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Eine Familien, sowie eine Abenteuergeschichte, vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und politischen Situation in Deutschland. Das Buch erzählt das Leben einer Familie aus Landwehrhagen, die 1882 ihre Heimat verlässt, um in der neuen Welt ihr Glück und eine neue Existenz zu finden. Der 16jährige Sohn Jakob, entwickelt sich von einem verträumten Jugendlichen, zu einem gestandenen Mann. In der neuen Welt muss er sich der Mentalität der Einwohner und den teils rauen Sitten im Lande anpassen. Auch der wilden Natur, seinen Gefahren und der Gewalttätigkeit von Banditen und zwielichten Gestalten, wird er sich stellen müssen. Doch auch das Glück begegnet ihm. In der schönen Stella findet er eine Kameradin und zugleich die Liebe seines Lebens. Im Rückblick erzählt der Protagonist einem Journalisten, seinen und seiner Familie Werdegang. Und warum sie die Ungewissheit und Gefahren einer neuen Existenz in einem fremden Land auf sich genommen haben. Die Recherchen zu dem Roman, hat der Autor im Gemeindearchiv und im Auswandererhaus in Bremerhaven angestellt. Er wollte damit auch die historischen Hintergründe vieler deutscher Emigranten darstellen, die in den 1880er Jahren ihre Heimat verließen.
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IMPRESSUM
Hinter dem fernen Horizont (Neuauflage) Copyright Ralph Pape
Obere Dorfstr.38
34355 Staufenberg
E-Mail: [email protected] Coverdesign. Marco Thiemann Korrektorat. Barbara Graf
EinleitungAm 17. Juli 1897 gegen sechs Uhr legte ein Dampfer am Schwabacher Dock im Hafen von Seattle an.
Von den achtundsechzig Passagieren waren etwa vierzig Goldsucher und die hatten für ca. hunderttausend Dollar Gold dabei. Diese Digger kamen alle von den Goldfeldern am Klondike im Norden Kanadas.
Das Goldfieber breitete sich danach wie ein Virus aus.
Etwa zehntausend Männer aus Seattle beschlossen, sofort ihr Glück auf den Goldfeldern zu suchen. Zeitungen überschlugen sich mit aufreißerischen Schlagzeilen. Es wird von sehr viel Gold »so häufig wie Sägemehl« im Gebiet des Klondike berichtet. Diese Nachrichten stießen zuerst auf sehr viel Skepsis, bis zur Ankunft der ersten Schiffe mit Ladungen voll Gold.
Die Tageszeitung in Seattle berichtete darüber in einer großen Anzeige. Durch andere Zeitungen an der Westküste der USA und durch den Telegrafen verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Gold. Gold am Klondike!
Es dauerte keine Woche, da hatte das Goldfieber die gesamte Westküste Amerikas ergriffen. Sehr schnell eilte die Nachricht vom großen Fund durch ganz Amerika, sprang über nach Europa, Asien, Australien.
Deutsche, Norweger, Holländer, Italiener, Chinesen, Japaner: Hunderttausend Männer folgten dem Lockruf des Goldes an den Klondike.
Väter verließen Hals über Kopf ihre Familien, und selbst der Bürgermeister von Seattle bestieg das nächste Schiff nach der noch kleinen Siedlung Skagway, Alaska, um dann weiter zu den Goldfeldern am Klondike zu gelangen.
In einem der vielen Saloons von Seattle, der sich hochtrabend »Paradise of North« nennt, sitzen nun die goldgierigen Abenteurer und Glücksritter, und der Whisky und das Bier fließen in Strömen. Alle Versuche des Pianospielers, gegen das laute Stimmengewirr anzuspielen, sind vergeblich. Das Goldfieber und die damit verbundene Aufgeregtheit und Hektik verschlucken jeden noch so mühsam erzeugten Ton.
Tabakschwaden wabern durch den Raum und werden jedes Mal träge beiseite getragen, wenn sich die Schwingtür öffnet, um neue gestikulierende Männer hereinzulassen.
Seattle ist in dieser Zeit der reinste Hexenkessel. In einem kleinen Nebenzimmer des Saloons, das halbwegs ruhig und vom Dunst des Gastraumes verschont bleibt, sitzen zwei Männer. Der eine davon mit schwarzem Gehrock und einem ebenso schwarzen Stetson auf dem Kopf, der mit einem silbernen Hutband geschmückt ist. Aus seiner Weste baumelt eine goldene Uhrkette. Der Mann ist schätzungsweise Mitte dreißig und macht einen gelassenen und Ruhe ausstrahlenden Eindruck. Sein wettergegerbtes Gesicht ziert ein gepflegter Schnauzbart, dessen lange Enden sorgfältig zusammengezwirbelt sind. An der rechten Hüfte trägt er einen Revolvergürtel, aus dem der verzierte Knauf eines 45er Colt Single Action Revolvers herausragt. Patronen blinken am Waffengurt und man sieht, dass der Trägerdiesem Teil sehr viel Pflege zukommen lässt. Und auch seine schwarzen Schaftstiefel sind gepflegt und sehen aus, als kämen sie geradewegs aus einem Laden. Genüsslich nuckelt der Mann an seiner Pfeife, wobei er hin und wieder kleine Kringel in die Luft bläst. Seine blaugrauen Augen blicken sein Gegenüber freundlich an.
Der hat einen großen Notizblock und eine Zeitung des Seattle Sentinel vor sich auf dem Tisch liegen und macht sich Notizen. Er ist von hagerer Gestalt, hat eine goldene Nickelbrille auf der Nase, und seine kleinen Wieselaugen schauen erwartungsvoll über den Rand der Brille. Die schwarze Melone auf seinem Kopf passt auch nicht ganz zu seinem übrigen Aussehen. Etwas zerschlissen ist sein Mantel und auch die Weste darunter hat wohl schon bessere Tage gesehen. Der geblümte Binder hängt unordentlich über seiner Weste und die Gesten des Mannes sind etwas fahrig und nervös. Alles in allem könnte man ihn auch für einen Totengräber halten.
Jetzt tippt er ungeduldig mit der Schreibfeder vor sich auf den Tisch und schaut sein Gegenüber neugierig an.
»Tja, also Mister Kirchhain ... dann erzählen Sie mal ... denn ich möchte gerne ...« Er wird von einer Handbewegung seines Tischnachbarn unterbrochen.
»Nennen Sie mich einfach kurz und bündig J. B., Mister Burnet, das ist einfacher und leichter auszusprechen!«, wobei Mr. Kirchhain ein gewinnendes Lächeln aufsetzt. Verständnisvoll grinsend nickt Burnet und fährt fort: »OK, Mister ... ähh J. B. Ihren vollständigen Namen müsste ich dennoch wissen. Es soll ja alles seine Richtigkeit haben, nicht wahr?«
Sein Gegenüber zieht die Augenbrauen hoch und antwortet ergeben: »Na schön, Mr. Burnet. Den habe ich Ihnen ja in unseren Vorgesprächen schon genannt! Aber gerne wiederhole ich ihn noch einmal. Also! Mein vollständiger Name ist Jakob Bernhard Kirchhain. Geboren in Landwehrhagen, Germany, im Jahre 1865.« Dann macht er noch einige andere Angaben, die Burnet eifrig notiert.
»Aber jetzt erklären Sie mir erst einmal, wie Sie ausgerechnet auf mich gekommen sind, Mr. Burnet? Was ist so besonders an mir, dass ein Zeitungsmann mein Leben aufschreiben möchte?«
Der lässt sein Schreibutensil fallen, lehnt sich zurück und während Kirchhain die Gläser füllt, antwortet er: »Also, es ist so. Sie wissen ja schon, dass ich für ›The German Immigrant Press‹ in Milwaukee schreibe? Eine auch auf Deutsch erscheinende Auswandererzeitung, die das Leben und die Geschichten der Deutsch-Amerikaner beschreibt.
Und auf einer meiner Reisen quer durch die Lande begegnete ich zufällig einem gewissen Ethan Brown. Und dieser Mr. Brown erzählte mir von sich und Ihrer Freundschaft und wie sie sich kennenlernten. Na, das war doch für mich genau die richtige Story! Überschrift! ›Ein deutscher Auswanderer wird zu einem bekannten Westmann.‹ Wenn das keine Geschichte ist!« Burnet grinst über beide Ohren und breitet in überschwänglicher Freude die Arme aus.
