HINTER DEM SPIEGEL (Alice im Totenland 2) - Mainak Dhar - E-Book

HINTER DEM SPIEGEL (Alice im Totenland 2) E-Book

Mainak Dhar

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Beschreibung

Mehr als zwei Jahre sind vergangen, seit Alice einem Biter mit Hasenohren in ein Erdloch folgte und damit Ereignisse auslöste, die ihr Leben und das jedes anderen im Totenland für immer verändern sollte. Die Rote Garde konnte zurückgedrängt werden, und im "Wunderland" – der ersten großen und freien Stadt seit dem Ausbruch – herrscht Frieden, sogar zwischen Menschen und Bitern. Doch dieser Frieden ist nur von kurzer Dauer. Eine Serie blutrünstiger Biter-Angriffe bringt die Bewohner des Wunderlandes gegen Alice auf. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als wieder ins Totenland zurückzukehren und herauszufinden, welche Mächte ihre so hart erkämpfte Zuflucht bedrohen. Und dabei sieht sie sich schnell ihrer bislang tödlichsten Widersacherin gegenüber: der Herzkönigin.

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Hinter dem Spiegel (Alice im Totenland – Band 2)

Mainak Dhar

übersetzt von Peter Mehler

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: THROGH THE KILLING GLASS Copyright Gesamtausgabe © 2020 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Peter Mehler Lektorat: Gerard Chevalier

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2020) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-369-5

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Hinter dem Spiegel (Alice im Totenland – Band 2)
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Epilog
Über den Autor

Kapitel 1

Was Alice am meisten daran bedauerte, kein echter Mensch mehr zu sein, war der Umstand, dass sie nicht mehr weinen konnte. Mehr als ein Jahr war nun vergangen, seit Alice einem Biter mit Hasenohren in ein Loch im Erdboden gefolgt war und damit Ereignisse auslöste, die ihr Leben und das aller anderen im Totenland grundlegend veränderte. Ereignisse, die zur Errichtung einer völlig neuen Ansiedlung geführt hatten, einer Siedlung, wie sie die Welt seit den Tagen des Ausbruchs nicht mehr gesehen hatte. Tausende Menschen waren aus dem Totenland in das ehemalige Delhi geströmt, um dort in einer großen Gemeinschaft zusammenzuleben. Einer Gemeinschaft, in der es Gesetze, Sicherheit und für jedermann ein Dach über dem Kopf gab. Eine Gemeinschaft, in der man nicht jede Nacht in Angst vor marodierenden Bitern oder der Roten Garde zubringen musste. Eine Gemeinschaft, die mittlerweile einfach nur als das Wunderland bekannt war.

Die Kosten für ihren Sieg waren hoch gewesen. Tausende waren im Kampf gegen die Rote Garde im Totenland umgekommen, und hunderte weitere bei den Luftschlägen, die gestartet wurden, als man Alice gefangen nahm. Und auch Alice hatte einen hohen Preis bezahlen müssen. Sie hatte ihre gesamte Familie verloren und ihre Identität dazu. Sie war nicht länger das aufgeweckte fünfzehnjährige Mädchen, das ihr Vater abgöttisch liebte. Sie war jetzt die Königin des Wunderlandes, jemand, zu dem die Menschen mit Ehrfurcht und Angst aufsahen. Als halber Biter würde sie sich nie wieder an Essen erfreuen, denn sie benötigte keine Nahrung mehr. Sie würde nie wieder von ihrer Familie träumen, denn Biter träumten nicht, und wenn sie an all das zurückdachte, was sie verloren hatte, konnte sie nicht einmal mehr weinen, um ihren Schmerz zu lindern, denn auch das war einem Biter fremd.

Für ihre Gegner war Alice eine ernst zu nehmende Gegnerin geworden, mit dem Training und den kampferprobten Instinkten der besten menschlichen Soldaten, aber auch mit der scheinbar unerschöpflichen Ausdauer und Unempfindlichkeit gegenüber einem Großteil an Verletzungen – mit Ausnahme eines direkten Kopfschusses – für den ihre Biterhälfte gesorgt hatte. Für ihre menschlichen Gefolgsleute stellte sie so etwas wie einen Messias dar; jemand, der sie aus dem Totenland gerettet und ihnen die Hoffnung zurückgegeben hatte, wieder wie zivilisierte Menschen leben zu können. Für die Biter, die ihr folgten, war sie die Anführerin ihres Rudels, der sie sich mit tierischem Instinkt und Unterwürfigkeit beugten.

Doch für sie selbst war sie noch immer Alice Gladwell, Tochter und Schwester einer ermordeten Familie. Sie hatte sich an der Roten Garde gerächt, und was als persönliche Vendetta begann, war zu etwas viel Größerem geworden. Alice hatte sich nie selbst als Anführerin gesehen, doch sie wusste, dass nun mehr als zehntausend Menschen im Wunderland von ihr abhängig waren. Ganz gleich, ob sie die Last einer Führungsrolle jemals tragen wollte oder nicht – nun war ihr dieses Amt zugefallen, und sie war entschlossen, die Menschen, die sich auf sie verließen, nicht im Stich zu lassen.

