Historical Saison Band 80 - Mary Brendan - E-Book

Historical Saison Band 80 E-Book

MARY BRENDAN

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Beschreibung

CASANOVA, LORD UND GENTLEMAN? von ANN LETHBRIDGE

Keine Lady der Londoner Gesellschaft hat in Lord Avery je dieses Verlangen geweckt wie der unschuldige Augenaufschlag von Carrie Greystoke. Jetzt will der Draufgänger nur eins: Die hinreißende Aristokratenwitwe für immer besitzen. Doch der verruchte Lebenswandel des Lords macht eine Ehe mit seiner Herzdame unmöglich …

DER EARL UND DIE WIDERSPENSTIGE LADY von MARY BRENDAN

Lance Harley, Earl of Houndsmere, ist von der jungen Fremden mit den Bernsteinaugen, die er vor zwei Schurken gerettet hat, fasziniert. Er spürt genau: In ihrem feurigen Blick liegt nicht nur Dankbarkeit, sondern Begehren. Trotzdem stößt Lance bei der rassigen Schönheit auf Granit, bis er ihr dunkles Geheimnis entdeckt …

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Seitenzahl: 614

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Ann Lethbridge, Mary Brendan

HISTORICAL SAISON BAND 80

IMPRESSUM

HISTORICAL SAISON erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISONBand 80 - 2021 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2018 by Michèle Ann Young Originaltitel: „A Lord for the Wallflower Widow“ erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto in der Reihe: HISTORICAL Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Svenja Tengs

© 2019 by Mary Brendan Originaltitel: „Tempted by the Roguish Lord“ erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto in der Reihe: HISTORICAL Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Maria Fuks

Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751502948

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

Casanova, Lord und Gentleman?

PROLOG

April 1812

Redford Greystoke, Earl of Westram, zwang sich, seinen Blick nicht von den drei verschleierten Damen in Schwarz abzuwenden, die vor seinem Schreibtisch saßen. Es brach ihm das Herz, sie so zu sehen. Unter den Schleiern waren drei schöne junge Frauen verborgen. Zwei waren seine Schwestern, die andere war seine Schwägerin. Sie alle waren am gleichen Tag zu Witwen geworden. Ihre Ehemänner hatten sich wie die größten Narren verhalten. Die drei Männer hatten auch ihm sehr nahegestanden und ihr Verlust schmerzte ihn.

Zuvor war er nur der zweitgeborene Sohn gewesen und sein älterer Bruder der neue Earl, doch nun war er selbst über Nacht zum letzten männlichen Mitglied der Familie geworden. Zudem musste er jetzt auch noch für den Unterhalt von drei mittellosen Damen aufkommen. Aus diesem Grund waren sie hier und blickten ihn so feindselig an.

„Ihr werdet unter meinem Dach leben“, wiederholte Red entschlossen. „Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

„Redford.“ Lady Marguerite, seine um zwei Jahre ältere Schwester, hatte die Rolle der Wortführerin übernommen. Sie sprach ruhig, aber er spürte die Erregung hinter ihren Worten. „Du kannst uns nicht vorschreiben, wo wir wohnen sollen.“

Das Ärgerliche an Witwen war, dass sie sich selbst als unabhängige Frauen sahen.

„Das kann ich sehr wohl, solange ich derjenige bin, der die Rechnungen zahlt.“ Verdammt, er klang wie ein trotziger Junge. „Um ganz offen zu sprechen: Ich verfüge nicht über die Mittel, um eure bisherigen Haushalte aufrechtzuerhalten – unabhängig davon, ob ich es gern tun würde oder nicht. Ihr werdet bei mir in Gloucestershire wohnen, bis die Trauerzeit vorbei ist. Danach bin ich gern bereit, in unser Londoner Stadthaus umzusiedeln, damit wir wieder unter Leute gehen können.“

Lady Petra, seine andere Schwester, funkelte ihn an. Trotz des Schleiers, der ihr Gesicht verdeckte, wusste Red genau, wie sie aussah, wenn sie verärgert war. Petra war eine Meisterin der stechenden Blicke. „Wenn du glaubst, dass ich jemand anderen heiraten könnte …“ Mit ihrer schwarz behandschuhten Hand führte sie ein Taschentuch unter ihren Schleier und schnäuzte sich.

Im Stillen fluchte er. „Niemand will dich zu irgendetwas zwingen. Wenn du nächstes Jahr nicht die Saison in London verbringen und auf Bälle gehen möchtest, kannst du auch zu Hause bleiben.“ Doch so wie er die Frauen kannte, würden sie sich wahrscheinlich schon nach wenigen Monaten in der Abgeschiedenheit auf dem Land langweilen und darauf bestehen, einen Ball zu besuchen oder ins Almack’s zu gehen.

Seine Schwägerin Carrie legte einen Arm um Petras bebende Schultern. „Schon gut, meine Liebe“, sagte sie sanft.

Red mochte Carrie Greystoke sehr. Sie war eine praktische, vernünftige Frau, auch wenn sie vorübergehend den Verstand verloren haben musste, als sie eingewilligt hatte, seinen leichtsinnigen Bruder zu heiraten. Zum Glück hatte sie nach dessen Tod trotz all der Trauer und des Entsetzens einen kühlen Kopf bewahrt und sich als Fels in der Brandung erwiesen.

Manchmal dachte er, dass sie fast zu gefasst war. Sie strahlte jene Art von Ruhe aus, hinter der sich vermutlich stille Verzweiflung verbarg. Rasch schob er diesen Gedanken beiseite. Keine der drei Frauen war mit seinem Vorschlag einverstanden und er musste seine gesamte Überzeugungskunst aufbringen, wenn er sich durchsetzen wollte.

„Nur Mut, Petra“, sagte Marguerite. „Wir sollten nicht um drei Narren weinen, die den Tod förmlich herausgefordert haben.“

Auch Marguerite hatte an seiner Schulter geweint, als man ihr die traurige Nachricht überbracht hatte. Dass sie jetzt so viel Selbstbeherrschung zeigte, war ein gutes Zeichen. Zumindest hoffte er das.

Petra, die nicht nur ihren geliebten Ehemann, sondern auch ihren besten Freund verloren hatte, legte schluchzend den Kopf an Carries Schulter.

Am liebsten hätte Red ebenfalls den Kopf in die Hände gelegt und geweint. Noch vor wenigen Wochen hatte er geglaubt, einen Ausweg aus den Schulden, die ihm sein Vater hinterlassen hatte, gefunden zu haben. Bis sich plötzlich die Erde unter seinen Füßen aufgetan und diesen klaffenden Abgrund zurückgelassen hatte. Er wusste noch immer nicht, was seinen Bruder und seine beiden Schwäger dazu bewogen hatte, in Wellingtons Armee einzutreten. Von Freunden hatte er lediglich erfahren, dass es sich um eine Art Wette gehandelt haben musste. Was auch immer der Grund gewesen war – es war der irrsinnigste, lächerlichste Plan aller Zeiten gewesen. Red verscheuchte den Gedanken. Die Vergangenheit konnte er nicht ändern. Jetzt musste er sich um die Zukunft kümmern.

Am meisten erschütterte ihn das Ausmaß der Schulden seines Bruders Jonathan. Er hatte das gesamte Vermögen, das durch seine Heirat mit Carrie in die Familie gekommen war, aufgebraucht. Red hatte nicht im Entferntesten geahnt, dass sein Bruder bei so vielen Gläubigern in der Kreide stand.

Für ihn war auch vollkommen schleierhaft, was sich sein Vater dabei gedacht hatte, Petra und Marguerite mit Männern zu vermählen, die keinerlei Erfolgsaussichten hatten. Wahrscheinlich lag es daran, dass sein Vater stets zu nachsichtig gegenüber seinen Töchtern gewesen war und ihnen alles hatte durchgehen lassen. Deswegen war der Umgang mit ihnen jetzt so schwierig.

„Ich denke, es wäre am besten, wenn du uns zumindest den Versuch gestattest, allein zurechtzukommen“, erklärte Carrie über den Kopf seiner schluchzenden Schwester hinweg. „Wir werden keine Last für dich sein, Westram. Das verspreche ich dir.“

Wenn Carrie den irrsinnigen Plan seiner Schwestern unterstützte, stand er auf verlorenem Posten. So gescheit, bodenständig und dickköpfig wie sie waren, würden sie niemals nachgeben. Vielleicht sollten sie aus eigener Erfahrung lernen, wie es in der echten Welt zuging. Dann würden sie auf die Stimme der Vernunft hören. Auf seine Stimme.