Sein Tischnachbar schmunzelt und nickt. »Ob das die Leser wirklich interessiert? Aber ja, der Ethan. Es ist wahr ... wir sind seit langen Jahren befreundet. Er war der erste, der mich als Greenhorn unter die Fittiche nahm, als wir im Westen ankamen. Ist verdammt lange her. Wo haben Sie denn den alten Haudegen getroffen?«
Burnet lächelt verschmitzt und antwortet: »Ich war unten in Oregon. Habe in einer deutschen Gemeinde recherchiert. Und dort sagten mir einige Ihrer Landsleute, dass Männer zum Klondike unterwegs wären, um dort ihr Glück zu suchen. Dabei stieß ich auf Mr. Brown, den einige Männer angeheuert hatten, sie als ihren Führer bis in den Norden zu begleiten. Nun ja. Und so erzählte er mir von Ihnen und dass Sie sich hier in Seattle aufhalten würden. So machte ich mich gleich auf den Weg. Zudem hoffe ich, hier im Norden auf noch mehr spannende Schicksale und Geschichten zu stoßen.«
Lächelnd nickt Kirchhain dazu und meint: »Wenn Sie an meiner Geschichte interessiert sind, brauchen Sie aber Zeit. An diesem Abend wird das wohl nichts mehr werden. Da werden Sie noch einige Stunden Zeit und Dutzende von Schreibfedern brauchen, schätze ich!«
Burnet zieht die Mundwinkel nach unten und wiegt den Kopf hin und her. »Kein Problem, J. B., ich habe Zeit und zudem werde ich hier im Norden erst einmal bleiben. Bei diesem irren Goldrausch werde ich noch einiges zu schreiben haben ... Geschichten werde ich ja hier in Hülle und Fülle bekommen! Ja ... dann lassen Sie uns mal beginnen mit Ihrem Werdegang«, wobei er wieder seine Schreibfeder aufnimmt und Kirchhain erwartungsvoll anblickt.
Der atmet tief durch und zieht noch einmal kräftig an seiner Pfeife. Dann füllt er die zwei Gläser wieder voll und fängt an zu erzählen.
»Also gut. Wo fange ich am besten an? Lassen Sie mich nachdenken. OK, ich muss ein wenig ausholen, sodass Ihre Leser verstehen, aus welchen Verhältnissen ich stamme und was mich und meine Familie bewog, nach Amerika auszuwandern.«
Leben im DorfDamals war ich sechzehn Jahre alt und wohnte in dem besagten Ort im Niedersächsischen, als diese Geschichte begann.
Ich war gerade auf dem Weg zu Rosemarie, einer Klassenfreundin von mir. Die Schule war aus und ich wollte mit ihr einige Aufgaben durchgehen. In Geografie war sie nicht besonders gut. Ich dagegen interessierte mich für die ganze Welt. Schon immer wollte ich wissen, was hinter dem nächsten Berg liegt. Wollte wissen, was hinter dem fernen Horizont lag. Studierte voller Begierde Landkarten und verschlang Bücher über ferne Länder. Zigmal schon war ich in Gedanken um den Globus geflogen. Die große weite Welt zog mich magisch in ihren Bann.
Was hinter dem Horizont liegt, wurde für mich zu einer immer drängenderen
Frage und einem Bedürfnis.
Doch jetzt freute ich mich schon darauf, Rosemarie meine Kenntnisse zu übermitteln. Sie war so ziemlich die Einzige, mit der ich mich über derlei Dinge ausgiebig unterhalten konnte.
Meine Eltern betrieben in unserem Dorf eine Schmiede. Nebenbei war Vater auch Stellmacher. Das sind Leute, die Räder für Frachtwagen und alle landwirtschaftlichen Fuhrwerke bauen.
Vater sagte immer, ich sei für mein Alter schon sehr kräftig und würde gut mit anpacken können. Ich würde später mal sein Gewerbe übernehmen. Pah! Das wollte ich ja nun überhaupt nicht. Ich wollte auf keinen Fall Schmied werden oder an irgendwelchen Rädern herumbasteln. Alles, nur das nicht. Ich wollte die Welt sehen und hatte fest vor, auch irgendwann von zu Hause wegzugehen.
Doch bisher konnte ich das Vater nie offen sagen. Er war ein gutmütiger und lieber Mensch. Ich mochte ihn nicht enttäuschen. Doch irgendwann musste ich ihm erklären, dass ich andere Dinge im Sinn hatte. Ja, mein Papa Lorenz! Zu ihm hatte ich ein besonders gutes Verhältnis. In vielen Dingen waren wir ja einer Meinung. Er war ein stattlicher Mann mit seinen ein Meter achtzig. Stämmig mit mittellangen schwarzen Haaren, einem gutmütigen Gesicht mit braunen Augen und einem Schnauzbart, dessen lange Enden er immer liebevoll zwirbelte. Als kleines Kind spielte ich gerne daran herum, wenn ich auf seinem Schoß hockte. Und Vater tat dann immer so, als wolle er mir in die kleinen Finger beißen. Was immer ein Lachen bei mir hervorrief. Ja, wir waren schon eine glückliche Familie.
Doch die wirtschaftlichen Verhältnisse wurden immer schwieriger. Schon mit dem Bau der Eisenbahn von Kassel nach Hann Münden im Jahr 1856 veränderte sich vieles. Der Frachtverkehr auf der Straße ging spürbar zurück, was sich logischerweise nachteilig auf das Dorf auswirkte. Seine knapp achthundert Einwohner waren von nun an fast ausschließlich auf die Landwirtschaft und die Nutzung ihrer Wälder angewiesen. Als Holzhauer und Holzrücker verdienten sie sich ihr karges Brot, bevor die Eisenbahn gebaut wurde und den Güterverkehr an sich zog.
Als Schmied hatte mein Vater noch einigermaßen zu tun. Pferde gab es ja noch genug. Die ganze Region hier lebte ja jetzt immer mehr von der Land- und Holzwirtschaft.
Und meine Mutter Emilie arbeitete noch zusätzlich als Näherin. So kamen wir eigentlich noch ganz gut über die Runden. Im Gegensatz zu den zwei anderen Schmieden im Dorf. Die hatten kaum noch Arbeit und einer von denen wollte schon aufgeben und sich in Kassel eine Arbeit suchen. Kassel ist die nächstgrößere Stadt, müssen Sie wissen.
Ach ja! Eine Schwester habe ich auch noch.
Gertrud war vierzehn Jahre. Einige Jungs aus dem Dorf waren schon jetzt hinter ihr her. Mit ihren ein Meter fünfzig, den langen blonden Zöpfen, blauen Augen und einigen Sommersprossen, verdrehte sie manchen Jungs im Ort den Kopf. Doch sie wehrte jede Annäherung schnippisch ab. Sie träumte von einem reichen Mann, der sie mal heiraten und in die feine Gesellschaft einführen würde. Ich lachte jedes Mal über ihre kindischen Träumereien. Doch sie war felsenfest überzeugt davon, dass sie so einem Mann mal begegnen würde. Dabei gab es hier im Dorf noch genug Bauern, die viel Land hatten und sogar Wald besaßen. Sollte sie doch einen von deren Söhnen heiraten! Aber nein, sie wollte in die großen Städte. Wollte schicke Kleider tragen und in Kutschen herumfahren.
»Na ja, jeder wie er mag«, sagte ich jedes Mal, wenn das Thema wieder mal zur Sprache kam.
Und da gab's auch noch meine Oma. Oma Lotte, die Mutter meiner Mama. Die lebte in der Wohnung über uns. Vater übernahm die Schmiede, nachdem Opa gestorben war. Das lag damals sechs Jahre zurück. Früher waren alle Familien und Generationen unter einem Dach. Daher war auch die Küche der größte Raum im Haus. Hier spielte sich alles ab. Das kleine Wohnzimmer wurde höchstens mal zu besonderen Anlässen benutzt.
Zu Oma hatte ich ein sehr inniges Verhältnis. Sie war lustig und nannte mich immer ihren Berni. Von ihr bekam ich auch öfter heimlich etwas zugesteckt. Wenn ich mal Süßigkeiten wollte, drückte sie mir schon mal fünf Pfennig in die Hand. Davon kaufte ich mir dann Bonbons.
Von Vaters Eltern weiß ich nicht viel. Ich hatte nur mal mitbekommen, dass sie kein besonderes Verhältnis zueinander hatten. Und der Vater von Papa soll ein Militarist gewesen sein. Ein überzeugter Anhänger der Monarchie.
Ok ... so viel dazu. Bei Rosemarie angekommen, schaute die schon lachend aus dem Fenster und verschwand kurz, um mir die Tür zu öffnen.