Das meiste ihres noch jungen Lebens hatte sie mit Kämpfen verbracht und ihre Ausbildung bestand aus wenig mehr als zu lernen, wie man kämpft und im Totenland überlebt, doch heute würde Alice etwas tun, das sie noch nie zuvor getan hatte. Sie würde die erste Schule des Wunderlandes einweihen.

Ein Raunen ging durch die Menge der mehr als tausend versammelten Menschen, als sie das behelfsmäßige Podium betrat. Arjun, ihr Vertrauter und treuer Berater, hatte diesen Ort mit dem für ihn typischen Sinn für Humor ausgewählt. Die Schule befand sich dort, wo früher einmal der Zoo Delhis gewesen war.

»Bewohner des Wunderlandes, ich danke euch, dass ihr gekommen seid. Ich selbst habe nur wenig Bildung genossen, außer dem, was für ein Überleben im Totenland notwendig war, doch jetzt werden unsere Kinder wieder das lernen, was ihnen vor dem Ausbruch gelehrt worden war, und eines Tages werden sie es sein, die unsere Welt nach diesem Vorbild wieder aufbauen werden.«

Tosender Applaus brandete auf, doch als Alice von ihrem Podium heruntertrat, fühlte sie sich ein wenig leer. Sie wusste kaum etwas über das Leben vor dem Ausbruch, und obwohl sie stolz war auf das, was sie zusammen erreicht hatten, fragte sie sich, ob sie im Wunderland wirklich noch gebraucht wurde. Sie hatte keine Ahnung, wie man eine Stadt mit all ihren Zänkereien um Wasservorräte oder romantische Affären leitete. Sie sehnte sich nach der Kameraderie in ihrer alten Siedlung, wo jeder jeden gekannt hatte, und nicht nach der Anonymität des städtischen Lebens in Delhi; jener Stadt, deren Zentrum früher einmal die Regierung eines Landes beherbergt hatte und in dem sich nun die Menschen in ihre Appartements zurückzogen.

Sie sah ein junges Paar, das sich an den Händen hielt, und wendete ihren Blick ab. Das war eine weitere Erfahrung, die sie nie teilen würde. Sie war jung und menschlich genug, um zu bedauern, nie das Gefühl von Liebe erfahren zu haben, aber sie war auch Biter genug, um diese Gefühle nicht zu spüren. Ihr Aussehen tat dann noch sein Übriges.

Als sie in ihr Zimmer in jenem Bauwerk im Herzen Delhis zurückkehrte, welches früher einmal das Rote Fort gewesen war, holte Arjun sie ein.

»Alice, wir haben diese Woche wieder Patrouillen in den Norden des Wunderlandes ausgesandt, aber die Menschen fangen an, sich über die Patrouillen zu beschweren. Sie sagen, dass sich seit Monaten keine Rotgardisten mehr gezeigt haben.«

Alice sah ihn an und musste mit Bestürzung feststellen, dass selbst er bei ihrem Anblick leicht zusammenzuckte. Ihr schelmisches Lächeln und ihre leuchtenden Augen waren längst verschwunden und von einem ausdruckslosen, gelblichen Schimmer und einer Haut ersetzt worden, die zu verwesen schien und einen fauligen Geruch verströmte. Sie wandte sich von ihm ab, um seinen Gesichtsausdruck nicht länger ertragen zu müssen.

»Arjun, die Leute werden fett und träge. Sie vergessen, dass diese Sicherheit mit Blut erkämpft wurde und dass der Kampf vor ihren Appartements noch immer tobt und uns eines Tages wieder ereilen wird.«

Arjun war ihrer Meinung, das wusste sie, aber sie wusste auch, welcher Druck auf ihm lastete. Über den Krieg zu reden galt nicht länger als besonders beliebt. Nach ihren lähmenden Verlusten im Kampf hatte die Rote Garde die Kontrolle über das Totenland im Norden Indiens so gut wie verloren. Hin und wieder tauchte ein Kampfjet hoch oben am Himmel auf, doch sie hielten stets großen Abstand, wohl wissend, dass das Wunderland über eine starke Luftabwehr verfügte, die von erfahrenen ehemaligen Soldaten von ZEUS bedient wurden, einer Söldnerarmee, die im Auftrag des Zentralkomitees gestanden hatte, bis sie eines Tages meuterten und man die Rote Garde vom chinesischen Festland einbestellte.

Wie so oft in diesen Tagen schwang sich Alice auf ihr Motorrad und fuhr allein hinaus, durch das ausgetrocknete Flussbett des Yamuna und bis zu dem Waldgebiet, welches nun den Bitern vorbehalten war. Irgendwer hatte einmal angemerkt, dass es an die Tierreservate aus der Zeit vor dem Ausbruch erinnerte, und Alice hatte gespürt, wie sie dieser Kommentar verletzte. War sie bereits so sehr ein Biter, dass sie sich mit ihnen verbundener fühlte als mit den Menschen? Sie fuhr weiter und ihr blondes Haar wehte hinter ihr her. Das war eine Sache an ihrem Körper, die sich nicht verändert hatte, nachdem sie zu dem Hybriden wurde, der sie nun war.

