Unter pechschwarzen Sternen - Gereon Krantz - E-Book

Unter pechschwarzen Sternen E-Book

Gereon Krantz

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Beschreibung

Tote Frauen mit Tierköpfen und mysteriösen Brandzeichen. Absurde Gedichte aus dem Mittelalter, keulenschwingende Orks und Bodybuilder in der Klapsmühle — ihr erster gemeinsamer Fall stellt die Kommissare Harder und Vogt vor eine irrwitzige Herausforderung. Und ihre Zusammenarbeit erweist sich als schwierig. Während die ehrgeizige Vogt sich geradezu besessen an die Dienstvorschriften hält, scheut der eigensinnige Harder nicht davor zurück, auf der Jagd nach dem Serienmörder sämtliche Regeln zu brechen — wobei er auch mit seinen ganz eigenen Dämonen zu kämpfen hat.

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1. Auflage November 2017

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Katrin Kawinkel, katika- media.de

unter Verwendung eines Fotos von Fotolia / tanycya

© Pro-Talk Verlags GmbH 2017 Bahnhofstr. 29 53639 Königswinter

ISBN (ePub): 978-3-939990-45-1

1

Der Mord an Veronika Fromm war ein Unfall, daran war nicht zu rütteln, und daran änderten auch die über dreißig Stichwunden nichts, aus denen ihr plumper Körper jetzt langsam auslief und das Parkett einsaute. Jedenfalls schätzte er, dass es über dreißig waren. Er hatte sie nicht gezählt, als er sie ihr verpasst hatte. Das wäre auch zu viel verlangt gewesen. In blinder Raserei hatte er wieder und wieder auf sie eingestochen – „wie ein Irrer“, dachte er kopfschüttelnd –, bis er Atemnot bekommen hatte und ihm der Arm lahm geworden war. Noch immer atmete er schwer, obwohl er jetzt schon ein paar Minuten auf dem Hocker am Küchentresen saß. Auch sein Herz schlug noch schnell, ganz abgesehen davon, dass er vollkommen durchgeschwitzt war. Er schloss die Augen und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen. Langsam kam er zur Ruhe. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und atmete noch einmal durch. Dann stand er auf und ging zurück in den Flur, um sich das Malheur aus der Nähe anzusehen.

Veronika – „Vero“ für ihre Freunde – lag neben der Garderobe. Sie war fast bis zur Tür gekommen. Für ein so schweres Mädchen war sie erstaunlich flink gewesen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie es aus der Wohnung und bis auf die Straße geschafft hätte. Aber zum Glück war ja alles noch mal glimpflich verlaufen. Er hatte Vero gerade noch am Gürtel ihres Kleides zu fassen gekriegt und sie zurückgerissen, bevor sie die Klinke herunterdrücken konnte, und dann hatte er ihr das widerborstige Verhalten gründlich ausgetrieben und ihr gezeigt, dass man so nicht mit ihm umging.

Er blickte verächtlich auf sie hinab. Sie war auf dem Rücken zu liegen gekommen, ein weicher Fleischberg ohne Spannung. Er gab acht, nicht in das Blut zu treten, und beugte sich über sie. Ihr Gesicht, bemitleidenswert hübsch unter der Speckhülle, sah ratlos aus, als begreife sie noch immer nicht, was vor sich gegangen war. Aber wie hätte sie auch erwarten können, dass ihr charmanter Verehrer plötzlich mit einem Messer über sie herfiel? Ihre Augen waren offen und starrten ihn mit glasigem Blick an. Unter dem Blutgeruch meinte er noch eine Spur ihres Parfüms zu riechen, beißend süßer Veilchenduft, so penetrant, dass ihm übel wurde. Wie alle dicken Frauen, die sich noch nicht aufgegeben haben, hatte sie viel Zeit auf Körperpflege, ihre Haut, ihre Haare und ihr Makeup verwandt, um ihr Doppelkinn, das Hüftgold und den zu breiten Hintern wettzumachen. Heute hatte sie sich besonders angestrengt. Sie hatte gut aussehen wollen für ihn. Wahrscheinlich hatte sie im Badezimmer Stunden damit verbracht, sich mit Bürste und Lockenwicklern, Pasten und Cremes für ihn herzurichten. Viel war von ihrer Mühe nicht mehr zu erkennen. Ihre kastanienbraunen Haare waren blutverklebt, Mascara und Lippenstift verschmiert und kein Rouge kam gegen die Leichenblässe an.

Das Messer lag neben ihr auf dem Parkett. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er es fallen gelassen hatte. Es war ein billiges Gemüsemesser mit blauem Plastikgriff  und  kurzer Klinge, beides vollkommen mit Blut überzogen. Auch um Vero herum war alles voller Blut. Bis unter die Garderobe war es gelaufen. Er bräuchte gar nicht erst zu versuchen, die Schweinerei aufzuwischen. Auch seine rechte Hand, stellte er fest, war ganz klebrig davon. Er blickte an sich herunter. Es wunderte ihn, dass sein Anzug einigermaßen sauber geblieben war. Außer ein paar Flecken hatte er nichts abbekommen. Die gingen sicher raus, wenn er ihn zu Hause gleich einweichte. Es war sein bester Anzug. Er hatte sich schick gemacht für diesen Anlass. Es hatte ein besonderer Abend werden sollen. Aber Vero hatte es verbockt. Sie allein war schuld daran, dass sie auf so schmerzhafte und blutige Weise gestorben war. Er hatte sie bloß bewusstlos schlagen wollen. Er hatte sich extra einen nagelneuen Totschläger besorgt und zu Hause an der Sessellehne geübt, bis er einen sauberen Schlag mit ordentlichem Schwung draufhatte, bei dem man die in Leder eingenähte Bleikugel vor dem Aufprall durch die Luft zischen hörte. Er hatte den Zeitpunkt perfekt abgepasst. Vero hatte gerade am Küchentresen gestanden und Möhren für den Salat geschnitten, den sie ihm vorsetzen wollte, als hätte sie ihm dadurch weismachen können, dass nicht Fast Food ganz oben auf ihrem Speiseplan stand. Sie hatte irgendwas von einem Familienrezept für French Dressing gequasselt. Zugehört hatte er ihr nicht. Er war damit beschäftigt gewesen, hinter ihr maßzunehmen und auszuholen. Wenn sie stillgehalten hätte, hätte der Schlag gesessen. Dann wäre alles ganz einfach gewesen. Er hätte sie über den Aufzug nach unten geschafft und in den Kofferraum verfrachtet. Kein Blut, kein Tumult, kein Stress. Eine saubere Sache. Aber die dumme Ziege hatte sich ja ausgerechnet im ungünstigsten Moment umdrehen müssen. Der Schlag hatte sie über dem linken Auge erwischt und war zur Seite abgeglitten. Vero war nicht einmal ins Taumeln geraten. Sie hatte ihm keine Zeit für einen zweiten Versuch gelassen. Sie war sofort durchgedreht, hatte ihn zur Seite gestoßen und war kreischend zur Tür gerannt. Da war er ausgetickt. Er hatte den Totschläger auf den Tresen geworfen, sich das Messer geschnappt und war auf sie losgestürzt. Ihm war klar gewesen, dass er sie unter keinen Umständen entkommen lassen durfte. Aber es war vor allem das Geschrei gewesen, das ihn verrückt gemacht hatte. Geschrei vertrug er nicht. Wenn Vero vernünftig geblieben wäre, hätte sie ihnen beiden viel Ärger erspart. Das hatte sie jetzt davon.

„Du Miststück“, sagte er zu Vero. „Geschieht dir recht, du dumme Sau!“

Er richtete sich auf. Er konnte sich neben Vero in dem Spiegel sehen, der neben der Garderobe hing. Er lehnte sich vor, versuchte, in seinem Gesicht Zeichen dafür zu entdecken, dass er gerade getötet hatte. Man sollte meinen, dass es irgendwie sichtbar wurde. Es war jedoch nicht zu erkennen – nur ein bisschen blass war er. Aber das kam wahrscheinlich von der Anstrengung. Außerdem hatte er in der letzten Nacht schlecht geschlafen. Er schlief immer schlecht, wenn am nächsten Tag etwas Großes bevorstand – und das hier war das Größte, das er jemals vollbracht hatte. Er hatte leichte Augenringe, sein Haar war durcheinander von dem Handgemenge und an seinen Wangen klebten ein paar Spritzer von Veros Blut. Ansonsten sah er aus wie immer: ein sympathischer Bursche, der Frauen die Tür aufhielt, entzückte Geräusche machte, wenn er ein Baby oder einen Hundewelpen sah, und alten Leuten in der Bahn seinen Sitzplatz anbot. Er lächelte probeweise. Es war nicht das Grinsen eines Killers. Es war dasselbe freundliche, vertrauenerweckende Lächeln, das auch Vero so gefallen hatte. Er hob die Hand, um seinen Krawattenknoten gerade zu rücken und sein Haar zu richten, erinnerte sich an das Blut an seinen Fingern und ließ es bleiben. Weil er nichts anderes fand, wischte er sich die Hände so gut es ging an einem hellen Mantel ab, der an der Garderobe hing. Vero brauchte ihn nicht mehr, man hätte sie höchstens damit zudecken können, und bestimmt war auch sonst niemand scharf darauf, sich die Klamotten einer Toten anzuziehen.