»Hallo, freut mich, dass du mich nicht vergessen hast«, strahlte sie mich an. Dann musterte sie mich von oben bis unten und fing an zu kichern. »Wie siehst du denn aus?« Na ja, ich gebe zu, ich hatte nicht meine besten Klamotten an. Die zu kurzen Hosenbeine, das blau gestreifte Hemd und die halbhohen schwarzen Schuhe machten bestimmt keinen Herrn aus mir. Dazu kamen noch die alten Hosenträger von Papa, die meiner Leinenhose Halt gaben.
Das alles sah schon komisch aus, wie ich selber kleinlaut zugab. Oben im Zimmer angekommen zuckte sie mit den Schultern. »Entschuldige, wie es bei mir aussieht!«, wobei sie hastig einige Kleidungsstücke vom Sessel in den Schrank verfrachtete und ein paar Bücher ordnete, die auf dem Tisch herumlagen.
Ich ließ mich in den Sessel fallen und grinste Rosemarie an. »Glaubst du, bei mir im Zimmer sieht's anders aus?«
Rosemarie lachte. Dieses helle Lachen, das ich so mochte. Ihre blauen Augen leuchteten dann und ihre blonden Zöpfe flogen ihr um den Kopf, wenn sie ihn schüttelte. Oh, sie war ein hübsches Ding. Zwar erst fünfzehn Jahre alt, dochwir verstanden uns schon als kleine Kinder und tobten bei unseren oder ihren Eltern im Haus und im Garten herum. Spielten Verstecken in den Scheunen unserer Nachbarn und liebten es besonders zur Erntezeit, das Heu zu bansen. Es also in der Scheune oben festzutreten, damit so viel wie möglich hineinpasste. Anschließend säuberten wir uns kichernd die nackten Oberkörper vom Staub und den winzigen Blüten, die immer so kitzelten. Denn im Hochsommer schwitzten wir ja sehr und alles blieb an unseren Körpern kleben. Ja, irgendwie waren wir schon als Kinder ein Herz und eine Seele. Und ich hatte auch immer das Gefühl, dass Rosemarie mehr für mich empfand als bloße Freundschaft. Doch darüber hatten wir nie ernsthaft gesprochen. Doch ich gestehe, dass ich immer Herzklopfen bekam, wenn wir zusammen waren.
Sie war mit ihrem fröhlichen, unbekümmerten Charakter überall beliebt und ihre neckische Art gefiel mir. Sie war einfach ein Typ, mit dem man Pferde stehlen konnte.
Ich erzählte ihr wieder mal von meinen Gedanken und Träumen, worüber wir uns ja schon oft unterhielten.
Und Rosemarie verstand auch ohne viel Worte, was ich meinte und wollte. Ja, sie war auch ein Typ, der das Abenteuer liebte und von fernen Ländern träumte. Genau wie ich interessierte sie sich für Geografie und Geschichte, wobei sie in Erdkunde noch nicht so bewandert war. Daher half ich ihr öfter in diesem Fach. Was übrigens mein Lieblingsfach war.
In allen anderen war ich – zugegebenermaßen – nicht besonders gut, was für meine Eltern immer Anlass zur Schimpfe gab, wenn Zeugnisse ins Haus standen. Doch Fächer wie Mathematik, Gesellschafts- und Staatskunde sowie Deutsch interessierten mich eben nicht besonders.
Und zudem konnte ich ihr bei Geografie immer beiläufig meine geheimsten Wünsche und Träume mitteilen. Was ich bei keinem anderen konnte. Nicht mal bei meinen Eltern. Doch ich spürte auch, dass Rosemarie etwas traurig schien, wenn ich ihr erzählte, dass ich eines Tages von hier fortgehen wollte. Sie war dann in sich gekehrt und ihre Fröhlichkeit wich einer gewissen Melancholie, was ich aber in dieser Zeit nicht zu deuten vermochte.
Für sie war Auswandern gar kein Thema. Ihr Vater war Staatsdiener. Ihre Mutter arbeitete als Angestellte in der Verwaltung und so waren sie schon zu den Privilegierten zu zählen. Von daher ergaben sich für sie keinerlei Gründe, von hier wegzugehen.
Als ich bei Rosemarie mit meiner Geografiestunde fertig war, musste ich ja auch noch schnell bei Tante Gertrud vorbeischauen. Ich sollte für Mutter ein paar Kleider zum Umnähen mitbringen. Tante Gertrud wohnte im Gartenweg am östlichen Ende des Ortes.
Ich wollte auch langsam heim. Schon jetzt plagte mich der Hunger und ich freute mich auf das Mittagessen.
Unterwegs traf ich zu allem Überfluss auf Herrn Schneider, der mit seinem kleinen Wägelchen Wasser holte. Aus einer Schwengelpumpe, die noch vielen Einwohnern für die Wasserversorgung diente, pumpte er das wichtige Nass in eine große Kanne. Denn nicht jeder hatte eine eigene Wasserversorgung bei sich zu Hause.
Doch zum Glück sah mich Herr Schneider nicht, als ich mich auf der anderen Straßenseite an ihm vorbeidrückte. Denn der war auch einer der dorfbekannten Plaudertaschen und hätte mich bestimmt aufgehalten.
Meine Eltern saßen schon in der Küche am großen Tisch. Vater blickte nur kurz von seinem Teller auf und brummte. »Bist aber spät dran heute!« Mutter sprang auf, um mir den Teller mit Krautrouladen vollzupacken. Heißhungrig stürzte ich mich auf das Essen. »Wo ist denn mein Schwesterlein?«, quetsche ich zwischen zwei Bissen hervor. »Na, wo soll die schon sein? Hat ihr Essen runtergeschlungen und ist dann rüber zu Gerlachs.« Vater machte dabei eine abwertende Handbewegung.
Grinsend schüttelte ich den Kopf. Jaja, bei Gerlachs. Die Heidrun – ihre beste Freundin – hatte die gleichen Flausen im Kopf wie meine Schwester. Den ganzen Tag tratschten sie nur über ein Thema. Verreisen. Große Städte. Reiche Männer. Schicke Klamotten usw. Die Gerlachs wohnten drüben in der Straße »Im Boden«. Der Alte arbeitete in Kassel bei der Firma Salzmann in Bettenhausen. Immer mehr Leute aus dem Ort wollten in dieser Zeit dort arbeiten. Die Weberei stellte Tuche für die Industrie her und bezahlte gute Löhne. Überhaupt zog die Industrie immer mehr Menschen in die Stadt. Besserer Verdienst und Lebensstandard waren eben Grund genug, seinen Heimatort zu verlassen. Dort hatten sie sogar große Wohnungen, die ihnen die Firma zur Verfügung stellte. Draußen vor der Stadt hatte Salzmann eine Siedlung gebaut, in der die Arbeiter mit ihren Familienangehörigen preiswert unterkamen.
Ja, ja. Bei den Gerlachs war meine Schwester gut aufgehoben.
Seit der Alte mehr verdiente als viele andere hier im Dorf, wurden die immer eingebildeter und hochnäsiger. Da konnte Schwesterlein gemeinsam mit deren Tochter vom Glamour und Reichtum in Berlin oder anderswo träumen. »Das wird wohl erst ein Gejammer geben, wenn die Gerlachs demnächst auch nach Salzmannshausen ziehen. Dann hat Schwesterlein keinen mehr, mit dem sie über ihre hochtrabenden Fantasien quatschen kann!«, dachte ich damals.
Ich mochte die Familie nie so richtig. Mit dem Sohn hatte ich mich schon des Öfteren in der Wolle. Sein dämliches Geschwätz über die Leute im Dorf und die abfälligen Bemerkungen über Papa und andere Dorfbewohner, die schwer schuften mussten, reizten mich dermaßen, dass ich ihm bei einer passenden Gelegenheit mal die Meinung geigte.
Er hätte besser daran getan, sie zu schlucken und das Maul zu halten. Doch nein. Er musste ja weiter stänkern. Am nächsten Tag erschien er mit einem blauen Auge in der Schule und alle Mitschüler kicherten hinter vorgehaltener Hand. Wussten sie doch sofort, wer ihm das verpasst hatte.
Gute oder auch schlechte Nachrichten verbreiteten sich schnell in so einem kleinen Ort. Und die 29 Schüler wussten über alles schnell Bescheid.
