht. „Das ist kein Grund, irgendwelche Dummheiten zu machen. Wenn du jetzt springst, sieht das außerdem richtig mies für mich aus. Ich sollte dich schließlich retten, nicht in den Tod treiben.“

Harder breitete die Arme aus. Das Wummern, das sich während ihres Gespräches in den Hintergrund zurückgezogen hatte, drängte wieder vor, mächtiger jetzt, fordernder. Easy schwoll wieder an, dieses Mal in voller Besetzung, mit fettem Bass und dem satten Sound elektrischer Gitarren.

„Tu es nicht, Thomas!“ Durch das Pulsieren und die Musik drang Sörens panische Stimme kaum zu ihm durch. „Du hast so viel, wofür es sich zu leben lohnt.“

„Wir sehen uns, Sören.“

Harder legte den Kopf zurück, schloss die Augen und ließ sich nach vorne kippen.

Sörens Schrei begleitete ihn noch ein Stück in die Tiefe, bevor er in dem Wummern unterging, das Harder nun von allem abschottete. Es gab keine Welt mehr um ihn. Es gab nur noch das samtblaue Pulsieren, die verzerrten Klänge von Easy, die Freiheit, die er spürte, die Erlösung, der er entgegenfiel. Es war nicht, als würde er Richtung Boden stürzen. Es war, als stürze er in den Himmel.

Er wünschte, es würde nie enden.

Aber leider dauerte es nur wenige Sekunden, bis er mit einem rauschenden ‚PLUFF’ in dem Sprungkissen landete, das die Feuerwehrleute aufgebaut hatten. Mit seinem weich abgefederten Aufprall war das Gefühl vorbei. Das Wummern und Pulsieren verschwand. Faith No More packten zusammen und räumten die Bühne. Harder war zurück in der Welt, in der Wirklichkeit. Das war okay. Die Wirklichkeit war erträglich, wenn man zwischendurch einen Kurzurlaub von ihr nehmen konnte.

Er rollte sich auf den Rücken. Sören lehnte sich über die Erkerkante und blickte fassungslos zu ihm herunter. Harder winkte ihm zu. Sören tippte sich mit dem Zeigefinger gegen den Helm.

Harder wälzte sich von dem Sprungkissen und gab den Feuerwehrleuten ein Daumen-hoch.

„Danke, Jungs, war echt cool. Wie bei Lethal Weapon. Aber nächstes Mal hätte ich lieber eine Hüpfburg.“

Sie antworteten mit nichts als grimmigen Blicken. Harder fand es undankbar. Im Grunde hatte er ihnen einen Gefallen getan. So war ihre Mühe immerhin nicht umsonst gewesen.

Vogt lehnte mit verschränkten Armen an einem der Einsatzwagen. Das Megafon hatte sie auf die Motorhaube gestellt. Der blaue Blazer, die weiße Bluse und die grauen Chinos, die sie zu schwarzen Halbschuhen trug, betonten ihre athletische, dabei weibliche Figur. Doch konnte das zurückhaltend professionelle Outfit einen Unwissenden allzu leicht darüber hinwegtäuschen, mit welcher Explosivität sie imstande war, durch ihre Krav Maga-Techniken auch den größten und kräftigsten Gegner außer Gefecht zu setzen — ohne ihre Kleidung mit einer einzigen Falte zu zerknittern. Ihr rotblonder Bobschnitt saß tadellos. Ihre Wangen hatten einen gesunden Glanz. Wahrscheinlich, dachte Harder, hatte sie schon zwei, drei grüne Smoothies intus, ein Glas frisch gepressten Algensaft oder irgendein anderes der veganen Wundermittel, durch die sie jederzeit aussah wie aus dem Ei gepellt. Im Gegensatz zu den Streifenpolizisten, den Sanitätern und den Schaulustigen, die ihre Handys auf ihn richteten, wirkte sie von Harders Showeinlage nicht im Geringsten überrascht. Sie war noch nicht lange seine Partnerin. Aber lange genug, um wegen seiner gelegentlichen Eskapaden nicht die Fassung zu verlieren. Was allerdings nicht hieß, dass sie davon begeistert gewesen wäre.