Er lauschte. Es war sehr still jetzt, wo Vero nicht mehr schrie. Sie verbreitete Stille, so wie sie vorher für Lärm gesorgt hatte. Er mochte diese Stille nicht, er fand sie beklemmend, und er nahm sie Vero übel. Selbst im leblosen Zustand musste sie ihm noch zu schaffen machen. Er wollte etwas sagen, sie weiter beschimpfen, damit die Stille aufhörte. Aber ihm gefiel nicht, wie seine Stimme in der stillen Wohnung klang, irgendwie verloren, als spreche er in ein großes Nichts hinein. Er wunderte sich, dass niemand kam, um sich nach dem Aufruhr zu erkundigen. Es war ihm vorgekommen, als hätte man Veros Gebrüll noch drei Straßen weiter hören können. Aber wahrscheinlich hatten es die übrigen Hausbewohner für nichts weiter als einen handfesten Streit unter Liebenden gehalten, dem eine hingebungsvolle Versöhnung folgte. Er war froh darum. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, waren neugierige Nachbarn.

Er ging zurück ins Wohnzimmer, griff sich im Vorübergehen eine Möhre vom Schneidebrett und biss krachend ein Stück ab. Darauf herumkauend überlegte er, was er jetzt mit Vero anfangen sollte. Er dachte daran, einfach zu gehen und sie in ihrem Blut verrotten zu lassen. Ein paar Tage in der warmen Wohnung – die Sommerhitze würde sie ordentlich aufheizen – und sie wäre nur noch ein matschiger Batzen Gammelfleisch. Verdient hätte sie es.

Er biss noch einmal in die Möhre und blickte sich im Wohnzimmer um. Von der Einrichtung konnte man Migräne kriegen: ein plüschiger lila Teppich, ein grünes Sofa mit einer knatschgelben Tagesdecke, Kissen in pinken, blauen und roten Bezügen. Man kam sich vor, als laufe man durch einen quietschbunten LSDTrip (er hatte das Zeug früher mal ausprobiert, als er psychisch nicht ganz stabil gewesen war). An den Wänden hingen Poster mit Tierbabys, die putzige Sachen machten, dazwischen ein Kalender mit halb nackten Männern, die ihre Waschbrettbäuche und Brustmuskeln in die Kamera hielten. Auf dem Couchtisch lag eine Reihe Modeund Frauenzeitschriften. Eines der Hefte war auf der Ratgeberseite mit dem PsychoTest aufgeschlagen (Ich verliebe mich immer in den Falschen!), darauf lag eine Schnur, auf die bunte Holzperlen gezogen waren. Eine kleine Schachtel war mit weiteren Perlen gefüllt. Vero bastelte ihren eigenen Schmuck, Zeitvertreib für lange Abende allein. Davon hatte sie viele gehabt, wie man auch an den Kitschromanen und den Liebesschnulzen auf DVD erkennen konnte, mit denen das Regal gefüllt war. Vor den Büchern und Filmen standen, in Glitzerrahmen, Fotos von Vero und ihren Freundinnen, alle ungefähr in der gleichen Gewichtsklasse, in Klubs und Bars, Mädelsabende mit Prosecco und Wodka Bull. Vero lächelte auf allen Fotos. Man war hier von ihrem Lächeln umzingelt, als hätte sie jedem Besucher, wahrscheinlich aber vor allem sich selbst, ständig vor Augen halten wollen, was für ein lebensfroher Mensch sie war und dass es ihr nichts ausmachte, von den nächtlichen Unternehmungen immer wieder ohne Begleitung nach Haus zu kommen. Er verstand das, besser als die meisten. Jeder suchte einen Weg, mit seinen inneren Dämonen fertig zu werden. In ihrer kurzen Beziehung hatte sie dann natürlich von Zuspruch und Bestätigung gar nicht genug kriegen können. Immer wieder hatte er ihr sagen müssen, wie anziehend er sie fand und dass ihm die paar Pfunde zu viel nichts ausmachten. Im Gegenteil, hatte er behauptet: Eine richtige Frau brauche Kurven, ein Mann wünsche sich was zum Anfassen und so weiter und so fort. Es war nervtötend. Frauen, für die sich niemand interessierte, waren immer auf sich selbst fixiert (es galt wohl auch für Männer, aber damit hatte er weniger Erfahrung). Man brauchte sich nur zwei Folgen einer Seifenoper anzusehen, um zu wissen, was man ihnen erzählen musste. Er fand es überheblich, dass Vero geglaubt hatte, jemand wie er könne sich ohne Hintergedanken zu ihr hingezogen fühlen. Aber man konnte den Leuten alles weismachen, solange es ihnen schmeichelte. Sie bettelten geradezu danach, dass man ihnen Wertschätzung vorgaukelte, damit sie sich einbilden konnten, bewundert, begehrt und vor allem geliebt zu werden. Er verurteilte das nicht. Es war ihr gutes Recht, sich belügen zu lassen. Aber dann mussten sie eben auch mit den Konsequenzen leben – oder, siehe Vero – daran sterben.

„Was fangen wir jetzt mit dir an, Vero-Maus?“, murmelte er. „Wie bringen wir dieses Chaos in Ordnung?“

Aber Vero ließ sich nicht dazu herab, ihm bei diesem Problem behilflich zu sein, obwohl sie selbst die größte Verantwortung dafür trug.

Er trat ans Fenster. Der Vorhang, türkis mit Blumenmuster, war zugezogen. Er hatte sofort für Privatsphäre gesorgt, nachdem Vero ihn hereingelassen und ihm mit ihren Schwulstlippen einen Schmatzer auf die Wange gedrückt hatte, bei dem er sich beherrschen musste, sie nicht von sich zu stoßen. Lieber hatte er ihr Blut im Gesicht als ihren Speichel. Er schob den Vorhang ein Stück beiseite und schaute hinaus. Es hatte sich endlich ausgeregnet. Jetzt, zum Abend hin, kam sogar noch mal die Sonne raus. Ein paar Leute waren unterwegs. Ein Junge und ein Mädchen zockelten Arm in Arm den Bürgersteig hinab. Eng aneinandergeschmiegt  staksten sie im Zickzack um die Pfützen. Ein Rentner mit karierter Schirmmütze schleifte einen ergrauten Dackel spazieren. Vor dem Kiosk gegenüber stand ein Türke mit Schnurrbart, rauchte einen Zigarillo und las in der Hürriyet. Es gefiel ihm, ihnen zuzusehen und zu wissen, dass sie ihn nicht bemerkten, keine Ahnung davon hatten, was er in dieser Wohnung trieb, dass er gerade getötet hatte und ein paar Meter hinter ihm eine Leiche auf dem Boden lag. Der Gedanke brachte ihm zum Lächeln.

Er ließ den Vorhang zurückfallen, drehte sich um und lehnte sich an die Fensterbank. Er blickte auf den VeroHaufen im Flur. Er war ihr nicht mehr böse. Seine schlechte Laune war verflogen. Er fühlte sich gut und ausgeglichen. Er hatte es geschafft, den ersten wichtigen Schritt. Zwar war nicht alles so gelaufen, wie er es sich vorgenommen hatte. Aber es brachte nichts, sich über verschüttete Milch – oder vergossenes Blut – aufzuregen. Besser, sich auf das zu konzentrieren, was als Nächstes kam. Er tadelte sich für die abwegige Idee, unverrichteter Dinge abzuhauen. Es wäre Verschwendung gewesen, Vero hier zu lassen, nach all dem Ärger, den er mit ihr gehabt hatte. Natürlich würde es nicht leicht sein, diesen Fleischberg nach unten zu bringen, vor allem in einem Stück (er wollte sie ungern zerteilen; das könnte er später nur schwer wieder richten). Aber er würde es schaffen. Er war nicht allein. Sie waren bei ihm, sie würden ihn stärken, ihn schützen. Mit ihrer Unterstützung – und mithilfe einiger Müllsäcke und Bettlaken – würde er den Schwertransport bewerkstelligen, ohne dass jemand etwas mitbekam und ohne dass er im Hausflur und dem Aufzug allzu viele Spuren hinterließ, die Scherereien nach sich zögen. Er würde das Beste aus einer schwierigen Lage machen, darin war er schon immer gut gewesen, und er würde sich nicht mehr darüber ärgern, dass er Vero erlaubt hatte, ihn um seine Beherrschung zu bringen. Er war lediglich in alte Muster zurückgefallen. Das konnte jedem passieren. Sie würden das verstehen. Und beim nächsten Mal würde er es anders anstellen, sorgfältiger vorgehen.

Aller Anfang war bekanntlich schwer.