Unterdessen war die Sonne untergegangen und Dunkelheit legte sich über die Wälder. Alice erspähte ein paar ihr wohl vertrauter Umrisse. Der, der ihr am nächsten war, trug Hasenohren auf dem Kopf, hatte einen eigentümlichen, schlurfenden Gang und sein linker Arm war unterhalb des Ellbogens von einer Granate der Roten Garde abgerissen worden. Der andere war ein schwergewichtiger Biter mit einem Hut. Wenn Alice die Anführerin des Rudels darstellte, waren Hasenohr und der Hutmacher ihre Adjutanten. Nach ihrer Transformation war ihr bewusst geworden, dass die Biter zwar nicht in einer menschlichen Form miteinander kommunizieren konnten, sich aber wie Tiere verständigten und über eine starke Rudelmentalität verfügten. Den Krieg im Totenland zu beenden bedeutete nicht nur, die Rote Garde solange zu bekämpfen, bis die Auseinandersetzungen zum Erliegen kamen, sondern auch einen Weg zu finden, wie Biter und Menschen zumindest miteinander auskommen, wenn nicht sogar zusammenarbeiten konnten. Um das zu erreichen, war sie Führerin des Rudels geworden. Nun befehligte sie eine Armee von tausenden Bitern, die vor ihr aus dem dunklen Wald auftauchten und niederknieten.

Alice hielt in ihrer linken Hand ein altes, verkohltes Buch. Es war das letzte Buch des Totenlandes und das erste Mal war sie ihm in einer Untergrundbasis begegnet, wo es sich im Besitz der Königin der Biter befunden hatte. Das Buch hieß »Alice im Wunderland«. Die Königin war der Überzeugung gewesen, dass es eine Prophezeiung enthielt, die Welt zu erneuern, und das Alice dazu bestimmt war, diese Prophezeiung zu erfüllen. Nun, da Alice an ihrer Fähigkeit zu lesen gefeilt hatte, verstand sie die zufälligen Übereinstimmungen, welche die Königin dazu gebracht hatten, an diese Prophezeiung und Alices Rolle darin zu glauben. Alice hatte keine Ahnung, ob an dieser angeblichen Prophezeiung wirklich etwas dran war, aber zwei Dinge wusste sie genau: Zum einen war dies vielleicht das einzige und letzte Buch im Totenland, zumindest bis sich jemand hinsetzte und ein neues schrieb, und das machte es zu einem kostbaren Gegenstand, den es zu bewahren galt. Und zum anderen flößte dieses Buch den Bitern eine fast schon religiöse Ehrfurcht ein. Das war auch der Grund, warum sie es stets bei sich trug, wenn sie ihre Horde besuchte.

Alice hatte gelernt, die Loyalität der Biter nie als gegeben hinzunehmen, da sie so impulsiv und aggressiv wie wilde Tiere sein konnten, und als ein oder zwei der Neuankömmlinge in dem Rudel auf sie zu schlurften, stellte sich der Hutmacher ihnen in den Weg und verscheuchte sie. Früher einmal hatte sie der übel riechende Fäulnisgestank angewidert. Mittlerweile aber störte sie sich nicht mehr daran.

Sie setzte sich an einem Baum auf den Boden und sah in den Nachthimmel auf. Doch mittlerweile wurde der Himmel über dem Totenland noch von mehr als nur den Sternen erhellt, denn in der Ferne sah sie den Lichtschein, der aus den Appartements drang.

»Sie werden nachlässig. Beleuchten die Siedlung, damit man sie über Meilen hinweg noch als leichtes Ziel ausmachen kann.«

Sie hatte nur leise zu sich selbst gesprochen, doch Hasenohr lief zu ihr, setzte sich neben sie und wartete auf ihre Befehle. Während sich die Biter untereinander mit Grunz- und Kreischlauten verständigten, schienen sie menschliche Sprache bis zu einem gewissen Grad zu verstehen. Vielleicht waren noch einige Teile ihrer Gehirne in Funktion, trotz des Virus, der sie zu diesem Zustand verdammte.

»Mach dir keine Sorgen, Hasenohr. Das kriege ich schon hin.«

Sie schickte ihn mit einer Handbewegung fort, dann erwachte das taktische Funkgerät an ihrem Gürtel zum Leben.

»Weiße Königin, hier spricht Weißer Turm. Bitte begeben Sie sich unverzüglich zu dem Spiegel.«

Alice richtete sich auf und fuhr so schnell sie konnte zu dem nahegelegenen Tempel, der ihnen nun als Kommunikationszentrum diente, ihrem einzigen wirklichen Fenster zu dem, was in der Welt da draußen vor sich ging. Satish – oder Weißer Turm – hatte diesen Ort den Spiegel getauft. Bevor er abtrünnig geworden war, diente Satish als Kämpfer bei ZEUS und war über die Zeit zum Kommandant der bewaffneten Streitkräfte des Wunderlandes geworden.