„Jemand sollte Sören runterholen“, sagte Harder, gesellte sich zu ihr und zog sein T-Shirt mit dem Lynyrd Skynyrd-Aufdruck zurecht, das bei dem Sturz hochgerutscht war. Der Streifen wenig athletischen blassen Bauches, der dabei zum Vorschein gekommen war, verriet nicht nur zu wenig sportliche Betätigung, sondern auch einen Mangel an Sonnenlicht. „Der Arme steht kurz vor dem Nervenzusammenbruch.“

Er kramte Tabak, Filter und Blättchen aus seiner Lederjacke. In schwindelerregender Höhe genügten ihm Chilis zur Beruhigung. Auge in Auge mit einer schlecht gelaunten Claudia Vogt brauchte er eine Zigarette, um die Nerven zu behalten.

Erwartungsgemäß nahm sie ihn weniger sanft in Empfang als das Sprungkissen.

„Was soll der Mist, Harder? Wir haben Besseres zu tun, als unsere Zeit mit deinen Spinnereien zu verplempern.“

Immerhin verzichtete sie bei ihrer Standpauke auf das Megafon.

„Sorry, Vogt.“ Er steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit seinem Zippo an. „Aber ich konnte doch nicht wissen, dass ihr gleich den Ausnahmezustand ausruft, nur weil ich mir mal ne kleine Auszeit gönne.“ Er erwog, ihr kameradschaftlich den Arm um die Schulter zu legen. Allerdings hätte sie diesen Versöhnungsversuch vermutlich mit einem Ellenbogenstoß gegen seine Nase quittiert. „Überhaupt könntest du ruhig ein wenig erleichtert sein. Ich hätte ja auch draufgehen können.“

Vogt wedelte den Zigarettenrauch von sich, den Harder ausatmete. Gesundheitsbewusst wie sie war — schon fast fanatisch, fand Harder — war ihr Nikotin genauso zuwider wie Alkohol, von Marihuana oder chemischen Drogen ganz zu schweigen.

„Dann hätte sich der ganze Aufwand hier wenigstens gelohnt“, sagte sie. „Wenn du soweit bist, können wir vielleicht endlich los.“

Sie stieß sich von dem Polizeiauto ab und ging zu ihrem Dienstwagen, einem schwarzen BMW, der ein paar Meter entfernt geparkt war.

Harder schloss sich ihr an. Er warf einen letzten Blick nach oben. Sören war offenbar nicht imstande, die rutschige Schräge zu erklimmen, um wieder auf das Dach zu gelangen. Die Feuerwehrleute hatten ihre Leiter ausgefahren, um ihn einzusammeln. Sie freuten sich bestimmt, ihr Spielgerät doch noch verwenden zu können. Harder nahm einen letzten Zug und schnippte die Zigarette weg, bevor er einstieg. In Vogts Wagen waren Rauchen, Trinken und andere Vergnügungen streng untersagt. Sie startete den Motor. Harder drehte das Radio an und suchte den Rocksender. Vogt schaltete das Radio aus und dafür Blaulicht und Sirene ein.

„Jetzt sei doch nicht so ein Griesgram, Vogt“, sagte Harder, als sie eine zügige Wendung hinlegte und den BMW mit Vollgas Richtung Alex lenkte.

„Du siehst ja aus, als sei jemand gestorben.“

 

3

 

Personenschaden.

Der Ausdruck, der über die Anzeigetafel lief, passte nicht. Er war zu trocken, zu sachlich für das Bild, das sich vom Bahnsteig aus bot. Eine breite rote Spur zog sich durch das Gleisbett. Sie begann dort, wo die S-Bahn den jungen Mann erfasst hatte, reichte zehn, zwölf Meter weit und endete an jener Stelle, bis zu der sie ihn mitgeschleift hatte, bevor sie endlich zum Stehen gekommen war. Auf dieser kurzen, mit seinem Blut gekennzeichneten Strecke und in den wenigen Sekunden, die sie gebraucht hatte, um sie zurückzulegen, hatte die Bahn ihn zerschmettert und in Stücke gerissen. Haarbüschel und Schädelbröckchen klebten als rotbrauner Brei an der Kupplungsvorrichtung des Triebwagens. Kleidungsfetzen hatten sich unter den Rädern und in den Zwischenräumen der Schienenstränge verfangen. Abgetrennte Gliedmaßen waren bis hinüber auf die angrenzende Fahrspur geschleudert worden. Überall war Blut. Es tropfte von der gleichmütig reglosen Maschine, die nicht die kleinste Delle aufwies, sickerte in die schmalsten Ritzen, bildete Pfützen und kunstvolle Muster.

