Kinderland - Richard Lorenz - E-Book

Kinderland E-Book

Richard Lorenz

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Beschreibung

Ein leeres Kinderzimmer, ein Fotoalbum mit Lücken, ein vergessener Name, eine Familie ohne Erinnerung … Normalerweise gleicht der Verlust eines Kindes einem Albtraum. Nicht so in dem Ort, wo die Schrecken vergangener Zeiten das Kinderland schufen. Dort bestimmt dieser Albtraum das Leben der Menschen. Tag für Tag. Und den Tod. Nacht für Nacht. Schlaft, Kinderlein, schlaft. »Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit? Das ist gut, denn Sie werden jeden Glauben brauchen, den Sie noch finden können. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Siebzigerjahre, an die heißen trockenen Sommer. An die merkwürdigen Himmel. Wenn nicht, dann hören Sie mir einfach zu. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, Sie wären in einer Stadt groß geworden, in der Kinder verschwinden.« Wie regensatte Wolken schwebt das Unheil über einer kleinen Stadt im Süden Deutschlands. Kinder verschwinden nicht einfach, sie gehen verloren. Kein Mensch erinnert sich an sie, es ist, als wären sie nie geboren. Nur einer weiß, wo sie zu finden sind. Im Kinderland, dort, wo der alte Murr in seinem Haus über dem Grabhügel thront. Einem Ort, der geschundene Körper sammelt und unschuldige Seelen befreit. Warum dies alles geschieht, weiß kein Mensch. Nur einer macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Begegnen wird er den Geistern der Vergangenheit. Und den Toten von morgen. »Ein Unwetter zieht auf« ist der erste Teil der serial novel »Kinderland« – ein Donnerschlag für Mystery-Fans!

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Seitenzahl: 74

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Richard Lorenz

Kinderland

Erster Teil

Copyright der eBook-Ausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: © privat

ISBN: 978-3-942822-98-5

Besuchen Sie uns im Internet:

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Besuchen Sie den Autor im Internet:

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www.facebook.com/richard.lorenz

Richard Lorenz, Kinderland – Teil 1: Ein Unwetter kommt auf

Ein leeres Kinderzimmer, ein Fotoalbum mit Lücken, ein vergessener Name, eine Familie ohne Erinnerung …

Normalerweise gleicht der Verlust eines Kindes einem Albtraum. Nicht so in dem Ort, wo die Schrecken vergangener Zeiten das Kinderland schufen. Dort bestimmt dieser Albtraum das Leben der Menschen. Tag für Tag. Und den Tod. Nacht für Nacht.

Schlaft, Kinderlein, schlaft.

»Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit? Das ist gut, denn Sie werden jeden Glauben brauchen, den Sie noch finden können. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Siebzigerjahre, an die heißen trockenen Sommer. An die merkwürdigen Himmel. Wenn nicht, dann hören Sie mir einfach zu. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, Sie wären in einer Stadt groß geworden, in der Kinder verschwinden.«

Wie regensatte Wolken schwebt das Unheil über einer kleinen Stadt im Süden Deutschlands. Kinder verschwinden nicht einfach, sie gehen verloren. Kein Mensch erinnert sich an sie, es ist, als wären sie nie geboren. Nur einer weiß, wo sie zu finden sind. Im Kinderland, dort, wo der alte Murr in seinem Haus über dem Grabhügel thront. Einem Ort, der geschundene Körper sammelt und unschuldige Seelen befreit.

Warum dies alles geschieht, weiß kein Mensch. Nur einer macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Begegnen wird er den Geistern der Vergangenheit. Und den Toten von morgen.