Er hob die Hände in die Luft. „Wie ihr wollt! Ich werde euch die Trauerzeit geben, um dieses Experiment durchzuführen. Was den Unterhalt angeht, so kann ich euch nur sehr wenig unterstützen.“ Entschuldigend sah er Carrie an. „Es tut mir sehr leid, aber ich musste deine gesamte Mitgift aufwenden, um Jonathans Schulden zu bezahlen.“ Auch der Teil des Geldes, der eigentlich Carries Witwenanteil hätte sein sollen, war längst verloren. Sein Bruder hatte ihn in ein „todsicheres Geschäft“ investiert, wie er es genannt hatte. Wenn Jonathan vorher mit Red darüber gesprochen hätte, hätte er versucht, ihn von diesem Plan abzubringen. Vielleicht wäre Jonathan dann sogar noch am Leben. „Ich würde den Betrag ersetzen, den mein Bruder veruntreut hat, doch leider fehlt mir dazu das Geld. Vielleicht irgendwann …“ Er unterbrach sich, weil die Situation schier unerträglich war. Seinen Schwestern erging es nicht besser. Er war fassungslos darüber, in welcher Unordnung ihre Gatten ihre Geschäfte hinterlassen hatten. Red seufzte. „Ihr könnt im Westram Cottage in Kent wohnen, wenn euer Unterhalt dafür ausreicht.“ Er funkelte sie an. Nur so konnte er seine Würde bewahren. „Ich werde das überprüfen.“

In einem Monat würden sie sicher wieder vor seiner Tür stehen.

Marguerite erhob sich. Carrie tat es ihr nach, um Petra aufzuhelfen. Wie immer war er verblüfft darüber, wie groß seine Schwägerin im Vergleich zu seinen Schwestern war. Die Mitglieder seiner Familie waren eher klein gewachsen.

„Danke, Red.“ Marguerites Stimme klang nun wärmer als zu Beginn ihres Gesprächs. „Du wirst es nicht bereuen.“

Oh, doch, das würde er. Daran bestand kein Zweifel.

Die Damen gingen hinaus.

Red schenkte sich einen Brandy ein und stürzte ihn in einem Schluck herunter.

1. KAPITEL

April 1813

Sorgfältig wischte Carrie Greystoke Staub auf den Regalen, so wie sie es jeden Morgen seit der Eröffnung des kleinen Ladens tat. Sie richtete das Glanzstück des Geschäfts, eine luxuriöse Haube mit handgefertigten Seidenblumen und kirschroten Bändern, im Schaufenster her und stellte sich hinter die Ladentheke. Doch langsam sank die Hoffnung.

Seit sie das First Stare Millinery vor drei Tagen eröffnet hatte, hatte kein einziger Kunde in das Geschäft betreten. Wenn sie nicht bald etwas verkaufen würde, müssten sie sich ihre Niederlage eingestehen. Die Vorstellung, zum Vermieter zu gehen und zuzugeben, dass sie sich verschätzt hatten, war demütigend. Sie und ihre Schwägerinnen waren fest davon überzeugt gewesen, dass sie ihre Hüte und Hauben verkaufen könnten. In den vergangenen Wochen hatten sie hart dafür gearbeitet.

Mr. Thrumby, ein Freund ihres verstorbenen Vaters, war mit der Vermietung des Ladens an sie ein Risiko eingegangen. Um ihres Vaters willen. Wenn das Geschäft nur in der Bond Street und nicht in der weniger schicken Cork Street liegen würde … Aber dann wäre die Miete viel zu teuer. So wie die Dinge lagen, mussten sie die erste Monatsmiete ohnehin von ihrem geringen Unterhalt bezahlen.

An einer Regalwand waren die Hauben auf kleinen Gestellen aufgereiht. Die Ladentheke mit Glasoberfläche, hinter der Carrie stand, war zwar teuer, doch unbedingt nötig gewesen, um die bemalten Fächer, Spitzenhandschuhe und bestickten Hausschuhe auszulegen, die ihre Schwägerinnen angefertigt hatten.

Nach einer Stunde setzte Carrie sich auf einen Stuhl. Sollte sie vielleicht noch einmal das Fenster neu dekorieren? Was um alles in der Welt sollte sie Petra und Marguerite sagen? Sie würden sehr enttäuscht sein, wenn sie nach zwei Tagen wieder nach Hause kam und rein gar nichts verkauft hatte.

Ein Schatten fiel auf die Schaufensterauslage.

Carrie erhob sich sofort und setzte ein Lächeln auf.

Als der Schatten vorbeihuschte, wurde ihr schwer ums Herz.

„Ich komme gleich zurück, Madam.“

Jeb, ihr rotgesichtiger Junge für alles, hatte sie am Tag vor der Geschäftseröffnung vom Westram Cottage nach London gefahren. Er hatte die Regale aufgebaut und die Ladentheke hineingetragen, die aus einem Gebrauchtwarenladen in der Seven Dials stammte. Außerdem half er ihr, das Hinterzimmer so einzurichten, dass sie darin wohnen konnte, denn der Weg nach Kent war zu weit, um jeden Abend heimzukehren.

Marguerite war nicht glücklich über diese Regelung gewesen, hatte aber nachgegeben, als Carrie sich bereit erklärte, jeden Samstagabend mit Jeb heimzukehren, um am nächsten Morgen mit ihnen in die Messe zu gehen. Montagnachmittags würde sie dann mit neuen Waren zurück ins Geschäft fahren.

Allerdings würden sie keine neuen Waren brauchen, wenn sie nicht bald etwas verkaufte.

„Hast du die Handzettel an die Adressen verteilt, die ich dir gegeben habe, Jeb?“

„Ja, Madam.“

Die Handzettel waren eine weitere kostspielige Idee gewesen, die sie sich kaum leisten konnten, doch irgendwie mussten sie ihr Angebot schließlich bekannt machen. Mit einer Zeitungsanzeige hätten sie zwar mehr Menschen erreicht, jedoch noch mehr Geld ausgegeben.

Leider konnte sie nicht nachprüfen, ob die Zettel in die richtigen Hände gelangt waren. Vielleicht sollte sie sich selbst an den Eingang des Hyde Parks stellen und sie an Passantinnen verteilen. Nicht an irgendwelche Spaziergänger, sondern an vornehme Damen mit Stil.

Das könnte funktionieren.

Am Nachmittag würde sie sich gegen fünf Uhr auf den Weg machen. Zum Glück war sie der feinen Gesellschaft weitgehend unbekannt, da sie vor ihrer überstürzten Hochzeit mit Jonathan nur wenigen Mitgliedern des ton vorgestellt worden war. Außerdem hatten sie im kleinen Kreis geheiratet, weil ihr Vater bereits dem Tode nahe gewesen war. Warum Jonathan ausgerechnet mich zur Frau genommen hat … Sie schob den Gedanken und den damit verbundenen Schmerz beiseite.

Mach dir nichts vor, Carrie. Die Wahl war auf sie gefallen, weil Jonathan einen Ausweg aus seiner finanziellen Misere gesucht hatte. Irgendwie hatte ihr Vater davon erfahren und – besorgt darüber, wie sich ihr Leben nach seinem Tod gestalten würde – Jonathan ein unwiderstehliches Angebot unterbreitet. Von alldem hatte Carrie nichts gewusst, als sie damals vor Beginn der Saison nach London gekommen war. Auf ihrer ersten Kutschfahrt durch die Stadt hatte ihre Tante sie auf Jonathan aufmerksam gemacht. Als er sich formvollendet verbeugte, waren die Tante und sie sich einig gewesen, dass er ein überaus gut aussehender Gentleman war. Am nächsten Morgen stand er vor ihrer Tür und wenige Tage später hielt er um ihre Hand an.

Alle sagten, es sei Liebe auf den ersten Blick. Wie dumm von ihr, dass sie diesen Unsinn geglaubt hatte.

Im Nachhinein war es offensichtlich: Er hatte sie nur geheiratet, um seine Schulden loszuwerden. Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie niemals Ja gesagt. Nicht einmal aus Liebe zu ihrem sterbenden Vater, der von der Vermählung seiner Tochter mit einem Adeligen begeistert gewesen war. Auch hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr Bräutigam sofort nach der Trauung das Weite suchen würde. Zweifellos war ihm die Vorstellung, mit seiner unscheinbaren, bürgerlichen und unkultivierten Frau zusammenzuleben, unerträglich gewesen. Das verletzte sie tief. Am schlimmsten war jedoch, dass er nicht einmal den Anstand besessen hatte, in der Hochzeitsnacht ihr Bett aufzusuchen.

Diese Zurückweisung hatte sie bis ins Mark erschüttert. Sie quälte sie noch immer, wenn Marguerite und Petra an langen Abenden in Westram Cottage kichernd über die Freuden des Ehelebens plauderten, während sie an Hüten und Hauben für den Laden arbeiteten. Die Wahrheit über ihre Hochzeitsnacht hatte sie niemandem erzählt.