Über Monate hinweg hatten sie versucht, in Kontakt mit dem Widerstand in den ehemaligen Vereinigten Staaten zu treten, jedoch ohne großen Erfolg. Darüber hinaus versuchten sie, mit beschlagnahmten Computern und Tablets nachzuverfolgen, was das Zentralkomitee und deren Handlanger planten. Außer den Nachrichten, die das Zentralkomitee offiziell versenden ließ, gab es wenig Neuigkeiten, doch zumindest bekamen sie so eine Ahnung von dem, was außerhalb ihrer Siedlung vor sich ging. Ursprünglich hatte sich der Spiegel im Zentrum der Stadt befunden, doch dann hatten die Bewohner darum gebeten, ihn in die Randbezirke zu verlegen, weil sie nicht ständig die schlechten Nachrichten aus dem Rest der Welt hören wollten. Das war ein weiteres Zeichen dafür, dass die Leute nachlässig wurden und die Mühen zu vergessen begannen, die ihnen diesen Frieden beschert hatten.

Alice fragte sich, was Satish wohl herausgefunden haben mochte, das so wichtig war, dass es ihre Anwesenheit im Spiegel um diese Tageszeit erforderte.

»Diese Narren wollen Parteien gründen und eine Wahl stattfinden lassen.«

Alice konnte die Verachtung in Satishs Stimme hören. Sie wusste, dass der bescheidene Frieden im Wunderland dazu geführt hatte, dass die Bewohner sehr schnell wieder in ihr altes Gerangel um Machtpositionen zurückfielen. Vielleicht lag das in der Natur des Menschen. Es war eine Schande, dass es stets Ereignisse wie den Ausbruch oder die konstante Bedrohung durch Biter benötigte, damit die Menschen verstanden, wie wenig solche Statussymbole tatsächlich wert waren.

»Arun, dieser Bastard, stachelt sie alle auf und erzählt ihnen, dass sie eine echte Demokratie brauchen und auf dich verzichten können.«

Alice hatte versucht, sich von den Winkelzügen von Männern wie Arun fernzuhalten, der vor dem Ausbruch selbst einmal ein Politiker gewesen war. Sie war damit fortgefahren, das Wunderland so zu führen wie eh und je, mit einem kleinen Ältestenrat, und wo über schwerwiegende Entscheidungen abgestimmt wurde.

»Satish, sie führen große Reden, weil sie nichts Besseres zu tun haben. Ich glaube nicht, dass das irgendetwas zu bedeuten hat.«

Satish sah Alice an. Nach allem, was sie miteinander durchlitten hatten, war er in der Lage, durch ihre verfaulende Haut und ihre gelben Augen hindurch zu sehen. Für ihn war sie noch immer das ungeheuer mutige, wenn auch naive Mädchen, das so viel für das Totenland getan hatte.

»Alice, du verstehst nicht, wie solche Männer ticken. Sie sind nicht besser als die Blutsauger im Zentralkomitee in Schanghai. Sobald sich ihnen auch nur der Hauch einer Chance bietet, mutieren auch sie zu solchen Tyrannen.«

Das war ein altes Argument. Sowohl Arjun als auch Satish verabscheuten es, dabei zusehen zu müssen, wie alles, wofür sie gekämpft hatten, verloren ging und sich die Leute in kleinlichem Aktionismus verzettelten. Nur wenige Monate der Sicherheit, für die sie und ihre Freunde viel Blut vergossen hatten, um sie zu erringen, genügten für Männer wie Arun, um zu verkünden, dass es nun keinen Krieg mehr auszufechten gab und man eine friedlichere, demokratischere Gesellschaftsordnung benötigen würde. Eine, in der Menschen wie Alice und Satish keine so bedeutende Rolle mehr spielten und in der natürlich praktischerweise die Politiker auf der Leiter ganz nach oben klettern würden.

»Du hast mich ganz sicher nicht um diese Zeit hierhergerufen, um dich über Arun zu beschweren, Satish.«

Entschuldigend schlug sich Satish mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Nein, nein, natürlich nicht. Komm mit, wir haben aufregende Neuigkeiten. Zum allerersten Mal können wir vielleicht etwas wirklich Nützliches durch unseren Spiegel sehen.«

Alice folgte ihm zu einer Konsole, an der ein älterer Mann saß und sich mit Kopfhörern über ein Computerterminal beugte.

»Danish, hast du schon etwas?«

Danish hob eine Hand, während er sich darauf konzentrierte, das Funkgerät vor ihm genauer einzustellen. Er hatte vor dem Ausbruch als Kommunikationsoffizier in der indischen Armee gedient und überwachte nun den Spiegel, in ihrem Versuch, mehr darüber herauszufinden, was außerhalb des Wunderlandes vor sich ging und außerdem mit anderen Gruppen wie der ihren in Kontakt zu treten.

»Wir haben endlich Kontakt! Seht euch das an!«

Alice spähte ihm über die Schulter und erblickte eine einzelne Nachricht, die auf dem Computerbildschirm angezeigt wurde.