»Du musst mir in Kürze mal helfen!«, schreckte mich Vater aus meinen Gedanken hoch und schob den Teller von sich. »Es kommen drei Pferde zum Beschlagen. Deichmanns Gäule sind wieder mal reif!«
»Ahhhjaaa?« Ich freute mich schon wie ein Schneekönig. Vater grinste dünn. Wusste er doch genau, dass ich dann mal wieder reiten durfte. Ich liebe Pferde. Und die einzige Gelegenheit, auf einem Gaul zu sitzen, war eben, wenn sie zum Beschlagen zu uns kamen.
Die Besitzer willigten auch jedes Mal lachend ein, wenn die Pferde von Papa begutachtet wurden und ich sie auf dem großen Gelände hinter der Schmiede reiten durfte.
Ab und an – wenn die Männer Zeit hatten und sich ein Bier gönnten – durfte ich sogar ein Stück des Weges hinunter in Richtung Spiekershausen reiten. Ohne Sattel nicht gerade toll. Die schweren Kaltblüter hatten ein solch breites Kreuz, dass meine Beine sie kaum umschließen konnten. Doch diese Pferde waren gutmütig, nervenstark und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Gerade »Hektor« hatte es mir angetan. Mit seinem braunen Fell und dem weißen Behang mochte ich ihn am liebsten.
Also machte ich mich fertig, um Papa in einer halben Stunde zu helfen. Mutter war beim Abräumen und wollte anschließend alles für die große Wäsche vorbereiten, die jeden Samstag stattfand, als meine liebe Schwester hereinstürmte.
Aufgelöst und außer Atem grüßte sie mich nur mit einer knappen Handbewegung.
»Mama. Stell dir vor, Heidrun hat ein neues Kleid bekommen. Ihr Papa hat es ihr aus Kassel mitgebracht. Ohhh, so was Schickes hast du noch nicht gesehen. Mit Rüschen und Spitzen überall. Es ist blau mit roten Bändern. Es ist sooo süüüß!« Dabei sprang sie aufgeregt wie ein kleines Kind vor Mama herum.
Ich kicherte spöttisch und äffte ihr nach. »Oooch Gott, so süüüß!« Was mein Schwesterlein mit einer geringschätzigen Handbewegung quittierte und mir die Zunge herausstreckte. Mutter warf mir einen Blick zu, der bedeutete, dass ich lieber verschwinden sollte, und nahm ihre Tochter nachsichtig lächelnd in die Arme. Die war sowieso ihr Nesthäkchen. Wenn es irgendwie möglich war, erfüllte Mama ihr jeden Wunsch. Meine Mutter war eine liebe und fürsorgliche Frau. Mit langem schwarzen Haar und braunen Augen. Ohjaa, Mutter konnte auch schon mal sehr resolut sein. Wenn sie etwas zu sehr ärgerte und sie wütend wurde, blitzten ihre Augen und sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Das war ihre Methode, ihrer Meinung Nachdruck zu verleihen. Vater und ich verdrückten uns bei solchen Anlässen lieber schnell nach draußen.
Ich wendete mich also ab und begab mich grinsend auf den Hof. »Frauen! Nichts anderes im Kopf als Mode, Kindererziehung und was andere Leute für Klamotten tragen«, dachte ich bei mir. Draußen vor der Schmiede war meinVater schon dabei, alles für den Hufbeschlag vorzubereiten. Ich half ihm und legte das Werkzeug bereit. Hinten in der Schmiede loderte schon das Feuer in der großen Esse. Daneben stand die Maschine, die mit Treibriemen den großen Blasebalg und zudem über verschiedene große Räder auch andere Werkzeuge antrieb. Zusätzlich konnte man draußen vor dem Gebäude auch eine Bandsäge damit betreiben.
Dann ging ich hinüber zum Stall und holte das Putzzeug für die Pferde. Eine kostenlose Arbeit für die Besitzer, die ich aber gerne machte. Als Dank sozusagen, dass ich die Tiere reiten durfte.
Ein Huhn, das sich nach hier vorne verirrt hatte, scheuchte ich wieder in ihren Pferch. Dann wartete ich ungeduldig und blickte immer wieder durch die kleine Zufahrt auf die Straße.
Endlich hörte ich Hufgetrappel auf dem Pflaster. »Ich höre sie kommen!«, rief ich zu Papa hinüber.
Hoffnung kann eine Brücke seinDann kam Deichmanns Heinz auch schon durch die Einfahrt. Hinter ihm die drei Gäule, die er an Stricken führte.
Nachdem ich sie angebunden hatte, machte sich Vater daran, ihnen die alten Hufeisen abzunehmen. Ich half ihm, indem ich die Beine des Gauls aufnahm und sie hochhielt.
Die beiden Männer unterhielten sich währenddessen und Heinz meinte etwas mürrisch: »Haste schon mitgekriegt? Der Metzger hat schon wieder die Preise angehoben. Das Pfund Schweinefleisch soll jetzt dreiundsechzig Pfennig kosten. Also muss ich – wenn ich schlachte – nachziehen. Sonst kann ich meine Säue auch gleich verschenken!«
Vater knurrte nur etwas Unverständliches, ehe Heinz fortfuhr: »Übrigens ... drüben, die Mackenrots wollen weg von hier. Die sind schon beim Packen!« Papa ließ die Zange fallen und erhob sich aus seiner gebückten Stellung. »Weg? Wohin weg?« Wobei er Heinz mit zusammengezogenen Augenbrauen anblickte.
Heinz machte eine mürrische Handbewegung. »Na ja. Eben weg von hier. Die wollen auswandern. Der Alte findet keine Arbeit mehr und der Sohn ist siebzehn ... der soll bald eingezogen werden. Vier Jahre soll er dienen. Der will aber ums Verrecken nicht. Genauso wie dein Herr Sohn hier!« Wobei er grinsend auf mich deutete. Vater zog die Mundwinkel nach unten und brummte: »Hmmm. Wo wollen die denn hin? Verstehe ich nicht ganz. Auswandern! Glauben die, es wäre woanders besser?«
Jetzt grinste Heinz über das ganze Gesicht. »Mensch Lorenz! Liest du keine Zeitung? Die wollen rüber nach Amerika. Dort soll es Land und Arbeit im Überfluss geben!« Dann zog er eine zusammengeknüllte Zeitung aus der Gesäßtasche und las vor:
»Die USA benötigen viele Arbeitskräfte. Die Wirtschaft des Landes boomt. Vorallem die Industrie an der Ostküste sucht händeringend nach Leuten, die in den Fabriken arbeiten. Die Verdienstmöglichkeiten sind um ein Vielfaches besser als in Europa. Dazu kommen groß angelegte Verkehrsprojekte, zum Beispiel der transkontinentale Eisenbahnbau, in dem hunderttausende Zuzügler Arbeit finden. Die USA werben dafür gezielt in Europa Arbeitskräfte an. Gesetzliche Regelungen zur Kontrolle der Immigration bestehen nur in sehr bescheidenem Maße. Auf dem Weg, den gesamten Kontinent bis zur Pazifikküste zu erschließen, muss das Land flächendeckend besiedelt werden. Gerade Farmer sind aus diesem Grund sehr willkommen.«
Heinz schlug mit dem Handrücken auf die Zeitung. »Da steht's. Schwarz auf weiß. Die brauchen Leute. Und viel verdienen kannst du da auch. Ist ja auch ein ziemlich großes Land, dieses Amerika. Tja, dahin wollen die Mackenrots!«
Mein Vater kratzte sich nachdenklich am Kopf und ich wurde bei diesen Worten hellhörig. Amerika? Insgeheim war es immer mein Traum, in diesem Land zu leben. Ich las Bücher über dieses Land. Riesengroß sollte es sein. Mit Cowboys und Indianern. Und gigantischen Grasflächen – Prärien nennen sie das dort. Und kein Mensch wird bevormundet und wegen seiner Abstammung und Religion benachteiligt. Es gibt keinen Kaiser oder König. Die Menschen sind dort frei und können tun und lassen, was sie wollen.
Vater sah zuerst zu mir und dann wieder zu Heinz. »Na ja. Aber wie wollen die dahin kommen? Da liegt doch ein großes Meer dazwischen! Außerdem sprechen die doch alle Englisch dort, oder nicht?« Heinz wiegte den Kopf hin und her.
»Na ja. Es sind die letzten Jahre viele aus Deutschland ausgewandert. Auch aus anderen Ländern. Sie haben die Schnauze voll von den Zuständen hier. Und ja! Dort drüben wird Englisch gesprochen. Wie in England eben auch. Aber es haben sich schon viele Deutsche zusammengefunden und bilden drüben kleine Gemeinden. Über das Meer kommst du doch mit Schiffen, du Depp, oder glaubst du, die fliegen alle wie die Vöglein?« Wobei Heinz laut zu lachen anfing und mit den Armen den Flügelschlag von Vögeln nachahmte, während Papa etwas bedröppelt dastand.