„Leg den Rest bitte auf die Theke, Jeb. Du musst langsam nach Haus zurückzufahren. Ich bin sicher, dass meine Schwägerinnen alle möglichen Aufgaben für dich haben.“

Jeb kratzte sich an seinem unrasierten Kinn. Der Arme musste in einem Pferdestall in der Nähe des Ladens schlafen, da es hier keinen Platz für ihn gab.

„Sind Sie sicher, Madam? Ich lasse Sie hier ungern allein zurück. In London lauern überall Gefahren. Das hat meine Mutter gesagt.“

„Mir wird schon nichts zustoßen. Dank der Schlösser und Gitter, die du an der Tür und an den Fenstern angebracht hast, bin ich in Sicherheit. Und ein Einbrecher müsste es erst einmal mit Mr. Thrumbys Burschen aufnehmen.“ Nachts bewachte Mr. Thrumbys Pförtner den Hintereingang.

Jeb sah sie zweifelnd an, aber sie erwiderte seinen Blick fest und unnachgiebig.

„Wie Sie wünschen, Mrs. Greystoke.“ Indem er sie mit dem Namen ihres Gatten ansprach, wollte er vermutlich sein Unbehagen zum Ausdruck bringen. Er konnte ja nicht wissen, dass es alles eine infame Lüge war: Sie war nie Mrs. Greystoke gewesen, zumindest nicht richtig. Niemand ahnte, dass beim Klang ihres Ehenamens eine ungezügelte Wut auf ihren verstorbenen Gatten in ihr aufstieg.

Sie zwang sich, wieder an praktischere Dinge zu denken. „Dann sehen wir uns Samstagnachmittag.“

Er tippte zum Abschied an den Schirm seiner Mütze und verschwand.

Jetzt war sie tatsächlich auf sich allein gestellt.

Sie öffnete die obere Schublade der Ladentheke, nahm drei der bestickten Spitzentücher heraus und legte sie ins Schaufenster. Taschentücher waren nicht so teuer wie Hauben. Vielleicht könnte sie jemanden zum Kauf einer günstigeren Ware bewegen. Sie drehte die Haube, um sie von ihrer schönsten Seite zu zeigen, und ging wieder zu ihrem Stuhl.

Wenn nur ein Kunde käme! Dann wüsste sie, dass sie auf dem richtigen Weg war.

Lord Avery Gilmore, der jüngste Sohn des Duke of Belmane, lief auf die Straße und blinzelte im hellen Licht des Vormittags. Der Pförtner der Spielhölle, in der er die letzten Stunden verbracht hatte, schlug die Tür hinter ihm zu. Avery grinste. Die Nacht war für ihn durchaus erfolgreich gewesen. Seine Taschen waren gut gefüllt, sodass in den nächsten Tagen nicht nur genug Essen auf dem Tisch seiner Schwester stehen würde, sondern er sich auch noch Kohle und eine Flasche guten Brandy leisten könnte.

Er kehrte nie mit leeren Händen heim. Nachdem sein Vater ihn aus der Familie verstoßen hatte, weil er eine Frau hatte heiraten wollen, die dem Duke nicht gut genug war, hatte er sich jahrelang auf verschiedenen Kontinenten durchgeschlagen. Dabei hatte er seine Fähigkeiten im Glücksspiel immer weiter verbessert. In der letzten Nacht hatte er sogar mehr gewonnen als üblich. Vielleicht war das Glück nun endlich auf seiner Seite.

Was er gut gebrauchen konnte. In den vielen Jahren in Europa und Übersee war es für ihn nie ein Problem gewesen, seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, doch seit er erfahren hatte, in welchen finanziellen Schwierigkeiten seine Schwester Laura steckte, fühlte er sich auch für sie verantwortlich. Zumindest solange, bis ihr Ehemann als Advokat genug verdienen würde, um für sie zu sorgen – was hoffentlich bald geschehen würde. Immerhin hatte sein Schwager vor Kurzem seine Zulassung erhalten.

Dank letzter Nacht konnte er Laura endlich sagen, dass sie sich zumindest für einige Zeit keine Sorgen um Geld machen musste.

Beschwingt machte er sich auf den Heimweg, hielt jedoch an, als er ein sehr hübsches Taschentuch entdeckte, das in einem blitzsauberen Schaufenster ausgestellt war. Diese Sauberkeit fand man nicht häufig in den Nebenstraßen der Bond Street. Um sich das Schaufenster genauer anzusehen, überquerte er die Straße, wobei er Pferdeäpfeln und einem Herumtreiber, der in einem Hauseingang lauerte, auswich. Solche Kerle konnten einem im Handumdrehen die Geldbörse stehlen, wenn man nicht aufpasste.

Avery kannte Taschendiebe und ihresgleichen. Es war noch keine Viertelstunde her, dass der Besitzer des Ragger Staff, der Spielhölle, die er soeben verlassen hatte, ihm Betrug vorgeworfen hatte. Dabei hatte er nur die Tricks des Hauses, mit denen man die Spieler um ihre Gewinne bringen wollte, durchschaut. Kurz hatte es so ausgesehen, als müsste er sich seinen Weg aus dem Spielsalon herauskämpfen. Zum Glück waren dort noch andere Gäste gewesen, die es sehr gefreut hatte, dass zur Abwechslung einmal jemand gewonnen hatte.

Auch wenn diese Herren sich das Geld aus der Tasche ziehen ließen und noch grün hinter den Ohren waren, waren sie dennoch Gentlemen.

Avery schwankte ein wenig, als er auf das Taschentuch in dem Schaufenster starrte. Er schüttelte den Kopf, um sich zu besinnen. Er hatte sich zu viel billigen Brandy genehmigt, war aber nicht betrunken. Seine Benommenheit kam eher vom Schlafmangel, obwohl er mit Sicherheit schlimme Kopfschmerzen bekommen würde. Er warf einen kurzen Blick auf die Haube, die neben dem Taschentuch stand. Die Veilchen und Primeln, die den oberen Teil schmückten, waren nicht echt, wie er zuvor geglaubt hatte, sondern aus Seide. Die Haube brauchte er nicht, doch er wollte Mrs. Luttrell gern Blumen mitbringen, wenn er sie später besuchte. Die Arme verzehrte sich nach solchen Aufmerksamkeiten. Ob Blumen aus Seide sie aufmuntern würden?

Die Damenhaube verschwamm vor seinen Augen. Verdammt. Er war doch betrunkener als angenommen, und sollte schnell nach Hause gehen, um sich schlafen zu legen. Trotzdem brauchte er ein Geschenk.

Seidenblumen hielten länger.

Wahrscheinlich waren sie auch viel teurer. Dennoch würde sich Mimi Luttrell entgegenkommender zeigen, wenn er ihr diese kleine Freude machte. Außerdem besaß er ausnahmsweise einmal Geld.

Er betrat den kleinen Laden.

Eine bemerkenswert große, junge Frau erhob sich hinter der Theke. Sie war nicht unbedingt eine Schönheit, aber gut aussehend mit hübschen grauen Augen und vollen Lippen, die zum Küssen einluden, auch wenn sie gerade die Stirn runzelte. Warum sah sie ihn so finster an?

Gott, war sie groß. Nicht unbedingt so groß wie er, aber fast.

„Guten Tag, Sir“, sagte sie mit angenehm tiefer Stimme. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Überrascht starrte er sie an. Mit ihrem graubraunen Kleid und der sittsamen Haube wirkte sie wie eine Ladenverkäuferin, doch sie klang wie eine Dame, auch wenn sie mit leicht nordenglischem Akzent sprach.

Missbilligend verzog sie ihre vollen Lippen. „Stimmt etwas nicht?“

Er zwang sich, den Blick von ihrem Mund abzuwenden und sie anzusehen. Als er sich auf den Grund seines Eintretens besann, schenkte er ihr ein charmantes Lächeln. „Nein, es ist alles in Ordnung. Ich hatte nur nicht erwartet, heute Morgen einer so hübschen Dame zu begegnen.“

Wieder runzelte sie die Stirn. „Es ist schon nach Mittag, Sir, und dies ist ein Hutgeschäft für Damen. Haben Sie sich vielleicht in der Tür geirrt?“

Überrascht darüber, dass sie überhaupt nicht auf sein Lächeln einging, taumelte er leicht. Er war sich sicher, dass er gelächelt hatte. „Verzeihung, ich weiß natürlich ganz genau, wo ich bin. Ihr Geschäft hat ein bemerkenswertes Angebot an hübschen Hüten.“ Hoffentlich würde sie dieses Kompliment etwas aufheitern. „Und Sie haben bemerkenswert schöne Augen.“

Erstaunt blickte sie ihn an. „Sir …“

Entweder war er heute Morgen nicht in Höchstform oder der Dame gefiel es nicht, zu kokettieren. „Wie viel kosten die Veilchen, Madam?“

Der Boden schwankte unter seinen Füßen und Avery stieß mit der Hüfte gegen die Ladentheke.