»Wir sind eure Waffenbrüder und kämpfen für die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben schon so viel von euch und eurer Königin gehört. Erwartet unseren Funkspruch in einem Tag.«

Danish war sichtlich aufgeregt und seine alten, faltigen Augen funkelten, während er sprach.

»Sie haben es geschafft, einen alten Server zum Laufen zu bringen und diese Seite online gestellt. Das ist das erste Internet-Posting seit sechzehn Jahren, und so wie es aussieht, hat das Zentralkomitee es noch nicht bemerkt.«

Alice war nach dem Ausbruch geboren worden, als die Leute vielmehr damit beschäftigt waren, den Horden von Bitern zu entkommen als im Internet herumzusurfen, doch während ihrer Auseinandersetzungen mit dem Zentralkomitee hatte sie erleben können, wie wichtig Informationen sein konnten. Mit den Tablets, welche die abtrünnigen ZEUS-Soldaten mitgebracht hatten, war es ihnen gelungen, in das Intranet des Zentralkomitees einzudringen. Ab diesem Zeitpunkt hatten sie begonnen, immer wieder Nachrichten abzusetzen, was zu weiteren Meutereien bei ZEUS führte und dazu beitrug, dass sich auch in China eine gewisse Unruhe breitmachte und man auch dort begann, den wahren Grund hinter diesem Krieg infrage zu stellen.

Bevor Alice aber etwas antworten konnte, bedeutete ihr Danish, still zu sein, lauschte kurz in seine Kopfhörer hinein und reichte sie ihr dann.

»Alice, sie wollen mit dir reden.«

Alice setzte sich die Kopfhörer auf und hörte statisches Rauschen. Dann die tiefe Stimme eines Mannes.

»Alice, hier spricht General Konrath der Freien Amerikanischen Armee in unserer Basis in Fort Worth, Texas. Wir führen den gleichen Krieg gegen den gleichen Feind wie du, und wir alle hier sind stolz, dich eine amerikanische Mitbürgerin nennen zu können.«

Ihr Vater hatte vor dem Ausbruch bei der amerikanischen Botschaft in Neu-Delhi gearbeitet, doch sie war in einer Zeit geboren, in der die Länder der Alten Welt nicht viel mehr als Erinnerungen waren. Trotzdem war es ein gutes Gefühl, mit Menschen von außerhalb des Totenlandes in Kontakt getreten zu sein. Das gab ihr das Gefühl, in ihrem Kampf nicht allein zu sein.

»General, in den letzten Monaten ist es im Wunderland relativ ruhig geworden und die Rote Garde lässt sich hier kaum noch blicken. Wie ist die Lage in den Vereinigten Staaten?«

Es dauerte etwas, bis der General antwortete.

»Alice, wir sehen uns hier erbitterten Häuserkämpfen gegen die Rote Garde und noch immer loyalen ZEUS-Soldaten gegenüber. Das größere Problem ist jedoch, dass wir gleichzeitig sie und diese verdammten Biter bekämpfen müssen.«

Wieder eine Pause, bevor er noch anfügte: »Du weißt, wie ich es meinte, Alice.«

»General, es besteht kein Grund, sich zu entschuldigen. Ich habe fünfzehn Jahre meines Lebens ebenfalls in Angst vor den Bitern verbracht.«

»Alice, ich wünschte, wir hätten hier jemanden wie dich, der für Frieden mit den Bitern sorgen könnte. Doch im Moment benötigen wir deine Hilfe. Zwei unserer Leute sind aus einem Arbeitslager der Roten entkommen und fliehen über die Ebene. Sie können nirgendwohin, also versuchen sie, sich bis zu deiner Stadt durchzuschlagen. Hilf ihnen, wenn du kannst.«

Statisches Rauschen begann die Verbindung undeutlich werden zu lassen, dann war die Verbindung tot. Alice hörte, wie Satish neben ihr geräuschvoll ausatmete. Sie wusste, dass man von ihnen erwartete, wieder in einen Kampf einzutreten, von dem viele im Wunderland glaubten, er wäre vorüber.

»Alice, was wirst du tun?«

Alice dachte kurz darüber nach, bevor sie antwortete. »Satish, ich habe meine ganze Familie für unsere Freiheit verloren. Ich werde nicht zulassen, dass andere, die nach ihrer Freiheit streben und dafür gejagt werden, von uns im Stich gelassen werden.«

Satish kicherte.

»Wieso lachst du?«

Satish grinste sie an. »Ich muss nur daran denken, dass dieser fette alte Arun einen Herzinfarkt kriegen wird, wenn er davon erfährt.«

»Er muss es ja gar nicht erfahren, oder? Ich meine, wir wissen ja noch nicht einmal, ob sie es überhaupt bis in die Nähe des Wunderlandes schaffen werden.«

Danish hüstelte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Er hielt eines der Funkgeräte am Ohr.