2

Die Schlampe wollte nicht ficken. Max kam immer noch nicht darauf klar. Den ganzen verdammten Abend baggerte er an ihr rum, mixte ihren bescheuerten Gin Tonic, spendierte ihr Kippen, nickte und lächelte zu ihrem Endlos-Gelaber über Design und Marketing, obwohl ihm das völlig am Arsch vorbeiging – und was kam dabei rum? Nichts außer ein bisschen Geknutsche im Flur, als er sie auf dem Weg von der Toilette abgepasst hatte, um endlich zu klären, was ging. Am Anfang war sie noch voll drauf eingestiegen, hatte sich an ihn gedrückt, als wollte sie ihn gleich durch seine Hose hindurch bumsen. Aber kaum hatte er sich eine ihrer Titten gegriffen, war sie auf Abstand gegangen und hatte gemeint, sie sollten lieber zurück ins Wohnzimmer zu den anderen. Machte einen auf Klosterschülerin. Katja, die Unberührbare! Aber von Carsten ließ sie sich knallen, dem behinderten Spasti. Wobei man nicht wissen konnte, ob da was dran war. Der Typ laberte viel, vor allem, wenn er dicht war. Max hoffte, dass es nur Gelaber war. Es hätte ihm nicht gefallen, wenn Katja einfach mit jedem gevögelt hätte. Aber ihn hätte sie schon ranlassen können, wo er den ganzen Abend so scheißnett gewesen war …

Er lehnte sich über den Lenker und stemmte sich fester in die Pedale. Das UraltRad krachte und klapperte, als wollte es jeden Moment unter ihm zusammenbrechen. Er ärgerte sich, dass er am Nachmittag nicht wenigstens die Reifen aufgepumpt hatte. Auf dem Hinweg war es noch einigermaßen gegangen. Jetzt waren sie so platt, dass er fast auf den Felgen fuhr. Er hoffte, dass wenigstens nicht wieder die Kette raussprang. Die kriegte er im Dunkeln nie wieder reingefummelt. Wenn sie raussprang, beschloss er, würde er den Blechhaufen einfach am Straßenrand liegen lassen und zu Fuß weitergehen. Das Teil war eh nicht mehr zu gebrauchen. Der Dynamo schleifte lose am Hinterreifen, die Vorderlampe flackerte matt und das Rücklicht hatte schon lange den Geist aufgegeben. Die Straße, zwischen zwei Wohngebieten, war nicht gut beleuchtet und in seiner dunklen Jeans und dem schwarzen Kapuzenpulli hatte er nicht gerade Signalfarben an. Er wartete nur darauf, dass irgendein Vollpfosten ihn zwischen zwei Straßenlaternen mit seinem BMW bei achtzig Sachen ins Gebüsch semmelte. Er hielt sich möglichst dicht am Fahrbahnrand – einen Radweg gab es hier nicht – und zwang die Schrottmühle vorwärts.

Das Rad zu nehmen, war eine Schnapsidee gewesen. Aber er hatte halt fest damit gerechnet, dass Katja ihn bei sich pennen lassen würde. Die Art, wie sie ihn neulich in der Bar immer wieder angesehen hatte, und dazu dieses Lächeln – er war doch nicht völlig behämmert, dass er das falsch verstanden hatte. Wenn er nicht früher weggemusst hätte wegen der Scheißklausur am nächsten Tag, wäre sie an dem Abend mit ihm abgestürzt, anstatt mit SpackoCarsten. Er war sicher gewesen, dass sie heute nachholen würden, was doch, wenn auch nur mit Blicken, zwischen ihnen ausgemacht gewesen war. Aber nichts, keine schnelle Handnummer oder ein bisschen Lutschen auf dem Klo, kein Vertrösten auf später, nicht mal irgendeine Ausrede von wegen Periode und so. Für die nächste Stunde nach dem Knutschen, in der er sich flirttechnisch noch mal richtig verausgabt hatte, war sie unnahbar gewesen, als hätte sie sich den Keuschheitsgürtel umgeschnallt, und nachher hatte sie sich von ihm verabschiedet wie von irgendeinem Dämlack, der nicht schnallte, dass sie keinen Bock auf ihn hatte. Scheiß Weiber! Die wussten nicht, was sie wollten. Wenn er geahnt hätte, dass sie ihn am ausgestreckten Schwanz verkümmern lassen würde, wäre er mit den Öffentlichen gefahren und hätte den letzten Nachtbus nach Hause genommen. Oder er  hätte  sich ihre verkackte WGParty gleich ganz geschenkt. Es waren sowieso fast nur Spaten von der Designhochschule da. Mit denen konntest du nicht mal in Ruhe ein Bier trinken, ohne dass sie dir erklärten, welche brillante Strategie hinter der Gestaltung des Flaschenetiketts steckte. Als ob das irgendwen juckte. Katja wurde auch immer mehr so. Man konnte sich keine fünf Minuten mit ihr unterhalten, ohne dass sie mit der Großkotzerei anfing. Eine aufgeblasene Tussi, mehr war sie nicht. Und wegen der durfte er sich jetzt hier abstrampeln.

Zu allem Überfluss musste es auch noch anfangen zu schiffen. Regenjacke? Fehlanzeige. Als er losgefahren war, war es noch richtig schön gewesen. Da hatte man bloß ein TShirt gebraucht. Aber jetzt … Immerhin hatte er sich beim Losfahren vorsorglich den Kapuzenpulli auf den Gepäckträger geklemmt, zu der Sechserpackung Beck’s Lemon, die er für die Party besorgt hatte. Er war froh gewesen, was zum Überziehen zu haben, als er von Katja aufgebrochen war. Es hatte sich echt abgekühlt. Aber auf Regen war er nicht eingestellt gewesen, noch ein Punkt, bei dem er falsch kalkuliert hatte (der Wetterdepp im Fernsehen übrigens auch). Er stülpte sich die Kapuze über und zog den Kopf ein. Aber der Regen fiel schräg und klatschte ihm voll ins Gesicht. Es war kein heftiger Regen, eher ein stetiges Gepisse. Aber es reichte, um ihn von oben bis unten einzusiffen und das Radfahren wurde dadurch auch nicht spaßiger. Die Lenkergriffe wurden glitschig. Seine Turnschuhe rutschten von den Pedalen. Die Reifen hatten kaum Profil und kamen leicht ins Schlingern. Es fehlte noch, dass er sich hier auf die Schnauze legte. Es hätte gepasst. Eine richtige Scheißnacht war das! Und als ob nicht schon alles ätzend genug war, musste er auch noch ständig an Katjas Titte denken, wie passgenau sie in seiner Hand gelegen hatte, wenn auch nur kurz. Er hatte längst einen Steifen, trotz Regen und Sturzgefahr, und da half es auch nichts, auf Katja sauer zu sein. Titten trumpften Großkotzerei und schlechtes Wetter allemal. Das Ding ragte schief in sein Hosenbein und drückte unangenehm bei jedem Tritt. Er dachte daran, anzuhalten und sich schnell Erleichterung zu verschaffen. Aber die Vorstellung, sich im nächtlichen Berliner Regen an der Leitplanke einen runterzuholen, war wenig verlockend. So weit war er noch nicht, bei aller Geilheit. Ein bisschen Würde hatte er noch übrig. Außerdem hatte er es bald geschafft. Nur noch um die Kurve, durch die Fußgängerunterführung und ein Stück die Straße runter, dann war er zu Hause, konnte aus den nassen Klamotten raus und sich im Bett anständig einen schubbern, während er sich vorstellte, wie er Katja flachlegte und sie konnte nichts dagegen machen.

Ein Auto raste so dicht an ihm vorbei, dass er vor Schreck den Lenker verriss. Es fehlte nicht viel und er hätte das Rad auf die Grasnarbe neben der Fahrbahn gesteuert – und wäre unvermeidbar im Dreck gelandet. Im letzten Moment kriegte er es wieder unter Kontrolle.

„Danke, Arschloch“, murmelte er, während er die Rücklichter um die Kurve verschwinden sah. Ein fetter Audi, na klar! Wer so was fuhr, sah Fahrradfahrer bloß als lästige Verkehrshindernisse, die gefälligst aufpassen mussten, dass sie ihm nicht im Weg waren, und wenn er sie in den Graben rammte, hatten sie eben Pech gehabt. Als er um die Biegung klapperte, war von dem Wagen nichts mehr zu sehen. Vor ihm lag nur die verlassene Straße. Der Asphalt schimmerte im Licht einer bleichen Straßenlaterne wie schwarzes Wasser, in dem er versinken würde. Regentropfen prallten darauf nieder, zerplatzten und sprangen zurück wie Gischt. Zu beiden Seiten ballte sich Finsternis, in der Büsche und Bäume nur als groteske Schatten zu erkennen waren. Von der Stadt war nichts zu sehen, keine Häuser, keine erleuchteten Fenster. Nur Nacht, ein Himmel aus dunklem Nichts, nasse Kälte und das Flüstern und Rascheln des Regens. Öde Einsamkeit, wie auf dem Land. Man hätte sich nicht gewundert, einen Wolf heulen zu hören.

Max hängte sich noch mal rein. Nur noch ein Stück.