Argwöhnisch wich sie zurück und sah ihn verwirrt an. „Veilchen?“

„Ja, die Veilchen im Schaufenster.“

„Da sind keine … Ach, Sie meinen die Veilchen an der Haube. Die sind nicht zu verkaufen.“

Alles hatte seinen Preis. „Ich gebe Ihnen sechs Pence.“

Sie wirkte überrascht. Ein Hauch Verzweiflung blitzte in den Tiefen ihrer grauen Augen auf, die am Rand dunkel waren.

Er wartete auf ihre Zustimmung.

Sie schüttelte den Kopf. „Das würde leider die Haube ruinieren.“

Er blinzelte. Hatte sie sein Angebot tatsächlich abgelehnt? Das war eine Überraschung.

„Sie können sie neu verzieren.“ Er machte eine ausschweifende Handbewegung zu den anderen Hauben. „Stellen Sie in der Zwischenzeit eine von den anderen ins Schaufenster.“ Er entdeckte eine, die mit Rosenknospen geschmückt war. „Diese ist genauso hübsch wie die im Fenster.“ Ihm wurde leicht schwindelig und er stützte sich mit einer Hand auf dem Tresen ab in der Hoffnung, dass die hübsche Verkäuferin es nicht bemerken würde.

Sie legte ihrerseits eine Hand auf die Theke, so als wolle sie ein Gegengewicht zu ihm schaffen. Als er den Ehering an ihrem Ringfinger bemerkte, stieg Enttäuschung in ihm auf. Konnte das sein? Nein. Er war nur enttäuscht, weil sie ihm die Blumen nicht verkaufen wollte.

„Also gut, ich gebe Ihnen einen Schilling.“

Wer von beiden war jetzt verzweifelt? Und warum eigentlich? Er könnte auch einfach woanders einen Strauß kaufen. An jeder Ecke gab es Blumenstände. Doch irgendetwas sagte ihm, dass Mrs. Luttrell mehr Freude an Seidenblumen haben würde. Und als erfahrener Spieler ging er nie über sein Bauchgefühl hinweg. Er vertraute zwar auf sein Können und spielte keine reinen Glücksspiele, ließ sich aber auch von seinem Instinkt leiten, der ihm sagte, wann sich hohe Einsätze lohnten und wann es besser war, sich zurückzuhalten. Im Augenblick hatte er jenes Gefühl in Bezug auf die Blumen.

Wieder sah die Verkäuferin ihn stirnrunzelnd an. „Ich möchte niemanden übervorteilen, der offensichtlich betrunken ist. Auf der Straße werden zu dieser Jahreszeit viel frische Veilchen verkauft.“ Sie machte eine ausladende Armbewegung.

Warum zum Teufel war sie so unnachgiebig? „Frisch?“, spottete er. „Wenn ich Glück habe, halten sie bis heute Nachmittag.“ Er lehnte sich vor und schenkte ihr sein freundlichstes Lächeln. „Ich muss einen guten Eindruck hinterlassen. Diese Blumen sind besser als echte.“

Misstrauisch schaute sie ihn an. „Wenn Sie einen guten Eindruck erwecken möchten, sollten Sie erst einmal nüchtern werden.“

„Sie sind ganz schön direkt und geradeheraus, finden Sie nicht?“

Sie errötete leicht. „Wenn es sonst nichts gibt …“

„Ich werde nicht gehen, bevor Sie mir nicht diese Blumen verkauft haben.“

„Dann müssen Sie die Haube kaufen.“

Aha! Das war also das Spiel, das sie spielte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass in dieser Nebenstraße viele Kunden in Ihr Geschäft kommen. Ist es nicht besser, einen Schilling zu erhalten, als gar keinen Umsatz zu machen?“

Kurz schloss sie die Augen. Unbehagen stieg in ihm auf, als sie ihre aufrechte Haltung aufgab und Verzweiflung erkennen ließ. Leider hatte er recht. Alles hatte seinen Preis.

„Also gut. Ich werde Ihnen die Veilchen verkaufen.“ Als sie um die Ladentheke herumging, wich er zurück, damit sie in dem schmalen Bereich zwischen Wand und Theke an ihm vorbeigehen konnte. Erneut fiel ihm ihre große Statur auf. Jetzt konnte er auch ihre üppige Figur betrachten. Sie beugte sich vor, um die Haube aus dem Fenster zu nehmen, und er starrte auf ihr hübsches Gesäß, das sich unter dem dunklen Stoff ihres Rocks abzeichnete. Trotz der unscheinbaren grauen Farbe handelte es sich zu Averys Überraschung um einen sehr edlen Baumwollstoff.

Wie ungewöhnlich für eine Verkäuferin!

Er drängte sich gegen die Regale, als sie zur Theke zurückging.

Sie nahm eine andere Haube und stellte sie ins Schaufenster. Es war allerdings nicht diejenigen, die er vorgeschlagen hatte, sondern ein Sommerhut mit hauchzarten gelben Bändern und Kirschen auf der aufgeschlagenen Krempe.

Als sie augenscheinlich mit dem Ergebnis zufrieden war, ging sie zurück, entfernte vorsichtig die Veilchen von der Haube und wickelte sie in Seidenpapier. „Ich hoffe, Ihre Dame zeigt sich angemessen beeindruckt.“ Sie streckte eine Hand aus. „Einen Schilling, bitte.“

Ihr schiefer Unterton setzte ihm zu. Offenbar hielt sie nicht viel von dem Geschenk. Er ließ den Blick über die ausgestellten Waren unter der Glasscheibe der Theke schweifen. „Wie teuer ist das Taschentuch? Das bestickte mit den Veilchen.“

„Drei Pence.“ Zum ersten Mal, seit er eingetreten war, lächelte sie. Ihr Gesicht erschien daraufhin nicht mehr glanzlos, sondern reizend – nicht unbedingt hübsch, aber reizend. Er blinzelte.

Sie öffnete die Schublade, nahm das edle Tuch heraus und legte es auf den Tresen.

Wieder erfasste ihn eine Woge der Müdigkeit. Er zwang sich, aufrecht zu stehen. Eigentlich hatte er schon genug ausgegeben. Seidene Veilchen für einen Schilling? Er musste betrunkener sein, als er gedacht hatte.

„Das nehme ich, Mrs. …“

Wieder errötete sie. „Greystoke.“

Greystoke. Der Name kam ihm bekannt vor. An die Theke gelehnt, beobachtete er, wie sie etwas in einer Schublade suchte. Sie holte eine Visitenkarte heraus und wickelte sie mit dem Taschentuch in Seidenpapier. „Falls Sie eine Dame kennen, die Interesse an unseren Hauben haben könnte … Sie sind von feinster Qualität. Vielleicht Ihre Gemahlin …“ Ermutigend lächelte sie ihn an.

Wieder ertappte er sich dabei, wie er sie verwirrt anstarrte. „Ich bin nicht verheiratet.“

Sie blickte auf das sorgfältig verpackte Bündel. „Ach so.“

„Die sind für eine geschätzte Dame, die ich kenne.“ Verdammt, warum hatte er das gesagt? Es ging sie nichts an, wem er die Blumen schenken wollte. „Eine ganz besondere Dame.“

„Natürlich.“ Ihre Stimme verriet nicht einen Hauch von Neugier. Sie band eine Schnur um das Päckchen.

Er verbeugte sich und reichte ihr seine Visitenkarte. „Es war mir eine Freude, Geschäfte mit Ihnen zu machen, Mrs. Greystoke.“

Als er draußen auf der Straße war, schaute er durch das Fenster hinein und sah, wie Mrs. Greystoke die ausgestellten Taschentücher neu ordnete und ihn dabei aus dem Augenwinkel beobachtete. Vermutlich wollte sie nur sichergehen, dass er so schnell wie möglich das Weite suchte.

Er setzte seinen Hut auf und ging weiter.

Ein Seidenveilchenstrauß für einen Schilling! Hoffentlich würde Mimi Luttrell diese Gunst zu schätzen wissen.

Doch weil Mrs. Greystoke recht hatte, würde er Mimi von den Hauben erzählen. Selbst in seinem angetrunkenen Zustand hatte er erkannt, dass sie von höchster Qualität waren.

Obwohl Carrie sich nach Lord Averys Besuch ausgemalt hatte, dass nun scharenweise reiche Damen in ihr Hutgeschäft strömen würden, erloschen alle ihre Hoffnungen in den folgenden beiden Tagen. Er hatte keine Haube gekauft, sondern es lediglich auf die Verzierung abgesehen. Die ramponierte, veilchenlose Haube, die jetzt auf dem obersten Regal ihr Dasein fristete, würde sie am Samstag mit nach Hause nehmen.