Auch ich musste verhalten grinsen. Jetzt war die Gelegenheit, dieses Thema weiter zu vertiefen. Auf mich alleine würde Vater nicht hören und barsch abwinken, würde ich das Thema Auswandern auch nur andeutungsweise erwähnen.
Doch jetzt, da Heinz davon erzählte, dass die Mackenrots es wirklich vorhatten, wegzugehen, sah die Sache deutlich besser aus.
Ich malte mir in Gedanken schon aus, wie wir es anpacken müssten. Es würde ja auch Geld kosten. Und da lag schon der Hase im Pfeffer. Ein Haken, der größer nicht sein konnte. Verdammt noch mal. Immer dieses Geld. Entweder hatte man Geld und wollte nicht weg. Oder man hatte kein Geld und wollte weg.
Vater sah mein Grübeln und ahnte, worüber ich gerade nachdachte.
»Na Junge, ich weiß doch genau, was dir jetzt im Kopf herumschwirrt!«,
knurrte er, wobei jedoch ein feines Grinsen sein Gesicht überzog.
Ja, mein Papa kannte mich. Ich konnte kaum etwas vor ihm verbergen, wie übrigens vor Mutter auch nicht. Meine Gedanken spiegelten sich immer in meinem Gesicht wider. Auch wenn ich noch so gleichgültig und unbeteiligt tat.
Als die Arbeit beendet und die Pferde beschlagen waren, setzten sich die beiden Männer auf die Bank und Heinz drückte mir 40 Pfennig in die Hand. »Geh uns mal zwei Bier holen, mein Junge!«
»Die Humpen stehen in der Küche im Schrank!«, rief Papa hinter mir her.
Innerlich grinste ich in mich hinein. Wenn Papa Bier trank, war er gewissen Gesprächen gegenüber meist aufgeschlossener. Ich holte also die zwei Krüge mit dem Deckel aus dem Küchenschrank und machte mich auf den Weg zur Kneipe.
Die ganze Zeit über machte ich mir die schönsten Gedanken. Das wäre ein Ding. Weg von hier. Weg aus dieser muffigen Enge. Weg von dieser Obrigkeit, die einem alles und jedes vorschreiben will. Weg von Armut und Zukunftsangst. Ach, es könnte alles so schön sein. Wenn nur diese zwei Haken nicht wären. Der eine war das Geld. Und der andere meine Mutter.
Papa würde ich schon irgendwann weich kriegen. Denn auch er machte sich Gedanken und hielt vieles für falsch, was in diesem Land ablief. Auch die ständige Geldnot zerrte an den Nerven der ganzen Familie. In vielen Dingen war Papa wie ich. Auch er würde zu gerne die Welt kennenlernen.
Doch aus Verantwortung der Familie gegenüber kam das Thema Veränderung nicht auf den Tisch. In seiner Jugend war mein Vater an vielen Orten, wie er mir erzählte. Sogar einmal in Berlin. Auch ihn trieb es immer um. Auch aus diesem Grund hatte er immer Verständnis für meine Träume und das Fernweh. Und ich fühlte, dass auch er am liebsten diese Zustände hinter sich lassen würde. Doch es fehlte nur noch der zündende Moment. Ein Grund eben, der uns allen deutlich machen würde, dass es für uns hier keine Zukunft mehr gab. Klar, manches hatte sich schon verbessert. Doch für viele Bürger, besonders auf dem Land, war das nicht ersichtlich.
Doch Mutter war da anders. Sie war bodenständig und lebte gerne hier. Sie war auch noch nicht viel herumgekommen. Außer dass sie ein paar Mal in Kassel war. Einmal, als der Kaiser mit seinem Gefolge durch die Königstraße zog und im Schloss Wilhelmshöhe residierte. Ach, wie begeistert war sie von diesem Kerl.
Für mich war der immer nur »die Pickelhaube auf dem Pferd!« In der Schule durfte ich solche Äußerungen nicht laut werden lassen. In jener Zeit war der Kaiser hochgelobt und alle jubelten ihm zu.
Ich nahm mir jedenfalls vor, die Mackenrots bei nächster Gelegenheit zu besuchen, um mehr über deren Auswanderung zu erfahren. Das machte mich jetzt total neugierig.
Als ich mit den gefüllten Bierkrügen von der Kneipe »Zur Post« wieder zu Hause ankam, saßen die beiden Männer immer noch auf der Bank vor der Schmiede und ich bekam gerade noch ein paar Wortfetzen mit. Sie sprachen wohl immer noch über das Thema »Auswandern« und über die Mackenrots.
»... liebend gerne von hier weg; wenn ich keine Familie hätte, wäre ich es schon!«
Dieser Satz von meinem Vater ließ mich aufhorchen. Also befasste er sich insgeheim tatsächlich mit diesem Thema. Was er eigentlich mir gegenüber für nicht so wichtig und relevant erachtete.
Als ich den beiden Männern die Humpen überreichte und mich zu ihnen setzte, brachen sie das Thema ab und redeten über alltägliche Dinge. Ich merkte jedoch, dass Vater etwas vor mir verschweigen wollte. Doch was es auch sei. Ich hing wieder meinen Gedanken nach und die bohrten in meinem Kopf und wollten einfach nicht verschwinden.
Es war wie ein Traum, der sich plötzlich wie aus einem Nebel in die Realität erhebt. Wie wäre es wohl, in einem anderen Land zu leben? Die Neugier auf viele unbekannte Dinge, die den Tagen eine andere Wende geben würden. Der Eifer, Neues zu lernen und eine fremde Sprache zu sprechen. Ein Traum, der immer wieder geträumt werden will und sich nicht von einem bis dahin gelebten Leben abschrecken lässt. Ein Traum, der langsam intensiver wird und immer mehr ins Detail geht. Genauso wie das parallel laufende »wirkliche« Leben, das immer mehr Form annimmt. Weshalb gerade dieser Traum vom Leben in einem anderen Land so hartnäckig von mir geträumt wurde, konnte ich nicht erklären. Aber er war da. Er trieb mich um. Es war eine Sehnsucht, die man schlecht beschreiben kann. Mein Innerstes schien zu schreien: »Geh los. Geh hinaus in die Welt. Sie ist so groß und wunderbar. Du musst sie entdecken! Hinter dem fernen Horizont findest du dein Glück.«
Je mehr ich über das Gespräch von Papa und Heinz nachdachte, desto mehr wurde ich in meinem drängenden Wunsch bestärkt, hinaus in die Ferne zu ziehen.
Am Sonntag, ich hatte nichts Besonderes vor, machte ich mich also auf den Weg zu den Mackenrots.
Unterwegs begegnete ich ausgerechnet Herrn Wagner, unserem Schullehrer. Der kam gerade aus dem Schulgebäude. Er war ein strenger Lehrer. Er ließ nichts durchgehen. Auch nicht die kleinste Nachlässigkeit und schon gar nicht, wenn wir Jungs auf die Idee kamen, mit Gummis und Papierkügelchen nach den Mädchen zu »schießen«. Oft genug hatte ich seine Strafen »genossen«, wenn er mir die Haare an den Schläfen mit zwei Fingern zusammendrehte. Auch wenn ich jedes Mal die Zähne zusammenbiss, standen mir die Tränen in den Augen. Und auch der kurze Rohrstock, den er hinter dem Rücken parat hielt, lauerte des Öfteren auf mich.
Ja, alle hatten Respekt vor Herrn Wagners Strenge.
»Was will der denn jetzt von mir?«, dachte ich, als er mich von der anderen Straßenseite zu sich herüberwinkte.
»Kirchhain! Vergisst du auch nicht, dass bald die Kartoffelferien bevorstehen?«
Er blickte mich bei diesen Worten streng an. Fast wie ein Schutzmann, der mich bei einem Streich erwischt hat.