Personenschaden konnte nicht beschreiben, was passierte, wenn Tonnen von Stahl mit alles zertrümmernder Gewalt gegen ein zerbrechliches Gebilde aus Haut, Fleisch und Knochen prallten und unbeeindruckt darüber hinwegwalzten.

Gemetzel.

Zermalmung.

Die vollkommene Vernichtung eines menschlichen Lebens.

Aber diese Worte, obgleich angemessen, wollte niemand auf einer Informationstafel lesen, wenn er sich darüber ärgerte, dass seine Bahn ausfiel.

„Willkommen in Oz“, murmelte Harder. Wann immer er einen Tatort betrat, hatte er das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten. Es war ihm, als trete er in eine andere Welt, in der allein der Mörder herrschte, eine unberechenbare Macht, die ihre Geschicke lenkte, wie der Zauberer von Oz oder die Rote Königin in Alice im Wunderland. Drohend schwebte dieser Schatten über Vogt und ihm, bis es ihnen gelang, den Täter zu fassen.

Vogt schien seine Gedanken zu erraten. Sie sah ihn mit diesem skeptischen Blick an, von dem er manchmal dachte, sie habe ihn extra für ihn erfunden. Aber er wusste, sie spürte es auch.

Sie wiesen sich gegenüber einem Streifenpolizisten, der den Zugang zum Gleis bewachte, als Kriminalbeamte aus.

„Ich soll Ihnen von Frau Maaßen ausrichten“, sagte der Polizist. „dass die ersten Ermittlungsschritte bereits veranlasst worden sind. Die Wohnung des Opfers wird durchsucht, Familie und Freunde werden befragt, sein Handy und Computer ausgewertet, das volle Programm.“

„Das volle Programm?“, fragte Harder. „Vogt, du meintest, jemand sei vor die Bahn gestoßen worden. Aber auch wenn das kein Unfall war, betreiben wir für gewöhnlich nicht so einen Aufwand und durchleuchten das Leben des Opfers bis ins kleinste Detail. Was zum Teufel ist hier passiert?“

„Ich weiß nicht“, sagte sie. „Ich habe den Anruf der Zentrale erhalten, dass wir herkommen sollen. Einzelheiten haben sie mir nicht verraten.“

„Da kann ich Ihnen leider auch nicht weiterhelfen“, sagte der Polizist. „Das liegt über meinem Dienstgrad. Sie müssen sich an Frau Maaßen wenden.“

„In Ordnung“, antwortete Vogt. „Danke.“

Sie duckten sich unter dem Absperrband durch, das diesen Teil der S-Bahn-Station abtrennte. Drum herum herrschte der übliche Betrieb. Züge fuhren ein, hielten, um Passagiere aussteigen zu lassen und aufzunehmen, und setzten ihre Fahrt fort. Männer, Frauen und Kinder unterhielten sich, beschäftigten sich mit ihren Handys, lasen Zeitung oder frühstückten aus Bäckertüten, während sie warteten. Die üblichen Durchsagen schallten aus den Lautsprechern. Die Verantwortlichen schienen der Meinung zu sein, dass es überzogen wäre, den gesamten Verkehr lahmzulegen. Nur, weil ein Mensch gestorben war, brauchten schließlich nicht hunderte zu spät zur Arbeit zu kommen.

Auf diesem Bahnsteig aber war vom Alltag nichts mehr übrig. Statt Pendlern, Büromenschen, Handwerkern und Studenten hatten sich Sanitäter, Feuerwehrleute und Polizeibeamte eingefunden. Bereiche wurden gesichert. Die Personalien möglicher Zeugen aufgenommen. Routine bei einem Geschehnis wie diesem, die sich jedoch für keinen der Beteiligten wie Routine anfühlte.

Die S-Bahn war ein Stück zurückgesetzt worden, um die Gleise freizulegen. Im Gleisbett glitten die ‚Geister‘ umher, wie Harder sie nannte, Männer und Frauen in den weißen Ganzkörperanzügen der Spurensicherung. Normalerweise handelte es sich bei den Indizien, die sie mit Markierungsschildern versahen, um Fingerabdrücke, einzelne Haare oder Kleidungsfasern. Hier aber bestand ihre Aufgabe vornehmlich darin, die Überreste des Opfers zusammenzusammeln, die sich über den Schienenbereich verteilt hatten. Wo die Blutspur endete, war eine quadratische Trennwand aufgebaut, ein Sichtschutz gegen die Gaffer, die auf den umliegenden Bahnsteigen die Köpfe reckten, ihre Handys zum Filmen hochhielten und sogar auf die Metallbänke kletterten, um ihre Schaulust und Sensationsgier zu befriedigen.