Von dort oben erinnerte die Haube sie ständig an jenes schmeichelhafte Lächeln und jene schönen braunen Augen mit den längsten Wimpern, die Carrie je gesehen hatte. Gefährlich schöne Augen mit goldenen Punkten darin, die wie Sonnenstrahlen aussahen. Ganz zu schweigen davon, dass er sie überragt hatte, was nur wenige Männer taten. Verdammt, sie wollte nicht an Lord Avery denken, den jüngsten Sohn eines Dukes, wie sie später bei einem Blick auf seine Visitenkarte festgestellt hatte. Ein vermögender junger Mann. Sie hätte versuchen sollen, ihn zum Kauf von einem Dutzend bestickter Taschentücher zu überreden, anstatt in Verlegenheit zu geraten und nur eines einzupacken. Sie hatte die Sache ordentlich in den Sand gesetzt, wie ihr Vater gesagt hätte.

Die Vorstellung, mit nichts als einem Schilling und drei Pence sowie einer zerfledderten Haube nach Westram Cottage zurückzukehren, fühlte sich wie ein Albtraum an. Ihre Handzettel hatten keine einzige Kundin angelockt, und sie wagte es nicht, mehr von ihren knappen Geldmitteln darauf zu verwenden, weitere zu drucken. Alles in allem war sie mit dem Geschäft, auf das ihre Schwägerinnen und sie alle ihre Hoffnungen gesetzt hatte, gründlich gescheitert.

Von ihren geringen Ersparnissen könnten sie noch eine Woche Miete bezahlen, dann würden sie den Laden schließen müssen. Es war zum Haareraufen! Wenn die Damen des ton diese originellen und kunstvoll angefertigten Hauben nur sehen könnten, würden sie sie ihr bestimmt aus der Hand reißen. Doch wie sollte sie das anstellen?

Zum dritten Mal an diesem Vormittag ordnete sie die Waren unter der Glastheke neu und legte Spitzenhandschuhe neben den hauchdünnen Fächer, auf den Marguerite eine ländliche Szene gemalt hatte. Die Glocke über der Tür klingelte. Sie richtete sich auf und stand mit offenem Mund da. „Lord Avery?“

Er verbeugte sich. „Mrs. Greystoke.“

Sie spähte nach seiner Begleitung, aber er war allein. Von der „verehrten Dame“, die er erwähnt hatte, fehlte jede Spur. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich brauche wieder Ihren Hutschmuck.“ Er ließ den Blick über die Hüte schweifen.

Verblüfft starrte sie ihn an. „Dies ist ein Hutgeschäft, Mylord. Sie haben den einzigen Veilchenstrauß gekauft, den wir hatten. Ich habe nicht vor, noch einen weiteren Hut mutwillig zu zerstören. Allerdings würde ich mich freuen, Ihnen einen Hut zu verkaufen. Was Sie später damit anstellen, bleibt Ihnen überlassen.“

Oh je, so sprach man nicht mit einem Kunden, vor allem nicht mit dem jüngsten Sohn eines Dukes. Was mochte er nun denken?

„Sie haben ihn doch nicht zerstört.“ Er schenkte ihr sein aufregendes, schiefes Lächeln, das sie schon einmal in Verlegenheit gebracht hatte. Heute Vormittag sah er noch besser aus. Seine schönen braunen Augen waren klar und lebhaft, sein Mantel tadellos und sein dunkelbraunes Haar ordentlich frisiert. Und dazu dieses Lächeln … Es rief einen Aufruhr in ihrem Inneren hervor. „Außerdem“, fuhr er fort, „ist ein Hut viel zu persönlich, als dass ein Gentleman ihn kaufen sollte. Meiner Erfahrung nach muss eine Dame verschiedene Hüte und Hauben ausprobieren, bevor sie sich für ein Modell entscheiden kann. Lassen Sie sich Ihre Hüte etwa von Ihrem Gatten kaufen?“

„Mein Gatte ist tot.“ Sie biss sich auf die Zunge. Warum hatte sie das gesagt? Und auch noch so unverblümt! Er könnte denken, dass sie an ihm interessiert wäre, und einen Vorteil daraus ziehen, bevor sie sich versah. So verhielten sich die Männer. Auf Mrs. Thacker’s Akademie für Töchter von Gentlemen hatte man ihr das eingetrichtert.

Seine Miene zeigte Mitgefühl. „Das tut mir leid.“

Warum sollte es ihm leidtun? Sie bedeutete ihm nichts. Dennoch hatte er recht, was den Kauf von Damenhüten betraf. Die meisten Frauen kauften sie am liebsten selbst. Der Kauf einer Kopfbedeckung war eine sehr persönliche Entscheidung und die Tatsache, dass Lord Avery dies wusste, bewies Scharfsinn. Offenbar kannte er sich mit Frauen aus.

Sie sollte ihm etwas anbieten. Angespannt lächelte sie ihn an und wünschte sich, weltgewandter und charmanter zu sein. „Vielleicht könnten Sie die Dame mitbringen und ihr die Entscheidung überlassen.“

Er stieß ein tiefes Lachen aus. Bei dem vollen Klang spürte sie ein Kribbeln im Magen. „Vielleicht irgendwann. In der Zwischenzeit …“

„Ich glaube, keine Dame würde sich darüber freuen, dasselbe Geschenk noch einmal zu erhalten, auch wenn es eine andere Farbe und Form hat.“

Er legte die Stirn in Falten. „Ja, Sie haben recht.“

„Wie wäre es mit Handschuhen?“ Sie holte ein Paar hervor und legte sie auf die Theke.

„Zu alltäglich.“

„Bestickte Hausschuhe?“ Sie zeigte ihm mehrere Paare.

„Zu nichtssagend.“

„Nicht diese. Das ist hervorragende Handarbeit.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte lieber etwas …“

„Fürs Herz?“ Sie lächelte.

„Etwas Einzigartiges.“

„Wie wäre es mit einem Fächer?“ Sie breitete zwei handbemalte Seidenfächer vor ihm aus. Auf einem war eine Szene in einem Ballsaal, auf dem anderen eine liebliche Landschaft dargestellt.

Er nahm einen auf, öffnete und schloss ihn und betrachtete den bemalten Stoff. „Sehr hübsch. Stammen sie aus dem Orient?“

„Nein, meine Schwägerin fertigt sie an.“

„Sie hat Talent.“

Carrie lächelte. Sie freute sich, wenn ihre Schwägerinnen Komplimente erhielten. Sie selbst war ein Einzelkind und hatte sich schon immer Schwestern gewünscht.

Er stand vor ihr und starrte auf ihren Mund, als hätte er noch nie eine Frau lächeln gesehen. Ihr wurde heiß. Mein Gott, dieser Mann wusste, wie man kokettierte!

„Ihre verehrte Dame wird sich bestimmt darüber freuen“, sagte sie mit fester Stimme. „Sie wird mit Sicherheit viel Aufmerksamkeit dafür erhalten.“

Er sah sie bedeutungsvoll an. „Und wird er mir auch helfen, ihre Gunst zu erlangen?“

Sie nickte ermutigend. „Natürlich.“

„Wie viel?“

„Zweieinhalb Schilling.“

Er presste die Lippen aufeinander. „Das ist ein stolzer Preis, finden Sie nicht?“

„Ist die Dame es nicht wert, Mylord?“ Sie öffnete den Fächer. „Aber weil Sie Stammkunde sind, gebe ich ihn Ihnen für zwei Schilling.“ Das waren sechs Pence mehr, als sie und ihre Schwägerinnen dafür angesetzt hatten. Schließlich musste sie an ihren Umsatz denken.

„Also gut. Zwei Schilling. Obwohl ich das Gefühl habe, ein schlechtes Geschäft zu machen.“

So sollte sich ein Kunde nicht fühlen. „Einen Fächer wie diesen können Sie nirgendwo sonst kaufen. Das versichere ich Ihnen.“

„Da liegt noch einer.“ Er deutete auf einen dritten Fächer.

Sie hob ihn auf und öffnete ihn. Das Fächerblatt war aus hellblauer Seide und zeigte einen Sonnenuntergang über dem Meer. „Der ist ganz anders.“

Er grinste. „Da haben Sie recht, Mrs. Greystoke. Also gut, ich nehmen diesen für zwei Schilling.“

Er zog seine Geldbörse hervor. „Ich hoffe, Sie werden Ihrer Dame meinen Laden empfehlen“, sagte sie so ruhig wie möglich, auch wenn ihr Herz wild raste. Lag es an ihm oder an der Tatsache, dass sie endlich etwas verkauft hatte? Sie wickelte den Fächer ein. „Wenn sie das nächste Mal einen Hut braucht.“

„Das mache ich gern. Ich werde allen meinen Bekannten von Ihrem Geschäft erzählen.“

Er verbeugte sich, schob das kleine Paket unter seinen Arm und wandte sich zum Gehen.