»Ich kenne dich ja Kirchhain! Bist immer einer derjenigen, die sich davor gerne drücken. Denkst wohl, solche Arbeitsferien sind zum Ausruhen und Herumalbern da, was? Vom Sonnabend, 25. Juli, bis Sonntag, 30. Juli, sind sie diesmal. Ich sage es dir jetzt schon, damit du nicht wieder eine Ausrede hast. Den anderen Schülern wird das noch bekannt gegeben!«
Ich verzog das Gesicht. Scheiß Kartoffeln hacken! Immer wenn die schönste Zeit des Jahres anbrach, musste die Jugend zu gewissen Zeiten in der Landwirtschaft helfen – es gab »Hacke Ferien«. Ich hasste diese Zeit. Ich hasste es überhaupt, auf den Feldern zu arbeiten. Diese Bückerei und Plackerei. Und wenn dann noch die Sonne heiß vom Himmel schien, schwitzte man wie eine Sau. Das alles war nichts für mich. Die ganze Landwirtschaft interessierte mich nicht. Lieber hätte ich irgendetwas mit Pferden gemacht. Aber so was? Auch einige andere Jungs wollten sich immer davor drücken. Mit mehr oder weniger Erfolg. In dieser Erntezeit konnte ich auch Vater nicht helfen. Meine Eltern mussten dann alles ohne meine Hilfe schaffen. Auch das machte mich wütend. Dass man einfach über das Leben der Menschen von oben herab bestimmen konnte. Doch so war es nun einmal. Von der Obrigkeit verordnet, von den Schulmeistern durchgesetzt und von den »Untertanen« ausgeführt. Verdammte Obrigkeit, wie ich die verabscheute!
Doch ich nickte nur ergeben. Was blieb mir übrig? »Jaaa. Alles klar, Herr Wagner. Ich werd's mir merken!«
Und dachte bei mir, warum er sich das nicht bis morgen aufgehoben hat. Mir jetzt dermaßen die Laune zu verderben! Zudem sind morgen, am Montag, sowieso alle Schüler beisammen. Hätte er auch bis dahin ruhig warten können.
Aber der Herr Geheimrat hatte wieder mal »einen Nickel«. Immer wenn er ein Gläschen getrunken hatte, wurde er redselig und musste jede Neuigkeit sofort verbreiten. Wie jetzt auch. Warum sonst erzählte er mir ausgerechnet hier auf der Straße davon?
Herr Wagner rülpste verhalten und schlug die Hand vor den Mund. Dann redete er weiter. »Hör mal zu, Junge! Du bist doch ein anständiger Bengel. Und deine Eltern sind brave Leute. Mach ihnen das Leben nicht noch schwerer. Jeder muss hart arbeiten. Und ihr Kinder könnt den Bauern ruhig mal bei der Ernte helfen. Es ist das Brot, das ihr später mal auf dem Tisch haben wollt. Also macht eure Arbeit und Gott wird's euch vergelten!« Ich rollte mit den Augen und betete, dass er mit seiner Litanei bald aufhören möge. »Vor der Arbeit drücke ich mich gar nicht, Herr Wagner. Ich helfe meinem Papa und gehe auch Mama zur Hand!«, entgegnete ich fast trotzig. »Doch diese Feldarbeit ist einfach nichts für mich! Ich arbeite außerdem schon genug!«
Der Herr Geheimrat glotzte mich an. Er war wohl überrascht, dass ich es wagte, seine Bemerkung infrage zu stellen. Von wegen ich wäre arbeitsscheu.
Er zog die Augenbrauen zusammen und blickte mich sehr streng an. »Junge. Widersprich mir nicht. Jeder in diesem Land hat seine Aufgabe der Gemeinschaft gegenüber zu erfüllen. Wir Deutschen müssen festzusammenhalten. Der Kaiser erwartet das von uns. Und er hat das Vertrauen aller Menschen im Lande verdient. Einen Besseren als ihn gibt es nicht.
Und wenn wir keine Zucht und Ordnung mehr haben, bricht unser Land zusammen!«
Mir schwoll langsam der Hals an. Was hatte das alles jetzt mit den verdammten Ernteferien zu tun, fragte ich mich. Der kommt mit seinem Thema auch vom Streuselkuchen auf die Großmutter! Und dieses politische Gesülze von ihm nervte mich jedes Mal.
Herr Wagner rülpste wieder und meinte abschließend, wobei er mir jovial auf die Schulter klopfte: »Na ja, mein Junge. Du wirst auch noch dahinterkommen. Bist ja noch jung.«
Wenn du erst zum Militär kommst, wirst du verstehen, was es heißt, dem Staat und unserem Kaiser Wilhelm zu dienen! Das ist nur zu unser aller Bestem. Ich muss nun auch los. Habe noch eine wichtige Versammlung heute. Und morgen sehen wir uns in aller Frische in der Schule. Und sei diesmal pünktlich!«
Dabei wendete er sich um und verschwand in Richtung »König von Hannover.« Ich atmete tief durch und war heilfroh, dass der feine Herr Geheimrat endlich abhaute.
Jaja. Versammlung. Diese »Versammlungen« kannte ich. Da saßen immer die gleichen Leute in einem Hinterstübchen der Kneipe und redeten über Politik. Was aber nur ein Vorwand war, um sich mit ortsbekannten Suffköppen einen hinter die Binde zu kippen. Normalerweise saßen die immer in der Kneipe »Zur Post« an der großen Kreuzung. Doch die hatte an diesem Tag geschlossen, wegen einer Familienangelegenheit. Wie dem auch sei. Ich machte mich jetzt endlich auf den Weg zu den Mackenrots.
Nach dem Klingeln öffnete mir Karl. Er war ein Jahr älter als ich und einer meiner engsten Freunde.
»Ahhh, du bist es!«, rief er erfreut. »Komm rein. Bin gerade dabei, meine Sachen zu sortieren.«
Ich ging hinter ihm her in den ersten Stock, wo er sein Zimmer hatte. Alles war durcheinander. Kleidungsstücke lagen im Zimmer verstreut und seine Bücher stapelten sich auf einer klapprigen Kommode.
»Tja. Du hast es bestimmt schon gehört. Wir hauen hier ab!«, meinte Karl, während er eifrig versuchte, in das Chaos so etwas wie Ordnung zu bringen. »Ja. Habe ich schon gehört«, antwortete ich und zog die Mundwinkel nach unten.
»Wie habt ihr das überhaupt gemacht? Warum wollt ihr denn weg von hier?« Karl hielt in seiner Arbeit inne.
»Ach weißt du, Papa hat keine Arbeit mehr. Unser Hof ist auch weg. Wir haben kein Geld und Mutter weiß nicht, wie sie Essen ranschaffen soll. Und drüben in Amerika soll alles besser sein. Man bekommt Arbeit und auch der Lohn ist besser. Und wenn man Land haben will, bekommt man so viel, wie man will.« Und dann flüsterte er mir zu, indem er sich verstohlen umsah: »Ich habe malmitgekriegt, wie Mama mit Papa stritt. Es ging irgendwie darum, dass er auf unsere Regierung geschimpft hatte. Mama war wütend, weil er so was in aller Öffentlichkeit sagte. Denn das gilt schon als Hochverrat. Ja, Papa wird auch deshalb von vielen Leuten hier im Ort schon gemieden. Aber sag es bloß keinem weiter!« Das versprach ich ihm und stellte fest: »Aber es ist doch gar nicht so einfach, nach Amerika abzuhauen, oder?« Karl sah mich grinsend an.
»Na ja. Einfach ist es nicht. Musst ja auch das Geld zusammenbekommen. Für die Überfahrt weißt du? Aber am besten fragst du Mama oder Papa. Die wissen viel mehr darüber!«
»Und ... magst du denn weggehen?«, hakte ich nach.
Karl zuckte mit den Schultern und antwortete unschlüssig: »Na ja ... was bleibt mir übrig? Hier kannste ja nicht mehr leben. Wenn Papa kein Geld verdient, wird's ja immer schlimmer. Zudem muss ich bald zum Militär. Das will ich aber nicht. Neee, eigentlich möchte ich nicht weg. Hab ja Freunde hier. Vater sagt, er sehe hier in Deutschland einfach keine Zukunft mehr. Ich weiß auch nicht, was uns in Amerika erwartet. Dort soll es Indianer geben, die skalpieren dich und fressen dich auf, habe ich mal gehört. Und viel Schießen tun die dort auch!« Ich musste mir ein Lachen verbeißen bei Karls naiven Worten, erwiderte aber nichts darauf.
»Na schön. Dann haue ich mal wieder ab. Aber du kommst doch noch mal bei uns vorbei, ehe ihr abreist, oder?«, fragte ich Karl, ehe ich mich zum Gehen wendete. »Na klar. Wir sehen uns noch. Ist ja noch eine Weile hin!«
Als ich die Treppe hinunterstieg, ging die Haustür auf und Frau Mackenrot kam herein.
»Ach sieh an. Der Bub von Kirchhains. Na, dich hat man aber lange nicht gesehen. Wie geht's dir denn, mein Junge. Was machen deine Eltern?«
»Ooooch, ganz gut, Frau Mackenrot. Wir sind alle gesund!«, erwiderte ich fröhlich.