Die Unterführung tat sich neben der Straße auf wie eine Höhle, der  Eingang  eines kilometerlangen unterirdischen Tunnelsystems. Ein mattgelber flackernder Lichtschein drang daraus hervor. Max hörte auf zu treten und ließ das Rad rollen. Wahrscheinlich hatten sich da drinnen mal wieder Obdachlose für die Nacht eingerichtet und ein Lagerfeuer gemacht, um sich aufzuwärmen. Er überlegte, ob er nicht besser außenrum fahren sollte. Diese Typen konnten echt aggro werden, wenn man sie störte, vor allem, wenn sie einen sitzen hatten, und sie hatten fast immer einen sitzen. Er war schon einmal in der Unterführung mit einem von ihnen aneinandergeraten, einem Fettsack im verfilzten Mantel und mit struppigem Bart, der aussah wie der König der Kloake und auch so roch. Der hätte ihm fast seine Pulle Billigbier übergezogen, weil er aus Versehen über eine Ecke seines Schlafsacks gefahren war. Das musste er nicht noch mal haben.

Aber außenrum zu fahren war ein ziemlicher Umweg. Ihm war arschkalt. Sein Gesicht war klatschnass und auch sein Pullover und die Jeans waren inzwischen aufgeweicht. Die Feuchtigkeit drang ihm bis auf die Knochen, und der Wind, der den Regen immer wieder in Stößen auf ihn zutrieb, fror ihm die Finger steif (und das nannte sich Sommer!). Er hatte keinen Bock, sich wegen dieser Saufsäcke eine Lungenentzündung einzufangen. Außerdem wäre er sich wie eine Pussy vorgekommen, wenn er vor ein paar Pennern gekniffen hätte, und sein Selbstwertgefühl hatte heute – dank Katja – schon genug gelitten. Er trat wieder an. Gas geben, Kopf runter und einfach schnell durch. Er wäre drüben wieder raus, bevor die in ihrem Schnapsdusel überhaupt was merkten.

Er holte Schwung, duckte sich hinter den Lenker und sauste den seichten Hang hinab, der in die Unterführung führte, hinein in das flackernde gelbe Licht. Er strampelte weiter, um möglichst schnell auf die andere Seite zu kommen. Muffige Luft und der Gestank von alter Pisse schlugen ihm entgegen. Er versuchte, nicht zu atmen, bis er wieder im Freien war. Die Graffiti, mit denen die rissigen Betonwände beschmiert waren, und die alten Plakate, die in Fetzen von ihnen herunterhingen, nahm er nur als buntes Flimmern am Rande wahr. Auf dem Boden lagen leere Dosen, zerknüllte Zeitungen, Zigarettenstummel und benutzte Spritzen, die zeigten, dass auch Junkies hier gerne unterkrochen. Er war so darauf konzentriert, nicht mit dem Vorderrad in den Müll zu geraten und trotzdem sein Tempo zu halten, dass er erst im letzten Moment bemerkte, woher der Lichtschein kam. Und dann haute es ihn so um, dass ihm nicht einfiel, die Bremsen zu ziehen. Es waren keine Obdachlosen hier. Auch keine Junkies oder Punks. In der Mitte des Tunnels stand, im warmen Lichtkreis etlicher Kerzen, eine Frau. Sie war in einen weiten Umhang gehüllt und hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen, die ihr Gesicht verbarg. Sie schien vor ihm zu schweben, regungslos, die Arme ausgebreitet, als habe sie ihn erwartet.

Und er hielt genau auf sie zu.

„Fuuuuuuck!“

Sein Schrei vervielfältigte sich in  einem  hohlen  Echo, mit dem die Wände auf ihn einbrüllten. Er riss den Lenker herum und zerrte an der Bremse. Das Rad stellte sich quer, der Hinterreifen rutschte weg und er krachte auf die Fresse. Er schlug hart mit dem Ellenbogen auf und quetschte sich das Bein unter dem Fahrrad ein. Er achtete nicht darauf. Er hätte nicht mal darauf geachtet, wenn sich bei dem Aufprall ein halbes Dutzend AIDSverseuchter Spritzen durch seine Haut gebohrt hätten. Das Einzige, worauf er achtete, worauf er achten konnte, war die Gestalt in dem Kapuzenumhang, die über ihm stand und auf ihn niederzublicken schien. Es war tatsächlich eine Frau. So viel war sicher. Und noch etwas war sicher: Die Alte war hin. Aber so was von. Den Puls brauchte man gar nicht erst zu checken. Er starrte in die Augen hinter der Maske – war es eine Maske? Es musste eine Maske sein! – und die Augen, meinte er, starrten zurück. Er spürte die Kälte ebenso wenig wie den Schmerz in seinem Arm und seinem Bein. Sein Schwanz schrumpelte zusammen. Auf einmal musste er tierisch pissen. Es war nicht nur der Schreck, plötzlich eine Tote vor sich zu haben. Es war Angst, richtige Scheißangst, wie er sie zum letzten Mal als Kind gehabt hatte, als er heimlich einen Horrorfilm geschaut hatte und danach die ganze Nacht nicht schlafen konnte, weil er sicher war, dass das Monster käme, um ihn zu holen. Ihm ging dermaßen die Pumpe, dass jeder Herzschlag seinen ganzen Körper zum Beben brachte. Aus der Wunde am Ellenbogen lief das Blut seinen Arm herunter. Sein Knie war verdreht. Aber er wagte nicht, sich zu bewegen. Es war ihm, als würde sich die Tote, wenn er nur mit dem Finger zuckte, zu ihm herunterbeugen, ihn aufheben und ihn an sich ziehen. Dann würde sie ihre Hände um seinen Hals legen und ihm die Kehle zudrücken, fester und immer fester, bis er so tot war wie sie.

Er wusste nicht, wie lange er auf dem kalten Boden zwischen dem Unrat gesessen und die Tote angeglotzt hatte, bis er begriff, dass nichts passieren würde. Sie konnte ihm nichts tun. Sie war tot und würde tot bleiben. Er hatte nichts von ihr zu befürchten. Er stieß das Fahrrad beiseite, rappelte sich auf und trat ein paar Schritte zurück, um sie besser betrachten zu können.

„Krasse Scheiße!“, murmelte er.

Er schaute sich um. Es war niemand hier außer ihm. Niemand sprang aus einem Versteck, schrie „Verarscht!“ und lachte sich über ihn schlapp. Er war allein mit der Toten. Es war nichts zu hören außer dem Plätschern und Glucksen des Regens draußen. Die Kerzen flackerten und veranstalteten ein Schattenspiel an den grauen Wänden, sodass es aussah, als tanze sein Schatten mit dem Schatten der Toten. Max fummelte sein Handy aus der Tasche. Zwar zitterten ihm die Hände, als er die PIN eingab. Aber er konnte wieder klar denken, und er wusste, es gab nur eins, das jetzt zu tun war: Er schaltete auf Kamera, zoomte, bis die Tote das Display ausfüllte und betätigte den Auslöser. Er zögerte, stellte sich neben sie – wobei er achtgab, ihr nicht zu nahe zu kommen oder eine von den Kerzen umzustoßen – und machte ein Selfie. Posten konnte er das nicht, das gäbe nur Stress. Aber ein bisschen vor den Kumpels damit protzen war drin. So was Geiles hatte noch keiner von denen erlebt. Er fühlte sich entschädigt für den ganzen Mist, der vorher passiert war. Das hier war sogar besser, als Katja zu ficken. Er checkte das Foto, vergewisserte sich, dass nichts verwackelt und vor allem auch die Möpse im Bild waren.

Dann rief er die Bullen.

3

Harder stürzte noch einen Shot und wartete, dass Sergejs Kopf explodierte. Der Russe hatte Schnappatmung. Sein Gesicht war rot und nass, als käme er grad aus der Sauna. Er schwitzte den Wodka, den er kippte, gleich literweise wieder aus. Der Revolver zitterte in seiner fleischigen Hand, die mit kyrillischen Schriftzeichen tätowiert war.  Er  machte das nicht zum ersten Mal. Aber man gewöhnte sich schwer daran, eine geladene Wumme an der Schläfe zu haben, auch wenn man den eigenen Finger am Abzug hatte. Es sah aus, als würde ihm der Schädel auch so in absehbarer Zeit platzen. Aber so lange wollte niemand warten. Eine Kugel würde die Sache schneller und verlässlicher erledigen.

Das Publikum hoffte und fürchtete es. Niemand wagte zu blinzeln, aus Angst, den Sekundenbruchteil zu versäumen, in dem Sergej sich endlich überwand. Die Zigarren hingen auf halbem Weg zu den Lippen in der Luft. Die Hände erstarrten auf den Frauenärschen, die sie eben noch getätschelt hatten. Kein Gläserklirren, keine Kaugeräusche, kein Schlucken, Husten oder Räuspern rührten an der Stille, die den Raum füllte. Nichts war zu hören außer dem Knurren, das zwischen Sergejs zusammengepressten Zähnen hervordrang, während er seinen Überlebensinstinkt niederkämpfte, der ihm befehlen wollte, die Scheißkanone verdammt noch mal in eine andere Richtung zu halten, in der sein kantiger Kopf mit den Glubschaugen, dem Fischmaul und den Flügelohren dem Projektil nicht im Weg war.