Heute kann ich die Geschichte getrost erzählen. Es hat sich schließlich alles zum Guten gewandt, nichts ist geschehen. Die Unwetter der vergangenen Jahre sind nur Unwetter gewesen, wenngleich auch einige Häuser und Scheunen gebrannt haben. Aber niemand ist ums Leben gekommen, wie damals, im Jahr 1986. Dem Jahr des Jahrhundert-Unwetters, von dem man heute noch spricht. In so einer kleinen Stadt wie dieser spricht man sehr lange über solche Sachen, wissen Sie. Manchmal sogar ein Leben lang. Ich bin mir sicher, ich werde Ihnen noch davon erzählen, wenn es soweit ist. Später, wenn das Licht stimmt und die Grillen anfangen zu zirpen und meine Morphin-Tabletten wirken. Und Sie noch ein wenig Zeit haben.

Das Kinner-Mädchen ist zwar im Frühjahr 2001 weggelaufen (ich glaube, es war 2001, es könnte auch ein Jahr zuvor gewesen sein), mit dem Grabhügel und den Geschichten darüber hatte es jedoch nichts zu tun. Denn zwei Tage später fand man sie wieder, lebendig und wohlbehalten. Sie hatte sich im roten Haus versteckt. Dort, wo lange Zeit jemand gewohnt hat, den wir den Knochenmann nannten. Viel früher haben wir ihn den Knochenjungen genannt, weil er so dürr war, dass man jeden einzelnen Knochen sehen konnte.

Die Leute, die mich kennen, nennen mich Stumpe oder einfach nur den Fotografen, kaum jemand nennt mich bei meinem Vornamen. Der ist auch nicht sonderlich wichtig. Schon bald wird er auf unserem Grabstein stehen. Direkt unter dem Namen meiner Frau, die schon seit vier Jahren tot ist. Sie ist neunundsechzig Jahre alt geworden, und ich werde in zwei Monaten zweiundsiebzig. Unser Haus ist alt und leer, so wie ich.

Wir haben keine Kinder, meine Frau konnte keine bekommen, Frauengeschichten. Damals hätten wir gern ein Kind gehabt, ein Mädchen oder einen Jungen, oder auch beides, aber heute denke ich mir, dass es gut so war. Vielleicht hätte ich die Dinge dann nie so gesehen, wie ich sie gesehen habe. Wissen Sie, das Leben ist merkwürdig. Merkwürdiger als wir alle denken. Nachts beißt es sogar manchmal zu. So wie die Schmerzen in meinen Gelenken. Vor allem, wenn sich wieder ein Gewitter ankündigt.

Mit dem Fotografieren habe ich 1973 angefangen. Meine Frau hat mir eines Tages eine Zenit-Kamera aus München mitgebracht. Ich weiß noch ganz genau, was sie gesagt hat: »Ich musste sie dir einfach kaufen, sie sieht aus, als wäre sie für dich gemacht«.

Der Abzug klemmte, das Gehäuse war an den Ecken verbeult, als ob es mehrmals heruntergefallen war. Auf der Rückseite hatte jemand einen Namen eingekratzt: J. Berender.

Dabei hatte ich noch nie in meinem Leben fotografiert. Heute laufen die Leute herum und machen Fotos mit ihren komischen Telefonen. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, warum sie immer alles fotografieren müssen. Damals war das anders. Die Filme waren teuer, und wir waren nicht so verrückt, unsere eigenen Füße abzulichten.

Ich weiß noch, das erste Bild schoss ich in unserem Haus. Natürlich war es viel zu dunkel, und die Blende blieb zu lange auf. Sie müssen wissen, meine Frau war eine sehr kluge Frau. Sie lachte ihr bestes Lachen und zog aus ihrer Handtasche ein schmales Büchlein, das sie zusammen mit der Kamera gekauft hatte. »Fotografieren und Entwickeln leicht gemacht«, hieß es, wenn ich mich recht erinnere. Es muss noch irgendwo herumliegen.

In der Abstellkammer richtete ich mir eine winzige Dunkelkammer ein. Die ersten drei Filme gingen total daneben, und eigentlich wollte ich es schon aufgeben, aber dann funktionierte es plötzlich. Das erste gelungene Foto hängt immer noch in der Küche: eine Krähe auf einer Überlandleitung. Ich weiß, es ist nicht sonderlich originell – aber es ist gut. Es fühlte sich damals richtig an und tut es heute noch.