»War mal kurz bei Karl oben. Sie wollen also nach Amerika auswandern?« Frau Mackenrot machte ein betrübliches Gesicht und setzte den kleinen Sack ab, in dem sich wohl Kartoffeln befanden, wie ich an dem Poltern hören konnte. »Achjaa, mein Junge. Jaa, mein Mann hat es so beschlossen. Es gibt ja keine Arbeit mehr. Die Wirtschaft ist so schlecht und die Pacht für den Hof können wir auch nicht mehr bezahlen. Aber komm doch rein. Ich koche uns mal einen Kaffee!«
Eigentlich wollte ich ja gleich wieder heim. Wollte auch noch mal bei Rosemarie vorbeischauen. Doch der höflichen Aufforderung von Frau Mackenrot konnte ich nicht widerstehen. Die kochte einen tollen Kaffee. Weiß der Teufel, was sich außer dem braunen Pulver noch darin befand. Frau Mackenrot war schon eine nette Frau. Ich mochte sie schon von klein auf. Sie war wohl so um die vierzig Jahre alt. Ihr Gesicht hatte schon einige Falten und ihr Blick erschien mir irgendwie müde. Die Sorgen machten ihr wohl zu schaffen. Ihr Haar war fast schon weiß und sie ging gebückt, als wenn sie eine schwere Last zu schleppen hätte. Sie war immer hilfsbereit und zu jedermann freundlich. Früher war ich oft bei ihnen auf dem Hof und wir Kinder spielten dann im Heu oder tobten im Garten herum. Seufzend setzte Frau Mackenrot den Wasserkessel auf denHerd, während ich den Kartoffelsack in die Küche trug und mich dann an den großen Tisch setzte. Frau Mackenrot nahm neben mir Platz und klemmte die Kaffeemühle zwischen die Beine, in der knirschend die Bohnen zu feinem Pulver gemahlen wurden.
Bei uns gab es schon lange keinen richtigen Kaffee mehr. Mutter braute immer »Muckefuck«. Dieser Ersatzkaffee hatte kein Koffein und schmeckte auch nicht besonders. Eher wie das Wasser vom Abwasch. Woher Frau Mackenrot nur diese Bohnen herhatte? Es roch herrlich, als der Kaffee auf dem Kohleofen brodelte. Während Frau Mackenrot zwei Tassen auf den Tisch stellte, erzählte sie mir: »Jaa, mein Junge. Es ist nicht leicht heutzutage. Unseren Hof haben wir schon verloren und unser Sohn, der Karl, will kein Bauer sein. Er will auch nicht zum Militär. Es gibt so viel Ungerechtigkeit in diesem Lande. Es wird den Menschen immer schwerer gemacht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Durch eine Bekannte haben wir dann von der Möglichkeit des Auswanderns erfahren. Billiges Land und hoher Lohn in Amerika. Im Gegensatz zu geringem Lohn und teurem Land hier bei uns. Außerdem soll dort jeder Mensch gleich sein. Keiner wird wegen seines Standes benachteiligt oder bevorzugt. Das hatte man uns jedenfalls so gesagt. Und die suchen gute Arbeiter. Alles soll besser sein dort drüben. Achjaa. Ich weiß ja nicht. Doch besser als hier muss es wohl sein!« Gedankenverloren blickte Frau Mackenrot vor sich auf den Boden und irgendwie tat sie mir jetzt leid.
»Und ... wie geht das mit der Reise dorthin?«, fragte ich vorsichtig. Ich wollte jetzt unbedingt wissen, wie so etwas bewerkstelligt wird. Meine Neugier wurde nämlich immer größer. Und je mehr ich mich mit diesem Thema auseinandersetzte, desto übermächtiger wuchs in mir der Wunsch, die ferne Welt kennenzulernen. Ich wollte raus aus der bürgerlichen Enge. Wollte frei atmen und mein Leben in die eigenen Hände nehmen. Mochte nicht von der Obrigkeit beherrscht und drangsaliert werden, bis an mein Lebensende. Immer nur tun und lassen, was man mir vorschreibt. Und vor allen Dingen wollte ich kein Soldat werden. Mich drängte es in die weite, unbekannte Welt. Und ich würde weggehen von hier, das war gewiss. Früher oder später. Doch jetzt wollte ich alles ganz genau wissen und drängte Frau Mackenrot dazu, mir zu erzählen, wie sie darauf gekommen sind, nach Amerika auszuwandern, und wie sie das finanzieren.
»Wir hatten vor längerem mal so einen Schiffsagenten getroffen, unten in Hann Münden. Der erzählte uns von Amerika und wie schön es dort sein soll. Ein Land, in dem Milch und Honig fließen sollen. Geld könnte man dort verdienen und sogar reich werden. Na ja, ich fand ja, dass er bestimmt übertreibt, doch irgendwie erweckte er auch Hoffnung in uns. Hoffnung auf ein besseres Leben. Wo man nicht mehr hungern musste und frei leben durfte. Wenn man Land besaß, gehörte es einem auch. Niemand könne es einem wieder wegnehmen.«
Ich nickte dazu, denn diese Geschichten hatte ich schon oft gehört. Überall im Land waren Anwerber unterwegs. Die Reedereien und Schiffsagenturen wollten so für neue Kunden werben. »Ja, aber woher nehmt ihr das Geld?«, fragte ich neugierig und schlürfte meinen Kaffee, der mir heute noch besser schmeckte, wie es mir vorkam. Frau Mackenrot wiegte den Kopf hin und her und verzog das Gesicht. »Na ja, dieser Mann ... dieser Schiffsagent meinte, er hätte dajemanden, der uns die Überfahrt finanzieren wollte. Dazu müssten wir einen Vertrag abschließen und das Geld später in Amerika abarbeiten. Das wäre aber kein Problem. Arbeit gebe es dort in Hülle und Fülle. Und mein Mann und mein Sohn wären ja stark und gesund und auch ich könnte ja noch arbeiten. So hatte er uns das erklärt. Wir müssten nur selber sehen, wie wir nach Bremerhaven kämen. Denn von dort aus startete das Schiff, das uns nach Amerika bringen würde.«
Draußen hörte ich eine Tür ins Schloss fallen und Herr Mackenrot kam herein. Er hängte seinen Hut in der Diele an einen Haken und begrüßte mich mit einem dünnen Lächeln. »Ahh, der Bernhard. Na, dass man dich auch mal wieder sieht!« Dann ließ er sich seufzend auf einen Stuhl fallen, während ihm seine Frau eine Tasse hinstellte. Herr Mackenrot war ein stämmiger Mann. Mitte dreißig. Bestimmt einen Meter achtzig groß. Mit blonden, gewellten Haaren und einem Vollbart. Man sah gleich, dass er harte Arbeit gewohnt war. Seine Hand – in die meine bestimmt zweimal hineinpasste – ergriff die Tasse und genüsslich schlürfte er den heißen, starken Trank. Zu seiner Frau gewandt, meinte er: »Ja, Frau, nun ist es amtlich. Der Hof ist weg. Ich konnte den Vertrag nicht verlängern. Und die Arbeitsstelle in Kassel hat auch nichts ergeben. Die haben im Moment genug Leute.
Bis sie wieder welche einstellen, könnten drei Monate vergehen, sagten die mir. Aber solange reicht unser Erspartes nicht. Und wir müssen ja auch aus dem Haus!« Resignierend senkte er den Kopf. Eine Weile schwiegen wir. Bis Herr Mackenrot mit der flachen Hand auf den Tisch haute. »Jaa ... dann ist es beschlossene Sache. Ich werde noch mal zu dem Schiffsagenten gehen und den Vertrag unterzeichnen. Dann wandern wir eben aus! Ist vielleicht auch besser so!« Fast trotzig blickte Herr Mackenrot seine Frau an, die ihre Augenbrauen zusammenzog und ein enttäuschtes Gesicht machte. Hatte sie doch gehofft, den Hof behalten zu können.
Doch wie es jetzt aussah, blieb ihnen keine andere Wahl. Viele Höfe waren in dieser Zeit sogenannte Parzellenbetriebe, die nicht größer als zwei Hektar waren und an Familien verpachtet wurden, die selbst kein Land hatten. Sie dienten zumeist der Eigenversorgung. Nur etwaige Überschüsse wurden verkauft.