Harder lehnte sich vor und beobachtete das verzerrte Gesicht, in dem vor Anspannung die Muskeln zuckten. Er kam nicht darauf, was Sergej ritt, sich diesen Krampf anzutun. Wer so am Leben hing, musste sich fragen, ob Russisch Roulette der richtige Zeitvertreib für ihn war. Trotzdem saß Sergej immer wieder hier und spielte sein eigenes Erschießungskommando. Es konnte nicht bloß das Geld sein, das ihn herzog. Dafür war es dann doch zu wenig. Vielleicht hatte er Scheiße gebaut, und Rasputin ließ ihn büßen. Oder es war der Ruhm.

Im Kreml war Sergej eine Legende.

Es war, soweit Harder wusste, der einzige Laden in Berlin, der dieses Spektakel auf dem Programm hatte. Von außen sah das Lokal, mit seinem abblätternden roten Anstrich, den staubigen Fenstern und dem verwitterten Schild mit Hammer und Sichel, nach nicht viel aus. Von innen nach noch viel weniger. Im Gastraum hockten, zwischen kommunistischen Propagandapostern und beaufsichtigt von StalinPorträts an den roten Wänden und LeninBüsten in den Fensterbänken, kräftige Kerle an einfachen, mit roten Decken versehenen Tischen, tranken warmen Wodka, futterten Salzgurken oder Piroggen mit Schmand, würfelten, spielten Karten oder plauderten, als wären sie gerade von ihrer Schicht im Stahlwerk des Industriekombinats gekommen. Wer aus Versehen oder aus Neugier hier reinkam, musste glauben, dass er im falschen Sektor (und dreißig Jahre in der Vergangenheit) gelandet war. Von den Attraktionen im Hinterzimmer war vorne nichts zu merken. Jenseits einer mit rotem Vorhang verhängten, mit „Büro“ gekennzeichneten und einem Sehschlitz ausgestatteten Tür sorgten schwere Ledersessel für Bequemlichkeit, dunkles Parkett, goldene Lüster und Beistelltische aus Marmor für das entsprechende Ambiente und eine mit Luxusspirituosen bestückte Bar für das leibliche Wohl. Bei hochkarätigen Pokerspielen häuften sich hier Millionen auf dem Filz. Aufstrebende russische Filmsternchen, extra eingeflogen, boten erotische Extravaganzen feil. Alle sechs Monate konnte man erleben, wie sich irgendein armes Schwein das Hirn wegballerte und manchmal, wenn es Zeit war, mal wieder melancholisch der alten Heimat zu gedenken, hockte ein schnurrbärtiger Bänkelsänger im Trachtengewand auf einem Schemel, zupfte die Balalaika und säuselte russisches Liedgut, bis seinen Zuhörern der Wodka aus den Augen lief.

Die Klientel dieser exquisiten Veranstaltungen bestand vornehmlich aus russischen Geschäftsleuten, Oligarchen, Industriemagnaten und DumaAbgeordneten auf Urlaub, denen fette Goldketten vom Hals und mindestens eine Edelnutte an jedem Arm hing. In zwei Halbkreisen – an den Seiten, wo die Kugel einschlüge, ließen sie wohlweislich Lücken – umstanden sie den Tisch in der Mitte des Raumes, an dem Harder und Sergej einander gegenübersaßen, vor sich, zur Motivation, den braunen Umschlag mit dem Preisgeld. Rasputin präsidierte der Vorführung in einem Ledersessel auf dem Podest, auf dem an ruhigeren Abenden die Musikund Tanzdarbietungen stattfanden und das beim Roulette als Tribüne für ihn und einige Ehrengäste diente. Der Sessel wirkte zu breit für seinen gedrungenen Körper mit dem gemütlichen Bäuchlein und in seinem Smoking, obwohl maßgeschneidert, wirkte er wie ein speckiges Jüngelchen bei der Erstkommunion. Die Hängebacken und die Glatze trugen ebenfalls nicht dazu bei, dass einem bei seinem Anblick die Muffe ging und seine Fistelstimme reizte zum Lachen. Aber es war fatal, diesem Reiz zu erliegen. Unter seinem Anzug trug Rasputin auf Brust, Schultern und Rücken die höchsten Rangabzeichen der Russenmafia eintätowiert und es hieß, dass er sich jedes einzelne mit einer Brutalität und Skrupellosigkeit verdient hatte, die locker wettmachten, was ihm an Kraft und Größe fehlte. Woher er seinen Spitznamen hatte, wussten nur wenige, und noch weniger wussten, wie er wirklich hieß. Es konnte ungesund sein, sich zu sehr dafür zu interessieren. Dem Spiel folgte er mit der Miene eines Cäsaren bei einem Arenagemetzel. In seinen Stummelfingern hielt er, wie die meisten anderen, eine Champagnerflöte. Neben ihm prangte auf einer Säule ein ausladender Sektkühler aus Kristall, der mit grünen Flaschen bestückt war, von denen eine einzige mehr kostete, als Harder durch den Verkauf seiner sämtlichen Organe zusammengebracht hätte (was allerdings nicht viel heißen wollte; für seine Leber zum Beispiel hätte er wahrscheinlich noch draufzahlen müssen). Hostessen machten die Runde und sorgten dafür, dass es in jedem Glas unablässig prickelte. Die Spieler wurden mit Wodka verköstigt, um ihre Moral aufrechtzuhalten. Der Gewinner durfte mit Rasputin anstoßen, ein paar Hände schütteln und sich auf die Schulter klopfen lassen. Außerdem kriegte er zu seinem Preisgeld eine Dose Stör-Eier, eine Flasche KrimSekt und eine Stunde mit einer der käuflichen Damen. Der Verlierer kriegte einen schwarzen Plastiksack und eine Fahrt zur Mülldeponie.

Sergej war fast soweit. Er krampfte seine Hand fester um den Revolvergriff. Er war der ungeschlagene Champion im Kreml. Er bildete sich etwas darauf ein, als brauche es besondere Fähigkeiten oder ein seltenes Talent, sich nicht den Kopf wegzupusten. Aber das Spiel dauerte schon eine Weile, und so abgebrüht er sonst auch war: Jetzt flatterten ihm die Nerven. Ein Rückzieher kam nicht in Frage. Das erlaubten die Hausregeln nicht. Außerdem hätte es für Rasputin einen Gesichtsverlust bedeutet und gegen das, was er Sergej dafür antun würde, war ein Kopfschuss eine Streicheleinheit. Sergejs Augen, ohnehin zu groß für ihre Höhlen, quollen hervor, als wollten sie aus dem Schädel ploppen und über den Tisch kullern. Sein Knurren schwoll an, riss ihm die Lippen auseinander und entlud sich in einem wütenden Schrei. Er starrte Harder an, Augen und Mund weit aufgerissen. Er schrie ihm seine Angst entgegen, als wollte er sie aus sich herausbrüllen. Er schrie an gegen den Tod, den er in der Hand hielt, und den er mit seinem Schrei zu vertreiben hoffte, und als er nicht mehr lauter schreien konnte, drückte er ab.

Der Hahn des Revolvers spannte sich, der Schlaghammer schnellte nach vorn.

Der Revolver gab nichts von sich außer einem „Klick“. Sergej verstummte. Er nahm die Waffe herunter, betrachtete sie ungläubig, als sei er sicher gewesen, dass sie seiner Siegessträhne dieses Mal ein Ende setzen würde. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er es geschafft hatte, dass sein Kopf intakt und alles, was hineingehörte, noch an Ort und Stelle war. Dann sprang er von seinem Stuhl auf, ballte mit triumphalem Gebrüll die Faust und bot sich dem Publikum dar. Die Damen und Herren applaudierten gütig, verhehlten jedoch auch nicht ihre Enttäuschung. Schließlich waren sie gekommen, um eine Horrorshow mit Hirnmasse und Blut zu erleben. Aber noch war das Spiel ja nicht vorbei. Rasputin gönnte Sergej ein gnädiges Nicken. Sergej setzte sich wieder an seinen Platz, grinste Harder an und knallte den Revolver auf den Tisch, dass die Gläser klirrten.

Harder holte Tabak, Blättchen und Filter aus seiner Tasche und drehte sich eine Zigarette – er hatte schon vor langer Zeit beschlossen, mit einer Kippe im Mund abzutreten, wenn es sich einrichten ließ. Er steckte sie sich zwischen die Lippen, zündete sie mit seinem Zippo an und hob die Waffe auf. Ihr Griff war warm und feucht von Sergejs Hand. Es war eine 1895er Nagant DoubleAction, wie sie die Offiziere der SowjetArmee getragen hatten, eine Antiquität aus dem Zweiten Weltkrieg. Mit etwas Glück konnte man mit der alten Krücke aus zwei Metern Entfernung einen Elefanten treffen, wenn er stillhielt und kein Wind ging. Für einen Schuss in den eigenen Kopf taugte sie jedoch allemal.