»Leute, da geht irgendetwas vor sich. Einer unserer äußeren Spähtrupps hat einen Konvoi der Roten Garde entdeckt, etwa einhundert Kilometer nordöstlich von hier, auf dem alten Highway 8. Sie berichten von zwei Trucks und ein paar Jeeps.«

»Satish, ich hole meine Ausrüstung. Trommle ein paar Männer zusammen und dann folge mir.«

Fünf Minuten später war Alice draußen an ihrem Motorrad. Ihre Ausrüstung bestand aus einer Pistole in einem Holster an ihren linken Oberschenkel, einer weiteren Pistole in einem Knöchelholster und einem Sturmgewehr auf dem Rücken. Satish und drei weitere Männer stiegen in einen Jeep.

»Alice, bist du sicher, dass du mitkommen willst? Es könnte sich auch um eine Falle handeln.«

»Jetzt bin ich einmal für die Party herausgeputzt, da kann ich ja wohl kaum noch einen Rückzieher machen, oder?«

Sie raste auf ihrem Motorrad davon und Satish fühlte einen Kloß in seinem Hals. Das schmächtige Mädchen aus dem Totenland war zu einer wahren Kriegerin und Königin geworden, und obwohl sie mittlerweile fürchterlich aussah, erinnerte er sich noch immer an das weinende Mädchen, das er damals in den Wäldern des Totenlandes getroffen hatte. Jenes Mädchen, das gerade erst seine Eltern an die Rote Garde verloren hatte. Einmal hätte er sie ebenfalls beinahe verloren, als die Rote Garde ihnen eine Falle stellte. Auf gar keinen Fall würde er sie ein weiteres Mal im Stich lassen. Er überprüfte sein Sturmgewehr, dann rief er dem Fahrer zu: »Worauf wartest du noch? Los geht’s!«

Als dieser den Motor startete, war Alice schon auf dem Weg und ihr blondes Haar wehte hinter ihr her. Noch vor ein paar Jahren hätte sie sich angesichts der unmittelbaren Gefahr gefürchtet. Doch nun hieß sie die Gefahr wie einen alten Freund willkommen. Weit weg von den Ränkespielen im Wunderland war es hier so, wie es immer war, und so wie sie es schon immer mochte.

Alice sah mindestens zwei Dutzend Rotgardisten, alle mit Nachtsichtgeräten und Sturmwaffen ausgestattet. Ihre Trucks parkten hinter ihnen auf der Straße. Ihr Motorrad hatte sie vor über einem Kilometer zurückgelassen und verfolgte sie seitdem zu Fuß. Diese Soldaten mochten über Nachtsichtgeräte und die neueste Ausrüstung verfügen, doch aus dem Intranet des Zentralkomitees wusste sie, dass mittlerweile reihenweise junge Männer ohne Kampferfahrung rekrutiert und auf Kampfeinsätze ausgesandt worden waren, nun, da sich die Frontlinien immer weiter lichteten. Sie hingegen hatte ihr gesamtes bisheriges Leben mit dem Training und im Kampf in Umständen wie diesen verbracht. Außerdem, und das war ein weiterer Bonus, den ihr derzeitiger Zustand mit sich brachte, spürte sie wie die Biter keine Ermüdungserscheinungen. Sie konnte die ganze Nacht lang rennen und kämpfen, wenn es sein musste.

Satish uns seine Männer waren ganz in der Nähe, doch im Moment war sie allein. Sie sah, wie der Offizier der Roten Garde die Hand hob und einen Befehl in Mandarin rief. Die Soldaten kehrten zu ihren Trucks zurück. Offenbar hatten sie ihre Mission vollbracht. Alice hatte keine Ahnung, was sie hier taten, aber es gefiel ihr ganz und gar nicht. Ganz sicher handelte es sich dabei nicht um eine Aufklärungsmission, denn dafür würden sie keine zwei großen Trucks und so viele Leute benötigen. Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden und ihre Befehlshaber wissen zu lassen, dass die Rote Garde hier nicht länger willkommen war.

Sie hob ihr Sturmgewehr an die Schulter und zielte durch das Nachtsichtvisier auf den Offizier. Das Fadenkreuz lag genau über seiner Stirn, als sie ihre Warnung ausrief: »Rote Garde! Sie befinden sich in unserem Territorium. Legen Sie Ihre Waffen nieder und ergeben Sie sich, dann werden wir Sie unverletzt zurückschicken.«

Die Rotgardisten erstarrten. Unter der Roten Garde wurde Alice mittlerweile die Gelbe Hexe genannt, und sie hoffte, dass die Angst vor dem Ruf, der ihr vorauseilte, sie dazu bringen würde, sich zu ergeben. Sie hatte ganz sicher nicht vor, ein paar Grünschnäbel abzuschlachten.

Doch genau das geschah in dieser Nacht. Einer der Offiziere zog seine Pistole und feuerte in Alices Richtung, ob nun von Angst getrieben oder um vor seinen Männern Tapferkeit zu zeigen. Das war der letzte Fehler, der ihm in diesem Leben widerfuhr, bevor ihm eine einzige Kugel den Schädel zersplittern ließ. Die Rotgardisten stoben auseinander und ein paar von ihnen feuerten trotz ihrer Nachtsichtgeräte ziellos und wild um sich.