1973 war ein verrücktes Jahr. Wir arbeiteten fast alle in der Zigarettenfabrik, auch meine Frau. Im Sommer suchten die Kinder nach einer Sammelkarte, die es angeblich hinter dem Zellophan der Verpackungen zu finden gab. Ich selbst habe nie eine davon gesehen, aber das muss nichts heißen. Die Kinder waren wie Ameisen an einem Sommertag, ihre Stimmen ein Geheul. Ich weiß nicht, es hat mir damals irgendwie Angst gemacht.

An den Abenden ging ich mit der Zenit um den Hals spazieren, in der Hoffnung, ein, zwei gute Fotos zu schießen. In München gab es einige große Zeitungen, die hin und wieder Leser-Fotos abdruckten. Manchmal bekam man sogar Geld dafür.

Im Leben vergisst man viele Dinge. Auch viele wichtige Dinge. Aber das, was ich an einem jener Abende gesehen habe, werde ich nie vergessen: Ich nahm den Objektiv-Deckel herunter, schob ihn in meine Hosentasche und betrachtete durch die Linse das Murr-Haus auf dem Grabhügel. Ein Mädchen saß auf dem Schornstein. Die Beine baumelten herunter und wackelten hin und her. Es sah über die Häuser hinweg.

Natürlich bin ich erschrocken, das können Sie mir glauben. Ich weiß noch, dass mein Herz stolperte, und dass es einen kurzen Schmerz gab in meiner Brust. Gut, dass ich den Riemen der Kamera um meinen Hals geschlungen hatte, denn sie fiel mir aus den Händen. Ich sah noch einmal hin. Aber da war kein Mädchen. Da war nur ein Schornstein, mehr nicht.

Ich nahm die Kamera und blickte durch den Sucher. Das Kind war wieder da. Wie bei einer Zauberkamera, aber natürlich glaubte ich nicht an solchen Quatsch. Vielleicht, und das dachte ich mir damals, sehen wir manchmal mit den falschen Augen. Ich machte natürlich ein Foto davon, auch wenn ich ahnte, oder vielleicht auch wusste, dass auf dem Abzug kein Kind sein würde. Und so war es dann auch. Drei Fotografien von einem Schornstein. Kein normaler Mensch fotografiert einen Schornstein, also zerriss ich die Aufnahmen noch in der Dunkelkammer. Und kein Mann auf der ganzen Welt sagt seiner Ehefrau alles. Jeder Mensch behält Dinge für sich, die man nicht unbedingt sagen muss. Glauben Sie mir, ich habe lange darüber nachgedacht, und oft war ich kurz davor, sie aufzuwecken und ihr davon zu erzählen. Aber ich konnte es nicht.

Denn es blieb nicht bei dem Kind auf dem Schornstein.

Im frühen Herbst 1973, bevor der Knochenjunge mit seinen Freunden dort hinaufging und alles irgendwie aus dem Ruder lief, sah ich für andere unsichtbare Kinder auf Bäumen sitzen, über Straßen laufen, die Waldstücke durchstreifen. Ich beobachtete sie durch die Kamera, wie man scheue Vögel durch ein Fernglas beobachtet. Kurz bevor ich wieder nach Hause ging, machte ich noch ein paar Bilder von Krähen auf Überlandleitungen.

Verzeihen Sie, wenn ich manchmal ein wenig abschweife oder den Faden verliere. Das kann am Morphin liegen und vielleicht auch ein wenig daran, dass niemand die Geschichte dieser Stadt jemals verstehen wird. Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit? Das ist gut, denn Sie werden jeden Glauben brauchen, den Sie noch finden können. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Siebzigerjahre, an die heißen trockenen Sommer. An die merkwürdigen Himmel. Wenn nicht, dann hören Sie mir einfach zu. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, Sie wären in einer Stadt groß geworden, in der Kinder verschwinden. Ja?

Aber zuerst besuchen wir den Knochenmann.

Das Haus des Knochenmannes

Sommer 1999