Die Hausregeln erlaubten den Spielern, die Trommel zu drehen. Wer allerdings aufgeben und Schmach und Schande auf sich laden wollte, musste das vorher tun. Wenn die Trommel gedreht war, musste man abdrücken (sonst übernahm es einer von Rasputins Gesellen). Wenn jeder fünfmal den Abzug betätigt hatte, ohne dass einer draufging, galt das als unentschieden. Harder und Sergej waren in der fünften Runde. Es war Harders letzter Schuss. Aufzugeben war ausgeschlossen. Zwar hätte es für ihn weitaus harmlosere Konsequenzen als für Sergej. Aber er war nicht für halbe Sachen hierhergekommen. Er löste die Trommelverriegelung und verpasste der Trommel einen Schlag mit der flachen Hand, die sie zum Rotieren brachte. Er setzte sich den Lauf an die Schläfe. Der Stahl war angenehm kühl. Wenn man ein geübtes Auge hatte und nah genug dran war, konnte man von außen in die Trommel der Nagant sehen, um festzustellen, ob in der Kammer, die beim nächsten Abdrücken vor den Hammer rückte, eine Patrone steckte. Harder hatte nicht hingesehen, genauso, wie er vorhin bei Sergej nicht hingesehen hatte. Es vermieste den Spaß und gehörte sich nicht. Aber es war auch nicht nötig. Sergej hatte hingesehen, und sein Gesicht verriet Harder, dass die nächste Kammer geladen war. In diesem angespannten Gesicht sah man das Wissen um Harders bevorstehenden Tod und die Erleichterung, gleich, wenn Harder es hinter sich gebracht hatte, aufzustehen, herumzulaufen, zu essen, zu trinken, zu vögeln: weiterzuleben. Aber es lag auch Respekt darin, vielleicht sogar eine Spur von Bedauern, weil sie zwar Gegner, aber doch auch Verbündete waren in diesem Spiel, in dem sie beide vielmehr gegen die Waffe und das Glück als gegeneinander antraten. Er nickte Harder leicht zu, als wollte er ihn anspornen, die Sache durchzuziehen, und ihn gleichzeitig trösten, dass es schon nicht so schlimm und alles schnell vorbei sein würde.

Harder blickte ihn an, ohne ihn zu sehen. Ihm war nicht danach, sich mit Sergej zu verkumpeln, indem er ihm zu verstehen gab, dass er seine Anteilnahme zu schätzen wusste und es ihm eine Ehre gewesen war, gegen den Champion anzutreten, selbst wenn er dabei den Kürzeren zog. Das war alles Bullshit. Dieses Spiel schweißte nicht zusammen, es machte sie nicht zu Freunden. Dass er derjenige war, der in wenigen Augenblicken mit einem Knall abtreten würde, war kein Grund, sentimental zu werden oder eine Panikattacke zu kriegen. Schließlich hatte er gewusst, worauf er sich einließ. Ihm fiel seine letzte psychologische Begutachtung ein, einige Wochen, bevor sie ihm erlaubt hatten, seinen Dienst wieder aufzunehmen. Der Psychologe hatte nichts Besorgniserregendes festgestellt (narzisstische Tendenz, mangelhaftes Empathievermögen, zwanghaftes Rebellieren gegen jegliche Autorität – Kleinigkeiten halt) und ihn für einsatzfähig erklärt. Jetzt, den Revolver am Kopf und bereit, im Hinterzimmer  einer  russischen  Kaschemme  das  Zeitliche zu segnen, kam Harder nicht umhin, sich zu fragen, ob der gute Mann nicht etwas übersehen hatte. Er schloss die Augen, nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und setzte sachten Druck auf den Abzug. Das Zimmer war totenstill. Aber in seinem Kopf begannen Faith No More, Easy zu spielen. Er liebte diesen Song. Er musste immer lächeln, wenn er ihn hörte. Ein sanftes, rhythmisches Wummern setzte um ihn ein, legte sich unter die Musik. Eine warme Geborgenheit umschloss ihn, die alle Gedanken in ihm löschte, nichts übrig ließ als ein Gefühl von Freiheit. Harder ließ sich fallen. Das Wummern verwandelte sich in ein samtblaues Pulsieren, verzerrte die Musik, als hätte jemand einen Metalleimer über den Lautsprecher gestülpt. Es erfasste ihn sanft, trug ihn empor und voller Vertrauen schwebte er seiner Erlösung entgegen, die ganz nah, nur eine Fingerkrümmung entfernt war. In den Frieden, der ihn umgab, dudelte die Melodie von Daydream Believer. Er versuchte, nicht hinzuhören, ganz in dem weichen Wummern zu bleiben. Aber die penetranten Pieptöne stießen hinein, zersetzten es, drängten Easy beiseite und wurden lauter, bis er sie nicht mehr ignorieren konnte. Faith No More verstummten beleidigt. Das Wummern verging. Harder versuchte, es festzuhalten. Aber es entzog sich ihm  und  ließ  eine  trostlose  Leere  zurück.  Er  öffnete  die Augen und ließ die Waffe sinken, legte sie jedoch nicht beiseite. Er seufzte und kramte sein Handy aus der Innentasche seiner schwarzen verschlissenen Lederjacke. Es war nicht leicht mit nur drei Fingern an der linken Hand. Aber er war inzwischen geübt. Er blickte auf das Display, auf den Namen, der darauf erschien. Er wusste, dass es das Beste, das einzig Richtige wäre, den Anruf zu unterdrücken, das Handy wegzustecken und ohne lange nachzudenken zu Ende zu bringen, worin er unterbrochen worden war. Das hier war nichts als ein Test, der seine Willensstärke auf die Probe stellte. Er durfte der Verlockung nicht erliegen.

Aber natürlich erlag er ihr doch.

Er nahm ab und hielt sich das Handy ans Ohr.

„Harder?“, sagte er an der Kippe vorbei. „Nein, ich bin noch wach. Was gibt’s?“

Er blickte in die Runde und hielt sich den Revolverlauf wie einen Zeigefinger vor die Lippen.

Sergej schüttelte den Kopf und murmelte etwas auf Russisch. Einige lachten. Rasputin schob die Unterlippe vor, schien aber gewillt, Harder die Verzögerung durchgehen zu lassen, da sie das Publikum amüsierte.

„Okay. Wo? Alles klar. Bis dann.“

Er legte auf und schob das Handy zurück in seine Tasche.

„Tschuldigung.“

Er schenkte sich den alten WowarenwirSpruch und setzte den Revolver wieder an. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, atmete aus wie bei einer ZenMeditation und schloss wieder die Augen. Er versuchte, das Gefühl der Schwerelosigkeit wiederzuerlangen, mit dem er selig durch das Wummern und die Musik geschwebt war. Aber es klappte nicht. Faith No More hatten die Bühne geräumt. Das Wummern kam nicht wieder. Der Anruf hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Das war schlechtes Timing gewesen. Zehn Sekunden später und er hätte sich nicht mehr damit abgeben müssen. Jetzt war er neugierig. Kaum mehr als zwei Sätze hatten gereicht, um jene Unruhe, jenen Drang in ihm zu wecken, von dem er wusste, dass er nicht von ihm ablassen würde, bis er ihm nachkam. Das zerstörte das Gefühl, das er brauchte, um die Sache hier durchzuziehen. Wenn das Gefühl nicht stimmte, hatte es keinen Zweck. Für heute konnte er die Sache vergessen. Die Augen noch immer geschlossen, den Finger noch immer am Abzug, überlegte er, wie er sich am besten aus der Affäre zog. Er konnte nicht einfach die Waffe hinlegen und sich verabschieden – Sorry, Leute, mir ist was dazwischengekommen, vielleicht beim nächsten Mal. Das würde Rasputin nicht dulden. Außerdem wollte er Sergej nicht das ganze schöne Geld überlassen. Er zog in Betracht, ihm ins Gesicht zu schießen. Aber das wäre geschummelt. Von der rettenden Eingebung überkommen, öffnete er die Augen, richtete den Revolver auf Rasputin und drückte ab.