Alice hatte ihr Gewehr auf Einzelschuss-Modus eingestellt, umkreiste die Rotgardisten und schaltete einen nach dem anderen aus. Ein paar weitere Gewehrschüsse bellten und sie sah, wie drei Rotgardisten von der Wucht der Treffer herumgerissen wurden und zu Boden fielen.

Satish und seine Männer hatten sich demnach dem Kampf angeschlossen.

Eingekeilt zwischen Alice und Satishs Männern verfielen die Rotgardisten nun in wilde Panik und stürmten auf sie zu. Alice legte ihr Gewehr ab und richtete sich auf, um sie zu erwarten. In einer Hand hielt sie eine Pistole, in der anderen ihr Messer. Der erste Rotgardist war nur wenige Schritte von ihr entfernt, als sie ihn mit zwei Schüssen niederstreckte. Der Mann dahinter wollte sein Gewehr in Anschlag bringen, als Alice sich in seine Richtung hin abrollte und neben ihm in gekauerter Haltung wieder auf die Füße kam. Sie schoss dreimal und nahm nur noch unterbewusst wahr, wie der Mann zu Boden sackte, während sie sich schon auf die nächste Gefahr konzentrierte. Der Rotgardist, der ihr nun gegenüberstand, war völlig verängstigt und schrie unzusammenhängendes Zeug, doch mit einem Gewehr in der Hand stellte er trotzdem eine Gefahr dar.

Als ihm klar wurde, dass er es nicht rechtzeitig schaffen würde, auf Alice anzulegen, schwang er sein Gewehr kurzerhand wie eine Keule nach Alices Kopf. Sie tauchte unter dem Schlag ab, stach in schneller Folge zweimal auf den Mann ein und richtete sich hinter ihm wieder auf, als dieser zusammenbrach. Dann ging ein weiterer Rotgardist auf sie los und rammte ihr ein Messer in die Brust. Doch Alice spürte kaum mehr als ein leichtes Zwicken, und der Mann taumelte entsetzt zurück, als sie unbeeindruckt das Messer aus sich herauszog.

In gebrochenem Englisch stammelte er: »Gelbe Hexe! Bitte lass mich gehen.«

Alice warf das Messer beiseite und hörte, wie Satish und seine Männer den restlichen Widerstand der Gruppe brachen. Der Rotgardist vor ihr war beinahe noch ein Junge, kaum älter als sie selbst. Sie trat näher an ihn heran und sah, dass er am ganzen Leib vor Angst zitterte.

»Lauf zurück und sage deinen Offizieren, dass die Rote Garde in unserem Land nicht länger willkommen ist.«

Der Mann stürmte davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Satish und seine Leute sammelten die erbeuteten Waffen und Ausrüstungsgegenstände ein. So viele Nachtsichtgeräte und Munition waren gern gesehen, aber Alice war etwas anderes aufgefallen.

»Satish, diese Trucks würden sich gut als Schulbusse eignen.«

Er lächelte, doch dann fiel sein Blick auf die Wunde in Alices Brust und sein Lächeln erstarb. Alice bemerkte seinen Blick. Die Wunde war nur ein paar Zentimeter groß und blutete an den Rändern ein wenig. Sie zuckte mit den Achseln.

»Sieht schlimmer aus, als es ist. Dass ich mein gutes Shirt ruiniert habe, macht mir fast mehr Sorgen.«

Satish grinste und machte sich wieder an seine Arbeit, und Alice lief zurück, um ihr Gewehr aufzusammeln. Bis auf einen gut gezielten Schuss in den Kopf konnte Alice im Prinzip nicht getötet werden, und Schüsse sowie Stichwunden hatte sie in den Monaten nach ihrer Verwandlung zuhauf abbekommen. Als Folge dessen war ihr Körper mittlerweile mit blutigen Wunden übersät. Den Bitern waren solche Wunden egal und sie machten sich nicht die Mühe, sie zu verhüllen, doch Alice hatte sich noch genug ihres alten Ichs bewahrt, um sich den anderen nicht als das zeigen zu wollen, was sie nun geworden war. Deshalb bestand sie darauf, die ganze Zeit über schwarze Rollkragenpullover, Jeans, Handschuhe und Stiefel zu tragen. Diese waren zu einer Art Markenzeichen für sie geworden, auch wenn niemand etwas von dem stillen Schmerz ahnte, der sich hinter dieser Optik verbarg.

Als sie sich auf dem Rückweg befanden, ging bereits wieder die Sonne auf, und nachdem Alice ihre blutverschmierten Kleider gewechselt hatte, begab sie sich zu dem Ratstreffen, welches für diesen Morgen anberaumt worden war. Sie hoffte, dass die beiden neuen Schulbusse, mit denen sie als Geschenk aufwarten konnte, dazu beitragen würden, Arun und seine Anhänger zu besänftigen.

Die zwölf Ratsmitglieder, zu denen auch Arjun und Satish gehörten, waren bereits anwesend, als Alice eintraf. Arun saß in einer Ecke und tuschelte mit zwei seiner Freunde, und als sie den Raum betrat, erhob er sich und sagte: »Wie schön, dass sich Eure Durchlaucht uns anschließen.«

Alice sah die Boshaftigkeit in seinen Augen aufblitzen und tätschelte ihm im Vorbeigehen nur sanft auf die Schulter. Sie hatte keine Ahnung, wieso Arun heute Morgen noch giftiger als gewöhnlich war, aber das Letzte, was sie wollte, war seinen Köder zu schlucken und etwas zu sagen, was sie später bereuen würde. Also setzte sie sich und das Treffen begann.

Als das Wunderland langsam Formen annahm, begann Alice erst so richtig die Kompliziertheit der Dinge zu würdigen, denen ihr Vater als einer der Anführer ihrer Siedlungen im Totenland beständig ausgesetzt war. Streitereien über Nahrungsvorräte, wem wie viel aus dem gemeinsamen Trinkwasservorrat zustand, Fälle von Ehebruch und Leuten, die nach zu vielen Drinks Schlägereien anzettelten – all diese Probleme, die ironischerweise immer erst dann auftraten, wenn Menschen zivilisierter wurden und sich in größeren Siedlungen zusammenfanden. Auch heute war das nicht anders, und so sprachen sie eine geraume Weile über die Banalitäten der Gemeinschaft. Alice bemerkte, wie gereizt Arjun war, so als ob er es kaum erwarten konnte, mit etwas herauszuplatzen. Sie versuchte dahinterzukommen, was es sein könnte, doch als das Thema der Sicherheit an der Reihe war, wusste sie, worum es ging.

Als Leiter der Sicherheit des Wunderlandes erhob sich zuerst Arjun und brachte sie auf den neuesten Stand. »In der letzten Woche wurde kein Verbrechen gemeldet, es sei denn, man sieht es als Vergehen an, dass der Chopra-Junge betrunken an Aruns Haus gepinkelt hat.«

Alle lachten, und wieder einmal war Alice dankbar für das natürliche Talent des ehemaligen Geschäftsmannes und Untergrundkämpfers, angespannte Situationen aufzulockern. Doch das Blatt wendete sich, als Satish seinen Bericht über die äußere Sicherheit abgab.

»Zum Glück gibt es auch nichts Aufregendes von draußen zu vermelden. Die Rote Garde in der unmittelbaren Nachbarschaft hat sich relativ ruhig verhalten. Die Berichte aus dem Intranet zeigen, dass sich das Zentralkomitee mit genügend Aufständen in China und einem ziemlich harten Krieg in Amerika konfrontiert sieht, um uns viel Aufmerksamkeit zu schenken. Aber wir haben ein paar andere wichtige Neuigkeiten.«

Alle schienen sich ein wenig aufzurichten, als er fortfuhr: »Wir haben letzte Nacht Kontakt zu den Amerikanern herstellen können.«

Es herrschte eine spürbare Aufregung im Raum, als Satish näher darauf einging, was in dem kurzen Kontakt besprochen worden war, doch noch bevor er auf den Zwischenfall mit den Rotgardisten zu sprechen kam, stand Arun auf.

»Alice, die Rote Garde behelligt uns nicht mehr und wir genießen einen Frieden, wie wir ihn seit Jahren nicht mehr gekannt haben. Wieso hast du dann letzte Nacht mit deinem Überfall einen neuen Krieg provoziert?«

Alice war nicht sonderlich überrascht. Viele von Satishs Männern hatten sich Frauen in der Siedlung gesucht und die Kunde über die Vorfälle hatte sich so rasch verbreitet.

»Wir haben niemanden überfallen. Ein großer Trupp Rotgardisten drang in unser Territorium ein und wir gaben ihnen die Chance, sich zu ergeben. Als sie feuerten, haben wir uns verteidigt.«

Arun starrte sie an und sein Unterkiefer bebte förmlich, als er versuchte, seinen Ärger im Zaum zu halten. Vor dem Ausbruch war er Politiker gewesen, und Alice wusste, dass er im Wunderland die Chance gekommen sah, seine alte Macht wiederzuerlangen. Das Problem war nur, dass sie ihm im Wege stand. Er wusste, dass sehr viel mehr Menschen im Wunderland dem jungen Mädchen bedingungslos folgen würden, das sie zusammengeführt und selbst so vieles dafür geopfert hatte, als ihm zu vertrauen – einem ehemaligen Karrierepolitiker und Mann, der sich ihnen erst dann angeschlossen hatte, als die Kämpfe vorüber waren.

Alice bemühte sich, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen. »Arun, wir haben zwei Busse erbeutet, die unsere Schule ganz gut gebrauchen kann. Zudem glaube ich, dass die Rote Garde die Warnung verstanden hat, hier nicht länger willkommen zu sein – was immer sie im Schilde führten.«

Damit war das Thema beendet, doch Arun wandte sich einer anderen Sache zu, um Alice anzustacheln.

»Gibt es Neues von diesen Bitern?«