Gesprächsstoff für die Kaffeepause im Büro.

Hinter dem Sichtschutz blitzte alle Augenblicke grelles Licht auf.

„Siehst du Lisa irgendwo?“, fragte Harder. „Wäre nett, wenn sie uns langsam mal über alles aufklären würde.“

Vogt schaute sich um. Lisa Maaßen, die Leiterin der Spurensicherung, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken.

„Sie wird sich schon blicken lassen“, sagte sie. „Bis dahin brauchen wir hier ja nicht tatenlos rumzustehen. Sehen wir uns näher an, womit wir es zu tun haben.“

Sie sprangen hinunter in das Gleisbett. Vogts geschmeidige Landung zeugte von der Körperbeherrschung, die sie sich durch jahrelanges Kampftraining erworben hatte. Harders ungelenker Aufprall, bei dem er auf einer Blutlache ausrutschte, zeugte von seinem jahrelangen Alkoholkonsum, durch den es ihm offenbar gelungen war, sich den Gleichgewichtssinn abzutrainieren. Zu seinem Glück standen Vogts Reflexe ihrer Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer in nichts nach. Sie packte ihn unter den Armen und bewahrte ihn davor, zu stürzen und sich den Kopf an der Bahnsteigkante aufzuschlagen.

„Hast du heute die Fallsucht, oder was?“, fragte sie und richtete ihn auf. „Reicht dir der Flug nicht, den du vom Dach hingelegt hast?“

„Der war ein bisschen zu schnell vorbei“, sagte Harder und versuchte, an den Schienen das Blut von seinen abgelatschten Turnschuhen abzustreifen. „Übrigens bin ich schwer enttäuscht, dass du mich da nicht aufgefangen hast. Das wäre ein wunderschöner Vertrauensbeweis zwischen Partnern gewesen. Also sorg das nächste Mal bitte dafür, dass ich sanft in deinen starken Armen lande.“

„Das nächste Mal“, sagte Vogt, „lasse ich die Luft aus dem Sprungkissen, … Partner.“

Manchmal wunderte sie sich, dass sie und Harder immer noch ein Team bildeten. Bei ihrem ersten gemeinsamen Fall war sie alles andere als begeistert gewesen, diesem berüchtigten Unruhestifter zugeteilt worden zu sein, der mit seinen ständigen Regelbrüchen, seiner Missachtung jeglicher Autorität und seinem selbstzerstörerischen Lebensstil gegen alles stand, woran sie glaubte. Während ihrer Jagd nach dem Serienkiller hatte er sie dann auch mehrfach an den Rand des Wahnsinns getrieben. Nach ihrem damaligen Ermittlungserfolg hätte sie unter ihren Kollegen freie Partnerwahl gehabt (in jeglicher Bedeutung dieses Wortes). Dennoch hatte sie entschieden, weiter mit Harder zusammenzuarbeiten, zumindest vorerst. Es ließ sich nicht abstreiten, dass sie dem Psychopathen mit der Vorliebe für absurde Gedichte nicht zuletzt wegen Harders absonderlichen Methoden auf die Spur gekommen waren. Außerdem, auch wenn sie es niemals vor ihm zugegeben hätte: Er war ihr tausendmal lieber als irgendein Langweiler.

Sie traten um den Sichtschutz herum, der auf einer Seite offen war.

Dahinter lag, auf einer Plane, ein halber Mensch in Einzelteilen. Den Rest hatte die Spurensicherung offenbar noch nicht gefunden. Das größte zusammenhängende Stück machte der Rumpf aus. Er steckte in einem grauen Kapuzenpulli, auf dem sich Blut mit dem Dreck des Gleisbetts und dem Schmieröl der Bahn mischte. Lange Risse klafften in dem Stoff und dem darunter zum Vorschein kommenden Rücken. Das rechte Bein war direkt unterhalb der Hüfte abgetrennt worden. Am Linken reichte eine blaue Markenjeans bis knapp zum Knie, darunter war nichts mehr. Der rechte Arm war bis zum Ellenbogen vorhanden. Der Linke fehlte komplett von der Schulter an. Der Kopf war zwar da. Aber er war nicht mehr mit dem Rest des Körpers verbunden. Aus den Schnittstellen — Harder wusste nicht, wie er sie sonst nennen sollte — ragten Knochen, quoll blutiges Fleisch, hingen zerrissene Muskeln und Sehnen.