Der Schuss peitschte als trockenes Krachen durch den Raum, wie das Kläffen eines lungenkranken Pinschers. Auf die Nagant war Verlass. Das Projektil schlug neben Rasputin in den Champagnerkühler ein. Der Kühler zerbarst in einer Explosion aus Kristallscherben und Eis. Die Flaschen zerplatzten und Tausende Euro in flüssiger Form ergossen sich schäumend über den Boden. Der kleine Russe zuckte nicht mal zusammen. Er hatte schon mehr Schüsse als Sektkorken knallen gehört, und nicht wenige davon waren in seine Richtung gegangen. Der Rest der Zuschauer geriet in Panik. Kreischend suchten die Frauen hinter den Männern Schutz, die Männer, friedliebende Geschäftsleute, denen Gewalt zuwider war (zumindest wenn sie so unvorhergesehen in ihre Abendgestaltung einschlug), duckten sich einer hinter dem anderen. Sergej, weniger leicht zu schocken, jedoch ziemlich angetrunken, unternahm einen ungelenken Versuch, sich über den Tisch hinweg auf Harder zu stürzen. Harder zog ihm die Nagant durch das Gesicht, woraufhin Sergej auf die Tischplatte sackte. Er warf die Pistole fort und nutzte die Verwirrung, um sich das Geld zu schnappen und zum Ausgang zu stürzen. Der Muskelprotz, der die Tür bewachte, war von dem Trubel abgelenkt und schrumpelte nach einem Tritt in die Eier zu einem stöhnenden Häufchen zusammen. Harder hastete durch den Vorraum, wo einige von Rasputins Handlangern aufsprangen und instinktiv nach ihren Waffen griffen. Bevor sie verstanden, was los war, erreichte er die Tür und stürzte ins Freie. Er sprintete zu seinem betagten Passat, den er auf der anderen Straßenseite geparkt hatte, schmiss den Motor an und sah zu, dass er wegkam. Als er einige Hundert Meter zwischen sich und den Kreml gebracht hatte und in seinem Rückspiegel keine Verfolger auftauchten (Rasputin wusste, wo er ihn finden würde), drosselte er das Tempo. Er drehte die Musik an, und Creedence’ Bad Moon Rising schepperte aus den Boxen. Harder nuckelte an der Zigarette, die noch immer in seinem Mundwinkel klemmte und nickte im Takt, während er durch die nächtlichen Straßen kurvte. Der Ausgang des Abends war nicht unbedingt wünschenswert. Er hatte lange auf der Warteliste für diese RoulettePartie gestanden. Und jetzt, wo er Rasputin ans Bein gepisst hatte, ließ der ihn bestimmt nicht so bald wieder mitspielen (oder früher, als ihm lieb war, und zu anderen Regeln). Außerdem bedauerte er, die Sache nicht durchgezogen zu haben. Es hätte alles einfacher gemacht und die Voraussetzungen waren perfekt gewesen. Aber das war kein Grund, sich die Laune verderben zu lassen. Vielleicht wurde er ja angemessen entschädigt. Der Anruf war jedenfalls vielversprechend gewesen. Und aufgeschoben war schließlich nicht aufgehoben.

Zum Sterben war später noch Zeit genug.

4

Wenn du tot bist, starren dich alle an. Du kannst im Leben hässlich gewesen sein, unauffällig, langweilig, ein glanzloses Mauerblümchen, an dem alle vorbeigehen, ohne es auch nur zu bemerken. Dein Tod ändert alles. Er macht dich anziehend, verleiht dir einen Reiz, den du ohne ihn nie erlangt hättest. Wenn du tot bist, kommen sie alle zu dir, wollen dich sehen. Manche sehen dich ganz offen an, unverhohlen, weil sie glauben, dass man sich vor den Toten nicht zu schämen braucht. Einige lächeln. Andere schauen für einen Moment, wenden den Blick ab, erschrocken, verängstigt, abgestoßen vielleicht – und doch kehren ihre Augen immer wieder zu dir zurück, weil sie nicht anders können, als dich anzusehen. Wieder andere halten sich, wie in Verlegenheit, die Hände vor das Gesicht und lugen zwischen den Fingern hindurch, als fürchteten sie, auch von dir angeblickt, von dir ertappt zu werden. Alle betrachten sie dich, als könnten sie dir ansehen, wie es ist, tot zu sein. Sie beobachten dich, bis du in einem Sarg verschwindest, der Deckel sich über dir schließt, dich von ihren Blicken abschirmt und du endlich anfangen kannst, jene Ruhe zu finden, die den Toten angeblich zusteht und ihnen vorbehalten ist. Irgendwann würde auch ihr diese Gnade zuteil. Aber das würde noch dauern. Sie würde noch viele Blicke über sich ergehen lassen müssen, mehr Blicke als andere, weil ihr Tod ein besonderer Tod gewesen war und somit auch sie zu etwas Besonderem gemacht hatte. Er verschaffte ihr mehr Aufmerksamkeit, als sie jemals im Leben bekommen hatte, mehr als an Geburtstagen, der Erstkommunion, der Abiturfeier oder damals, als sie den Schmuckwettbewerb gewonnen hatte. Alles, was sie getan, alles, was sie erreicht hatte, verblasste jetzt, wurde bedeutungslos, als sei es ihre größte Leistung gewesen, einen so außergewöhnlichen Tod zu sterben.

Wie Pilger kamen sie zu ihr und es wurden immer mehr. Am Anfang war da nur der Junge mit dem Fahrrad. Dann kamen die Männer und Frauen in den dunkelblauen Uniformen. Zuerst waren es nur zwei, ein Mann und eine Frau. Sie standen mit dem Jungen am Eingang der Unterführung und blickten sie an. Sie stellten dem Jungen Fragen. Er antwortete und zeigte mit dem Finger auf sie. Die Polizisten besprachen sich. Der Mann kam zu ihr. Er ging so weit wie möglich am Rand und passte auf, wo er hintrat. Er streckte die Hand aus, um ihren Puls zu fühlen. Aber er sah, dass es unnötig war und kehrte zu seiner Kollegin zurück. Sie sprachen in ihre Funkgeräte und warteten. Bald ertönten Sirenen. Weitere Polizisten kamen hinzu. Jeder blickte in die Unterführung. Manche starrten sie lange an. Ein oder zwei sagten etwas. Aber die meisten blieben stumm. In dem blauen Licht, das draußen kreiste, spannten sie Absperrbänder vor die Unterführung. Sie taten es routiniert und zügig. Doch auch währenddessen konnten sie nicht anders, als immer wieder zu ihr hinzusehen. Ein älterer Mann erschien an der Absperrung. Er hatte einen grauen, kurz gestutzten Vollbart und eine Brille, die ganz oben auf dem Nasenrücken saß. Sein Haar war ebenfalls grau. Es war zur Seite gescheitelt, als legte er zwar Wert auf eine anständige Frisur, wollte aber nicht zu viel Zeit darauf verwenden. Statt einer Uniform trug er blaue Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover und darüber eine hellbraune Cordjacke. Er wirkte fit für sein Alter. Trotzdem sprach aus seiner Haltung eine Müdigkeit, die nicht von der späten Stunde herrührte. Er legte eine Hand an seinen Bart und betrachtete sie. In sein Gesicht trat eine Sorge, die zwar von ihr ausging, aber weit über sie hinausreichte. Mit ruhiger Stimme und besonnenen Gesten erteilte er den uniformierten Polizisten Anweisungen. Sie hörten ihm aufmerksam zu und beeilten sich, ihnen nachzukommen. Er holte ein Handy aus seiner Jackentasche und machte mehrere Anrufe, eine Hand am Bart, und ohne sie aus den Augen zu lassen.

Nach einer Weile verschwand er. Dafür tauchten die Gestalten in den weißen Schutzanzügen auf, bei denen man schwer bestimmten konnte, ob Männer oder Frauen darin steckten. Sie hatten weiße Gesichtsmasken auf und weiße Handschuhe an den Händen. Selbst ihre Schuhe steckten in weißen Überzügen. Sie stellten Standscheinwerfer auf und richteten den Lichtstrahl auf sie (die Kerzen waren fast alle heruntergebrannt). Einer von ihnen hatte einen Fotoapparat und machte viele Fotos, bevor sie die Unterführung betraten. Langsam arbeiteten sie sich zu ihr vor, wobei sie jeden Zentimeter des Bodens und der Wände akribisch untersuchten, jedes Stück Müll aufsammelten, jede Dose und jeden Zigarettenstummel eintüteten und sogar den Dreck auffegten und mitnahmen. Der (oder die) mit der Kamera fotografierte sie von allen Seiten und aus allen Winkeln. Anschließend machten sich zwei von ihnen lange an ihr zu schaffen. Sorgfältig suchten sie sie nach Haaren ab, nach Kleidungsfasern, nach Hautresten oder Blut unter ihren Fingernägeln. Ein kleiner Schmaler, ohne Schutzanzug, kam dazu, inspizierte und betastete sie. Dann zogen sie sich zurück.

Eine gute Weile kam niemand. Sie hing alleine in dem weißen Scheinwerferlicht. Hinter dem Absperrband wurde es langsam hell. Aber das Tageslicht  war  noch  schwach und reichte ohnehin nicht bis zu ihr. Irgendwann kehrte der ältere Mann zurück, hob das Absperrband und duckte sich darunter durch. Ein Mann und eine Frau folgten ihm. Die Frau, Mitte bis Ende zwanzig, rotblondes Haar im Bobschnitt, schmales Gesicht mit Sommersprossen, hielt sich neben ihm und schien nur aus Respekt darauf zu verzichten, ihn zu überholen, obwohl sein langsames Tempo sie sichtlich ungeduldig machte. Ihr schlanker Körper, kraftvoll und elastisch, steckte in einem hellbraunen Blazer, beigefarbener Bluse und grauen Chinos zu schwarzen Halbschuhen, was sie gleichzeitig sportlich und seriös wirken ließ. Aus einem Hüftholster ragte der Griff einer Pistole. In der Hand hielt sie einen Notizblock, obwohl sie nicht aussah, als würde sie ihn brauchen. Ihr Blick scannte die Umgebung, als würde sich noch die kleinste Einzelheit unauslöschlich in ihr Gedächtnis einbrennen. Der Mann, blass, wirres schwarzes Haar, die Wangen voller Stoppeln, hing ein paar Schritte zurück. Er schwankte ein wenig. Er trug zerknitterte Outdoorhosen mit ausgebeulten Seitentaschen, ausgelatschte Turnschuhe und eine abgetragene schwarze Lederjacke über einem verwaschenen grauen TShirt. In der Hand hielt er einen dampfenden Kaffeebecher aus Pappe. Seine ganze Aufmerksamkeit schien darauf gerichtet zu sein, den Weg bis zu ihr hinter sich zu bringen, ohne den Inhalt zu verschütten. Die drei blieben vor ihr stehen und betrachteten sie, der Graubart bekümmert, die Frau mit kühler Neugier, der Mann in der Lederjacke mit Mitgefühl und einer Verbundenheit, als seien sie sich bereits im Leben begegnet. Es dauerte nicht lange, bis sich ihre Blicke, wie die aller anderen auch, an jener Stelle festsetzten, an der sich ihr Kopf befinden sollte, und wie bei allen anderen löste, was sie dort fanden, Verstörung und ratlose Betroffenheit aus.