Herr Mackenrot erhob sich von seinem Stuhl und meinte seufzend zu mir gewandt: »Tjaa, mein Junge. Jetzt weißt du, wie es mit uns aussieht. Dann werde ich mal alles in die Wege leiten und den Vertrag unterschreiben. Wird ja wohl eine Weile dauern, bis alles erledigt ist. In dem Haus können wir erst mal wohnen bleiben bis zur Abreise.« Auch ich erhob mich und wollte mich verabschieden, als mir einfiel, dass ja Karl kurz davorstand, zum Militär eingezogen zu werden. Mit nachdenklich zusammengezogenen Augenbrauen fragte ich deshalb zu Herrn Mackenrot gewandt: »Mhh, jaaa. Wie macht ihr das denn mit Karl? Der muss doch zum Militär. Wenn ihr jetzt einfach weggeht, ist das doch strafbar ... oder nicht?«
Herr Mackenrot kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Na ja, das haben wir schon geregelt, mein Junge. Auch so eine Sache, weswegen ich hier wegwill. Die Obrigkeit und ihre verdammten Gesetze und Drangsale. Ich musstedeswegen zum Amtmann. Habe meine letzten Groschen geopfert, um Karl freizukaufen. Weißt du, man muss bei der Gemeinde einen Antrag stellen. Der nennt sich »Die Entlassung aus dem staatlichen Untertanenverband«. Das musst du dir mal vorstellen! »Untertanenverband«, als wären wir Leibeigene und keine Bürger!
Und dieser Amtmann reicht dann den Antrag weiter an den Landrat, der wiederum den Vorgang an die Regierung schickt, wo dann die Entlassungsurkunde ausgefertigt und über denselben Dienstweg zurück an den Amtmann geschickt wird, der sie dann dem Antragsteller – also uns – nach Zahlung der üblichen Gebühren überreicht!«
Herr Mackenrot wurde bei diesen Worten richtig wütend und schüttelte den Kopf. »Einen Antrag stellen, um zu reisen, wohin man möchte. Wir sind hier in diesem verdammten Staat doch nur Leibeigene. Drüben in Amerika sind alle frei und nur für sich selbst verantwortlich. Kein König oder Kaiser hat dort was zu melden. Ich hasse unseren Staat. Ich hasse den Kaiser und seine Marionettenregierung. Und ich hoffe, dass er eines Tages abdanken muss und wir endlich eine echte Demokratie haben!« Beschwichtigend legte Frau Mackenrot die Hand auf den Arm ihres Mannes. Denn der redete sich langsam in Rage. Er schluckte und tätschelte dann beruhigend ihre Hand. »Ist doch wahr, Frau. Was uns Menschen hier im Land angetan wird, ist nicht richtig. Kein Wunder, wenn immer mehr Leute wegwollen von hier. Lies doch mal die Zeitung. In der steht es doch jede Woche!«
Ich war überrascht von Herrn Mackenrots Ausbruch. Kannte ich ihn doch als besonnenen und immer freundlichen Menschen. Dass er so dachte, war mir bis dahin nicht bewusst. Aber er kam mir und meiner Meinung über die Zustände im Land deutlich entgegen und bestärkte mich in meinem Entschluss. Und obwohl ich damals noch sehr jung war, konnte ich mir doch schon ein Urteil darüber erlauben. Nur laut aussprechen sollte man seine Meinung, nach Möglichkeit, nicht öffentlich. Und das entsprach ganz und gar nicht meiner Vorstellung von einem freien Land.
Obwohl das Deutsche Reich mit seinem Kanzler Bismarck zu jener Zeit eine konstitutionelle Monarchie war, war sie doch keine echte parlamentarische Demokratie, in der die Macht vom Volk ausging. Das alles wusste ich aus der einschlägigen Literatur und das bestärkte mich zunehmend in meinem Wunsch nach einer Welt, in der es keine Obrigkeit, keine Untertanen und keine Unfreiheit mehr gab. Und dass ich mit meiner Meinung nicht alleine stand, wurde mir immer klarer, je mehr ich mich als junger Mann damit beschäftigte und auch andere Menschen kennenlernte, die ebenso dachten.
»Wie sind sie denn überhaupt auf die Idee gekommen, nach Amerika auszuwandern? Wie wird so was gemacht?«, fragte ich neugierig. Denn ich wollte es endlich genau wissen, wie man ein solches Vorhaben anpackt.
»Die Reedereien arbeiten mit Expedienten und Maklern zusammen, die wiederum Agenten in die Auswanderungsgebiete entsenden, um dort vor Ort Schiffspassagen zu verkaufen. Und durch so einen Agenten sind wir erst auf die Idee gekommen, auszuwandern!«, beantwortete Herr Mackenrot meine Frage und machte eine bedeutsame Geste. Ich nickte und war zufrieden. Soalso läuft das. Ich verabschiedete mich daraufhin von den Mackenrots und ging sehr nachdenklich nach Hause.
Die wirtschaftliche Lage bei uns auf dem Land wurde mittlerweile immer schlechter. Durch die Zeitungen erfuhren wir, dass auch die Fabrikarbeiter in Kassel nicht mehr so gut gestellt waren wie am Anfang der Industrialisierung. Sie mussten unter sehr schlechten Bedingungen für einen niedrigen Lohn arbeiten. Auch waren die Städte inzwischen verdreckt und die Flüsse verschmutzt. Man hatte keine richtige Infrastruktur und das Elend der Leute wurde immer größer. Den Fabrikbesitzern ging es einzig und allein um den Profit! Viele Deutsche, aber auch andere Europäer, hofften deshalb auf ein »Paradies« in Amerika. Auf Freiheit, schöne, saubere Landschaften und genug Geld, um sich und seine Familie zu versorgen. Auch uns traf es. Durch Zufall bekam ich ein Gespräch meiner Eltern mit, das sich zu einem lautstarken Streit entwickelte.
Ich kam gerade aus meinem Zimmer, meine Eltern saßen frühmorgens am Kaffeetisch, als Vater lautstark rief: »Es geht so nicht weiter! Wo soll das alles hinführen? Ich habe kaum noch Arbeit und in die Fabrik will ich unter keinen Umständen. Die nehmen im Moment sowieso keine Leute an. Du siehst doch selber, was los ist!« Dann hörte ich, wie er mit der Faust auf den Tisch haute. So hatte ich Vater noch nie erlebt. Er war immer sehr besonnen und ich hatte ihn ganz selten mal aus der Haut fahren sehen. Doch wenn er jetzt so aufgebracht war, musste es sehr schlimm sein.
Erschrocken betrat ich die Küche, wo Vater mit düsterem Gesicht auf den Tisch starrte. Mutter blickte mich an und ich konnte Tränen in ihren Augen erkennen. »Was ist denn hier los?«, fragte ich vorsichtig. Vater hob den Kopf und blickte mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Ich erkannte Verzweiflung und Mutlosigkeit in seinem Gesicht. »Ach Junge. Du hast es ja bestimmt auch schon mitgekriegt. Es wird immer schlimmer. Ich kriege keine Aufträge mehr. Auch die Gemeinde lässt mich hängen. Obwohl sie mir versprochen hatten, für Aufträge zu sorgen. Die meinen, dass ich es doch mal in Kassel versuchen solle. Dort in der Fabrik könne ich Arbeit bekommen. Ja, klar. Aber unter welchen Bedingungen? Nee, nee. Jahrzehntelang hat man sich abgerackert, um etwas aufzubauen, und jetzt wird das alles zunichtegemacht. Die Preise steigen unaufhörlich, doch die Löhne bleiben klein. Was für Zustände haben wir bloß?« Betroffen über diese Äußerungen schwieg ich. Ich wusste dazu nichts zu sagen, hatte Vater doch recht. Meine Mutter knetete ihre Hände und man sah ihr an, dass sie um ihre Fassung rang. Dann fuhr mein Vater fort, indem er sich mir wieder zuwandte: »Und dir, mein lieber Sohn, muss ich sagen, dass ich von einigen Leuten Beschwerden über dich bekommen habe.
Du sollst Meinungen geäußert haben, die einigen Herrschaften nicht so ganz gepasst haben. Du hättest dich abfällig über das Militär und auch über die Obrigkeit geäußert. Na ja, ich bin ja in vielen Dingen einer Meinung mit dir. Nur muss man das nicht in aller Öffentlichkeit herausposaunen. Ich weiß, wie du denkst und fühlst. Mir geht es nicht anders. Das ganze System ist mir zuwider. Nur müssen wir vorsichtig sein. Es gibt Leute im Ort, die so was als Landesverrat betrachten! Deshalb zügel dich und mach uns nicht noch mehr Sorgen als wir schon haben!«