Harder wünschte, er hätte auf sein absonderliches Frühstück verzichtet, anstatt sich den Magen mit Chilis und Milch vollzuschlagen — einer Mischung, die zum Erbrechen einlud. Auch Vogts Gesicht näherte sich der Farbe ihrer geliebten Spinatsmoothies an. Sie hatten erstochene Tote gesehen, erschlagene, erdrosselte, erschossene. Dieser sah aus, als hätte man all das und noch mehr mit ihm gemacht.

„Ich hoffe für ihn, er hat schon beim Aufprall das Bewusstsein verloren“, sagte Vogt. „Auch wenn das Ganze nur ein paar Sekunden gedauert hat, wünsche ich ihm, dass er nicht eine davon erleben musste.“

Der Polizeifotograf, der damit beschäftigt gewesen war, die Überreste des Toten mit seiner Kamera festzuhalten, trat beiseite, damit die Kommissare sie untersuchen konnten.

Harder ging in die Hocke, zog ein Paar Gummihandschuhe aus der Box, die neben den Leichenteilen stand, und streifte sie über. Vorsichtig hob er den Kopf auf.

„Er war höchstens zwanzig“, sagte er. „Viel zu jung zum Sterben, vor allem auf so grausige Art.“

Er drehte den Kopf, um ihn von allen Seiten zu betrachten. Das Gesicht des jungen Mannes war lang und schmal gewesen. Näher ließ es sich nicht beschreiben. Die rechte Seite war vom Haaransatz über die Stirn bis zum Ohr zu einer Schräge zusammengedrückt. Die rechte Wange war zerquetscht. Der Kiefer hing lose und schief herunter. Blut verklebte die hellbraunen Haare und bildete Krusten auf der schlaffen grauen Haut um die zertrümmerte Nase und den Mund, in dem kaum noch Zähne steckten. Das eine Auge war vollkommen zugeschwollen. Das andere war geschlossen. Behutsam schob Harder das Lid hoch. Das Auge darunter war hellblau und in seiner Höhle nach unten gerutscht. Trüb starrte es an Harder vorbei, als weiche es seinem Blick aus.

Harder war beinahe froh darum. Er war nicht sicher, was es in ihm ausgelöst hätte, direkt in dieses leere Auge hineinzublicken. Vor einer halben Stunde noch hatte er sich auf dem Hoteldach einen Spaß daraus gemacht, mit dem Tod zu spielen.

Für diesen Jungen war es kein Spiel gewesen, sondern blutiger Ernst.

Harder war nicht sicher, ob es an seinen regelmäßigen Sitzungen mit Sören lag, die nun in ihm ihre Wirkung zeitigten.

Aber er fühlte sich wie ein Arschloch.

„Was machen wir hier?“, fragte er Vogt, die genug gesehen und sich ein paar Schritte entfernt hatte. Sie ließ ihren berühmten Scannerblick über den Bahnsteig wandern und hatte ihren Notizblock und Kugelschreiber gezückt, um jede Auffälligkeit festzuhalten.

Auf seine Frage hin wies sie mit dem Stift auf den Kopf in seinen Händen.

„Was soll das werden, irgend so ein Hamlet-Monolg? Sein oder Nichtsein? Die große Frage nach der Bedeutung und dem Sinn des menschlichen Daseins? Sorry, Harder, deine Suche nach Erkenntnis in allen Ehren, aber das hier ist weder der richtige Ort noch die richtige Zeit für philosophische Erörterungen.“

„Nein. Ich meine, was machen wir beide hier an dieser S-Bahn-Station, so kurz nach der Tat?“

Er legte den Kopf zurück auf die Plane, stand auf und gab dem Fotografen ein Zeichen, seine Arbeit wieder aufzunehmen.

„In den meisten dieser Fälle sind es doch Irre, Assis oder Besoffene, die mehr oder weniger spontan jemanden auf die Gleise schubsen, der ihnen auf die Nerven gegangen ist oder von dem sie sich provoziert fühlten. Wenn sie es nicht vö