Als er durch die Ladentür hinaustrat, konnte Carrie nicht umhin, seine stattliche Figur zu bewundern. Er war so männlich. In seiner eleganten Garderobe sah er kräftig und gesund aus. Wahrscheinlich war er ein hervorragender Liebhaber. Bei dem Gedanken errötete sie. Es musste an seinem Verhalten liegen – daran, wie er sie angesehen hatte –, sonst würde sie nie so über einen Fremden denken.

Doch sie war auch nur eine Frau. Und ihre Gedanken gingen niemanden etwas an. Solange dem so war, richtete sie keinen Schaden an.

Wie musste es sich anfühlen, von einem derart gut aussehenden Gentleman umworben zu werden?

Lord Avery war zweifellos ein Meister in der Kunst des Kokettierens. Und sie war noch nie von einem Mann mit kleinen Aufmerksamkeiten umworben worden. Noch nicht einmal von ihrem Gatten.

Ihr entfuhr ein Seufzer. Wie dumm von ihr! Wahrscheinlich würde Lord Avery nie wieder einen Gedanken an sie verschwenden, geschweige denn, irgendwem von ihrem Laden erzählen.

Sie schaute in die Kasse, in der ganze drei Schilling und drei Pence lagen.

Die Damen in Westram Cottage würden sehr enttäuscht sein.

2. KAPITEL

Was denkst du?“ Mimi Luttrell schenkte Avery einen Augenaufschlag, zog einen Schmollmund und sah ihn mit großen hellblauen Augen an.

Er unterdrückte das Bedürfnis zu gähnen. Mimi würde einen großen Bogen um ihn machen, wenn er auch nur andeutete, dass ihre Verbindung sinnlicher Natur wäre. Sie hatte sich einverstanden erklärt, mit ihm auszugehen, weil ihr Gemahl lieber auf die Jagd ging, als sie bei Einkäufen und auf Bälle zu begleiten. Sie sehnte sich nach Anerkennung, mehr nicht. Und vielleicht wollte sie ihrem viel zu oft abwesenden Gatten vor Augen führen, dass sie eine begehrenswerte Frau war.

Es war erstaunlich, wie anders die Rolle des Cicisbeo – eines jungen galanten Mannes, der eine verheiratete Frau bei gesellschaftlichen Anlässen begleitete – in England im Vergleich zum europäischen Kontinent ausgelegt wurde. In Italien würde ein Ehemann es als Kompliment betrachten, wenn seine Gattin die Aufmerksamkeit eines gut aussehenden Gentlemans auf sich zog. Er würde diesem Gentleman sogar Geld zukommen lassen, solange die Verbindung den moralischen Regeln entsprach. Die Herren in England hielten nichts von derartigen finanziellen Übereinkünften und bewachten ihre Gattinnen wie Burgen.

Auf jeden Fall war es so bei Lady Passmore gewesen, der ersten Dame, um deren Gunst sich Avery nach seiner Rückkehr vom Kontinent bemüht hatte. Ihr gleichgültiger Gemahl war auf schnellstem Wege aus Schottland heimgekehrt, um seine Frau für sich zu beanspruchen. Seitdem war er ihr nicht mehr von der Seite gewichen.

Zu Averys Überraschung hatte sich das Ganze dennoch finanziell gelohnt. Zum einen hatte die Dame ihm in einem überschwänglichen Abschiedsbrief ihre Dankbarkeit ausgedrückt und ihm ein Erinnerungsstück geschickt, für das er einen guten Preis erzielt hatte. Zum anderen erhielt er von den Geschäften, in die er die Lady geführt hatte, eine Gewinnbeteiligung. Ein ähnliches Arrangement hatte er auch schon mit einigen Ladeninhabern in Italien ausgehandelt.

In Venedig war er rein zufällig in die Rolle des Cicisbeo geschlüpft, als er sich von einer Dame angezogen gefühlt hatte. Schon bald hatte er jedoch festgestellt, dass ihre freundschaftliche Verbindung auch finanziell für ihn von Nutzen war. Hinzu kam, dass all das mit dem Einverständnis ihres Gatten geschah.

Hier in London bewegte er sich, was den Ehemann betraf, auf viel dünnerem Eis. Lady Passmore war aber so erfreut über die Resultate ihrer rein platonischen Verbindung gewesen, dass sie Mimi geraten hatte, eine ähnliche „Liaison“ mit Avery einzugehen. Vielleicht würde es bei deren unbedarften Gatten ebenfalls wahre Wunder bewirken.

Avery erfüllte diese Rolle nur zu gern, solange Mimi in den Geschäften einkaufte, die er ihr empfahl, und nicht von ihm erwartete, das Bett mit ihr zu teilen. Schließlich wollte er auf keinen Fall seinen Ruf in der Gesellschaft ruinieren.

„Ich fand den Blauen besser.“ Er hatte den Stoff ausgesucht, weil er wusste, dass er ihr hervorragend stehen würde.

Kritisch betrachtete sich Mimi im Spiegel. „Warum?“

Er sah sie schweigend an.

Als sie ihm einen Blick zuwarf, brach sie in Gelächter aus. „Also, bitte, Ave, sag etwas.“ Wieder schenkte sie ihm einen Augenaufschlag.

Leider waren Mimis mädchenhafte Tricks für seinen Geschmack etwas zu anbiedernd. Lieber waren ihm die strengen Blicke, mit denen er in einem gewissen Hutgeschäft bedacht wurde, und das überaus seltene Lächeln, das er der Besitzerin manchmal entlocken konnte.

Madame Grace, die Schneiderin, die einen rosafarbenen Stoff kunstvoll um Mimis Körper drapiert hatte, spitzte missbilligend die Lippen. Sie wusste, dass Mimi eine verheiratete Frau war.

„Weil der Blauton deine Augenfarbe und deinen zarten Teint betont, meine Liebe. Dieses Rosa bringt deine Vorzüge weniger gut zur Geltung.“

Überrascht formte Mimi die Lippen zu einem O. Dann schaute sie wieder in den Spiegel und drehte sich. „Du hast ein gutes Auge, Ave.“ Sie wandte sich an die Schneiderin. „Kann ich den ersten Stoff noch einmal sehen?“

Madame Grace legte den rosa Stoff beiseite und hüllte sie in hellblaue Seide.

Mimi nickte. „Ich weiß, was du meinst. Ich nehme ihn.“ Madame Grace seufzte erleichtert und Avery grinste Mimi breit an. „Wohin willst du als Nächstes gehen, meine Liebe? Wollen wir uns nach neuen Schuhen für dich umsehen?“

Die Damen liebten es, Schuhe zu kaufen, und der Schuhmacher erzielte einen guten Gewinn, den er gern mit Avery teilte.

Mimi strich über den hellblauen Stoff. „Welche Haube soll ich dazu tragen?“

Er hielt inne. Eine Auswahl exquisiter Hauben kam ihm in den Sinn, allerdings hatte er noch keine Übereinkunft mit Mrs. Greystoke getroffen. Vielmehr hatte er versucht, diese Frau aus seinem Gedächtnis zu verbannen, weil er sie viel zu faszinierend fand. Sie würde ihn nur von seinen Plänen ablenken. Doch sosehr er sich auch zur Vernunft rief, er musste immer wieder an ihr Lächeln denken.

Warum hatte er ihr nicht dieselbe Vereinbarung wie den anderen Händlern vorgeschlagen? Sorgte er sich darüber, was sie von ihm denken könnte? Warum sollte ihm das etwas ausmachen?

„Ave?“

Mimis nörglerischer Ton riss ihn aus der Erinnerung an die hochgewachsene Frau mit dem ernsten Gesicht. Er biss die Zähne zusammen, denn er hasste es, wenn Mimi ihn Ave nannte. Es klang anmaßend und erniedrigend. Dennoch hatte er es Mimi zu verdanken, dass er für seine Schwester sorgen konnte, und daher musste er über ihre unangenehmen Marotten hinwegsehen.

„Ja, meine Liebe?“

„Ich habe keine Haube, die zu diesem Stoff passt.“ Sie berührte den rosafarbenen Stoff, der noch auf der Theke lag. „Eine mit rosa Bändern habe ich schon.“

Anscheinend mochte Mimi Rosa. Avery schüttelte sich bei dem Gedanken an jene Haube. Sie war schrecklich und völlig unmodern. „Willst du in einem nagelneuen Kleid mit der Kutsche ausfahren und dabei eine Haube tragen, die du schon fünfmal aufhattest?“

Mimi zuckte zusammen. „Glaubst du, jemand würde es bemerken?“

„Andere Damen schon. Den Gentlemen wäre es wohl gleichgültig.“

Sie schnitt eine Grimasse. „Aber die Damen werden ihren Männern davon erzählen und sie werden darüber spotten, dass George nicht für seine Gemahlin sorgen kann. Ich will nicht, dass sie sich über George lustig machen.“

Auf die seltsame Art und Weise des ton hatte Mimi ihren Ehemann sehr gern.