„Das ist nicht, wonach es aussieht, oder Wichert?“

Die Stimme der Frau klang dumpf zwischen den Betonwänden.

„Es ist ein Widderkopf, Claudia“, antwortete der ältere der beiden Männer.

„Mach keinen Quatsch, Klaus!“ Sie trat einen Schritt näher.

„Du meinst, das Ding ist echt? Keine Maske? Kein Fake?“

„Das war mal ein echter, lebendiger Widder.“ Sie schrieb etwas in ihr Notizbuch.

„Perverses Arschloch! Heutzutage glauben selbst die Mörder, sie müssten kreativ sein. Einfach nur jemanden abmurksen reicht denen nicht mehr. Ich meine, seht euch das nur mal an: Der Widderkopf, der Kapuzenumhang, das Ding um ihren Hals, dazu die Ketten und die Kerzen: Der hat ein richtiges Happening daraus gemacht.“

„Das ist was Persönliches, oder was meinst du? Der Typ hat ein Anliegen.“

„Auf jeden Fall legt er Wert darauf, dass er für sein Werk die gebührende Aufmerksamkeit kriegt. Sonst hätte er das arme Mädchen einfach irgendwo im Wald abgeladen, nachdem er mit ihr fertig war. Er will, dass wir wissen, was er tut.“

Wichert nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen, als bahne sich eine Migräne an.

„Großartig! Genau das, was ich brauche nach diesem letzten verhunzten Jahr: ein irrer Mörder mit einer Agenda!“

Der Mann in der Lederjacke schob sich zwischen den beiden hindurch.

„Haben die nicht alle eine?“

Er trat näher an sie heran, so nah, dass sie sich in seiner schwarzen Pupille spiegelte. Es war, als sei sie durch diese Pupille in ihn hineingefallen und schaue jetzt aus ihm heraus auf sich selbst. Was sich ihr zeigte, war der füllige nackte Körper einer jungen Frau, über und über von Stichund Schnittwunden gezeichnet. Ihre Haut war gelblich im Scheinwerferlicht, die Wunden verkrustet und bläulich an den Rändern. Über ihre schweren Brüste und den weichen herabhängenden Bauch rankte sich ein violettes Adergeflecht. Ihr Schamhaar war braun und buschig, die breiten Hüften mit Dehnungsstreifen überzogen. Auf ihrem Rumpf saß der Widderkopf, weißes, kurzes Fell über der rosa Schnauze, die milde zu lächeln schien. Zwischen den abstehenden Ohren und den Spitzen der nach vorn gebogenen Hörner blickten die starren Augen unter der Kapuze des purpurroten Umhangs hervor. Darunter hing, an einem ledernen Band, ein metallenes Amulett mit aufwendigen Verzierungen. Ihre Handgelenke waren von eisernen Verschlüssen umfasst, von denen aus Ketten zu Haken liefen, die in den Betonwänden verankert waren. Die Ketten waren straff gespannt und hielten sie aufrecht, sodass ihre Arme weit ausgebreitet waren. Ihre Zehen schwebten ein paar Zentimeter über dem Boden, wo soeben die letzte Kerze erlosch. Ihr Bild schien in Harder hineinzusinken. Es fasste ihn und zog ihn mit sich, bis er, verloren für alles, was ihn umgab, tief und immer tiefer in seine eigene innere Finsternis fiel.

Claudia Vogt beobachtete ihren Kollegen skeptisch, als erwarte sie, er werde im nächsten Moment nach den nackten Brüsten greifen oder dem Widder einen Kuss aufdrücken.

„Irgendwelche Zeugen?“

Wichert machte ein mutloses Gesicht.

„Die Kollegen klingeln sich gerade durch die Nachbarschaft, sofern man das so nennen kann. Alle Wohnhäuser stehen ein gutes Stück entfernt, und dann sind da die Büsche und Bäume, dazu der Regen – unwahrscheinlich, dass jemand vom Fenster aus was gesehen hat. Und um die Zeit ist sicher auch keiner hier vorbeigekommen, um seinen Hund auszuführen. Der Junge, der sie gefunden hat, hat jedenfalls nichts gesehen, keine verdächtige Person, kein Fahrzeug. Dabei hat er den Täter wohl nur knapp verpasst. Die Kerzen waren noch nicht weit heruntergebrannt. Schwein gehabt, muss man wohl sagen – sonst hätten wir jetzt vermutlich zwei Leichen hier.“

Er setzte seine Brille auf.

„Hört mal! Lasst uns direkt die Formalitäten klären. Ihr bearbeitet diesen Fall gemeinsam. Aber Hauptsachbearbeiterin ist Claudia, nicht nur wegen ihres höheren Dienstgrades und nicht nur auf dem Papier, verstanden? Harder, du hältst dich im Hintergrund. Und vor allem hältst du dich aus allem raus, was mit Presse zu tun hat. Das Einzige, was du zu Journalisten sagst, ist: kein Kommentar. Wenn dein Name im Zusammenhang mit dieser Sache in den Zeitungen auftaucht, werden die das zu einer noch größeren Sensation aufbauschen als sowieso schon. Vogt hat das Kommando. Und ich will kein Kompetenzgerangel. Kimmel macht jetzt schon Druck. Wir müssen schnell liefern. Hörst du mir zu, Harder?“

Harder nickte geistesabwesend. Wichert gab sich damit zufrieden. Es war offenbar mehr, als er erwartet hatte.

„Wirtz schätzt, dass der Zeitpunkt des Todes ungefähr vierundzwanzig Stunden zurückliegt. Bei der Todesursache tippt er auf Blutverlust, wollte sich aber nicht festlegen, bis die Obduktion durch ist.“

Er wandte sich an Claudia Vogt.

„Erste Einschätzung?“

Vogt trat vor, bedeutete Harder, beiseitezutreten (er tat es ohne Protest), damit er Wichert nicht den Blick auf die Tote versperrte, und benutzte ihren Kugelschreiber wie einen Zeigestock, mit dem sie auf die einzelnen Körperpartien wies.

„Die Wunden weisen deutlich auf sadistische Züge hin. Vermutlich hat er sie gefoltert, bevor er sie umbrachte. Mögliche sexuelle Störung, die dafür sorgt, dass er nur durch äußerste Gewaltausübung erregt werden kann. Eindeutige Fetischisierung. Die Enthauptung stellt den Höhepunkt seiner Folterung dar. Hier findet dann seine sexuelle Entladung statt. Gewaltund Allmachtsfantasien – er straft sein Opfer für seine sexuelle Unzulänglichkeit – möglicher Mutterkomplex. Er liegt in einem tiefen Widerstreit mit sich selbst. Dieser drängte ihn zu der Tat. Er litt darunter, sie zu begehen, konnte sich jedoch nicht kontrollieren.“

Sie blickte zu Wichert und Harder, als wollte sie sich vergewissern, dass sie ihr folgen konnten. Wichert stand leicht vorgebeugt, lauschte aufmerksam und kraulte nachdenklich seinen Bart. Harder studierte die Graffiti an den Wänden. Vogt ließ sich von seinem Gleichmut nicht beirren.

„Der Widderkopf“, fuhr sie fort, „fungiert als Verfremdungsmittel, damit er sich einreden kann, er habe nicht einem Menschen, sondern bloß einem Tier solches Leid angetan. Gleichzeitig ist es ein Versuch, seine Tat rückgängig zu machen. Die Zurschaustellung ist ein Akt der Reue, seine Art, Verantwortung zu übernehmen, indem er auf sich aufmerksam macht, sich zur Bestrafung anbietet. Der Umhang, das Amulett, die Kerzen sind eine Beigabe, ein Wiedergutmachungsgeschenk, mit der er sich Sühne zu erkaufen versucht. Meine Vermutung lautet: Schizophrenie mit ausgeprägter Psychose.“ Sie nahm den Stift herunter und trat von ihrem Forschungsgegenstand zurück. „Das ist natürlich an diesem Punkt lediglich Spekulation.“

Wichert nickte anerkennend.

„Die Fortbildungen machen sich bezahlt, wie ich sehe.“ Vogt schlug ihren Notizblock auf und hielt ihre Erkenntnisse fest. Sie antwortete, ohne aufzusehen: