HINTER DEN GESICHTERN - Richard Lorenz - E-Book

HINTER DEN GESICHTERN E-Book

Richard Lorenz

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Beschreibung

Eine verschlafene Kleinstadt, eine grausame Kindermordserie, ein Mädchen mit zwei Gesichtern und eine verdrängte kollektive Vergangenheit, die nicht sein darf … Ein Roman über die Schattenseiten unserer Existenz – und über die Lichtseiten des Schattendaseins. "Der Farbton Richard Lorenz hat auf der deutschen Literaturpalette bislang gefehlt: mal flirrend schwarz, mal herzblutrot. Fast meint man, der junge Ray Bradbury habe sich in die tiefsten Schatten der bayrischen Provinz verirrt." - Kai Meyer Eine verschlafene Kleinstadt. Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich, dass die alleinerziehende Krankenschwester Lisbeth Broussard das zweite Gesicht hat. Seit sie als junges Mädchen in einem intuitiven Moment ausgerechnet den achtbaren Schuldirektor als grausamen Serienmörder enttarnte, feiert man sie einerseits als Heldin – andererseits hält man respektvoll Abstand von der wunderlichen Frau mit den rabenschwarzen Augen, die scheinbar mehr sieht, als so manchem im Ort lieb sein kann … "… poesievoll, aufwühlend, von magischer Anmut." - Friedrich Ani über Lorenz Roman "Frost, Erna Piaf und der Heilige"

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Hinter den Gesichtern

Kriminalroman

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München. (www.erzaehlperspektive.de)

Impressum

Deutsche Erstausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2019 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Lektorat: Michaela Gröner

ISBN E-Book: 978-3-95835-439-5

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Hinter den Gesichtern
Impressum
ERSTE NOTE
Winterjazz
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
ZWEITE NOTE
Mondhunde
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
STOPTIME
Die dreizehn Gespenster
DRITTE NOTE
Geheimnisse
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
VIERTE NOTE
Die Vögel fangen an zu singen
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
BLUE NOTE
Der erste Schnee
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Über den Autor

ERSTE NOTE

Kapitel 1

In meinem Kopf tanzt ein böser Engel. Er zeigt mir Dinge. Rabenschwarze Dinge.

Lisbeth sieht sich selbst als Kind, als zehnjähriges Mädchen, in einem Hinterhof. Sie steht auf einer wackeligen Mülltonne aus Blech, damit sie dem Himmel näher ist. Eine schwarz-weiß gefleckte Katze sieht ihr zu.

Kleiner böser Engel, hör auf zu tanzen. Das sagt sie, aber nur ganz leise. Weil sie zweierlei gleichzeitig glaubt: Gott hatte ihr etwas schenken wollen. Der Teufel hatte sie bestrafen wollen. In der rechten Hand hält Lisbeth ein Stück Draht versteckt, das sie im Rinnstein gefunden hat. Der Himmel sieht nach Regen aus und nach einem Herbststurm, der alles Verlorene davonträgt.

Aber es ist kein Geschenk. O nein! Die Leute haben Angst vor ihr. Und jetzt hört Lisbeth sie auch wieder, die hässlichen Musikfragmente aus verbeulten Instrumenten.

Es ist immer so, wenn ihr Gott oder der Teufel etwas zeigen. Bemalend die Auren der jungen Lisbeth Broussard, kurz vor den schmerzhaften Episoden, von denen sie heimgesucht wird wie von einem unerwarteten Gewitter. Düstere Wahrnehmungen, die Augen blind, das Herz eröffnet. Jene Serien von Bildern, die sie zu Tode erschrecken in dem kleinen Haus ihrer Kindheit, mit den stummen Mäusen hinter den Wänden und den Tauben auf den Dachvorsprüngen.

Großmutter sagt, Lisbeth hat das zweite Gesicht. Aber Lisbeth will kein zweites Gesicht. Nur noch eine Sekunde, dann werden die Kopfschmerzen wieder anfangen, das weiß sie. Es ist immer so. Sie spürt einen eiskalten Regentropfen auf der Wange. Hässlich, die Musik ist so hässlich, dass es wehtut in den Knochen. Sie vibrieren. Vor drei Jahren hatte im Haus nebenan ein alter Mann gewohnt, nur einen einzigen Sommer lang. An den Abenden hatte er rauchend auf der Veranda gesessen und Radio gehört. Das ist Jazzmusik, die kommt aus dem Mund des Teufels, hatte Vater gesagt, und Lisbeth musste schnell alle Fenster schließen. Aber gehört hatte sie sie dennoch, selbst als das Radio längst ausgeschaltet war, und sie hört sie seither bei jeder Vision, immer wieder.

Ja, sie wird sich den Draht in das Ohr stechen, ganz tief hinein. Um den bösen Engel darin endlich totzumachen. Damit er nicht mehr tanzen kann. Das wird wehtun, und vielleicht wird sie dabei sogar sterben. Aber dann wird alles endlich stumm sein, und diese Vorstellung ist herrlich.

Doch bevor sie die Hand mit dem Draht heben kann, sieht sie das Feuer aus den Fenstern schlagen. Sieht Augen in Köpfen platzen und Haare lichterloh brennen. Lisbeth taumelt schreiend, fällt zu Boden. Und dann ist alles so dunkel wie in einem Grab.

In meinem Kopf tanzt ein böser Engel.

Wie lange hat sich Lisbeth nicht mehr daran erinnert? Vermutlich ein halbes Leben lang, ganz sicherlich aber nicht mehr seit der Geburt Marlenes. Ihres Herzschlagmädchens, das seit dem ersten Tag stark genug gewesen war, um alles von ihr zu nehmen. Selbst die losen, beinahe nebensächlichen Ausläufer einer scheinbar starken Hellsichtigkeit, das Nachbeben einer Kindheit voller merkwürdiger Geschehnisse. Einer Kindheit, in der sie Dinge voraussehen konnte wie alte Männer den ersten Schnee. Natürlich nicht alles Zukünftige, aber doch genug davon, um sie einsam und ängstlich zu machen. Verloren. Die verrückte Broussard, die Hexe Lisbeth, hatten die anderen Kinder sich heimlich zugeflüstert und sie gemieden, als hätte sie die Pocken. Wenn sie dich anfasst, dann bist du mausetot, konnte es Lisbeth aus den Schulhofecken wispern hören. Dabei geschah überhaupt nichts, wenn das Mädchen jemanden berührte, wie sehr sie sich auch anstrengen mochte. Großmutter, die eigentlich so gut wie nie etwas Vernünftiges sprach, sondern meist nur stumm mit ihrem Mund verrückte Wörter formte, sagte vor gefühlten hundert Jahren unvermittelt: »Das liegt alles in der Luft. Sie atmet es ein.« Und vielleicht trifft es das sogar am genauesten.

Alles war versteckt, doch gerade jetzt muss Lisbeth wieder daran denken, so wie man plötzlich an eine alte Liebe denkt, an den heimlichen Kuss zwischen Kirschbäumen. Daran denkt, ohne es eigentlich zu wollen. Aber sie spürt auch: Dinge, an die man nicht mehr glauben kann, ruhen nie für sehr lange Zeit, sind wie Scheintote, die an den Sarg klopfen. Daran zu glauben, dass sie so eine Art Wunderkind, ein Medium gewesen ist  – viel später hatte sie einiges darüber gelesen  –, fällt ihr schwer. Zu zersplittert die meisten Erinnerungen, als würde sie jetzt an ein ganz anderes Mädchen denken, das eine Zeit lang in ihr gelebt hat. Während sie frierend in ihrem Auto sitzt, vom Spätdienst in der Notfallambulanz nach Hause fahrend, die schmale, sich schlängelnde Straße vor sich. Vielleicht muss sie ja wegen der flirrenden Schneeflocken im Scheinwerferlicht an früher denken, die sie an die grellen Lichtpunkte hinter den Augen erinnern. Mit denen immer alles angefangen hatte, zusammen mit einem schrecklichen Pochen und unglaublichen Brennen, so als hätte sie sich etwas ins Auge gerieben. Die Bilder der Geschehnisse, die noch kommen sollten, nichts als glühende Eisenspäne, die in ihre Pupillen regneten. Untermalt von sich überschlagenden Jazztönen aus den Sommernachtsträumen.

»Du bist einfach nur müde, das ist alles. Hundemüde.« Und tatsächlich fühlt sich Lisbeth so ausgelaugt wie schon lange nicht mehr. Der Dienst in der Notfallambulanz war wegen des Wintereinbruchs hoffnungslos und blutig gewesen. Erst hatte es geregnet, dann doch noch geschneit. Sieben Verkehrsunfälle auf den spiegelglatten Nebenstraßen, zwei Leichen und ein abgetrennter Oberarm mit einer ausgeblichenen Popeye-Tätowierung darauf. Den Geruch des Sterbens immer noch in der Nase, auf der Haut, an ihren Händen. Eine Melange aus altem, gestocktem Blut und frischem galligen Erbrochenem, an die sich Lisbeth selbst nach beinahe fünfzehn Jahren Krankenschwesterndasein nie gewöhnen wird. Auch wenn sie, bei Gott!, schon mehr gesehen hat, als andere in einem dieser billigen Gruselfilme in der Spätvorstellung. Männer, die sich beim ersten Mähen der Wiese hinter dem Haus den Vorfuß amputieren und mit erkalteten Zehen in der Plastiktüte in die Notaufnahme kommen, führen bis zum Spätsommer die Spitzenliste der Aufnahmen an. Im Herbst dann die Stromunfälle, einige davon wirklich hässlich. Im Winter die weihnachtlichen Familienstreitigkeiten mit leichten bis schweren Verletzungen; Lisbeth hat dabei früh gelernt, dass tatsächlich alles zu einer gefährlichen Waffe werden kann. Im Frühjahr fangen die Leute merkwürdigerweise an, alte Dinge in den Hinterhöfen anzuzünden und sich dabei selbst schwer zu verbrennen, vermutlich zu viel Spiritus und noch mehr Schnaps. Dazwischen natürlich immer wieder Kinder, die Murmeln verschlucken, mit Mumps aufwachen oder schlicht an Bauchschmerzen leiden. So gliedert sich das Jahr für Lisbeth in ein absonderliches Kalendarium der Vorhölle. Was nicht heißt, dass es nicht schlimmer kommen könnte  – die wahre Brut des Bösen, das waren schon immer die Angehörigen.

Hätte sie nicht eine Tochter, die ihr das Leben außerhalb der Arbeit offenbart, sie würde die Abende wohl ebenfalls in Franks Bar verbringen, so wie Dutzend andere Krankenschwestern, um die Schreie der Patienten und das Meckern der Angehörigen vergessen zu können. Allein um das Dunkle des Tages zu übertünchen, würde sie sich jetzt gern an den Namen der Frau erinnern, die mit einer äußerst schlechten Atmungssituation, kardial längst hoffnungslos dekompensiert, vor knapp einer Stunde auf dem Reanimationsbrett lag und noch einmal kurz nach Lisbeths Hand griff, ehe sie starb. Weit, ganz weit offen die Augen, in ihrem Mund ein kleiner See frischen Bluts, in dem sich das Neonlicht spiegelte. Nur um den Namen ganz leise vor sich her zu sprechen, des Herzens wegen. Aber auch daran wird Lisbeth sich nie gewöhnen können: an das rasche Vergessenwerden von Sterbenden, die nichts hinterlassen als einen Fleck auf dem Fliesenboden und eine späte Fahrt in die Prosektur, kurz vor Dienstschluss. Heute waren alle Kühlfächer belegt gewesen, der örtliche Leichenbestatter kam wegen des schlechten Wetters nicht mehr rechtzeitig. Nachtbuchung im Hotel Poe, so nennen es die Ärzte, wenn die Angehörigen längst nach Hause gegangen sind und in der Leichenhalle nur noch das Notlicht brennt.

Das Auto schlittert über den Mittelstreifen, Lisbeth erschrickt. Die Flocken sind faustgroß geworden und wirbeln herum wie in einer Schneekugel. Das Radiogerät rauscht gespenstisch, verzerrt einen Song von den Beatles ins Unkenntliche. Strawberry Fields Forever. Während der Ostwind zu einem Orkan anwächst und die Äste der Bäume zu Boden drückt, schwindet John Lennons Stimme und verstummt schließlich ganz. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie doch noch einen Kaffee mit dem Bereitschaftsdienst der Intensiv und der Anästhesie in dem verlassenen Krankenhauscafé getrunken hätte, statt gleich nach Schichtende aufzubrechen. Doktor Lehmann hat heute Nachtdienst auf der Intensivstation, und sie findet ihn ziemlich attraktiv. Vielleicht wird sie sogar mit ihm nach den Weihnachtstagen ausgehen, runter zum Jahrmarkt oder zum See. Lisbeth lächelt, weil sie es sich vermutlich doch nicht trauen wird. Sie kennt ja nicht mal seinen Vornamen.

»Verdammt!« Der Ford schlittert abermals, und Lisbeth hält schließlich den Wagen an. Bei der weit entfernten Kirche glaubt sie das orange Warnlicht des Streufahrzeugs flackern zu sehen, während der Schnee auch den letzten Rest des Asphalts bedeckt.

»Na, komm schon!« Das Streufahrzeug verschwindet und taucht am anderen Ende der Vorstadt wieder auf, entfernt sich scheinbar von ihr. Lisbeth schaltet die Warnblinkanlage und das Innenlicht gleichzeitig an. Hupt einmal kurz auf. Als Kind hatte sie starke Angst vor der Dunkelheit, vor den Traumgestalten in den Schattenschlägen, und diese Angst hat sie nie ganz verloren. Dunkle Träume, in denen Gespenster ihren Namen rufen. Jene Gespenster aus ihrer Kindheit, die sie nicht hatte retten können durch ihre Hellsichtigkeit, bevölkern nun die Mauerritzen und warten auf schlaflose Nächte.

Was würde sie gerade jetzt für eine Zigarette geben, sie streift über ihren Mund und verwischt dabei den Lippenstift. Irgendwo müssten hier doch noch welche sein! Ungeduldig kramt sie in ihren Taschen, flucht leise und findet eine völlig vertrocknete Camel, aus der bereits der Tabak rieselt, am Meeresgrund ihrer Handtasche. Vor Marlenes Geburt hat sie eine, manchmal sogar zwei Schachteln am Tag geraucht und es mit der Schwangerschaft vor vierzehn Jahren von einem Tag auf den anderen aufgegeben. Nur manchmal, besonders nach einem Tag wie diesem, raucht sie heimlich auf dem Nachhauseweg. Sie hasst sich dafür, auch weil Marlene es hasst. Zitternd zündet sie sich die Zigarette an, inhaliert tief und lehnt den Kopf zurück. Längst hätte sie die Winterreifen aufziehen lassen sollen, hat es aber dann doch immer wieder verschoben und schließlich vergessen. Nach der Zigarette wird sie einfach so langsam wie nur möglich weiterfahren und beten, nicht in den Straßengraben zu rutschen.

Im Radio singt Dean Martin, und erst jetzt bemerkt Lisbeth, wie verlassen sie hier draußen ist. Das nächste Haus viele Hundert Meter entfernt. Weit und breit kein anderes Auto, sie ist umschlossen von der Dunkelheit der Nacht und der Stille des frischen Schnees.

Merkwürdig, dass man oft am falschen Ort an das Falsche denkt. Nicht etwa an die eigenwillige Schönheit des unberührten Schnees oder an die nicht mehr allzu fernen Weihnachtstage, nicht mal ein einziger Gedanke an Lehmann. Die Angst des Augenblicks zentriert das Schreckliche, und Lisbeth denkt an den ersten gellenden Schrei von Schwester Hannah aus dem Schockraum 2 am Ende des Flurs vor drei Tagen. Obwohl Schwester Hannah ein alter Hase ist, schreit sie immer mal wieder wie eine hysterische Schwesternschülerin, besonders wenn die Leute etwas Ansteckendes haben. In den Noro-Virus-Hochphasen im Frühjahr und Herbst kommt Hannah manchmal gar nicht mehr aus dem Schreien heraus. Deshalb hat sich Lisbeth auch erst einmal gar nichts dabei gedacht, wenngleich der Schrei diesmal anders gewesen ist, lauter als gewohnt. Draußen ein Rettungswagen mit offener Tür, Lisbeths Behandlungsraum leer. Ihr letzter Patient auf dem Weg zur Röntgenabteilung, als der Schrei, der zweite Schrei, die Zeit zerschneidet. Ein Schrei von jemandem, der offensichtlich gerade dabei ist, den Verstand zu verlieren.

Lisbeth zieht lange an der Zigarette, das Wageninnere füllt sich mit Rauch, sie versucht die hässliche Momentaufnahme aus ihrem Kopf zu drängen. Zu Hause wird Marlene schon auf sie warten, mit einer heißen Schokolade in der Küche. Vielleicht, nein, ganz sicher, wird sich Lisbeth dann ein heißes Bad einlaufen lassen. Sie wird.

Sie wird umfallen, wenn sie so weiterschreit. Einfach umfallen und einen Krampfanfall erleiden. Das jedenfalls hat sich Lisbeth gedacht, als sie über den wellig gewordenen Linoleumboden nach hinten in Richtung Schockraum 2 gerannt ist und sich auf halbem Wege geärgert hat, kein Valium aufgezogen zu haben. Vielleicht ist ihrem Ehemann ja etwas zugestoßen, ein Unfall in der Arbeit. Er trinkt zu viel, das erzählen sich hier die Schwestern. Aber dann hat sie Hannah gleichzeitig mit dem diensthabenden Chirurgen erreicht, der gerade eine Platzwunde genäht hat. An seinen Handschuhen schmale Streifen Blut.

Schließlich hat Lisbeth es gesehen.

Sie wischt ein kleines Sichtfenster an der Seitenscheibe frei, blickt nach draußen und versucht immer noch, es zu verstehen. Vom Himmel fallen nur noch vereinzelte Schneeflocken, auch der Sturm hat inzwischen ein wenig nachgelassen. Als Mädchen hat sie den Winter geliebt, weil der Schnee und das Eis alles wegnehmen, überdecken. Jegliche Erinnerungen, die in jeder Seitenstraße zu finden sind. Sommerwünsche, die sich nicht erfüllt haben. Sie seufzt und drückt die Zigarette im Aschenbecher aus.

Patienten, die in die Notaufnahme kommen, sind entweder sehr krank oder haben einen Unfall erlitten. Tote bringen sie eigentlich nicht in die Notfallambulanz. Warum auch?

Vielleicht, und darüber denkt sie gerade nach, verschwinden Erinnerungen niemals, nicht einmal nach hundert Jahren. Vielleicht sind sie wie trübes Wasser in einem sonst so klaren See: Ein Blick auf den Grund des Wirklichen wird nahezu unmöglich.

Der Mann im Schockraum 2 ist tot gewesen, keine Frage. Und tatsächlich hat sich Lisbeth im ersten Augenblick gedacht: ein häuslicher Streit, ein Unfall oder vielleicht eine Messerstecherei. Aber dann überfluten sämtliche Bilder von damals alles Gegenwärtige.

Die Kinder, der Brustkorb eröffnet. Das Herz gestohlen.

Vor dreißig Jahren.

Nein, natürlich hat dort kein Kind gelegen. Aber das Messer hat in seinem Herzen gesteckt, und das allein hat gereicht, um Schwester Hannah schreien zu lassen. Lisbeth drückt ihre Stirn an das kalte Seitenfenster und zählt ihre Atemzüge, wie sie es als Kind getan hat, wenn ihr schlecht wurde.

Fahr nach Hause!

Hat sie es laut ausgesprochen, oder ist die Stimme nur in ihrem Kopf gewesen? Obwohl die Heizung des Fords auf höchster Stufe läuft, friert Lisbeth bis auf die Knochen. Tief innen steckt die Kälte wie ein verschluckter Eisklumpen. Plötzlich ist bei den Sträuchern am Straßenrand eine Bewegung zu erkennen. Nein, keine Windböe, die Unrat von sich hertreibt, sondern ein Mann. Ein vom fast vollen Mond geworfener Schattenriss, rabenschwarze Zungen auf unberührtem Schnee. Lisbeth erschrickt, stößt einen kurzen grellen Schrei aus. Weder links noch rechts sind die Türknöpfe nach unten gedrückt, aber die Angst lähmt jegliche Bewegung. Aus dem Radio, vermengt mit statischem Rauschen, singt David Bowie sein Weltraummärchen.

Die Arme weit ausgebreitet, in jeder Mulde ihres Körpers purpurnes Blut  – das sieht Lisbeth für Sekunden hinter den Augen. Ein verblassendes Polaroid in falschen Farben, beinahe bereits eine Negativaufnahme, die Lisbeth erkennt zwischen zwei Lidschlägen. Keine Vision, vielmehr die fotografische Darbietung eines Kinderalbtraums: tot auf einem Feld zu liegen, bedeckt von den Wolken, bedeckt vom eigenen Blut. Wie dumm muss man sein, um einfach mitten im Nichts stehen zu bleiben, Lisbeth, flüstert Großmutter aus ihrem Grab heraus.

May God’s love be with you. Two. One.

Und dann überquert ein ausgewachsenes Reh die schmale Straße, so nah, dass Lisbeth es hätte berühren können, wenn sie die Hand aus dem Fenster gestreckt hätte. Gleichgültig sieht das Tier in ihre Richtung, verweilt einen Moment und stiebt dann zum Waldstück am Stadtausläufer davon. Lisbeth kichert hysterisch, lacht über ihre Angst, obwohl diese wie ein Parasit in ihren Eingeweiden steckt und sich immer tiefer frisst, bis auf den Grund ihrer Seele. Kognitive Verschiebung der Eindrücke nennen das einige Psychologen, darüber hat sie gelesen und sich ihre eigene Erklärung zurechtgelegt. Die Episoden der Vorahnungen haben nach und nach ihre Nerven blank gescheuert. So einfach ist das.

Kapitel 2

Von einem Atemzug auf den anderen glaubt Lisbeth, dort draußen in der Dunkelheit alle Schreckgespenster sehen zu können, mit gelben Wolfsaugen und gierigen Händen. Hinter den Bäumen ein weiteres Schattengeäst, und Lisbeth gibt unvernünftig viel Gas. Gefährlich schlittert das Auto herum, doch nach einem Augenblick hat sie es wieder unter Kontrolle. Als ihr das Streufahrzeug entgegenkommt, bemerkt sie nicht, dass der Schneefall bereits wieder zunimmt.

Eigentlich hat sie den Ort, an dem sie immer schon lebt, nie sonderlich gemocht. Eine Art größeres Dorf, das in guten Zeiten so etwas wie eine Stadt zu sein vorgibt. Mit seinen Festen, Jahrmärkten und den Kunstausstellungen in der Sparkasse. In Wahrheit aber ist dieser Ort immer nur ein loser Haufen Häuser und Vorgärten geblieben. Mit seinen vom Wind geformten Bäumen und den Geisterorten, an die sich kein Mensch mehr erinnern mag. Mit seiner Mahnung an die dunklen Tage. Und mit seinen Albträumen von den noch finstereren Nächten.

Daran denkt Lisbeth gerade, vielleicht auch, weil die Straßen eher wie Wege sind und scheinbar nirgendwohin führen. Lichterlos die Häuser, nur bei wenigen, weit entfernt, die flackernden Glühbirnen der Hofbeleuchtung. Traumhaft hätte dieser Landstrich sein können, vergessen von den großen Städten ringsherum – eines jener Postkartenidylle einer unendlich langen Sommerfrische.

Lisbeth bremst erneut, schlittert durch eine Schneeverwehung und fährt zögerlich weiter. Langsam, aber sicher bekommt sie Kopfschmerzen, und eine Sekunde lang spielt sie mit dem Gedanken, das Auto ausrollen zu lassen. Um in ihrer Tasche nach einer Ibuprofen zu suchen oder wenigstens nach einer Paracetamol-Tablette. Aber ein starker Windstoß von Osten her, der ihr Auto durchschüttelt, hält sie davon ab. Von hier aus kann sie sowieso schon fast ihr Haus sehen – ein schemenhafter Umriss mit hell erleuchteten Fenstern. Und zu Hause hat sie genügend Medikamente, um eine ganze Krankenstation zu versorgen. Krankenschwestern sind die schlimmsten Patienten, heißt es. Und das stimmt vermutlich sogar. Hinter jeder Hustenattacke ein Atemstillstand lauernd. Die Angst vor dem Versteckten, das sich in einem Überraschungsmoment jäh offenbart, liegt im Beruf begraben. Da gibt es keinen Zweifel, Krankenschwestern können Unheil auf hundert Meter Entfernung riechen. Umso verwunderlicher ist es, dass sie den toten Mann im Schockraum 2 nicht gespürt hat. Denn ein wenig von diesen Ahnungen ist ihr ja geblieben – Ahnungen davon, dass im Krankenhaus zwei Stockwerke über der Ambulanz gleich jemand sterben wird. Winzige Flackerlichtvisionen von Leben und Tod, die allerdings nach über zwanzig Jahren Hospital nicht sonderlich überraschend sind. Es gibt schließlich Krankenschwestern, die können nach zwei Minuten Patientenkontakt eine korrekte Diagnose stellen. Hellsichtig sind sie alle nicht, und jetzt, nach so vielen Jahren, ist sich Lisbeth nicht einmal mehr sicher, ob sie selbst es jemals gewesen ist. Der Fall der Schneeflocken macht ihre Gedanken schwer, und sie muss sich zwingen, die Augen offen zu halten.

Auch darüber hat sie gelesen: dass Kinder, vor allem junge Mädchen, manchmal sehr sensibel auf die Umwelt reagieren, wenn die Eltern oft streiten. Und Herrgott, ihre Eltern hatten eigentlich unentwegt gestritten! Im hinteren Zimmer seit vermutlich hundert Jahren die uralte Großmutter mit den offenen Beinen und den wirren Gedanken im Kopf. In den letzten Jahren vor ihrem Tod schrie sie manchmal nachts, plärrte von den Teufeln unter ihrer Bettdecke.

Vielleicht hatte ja deshalb der rabenschwarze Engel in Lisbeths Kinderkopf getanzt. Um all diese Stimmen verstummen zu lassen. Und vielleicht hatte der rabenschwarze Engel einfach nur alles irgendwo aufgeschnappt, was sie später vorauszusagen glaubte. Überhaupt kann sie sich nur schwer an die Wahrsagungen erinnern.

Außer an jene Novemberregenvision, die so stark gewesen war, dass sie geglaubt hatte, daran sterben zu müssen.

Aber zuvor? Weshalb hatten die Leute eigentlich Angst vor ihr gehabt? Mit sechs, sieben Jahren schien sie dem Rest der Welt entrückt zu sein. Natürlich hatte sie keine Katastrophen vorhergesagt oder schlimme Dinge aus einem offenen Fischbauch herausorakelt. Was genau also war geschehen? Katzen, ja, verloren gegangene Katzen hatte sie damals immer wieder gefunden, ohne sich dabei groß anstrengen zu müssen. Sie hatte einfach gewusst, welche Wege sie gehen musste, um sie wiederzufinden, tot oder lebendig.

Das Lenkrad schlägt nach rechts aus, und Lisbeth erschrickt. Wenn sie etwas hasst, dann Wintertage mit verschneiten Straßen. Vor allem, wenn sie entweder von der Arbeit kommt oder zur Arbeit muss. Der Streufahrer ist ein ortsbekannter Alkoholiker, der im Vollrausch minutengenau Neuschnee vorhersagen kann – dann aber viel zu betrunken ist, um auch wirklich loszufahren. Dass er sich heute überhaupt schon auf den Weg gemacht hat, verwundert Lisbeth. Gleichzeitig lächelt sie zum ersten Mal, seit sie in das Auto gestiegen ist, denn im Laufe ihres Lebens sind ihr tatsächlich viele Leute begegnet, die etwas voraussagen können. In ihren Knochen spürend den späten Herbststurm oder den frühen Wintereinbruch. Hier draußen zwischen Stadt und Land sind Merkwürdigkeiten keine Seltenheit – viele Leute glauben immer noch daran, dass es Unglück bringt, wenn man nach Mitternacht das Haus verlässt, oder dass man Warzen am besten mit einer Mischung aus Beten und Fluchen behandelt.

Es kann gut sein, dass es Großmutter herumerzählt hatte, diese Sache mit dem zweiten Gesicht, und dass es vor allem deshalb die Leute von Lisbeth erwartet hatten. Wie man von besonders talentierten Kindern erwartet, dass sie überall ihre Kunststücke aufführen. Weiß Gott, sie kann sich daran nur sehr schemenhaft erinnern, alles zergliedert von den lauten Schreien ihrer Eltern, dem zerbrochenen Geschirr auf dem Küchenfußboden. Und einer alten Frau, die ständig von Gestalten fantasierte, die aus den Gräbern kamen, um sie allesamt heimzuholen.

Das eine aber wird sie nie vergessen können: die Flammen, die aus den Augenhöhlen schlugen, und die lichterloh brennenden Haare. Jetzt, als sie daran wieder denkt, kann sie das verbrannte Haar sogar riechen, und sie muss das Fenster herunterkurbeln, um den Gestank aus dem Auto und aus ihrem Kopf zu vertreiben. Und mit ihm die dunklen Erinnerungen an eine eigenartige Vergangenheit.

Schon an der Einfahrt zu ihrem Haus kann sie Utrecht sehen, der Schnee schippt. Utrecht, der seit über zehn Jahren im Nachbarhaus wohnt und der seinen Vornamen niemandem verrät, weil er ihn nicht sonderlich mag. Der Autoscheinwerfer erhellt ihn, er hält inne und hebt die Hand. Wie immer raucht Utrecht einen dieser scheußlichen Zigarillos, die man tatsächlich nur im Freien rauchen kann. Ein Kettenraucher, wie er im Buche steht, aber wenigstens mit festen Gewohnheiten: Im Haus raucht er Zigaretten oder Pfeife, im Garten Zigarillos oder, wenn es etwas zu feiern gibt, Zigarren. Manchmal stopft er sich überdies Schnupftabak in die Nase, und Lisbeth wundert sich jeden Tag aufs Neue, dass er überhaupt noch Luft bekommt. Sie lächelt ihm zu, er lächelt zurück, während sie den Motor abstellt und merkt, dass sie ein klein wenig zittert. Wegen der Kälte und der Schlitterfahrt, aber auch wegen des Mannes im Schockraum mit dem Messer zwischen den Herzkammern.

Herzen sind dazu da, sie zu zerschneiden.

Lisbeth erschrickt über die Stimme in ihrem Bauch. Wer hatte das damals gesagt? Oder hatten sie es alle gesagt, als es angefangen hatte mit den Kindern?

»Was für ein Wetter!« Utrecht zieht einen Handschuh aus und wischt sich mit der freien Hand über die Stirn. Auf seinem Kopf eine alberne Pudelmütze mit rotem Bommel, die vom Schnee nass und von der Kälte steifgefroren ist.

»Ja, was für ein Scheißwetter!« Lisbeth lehnt sich an den Wagen und atmet tief durch.

»Auch ein Scheißdienst, was?« Utrecht kramt in den Taschen seines Parkas, fischt eine Zigarettenpackung heraus und gibt sie Lisbeth. Sie zögert, zieht dann aber doch eine heraus. Marlene entdeckt sie nirgendwo, vermutlich sitzt sie sowieso in ihrem Zimmer und sieht sich Netflix-Serien an.

»Ich sollte nicht so viel rauchen«, sagt Lisbeth, zündet die Zigarette an und inhaliert den Rauch tief in ihre Lungen.

»Das sage ich mir auch immer. Hilft nur nichts.« Utrecht schnippt den Zigarillo in einen Schneehaufen und zündet sich ebenfalls eine Zigarette an.

Zu Beginn ihrer Nachbarschaft hatte Utrecht eine Zeit lang versucht, Lisbeth zu einem gemeinsamen Abendessen zu überreden. Und tatsächlich hatte sie manchmal sogar ernsthaft darüber nachgedacht. Natürlich ist Utrecht nicht wie einer dieser Dienstärzte, aber seine Augen sind gütig. Und sein Herz noch viel mehr. Irgendwie ist es dann aber doch nie dazu gekommen, auch weil alles zu viel geworden war: der Vollzeitjob, Marlenes erste Schuljahre und überhaupt. Lisbeths geschiedener Mann hielt nie sonderlich viel von pünktlichen Zahlungen, für ein, zwei Jahre verschwand er sogar gänzlich von der Bildfläche. Utrecht, der seit dem Erbe von seiner Mutter nicht mehr bei der Post arbeitete, half ihr in schweren Monaten immer wieder finanziell aus, ohne das Geld je wiederhaben zu wollen. Hat sie eigentlich jemals gewusst, wie alt Utrecht ist? Vielleicht hat er es einmal erwähnt, aber sie ist sich nicht sicher. Vermutlich vier, fünf Jahre älter als sie selbst. Vor gefühlt zwei Jahren ist sie noch dreißig gewesen und jetzt? In ein paar Monaten wird sie vierzig werden. Alleinerziehend und überarbeitet, mit einem Sack voller Erinnerungen zwischen Herz und Seele. Vergangenes Jahr hatte sich eine ihrer Kolleginnen nach dem Spätdienst zu Hause erhängt, weil sie im Jahr darauf pensioniert werden sollte. Die Zeit kann ein schlechter Verlierer sein, das weiß Lisbeth nur allzu gut.

»Ja oder nein?«, fragt Utrecht und bläst eine große Rauchwolke zum Himmel hinauf.

»Ja oder nein?«

»Ich habe gefragt, ob du schon einen Weihnachtsbaum hast oder noch einen brauchst? Ich besorge morgen einen, bevor die guten alle weg sind. Kann dir einen mitbringen, kein Problem.«

»Hab mal wieder nicht zugehört, entschuldige bitte!« Lisbeth lächelt und berührt dabei seinen Arm, ohne zu wissen, weshalb.

»Du brauchst Urlaub, das ist alles. Also?« Utrecht schnippt die Zigarette in hohem Bogen fort und zündet sich sofort die nächste an.

»Das wäre großartig, ja. Ich kaufe eh immer nur die schiefen Bäume.« Sie lässt die Zigarette in den Schnee fallen, und einen Augenblick lang ist ihr danach, diesen Mann einfach so zu umarmen. Um sich an ihm zu wärmen, vertreibend die dunklen Episoden in ihrem Kopf. Von Messern und Löchern in Brustkörben, in denen das Blut gerinnt.

»So soll es sein!« Utrecht schlüpft wieder in seinen Handschuh, klopft ihr zweimal auf die Schulter, als wären sie schon ein Leben lang befreundet, und macht weiter mit dem Schneeräumen. Geht hinein in die Schatten dieser Nacht, als würde er sich vor nichts und niemandem fürchten müssen. Weit weg auf einem Einödhof bellt heiser ein Hund.

Im Licht und in der Wärme geht die Angst weg, auch das ist eine eigenartige Angelegenheit. Schon im Hausflur mit seinem Duft nach frischem Tee und den leisen Tönen des Fernsehers wirkt alles merkwürdig abstrakt. Der Sack voller Erinnerungen nur noch ein staubiges Behältnis ohne Leben, nichts davon scheint wahr zu sein oder sonderlich wichtig.

Obwohl die Kindheit zersplittert gewesen war von den elterlichen Streitereien, ist Lisbeth nie auf die Idee gekommen, von hier wegzuziehen. Diesen Ort und vor allem dieses Haus zu verlassen. Vielleicht auch, um mit viel Farbe und noch mehr guten Gedanken alles Dunkle aus den Mauerritzen zu vertreiben. Mit der Gewissheit in den Knochen, dass sie sonst nur geflohen wäre vor den eigenen Albträumen und dass diese dunklen Serien dann nie aufgehört hätten. Ihr Vater war eines Tages einfach am Küchentisch eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Damals ein großes Mysterium, als hätten ihn die bösen Worte einfach so aus dem Leben gerissen. Natürlich weiß Lisbeth heute, dass ein plötzlicher Herztod gar nicht mal so selten die Leute auf den Friedhof befördert. Damals war sie so alt wie Marlene heute gewesen. Nur ein paar Monate später hatten sie an einem Frühjahrstag ihre Großmutter mit einem Schlaganfall im Garten gefunden, auf dem Rücken liegend und zu Gott flehend mit Wortfindungsstörungen. Einige Stunden später war sie dann in jenem Krankenhaus verstorben, in dem Lisbeth heute noch arbeitet. Und auch das hat Lisbeth längst als Normalität verstanden: Wenn es einmal anfängt mit dem Sterben, dann hört es so schnell nicht wieder auf. Auf den Stationen gibt es eine einfache Regel dazu: Es sterben immer drei Leute in rascher Abfolge. So als wäre der Tod auf einer kurzen Durchreise, um alles Notwendige zu erledigen.

Zum Herbst, einige Wochen bevor Lisbeth mit ihrer Ausbildung begann, wachte ihre Mutter mit schrecklichen Kopfschmerzen auf. Metastasen im Gehirn von einem zu spät erkannten Brustkrebs, drei Monate später war auch sie tot. Allesamt liegen sie jetzt in einem Familiengrab, das Lisbeth nur sehr selten aufsucht. Denn noch immer glaubt sie, sie reden hören zu können, wenn sie am Grab steht. Reden und schreien, aus der Grube heraus, alle durcheinander und ziemlich schlecht gelaunt.

Ob sie deshalb Krankenschwester geworden ist, darüber hat Lisbeth lange nachgedacht. Um wirklich und wahrhaftig zu verstehen, weshalb Leute sterben, deren Zeit noch nicht reif ist. Um herauszufinden, ob die Seele zuerst aufhört zu leben und dann erst das Herz. Oder umgekehrt. Ganz sicher ist sie bis heute nicht.

»Was läuft?« Lisbeth schält sich aus dem Mantel und setzt sich an den Küchentisch, an dem ihr Vater gestorben ist. Durch die offene Tür zum Wohnzimmer kann sie Marlenes Füße sehen.

»Fargo. Die Serie. Ist ziemlich cool.« Die Kartoffelchipstüte raschelt. Vor dem Fenster hustet Utrecht laut und lange.

Was sie ohne Marlene hier tun würde, weiß Lisbeth nicht. Vielleicht wäre sie auch schon gar nicht mehr hier, sondern hätte in einer der großen Münchner Polikliniken angefangen zu arbeiten. Dort, wo es mehr Geld gibt und nicht immer die gleichen Gestalten in der Notaufnahme. Seufzend gießt sie sich schwarzen Tee in eine Tasse und schlüpft aus ihren Schuhen. Nur noch zwei Spätdienste, dann würde sie endlich frei haben. Sogar bis nach den Weihnachtstagen, außer sie würde wieder einmal einspringen müssen. Aber darüber will sie gar nicht nachdenken, denn man kann das Unglück auch herbeireden, dessen ist sie sich sicher.

»Utrecht besorgt einen Baum.«

»Dann haben wir vielleicht mal keine dieser hässlichen Stauden. Außer er hat denselben Geschmack wie du.«

Lisbeth lächelt.

»Du solltest ihn einladen. Zu Weihnachten. Er würde sich freuen, denke ich mal.«

»Und wenn er Besuch bekommt?«, erwidert Lisbeth, und weiß, dass es nicht so ist. Samson hüpft auf ihren Schoß und zwinkert sie aus seinen schiefen Augen heraus an. Samson, der bereits mindestens siebenmal von den Toten auferstanden ist. Ein übergewichtiger Kater mit Sehstörungen, der ihnen zulief, als Marlene gerade einmal drei Jahre alt war. Ebenso zulief wie Abraham und Zarah, beide schlafen unbeeindruckt von Lisbeths Erscheinen neben der Heizung seelenruhig weiter. Manchmal wacht Lisbeth inmitten der Nacht auf und glaubt fest daran, dass die Katzen etwas mit früher zu tun haben. Als sie nach ihnen in den Wäldern gesucht hatte, den Herzschlag spürend, aber auch den Herzstillstand, weit über alle Wiesen und Äcker hinweg. Manches Mal bildet sie sich sogar ein, es seien jene Tiere, die sie nicht hatte finden können. Die verloren gewesen waren für alle Zeit, weder tot noch lebendig.

»Utrecht und Besuch? Glaubst du doch selbst nicht!« Marlene schaltet den Fernseher aus und kommt in die Küche.

»Vielleicht vom Weihnachtsmann, wer weiß?«

»Natürlich. Oder vom Schwarzen Mann«, sagt Marlene und umarmt ihre Mutter von hinten. Samson, dem das nicht sonderlich gefällt, murrt kurz auf und springt beleidigt von Lisbeths Schoß, um in den Staubritzen nach Essbarem zu suchen.

»Das ist nicht sonderlich lustig!« Lisbeth drückt Marlene fest an sich, atmet den Duft ihres Haars und ihrer Haut ein. Spürt ihre Wärme und ihr Herz klopfen.

»Das. Nein, das ist nicht lustig. Tut mir leid, ja?« Marlene beißt sich auf die Lippen, denn natürlich weiß sie von den Geschehnissen der damaligen Zeit. Von der ewig andauernden Vollmondnacht mit einem Mond, der blutrot getränkt an einem viel zu nahen Himmel gestanden war. Marlene weiß nicht alles, nur das, was sie in der Schule darüber gehört hatte. Ein Sammelsurium an Gerüchten und Geschichten, die sicherlich zur Hälfte falsch waren. Still küsst sie ihre Mutter auf den Hals.

»Überlegst du es dir mit Utrecht? Das wär mal eine Abwechslung. Sonst muss ich mir womöglich wieder Geschichten aus dem Krankenhaus anhören. Und die sind wirklich widerlich.«

»Na gut, ich überleg es mir, ja?« Lisbeth wischt eine von Marlenes Haarsträhnen aus ihrem Gesicht und fühlt sich furchtbar alt dabei. Wo ist nur die Zeit geblieben, die Tage sind viel zu schnell verstrichen! Jene guten Stunden zumindest, während die schlechten auf ewig bewahrt zu sein scheinen. Tief in ihrem Bauch, unterlegt von den Klängen aus einem alten Radio. Jazzmusik, die in ihren Erinnerungen tatsächlich auch eines ist: der Gesang des Teufels.

Kapitel 3

»Irgendwo müssen sie doch sein, verdammt!«

Lisbeth sucht weiter, während sie von unten Weihnachtslieder aus dem Webradio hören kann. Sicher steht Marlene wieder in der Küche und tanzt, weil sie sich unbeobachtet fühlt, anstatt den Abwasch zu erledigen. Die ganze Nacht über hat es geschneit, und es schneit immer noch. Alle paar Stunden geht Utrecht nach draußen, um die Wege zu räumen. In der Zeitung haben sie geschrieben, dass es einer dieser Jahrhundertwinter werden würde, aber daran glaubt Lisbeth nicht. Jedes Jahr schreiben sie von einem noch nie da gewesenen Wintereinbruch, von arktischen Zuständen, von Stromausfällen. Und dann? Schneeschmelze zu Weihnachten und frühlingshaftes Wetter.

Lisbeth setzt sich genervt auf eine der alten staubigen Schachteln mit toten Mäusen und vertrockneten Wespen zwischen den Kindheitserinnerungen und besieht sich ihre Hände. Staubig und mit Schmutzschlieren, einen ihrer Nägel hat sie sich an einem losen Brett eingerissen. Sie schließt die Augen und wünscht sich eine Zigarette, um den Staubgeruch zu überdecken, so wie sie sich manchmal eine Zigarette in der Notfallambulanz wünscht, um den Geruch von Urin, Kot und Erbrochenem kaschieren zu können. Obwohl Lisbeth sicher ist, dass ihre Taschen leer sind, kramt sie in ihnen herum, findet aber nur ein Feuerzeug.

Die Haare. Die Haare haben als Erstes gebrannt. Lichterloh.

Und dann.

Dann die Augenbrauen.

Und dann.

Dann die Jacken und Hemden und Oberteile, Feuer gefangen durch die Glutfetzen und den brennenden Staub in der Luft.

Denk an was anderes, Hexe Lisbeth, wie dumm kann man nur sein! Wieder einmal ihre Großmutter, die aus der Grube auf dem Friedhof heraus flüstert, obwohl sie ein Leben lang nie geflüstert hat. Vielleicht weil ihr gerade ein Klumpen feuchter Erde den Mund verschließt.

»Du bist eine Hexe!« Lisbeth steckt das Feuerzeug wieder in ihre Jeans und fragt sich, weshalb gerade jetzt diese Gedanken wiederkommen. Was vergraben ist, soll auch vergraben bleiben. Tatsächlich hat sie ja ewig nicht mehr daran denken müssen, auch weil sie nicht mehr daran hatte denken wollen. In jedem Menschen stecken schließlich unendlich viele Biografien. Hat sie darüber gelesen oder es einfach irgendwo aufgeschnappt? Vielleicht von Schwester Alma, die an esoterischen Kram glaubt wie andere Leute an Jesus? Die ernsthaft mit ihrem Leitungswasser spricht, um es von allen Schadstoffen zu erlösen und nur ja keinen Bauchspeicheldrüsenkrebs zu bekommen.

Aber doch stimmt es: In jedem Menschen steckt ein anderer und darin wieder jemand. Mit tausend neuen Gedanken und noch viel mehr Träumen. Kein Quatsch über Wiedergeburt, eher eine philosophische Betrachtungsweise der Fragilität des Lebens. Das Mädchen von damals ist fortgegangen, Lisbeth hat es in einem imaginären Garten vergraben, um es nicht mehr betrachten zu müssen. Und mit ihm die hässlichen Erinnerungen an die Hellsichtigkeit oder besser gesagt: an die vermeintliche Hellsichtigkeit. Dennoch kommen immer wieder Leute zu ihr, verzweifelte Menschen. Vor allem Menschen aus der Umgebung, die sich noch an früher erinnern können, als es geheißen hatte, Lisbeth wäre so etwas wie ein Wunderkind. Jetzt gerade muss sie darüber lachen, so laut, dass sie erschrocken die Hand vor den Mund schiebt, weil sie nicht will, dass Marlene fragt, was denn da oben so amüsant ist.

Eigentlich ist es nur eine Art Zaubertrick, nicht mehr und nicht weniger. Denn die Leute wollen ja glauben, wollen nichts lieber, als an irgendetwas glauben. Deshalb gehen sie schließlich auch in die Kirche: um an ein Himmelreich zu glauben. So wie manche Krankenschwestern einen Krampfanfall vorhersagen können, aufgrund einer Erkrankung, einer Medikation oder anderer Faktoren, kann Lisbeth halt Schlüssel finden oder entlaufene Tiere. Aber ist das tatsächlich schon Hellsichtigkeit? Oder schlicht eine Aneinanderreihung merkwürdiger Zufälle?

Hast du nicht auch den verrückten Jungen des Polizisten wiedergefunden? Jene Stimme in ihrem Kopf, ein Echo der Stimmen aller Toten.

»Haltet endlich den Mund!« Lisbeth steht viel zu schnell auf und stößt sich dabei den Kopf am Dachbalken. Als Kind war sie gern hier oben gewesen, dem Himmel nahe. Viel lieber als unten im Keller, Kartoffeln holen oder eingemachtes Obst. In einem Haus alles vereint: Grabestiefe und Himmelsnähe. Aber sie ist dem entwachsen, nicht nur körperlich – der Dachboden wirkt fremd und viel kleiner als in jeder Erinnerung. Hier oben sind nur mehr die Reste ihres früheren Lebens versammelt, diejenigen Dinge, die ihre Mutter hochgeschleppt hatte, um sie verstauben zu lassen. Und hätte Marlene nicht unbedingt blaue Christbaumkugeln gewollt, wäre Lisbeth gar nicht erst auf die Idee gekommen, hier jetzt fast schon eine Stunde danach zu suchen. Neue Kugeln für einen geraden Baum, hat Marlene gefordert, und Lisbeth hat an die blauen Glaskugeln ihrer Kindheit gedacht. Nicht nur, dass es auf dem Dachboden vor Spinnen und anderem komischen Getier nur so wimmelt, es ist hier oben auch ziemlich kalt. Schneespuren dringen durch die fingerdicken Fugen im Dach und erinnern sie wieder einmal daran, dass sie das Haus unbedingt renovieren muss, bevor es eines Tages einfach über ihnen zusammenbricht.

»Keine Kugeln. Pech, Madam!« Lisbeth zieht den Reißverschluss ihrer alten Jacke hoch und fragt sich, weshalb sie in aller Welt nicht an Handschuhe gedacht hat. Klamm die Finger, die Zehen sowieso. Sie wird noch ein paar alte Schachteln durchsehen und sich dann auf den Weg nach unten machen, um sich in ihrem Lieblingssessel mit einer Wärmflasche und einer großen Tasse Kaffee dumme Nachmittagsserien im Fernsehen anzusehen. Vielleicht würde sogar irgendwo Columbo laufen, und der Tag wäre wieder gerettet.

Unten singt Doris Day vom Weihnachtswunder, Marlene singt leise mit, in ihrer wunderbaren Stimme. Lisbeth hört sie gern singen, und so steht sie da, frierend, mit einer großen Atemwolke vor dem Gesicht, und lächelt zufrieden. Nur noch drei Tage bis zum Heiligen Abend, und langsam freut sie sich sogar darauf. In ihrer Kindheit waren die Weihnachtstage meist dunkel gewesen, bemalt von Schreien und Nörgeleien, vom ersten Wanken, wenn Vater wieder einmal zu viel getrunken hatte. Vom späteren Weinen ihrer Mutter, und nicht selten stand schon am nächsten Morgen der Christbaum vor dem Haus, als hätten sie alle genug von den Feiertagen und dem Weihnachtspunsch. Vielleicht wird sie ja doch Utrecht zum Weihnachtsessen einladen, einfach so.