„Dann also eine neue Haube. Ich kenne das richtige Geschäft für dich.“ Innerlich zögerte er. Sollte er tatsächlich mit ihr zu Mrs. Greystoke gehen, obwohl er dort nicht am Gewinn beteiligt war? Anscheinend hatte die Frau ihm den Verstand vernebelt. Doch die Hitze, die seinen Körper erfasste, wann immer er an sie dachte, bewies deutlich, dass sein Kopf hier nicht das bestimmende Körperteil war. „Danach können wir nach neuen Stiefelletten schauen.“ Auf diese Weise würde er heute wenigstens noch etwas Geld einnehmen.

Mimi hakte sich bei ihm ein. „Perfekt.“

Gefolgt von Mimis Dienstmädchen gingen sie die Bond Street hinunter und betrachteten die Schaufenster, bis sie an einem Hutgeschäft vorbeikamen. Mimi zeigte auf einen extravaganten Hut mit einer riesigen Feder. „Was hältst du davon?“

„Das ist nicht dein Stil.“

„Er sieht toll aus. Vielleicht sollte ich ihn aufprobieren.“

„Wir können wiederkommen, wenn wir nichts Besseres finden.“

Einen Moment dachte er, sie würde sich widersetzen, aber sie zuckte nur mit den Schultern. „Also gut.“

Als sie von der Bond Street abbogen, runzelte sie die Stirn. „Bist du sicher, Avery? Wohin gehen wir?“

„Nicht weit. Dieser Laden hat die besten Hüte zu hervorragenden Preisen. Wer dort einkauft, wird nirgendwo einen ähnlichen Hut sehen.“

Ihr Gesicht erstrahlte. Bei einem Einkaufsbummel ging es immer darum, etwas Einzigartiges zu einem guten Preis zu finden. Er öffnete die Tür von Mrs. Greystokes Geschäft und ließ Mimi den Vortritt.

Wenn er sich nicht täuschte, war seit seinem letzten Besuch vor zwei Tagen kein einziger Hut verkauft worden.

„Guten Morgen“, begrüßte Mrs. Greystoke sie und sah Avery von der Seite an.

„Guten Morgen“, erwiderte Mimi.

Ein seltsamer Ausdruck huschte über Mrs. Greystokes Gesicht, als sie seine Begleiterin betrachtete. Sie setzte jedoch schnell ein freundliches Lächeln auf.

„Das ist Mrs. Luttrell“, stellte Avery vor.

Mrs. Greystoke machte einen Knicks. „Wie kann ich Ihnen helfen, Madam?“

„Ich brauche einen Hut.“

Mrs. Greystokes taubengraue Augen funkelten erfreut. „Dann sind Sie bei mir richtig.“

Avery war froh, dass er Mimi hergebracht hatte. Bei seinem letzten Besuch hatte er den dunklen Schatten der Verzweiflung in Mrs. Greystokes Augen gesehen. Da er schon genug Verpflichtungen hatte, hatte er sich nicht eingestehen wollen, wie sehr ihm dieser Anblick zugesetzt hatte. Dennoch war die Vorstellung, dass sie in einer verzweifelten Lage war, eine Last auf seinen Schultern. Er freute sich, etwas daran ändern zu können, auch wenn er kein Geld dabei verdienen würde.

Mimi zog ein Stück des blauen Stoffs hervor, das Madame Grace für sie vom Ballen abgeschnitten hatte. „Aus diesem Stoff lasse ich mir ein neues Ausgehkleid nähen. Können Sie mir etwas Passendes dazu empfehlen?“

Avery stellte sich an eine Ecke der Ladentheke, um die beiden Damen nicht zu stören. Sein Part würde später kommen, wenn es darum ging, eine Kaufentscheidung zu treffen. In der Zwischenzeit konnte er nicht umhin, die beiden Frauen miteinander zu vergleichen. Mimi war auf den ersten Blick eine reizende Schönheit, gleichzeitig eine erfahrene, verheiratete Frau. Mrs. Greystoke hingegen war nicht unbedingt hübsch, aber interessant. Sie wirkte seltsam unschuldig.

Greystoke. Warum kam ihm dieser Name nur so bekannt vor?

Lord Averys „geschätzte Dame“ war älter, als Carrie erwartet hatte, und anscheinend eine lebenserfahrene, jedoch bildschöne Frau. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie schon erwartet, dass er von dieser Art Frau angezogen wurde. Carrie half Mrs. Luttrell, den Hut abzusetzen, und holte drei Hauben aus den Regalen, die ihrer Einschätzung nach gut zum Gesicht der Dame und zu dem blauen Stoff passen würden.

Ein Dienstmädchen trat ein. Mrs. Luttrell runzelte die Stirn. „Boggs, es tut mir leid, aber du musst draußen warten. Hier ist nicht genug Platz.“

Die junge Frau von höchstens achtzehn Jahre wirkte beunruhigt. „Ja, Madam“, sagte sie mit nordenglischem Akzent und ging zur Tür.

Als Carrie die Mundart ihrer Heimat hörte, erfasste sie ein merkwürdiges Gefühl. Es war ein bisschen wie das Heimweh, das sie nach ihrer Ankunft in London geplagt hatte. Damals war sie im gleichen Alter wie das Dienstmädchen gewesen. Sie war auf eine Schule für junge Damen gegangen, die ihr ein bisschen „Feinschliff“ beibringen sollte, wie ihr Vater es ausgedrückt hatte.

„Sie kann hinten in der Stube warten“, bot Carrie an. „Dies ist nicht die beste Straße für ein junges Mädchen ohne Begleitung.“

„Danke, Madam“, erwiderte das Dienstmädchen erleichtert.

Mrs. Luttrell wandte den Kopf zu Carrie. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Greystoke. Ich kann für Boggs Aufrichtigkeit bürgen.“

„Sehr gern.“ Carrie lächelte das Mädchen an. „Vielleicht könntest du uns Tee zubereiten, während du wartest?“

Das Mädchen strahlte sie an. „Das mache ich gern, Madam.“ Sie warf einen Seitenblick auf Mrs. Luttrell. „Mit Ihrer Erlaubnis, Madam.“

„Eine wunderbare Idee.“ Mrs. Luttrell nahm eine Haube, die Carrie nicht vorgeschlagen hatte, zur Hand. „Wie wäre es mit dieser?“

Carrie versuchte, nicht die Stirn zu runzeln. „Probieren Sie sie gern aus, aber ich glaube, sie könnte Ihr Gesicht verdecken und das wäre schade bei so einem hübschen Gesicht wie Ihrem.“

„Finden Sie?“ Sie drehte sich zu Lord Avery. „Was denkst du, Ave?“

Er lächelte sie nachsichtig an und Carrie fragte sich, wie es sich anfühlen musste, auf so eine warme, gutmütige Art von einem Mann angelächelt zu werden.

„Ich glaube, Mrs. Greystoke weiß, wovon sie spricht, meine Liebe. Vertraue ihrem Urteil.“

Mrs. Luttrell legte die Haube beiseite und nahm eine aus Carries Auswahl. „Diese würde ich gern zuerst ausprobieren.“

Carrie half ihr beim Aufsetzen, band eine formvollendete Schleife und richtete Mrs. Luttrells Aufmerksamkeit auf den Spiegel.

Mit gespitzten Lippen betrachtete sich Mrs. Luttrell von allen Seiten im Spiegel.

Carrie hielt den Atem an. Endlich bot sich die Gelegenheit, von einer Dame der feinen Gesellschaft entdeckt zu werden. Sie wusste zwar, dass Mrs. Luttrell weder außergewöhnlich reich noch Angehörige des Hochadels war, doch sie war elegant gekleidet und andere Damen würden sie bewundern, wenn sie sich für den richtigen Hut entschied.

Nach einigen Minuten drehte sich Mrs. Luttrell zu Lord Avery. „Was denkst du, Ave?“

„Ich finde, du solltest sie alle anprobieren. Ich mag diese sehr, aber vielleicht steht eine andere dir noch besser.“

Wie überaus merkwürdig! Die meisten Männer gingen nicht gerne einkaufen.

Daraufhin probierte die Dame alle drei Hauben aus. Als sie zur Letzten griff, richtete sich Lord Avery auf. „Ich finde sie alle gut“, erklärte er. „Die letzten beiden standen dir gleich gut, Mimi. Ganz gleich, welche du nimmst, du wirst nichts falsch machen.“

Carrie war nicht seiner Meinung. Am besten gefiel ihr die Haube, die Mrs. Luttrell zuletzt aufgesetzt hatte. „Die, die Sie gerade tragen, steht Ihnen besonders gut.“ Sie wollte nicht mit Seiner Lordschaft diskutieren, doch ihr war daran gelegen, dass die Dame die richtige Wahl traf.

Lord Avery nahm seine Tasse und trank einen Schluck Tee. Er hatte jede Menge Zucker hineingegeben, wie Carrie bemerkt hatte.

Mrs. Luttrell drehte sich in verschiedene Richtungen, bevor sie ebenfalls einen Schluck Tee nahm. „Zwischen den beiden kann ich mich nicht entscheiden.“ Sie zeigte auf die Haube, die sie zuerst ausprobiert hatte.

„Nimm beide“, schlug Lord Avery vor.

Carrie starrte ihn an. Sicherlich hatte er nur einen Witz gemacht?

Mrs. Luttrell runzelte die Stirn.

Herrje! Jetzt würde sie keinen von beiden nehmen. „Meiner Meinung nach steht Ihnen diejenige am besten, die Sie aufhaben. Sie eignet sich hervorragend für diese Jahreszeit. Sicherlich werden Sie viel mit der Kutsche ausfahren, wenn das Wetter besser wird.“

„Sie haben recht“, stimmte die Dame zu.

Carrie seufzte erleichtert.

„Aber wenn ich oft ausfahre …“, sie drehte sich zu Lord Avery und klimperte mit den Wimpern, „… werde ich wohl mehr als eine Haube benötigen.“

Lord Avery nickte. „Das sehe ich auch so.“

„Dann nehme ich beide.“

Carrie schloss schnell den Mund. Wenn sie eine gute Verkäuferin sein wollte, durfte sie sich ihre Überraschung nicht anmerken lassen. „Gerne. Trinken Sie in Ruhe Ihren Tee, während ich ihre neuen Hauben einpacke.“

Kurz darauf hatte sie beide in Seidenpapier gewickelt und in Schachteln verpackt. Mrs. Luttrell trank währenddessen Tee und plauderte mit ihrem Begleiter.

Carrie wartete, bis sie ihre Unterhaltung beendet hatten. „Wohin soll ich die Rechnung schicken, Mrs. Luttrell?“

Die Vorstellung, dass die Hauben nicht sofort bezahlt wurden, gefiel ihr gar nicht, doch sie musste sich nach den Gepflogenheiten der feinen Gesellschaft richten. Hoffentlich konnte sich Lord Avery das alles leisten.

„An meinen Gemahl.“ Mrs. Luttrell reichte ihr eine Karte.

Fassungslos starrte Carrie sie ein oder zwei Sekunden an.

Mrs. Luttrell schien ihre Überraschung nicht zu bemerken, Lord Averys Augen indes funkelten durchtrieben. Was für ein Schuft! Er wusste, dass Carrie völlig empört war. Sie stand stocksteif da und ihr Lächeln gefror.

Rasch warf sie noch einen flüchtigen Blick auf die Adresse, dann verstaute sie die Karte in einer Schublade. Sobald dieses merkwürdige Paar gegangen wäre, würde sie die Rechnung schreiben und zum Carlin Place schicken. Sie konnte nur hoffen, dass Mr. Luttrell die Einkäufe seiner Gattin in Begleitung eines anderen Mannes guthieß.

Welche Rolle spielte Lord Avery nur in dem Ganzen? War er ihr Liebhaber? Wie erschütternd und enttäuschend zugleich!

„Oh, sieh mal, Ave, Schatz. Da ist noch einer von diesen hübschen Fächern. Er ähnelt dem, den du für mich gekauft hast.“

„Jeder von ihnen ist einzigartig“, erklärte Carrie in einem angespannteren Ton, als ihr lieb war. War sie tatsächlich so bieder? Es war nicht das erste Mal, dass sie von solchen Dingen hörte. Allerdings hatte sie angenommen, dass sie hinter verschlossenen Türen geschahen, nicht vor den Augen ehrbarer Menschen.

„Wissen Sie, ich habe viele Komplimente für den Fächer erhalten.“ Mrs. Luttrell blickte in die Glasvitrine. „Jetzt kann ich allen sagen, wo ich ihn gekauft habe.“ Eindringlich sah sie Carrie an. „Vorausgesetzt, dass die anderen nicht genauso aussehen wie meiner.“

„Ich garantiere Ihnen, dass keiner wie Ihrer aussieht, Mrs. Luttrell. Falls doch, würde ich Ihnen das Geld erstatten.“

Die Dame nickte zufrieden. „Boggs“, rief sie.

Das Dienstmädchen erschien hinter dem Vorhang. „Ja, Madam.“

„Nimm die Schachteln. Wir gehen.“

„Ist schon gut, Mimi“, sagte Lord Avery. „Sie sind zu groß für Boggs. Ich kann sie tragen.“ Er verbeugte sich vor Carrie. „Danke, Mrs. Greystoke. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“

Mrs. Luttrell winkte ihr zu. „Ja, vielen Dank. Ich werde allen sagen, wo ich meine Hauben gekauft habe.“ Sie runzelte die Stirn. „Auch wenn Ihr Geschäft an einer schickeren Adresse liegen sollte.“

Nachdem sie gegangen waren, fühlte sich der Laden plötzlich sehr leer an. Carrie selbst fühlte sich leer. Sicherlich hatte das nichts mit ihrer Erkenntnis über Lord Avery zu tun. Es musste an der Aufregung über ihren ersten erfolgreichen Verkauf liegen.

Jetzt konnte sie mit guten Nachrichten heimkehren. Was für eine Erleichterung!

„Wie war deine Woche?“, fragte Petra gespannt.

Im Flur des kleinen Landhauses setzte Carrie ihre Haube ab und zog ihre Handschuhe aus. Für ihre Schwägerinnen musste es sehr schwer gewesen sein, zu Hause zu warten und sich zu fragen, ob ihre harte Arbeit Früchte tragen würde. „Gar nicht so schlecht für die erste Woche.“ Zu Carries Verwunderung. „Wir können damit die Miete für nächste Woche bezahlen und haben sogar noch etwas übrig.“

Es war fast vier Uhr nachmittags. Ihr Rücken schmerzte von der langen Heimfahrt, dennoch war sie von Stolz erfüllt.

Marguerites Kopf erschien im Rahmen der Salontür. „Wusste ich doch, dass ich eine Kutsche gehört habe. Petra, um Himmels willen, lass sie erst einmal hereinkommen. Carrie, komm, setz dich und trink einen Tee. Du musst sehr erschöpft sein.“

Das stimmte, aber bei dem Gedanken an ihren Erfolg fühlte sie sich ungemein beschwingt.

Sie hing ihr Spenzerjäckchen auf und ging zu ihren Schwägerinnen in den Salon. Dort ließ sie sich auf den behaglichen Sessel neben dem Kamin sinken. Wie lieb von den beiden, dass sie ihn für sie freigelassen hatten! Es erfüllte Carrie immer wieder mit Freude, in Petra und Marguerite so etwas wie Schwestern gefunden zu haben.

Petra brachte ihr eine Tasse Tee und hielt sich mit Fragen zurück, während Carrie einen Schluck trank.

„Und?“, platzte es aus ihr heraus.

„Wir haben zwei Hüte, einen Fächer, ein Taschentuch und Hutschmuck verkauft.“

Petra runzelte die Stirn. „Nur zwei Hüte.“

„Zwei sind besser als nichts“, stellte Marguerite in nüchternem Ton fest. Offenbar war sie ebenfalls enttäuscht. Carries Hochgefühl ließ ein bisschen nach.

Petra deutete auf eine Hutschachtel. „Was ist da drin?“

„Eine Haube. Ich habe die Verzierung auf Wunsch eines Gentlemans entfernt. Er wollte nur das Blumengesteck.“

„Nur die Blumen? Wie seltsam.“ Petra musterte sie aufmerksam.

Carrie spürte, wie ihre Wangen anfingen zu glühen. Warum errötete sie, wenn sie von Lord Avery sprach? „Das fand ich auch. Er war betrunken.“ Angesichts der entsetzten Mienen der beiden anderen hob sie beschwichtigend eine Hand. „Er war durchaus höflich und hat nur ein bisschen undeutlich gesprochen.“ Und getaumelt. „Er meinte, er wolle einer verehrten Dame Blumen schenken. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nichts verkauft. Mir war es lieber, den Hutschmuck zu verkaufen als gar nichts.“

„Das war klug von dir. Die Blumen können wir leicht ersetzen“, sagte Marguerite, während sie die Haube aus der Schachtel nahm.

„Leider liegt unser Laden etwas weiter von der Bond Street entfernt, als ich gedacht hatte. Es kommt nur wenig Laufkundschaft vorbei. Deshalb wird es länger dauern, bis wir einen Kundenstamm aufgebaut haben.“

„Und du glaubst, dass uns das gelingt?“, fragte Petra.

„Das hoffe ich.“

Die drei verfielen in Schweigen. Jede dachte darüber nach, was ihnen drohte, wenn ihr Vorhaben misslang.

„Wir brauchen etwas, das vollkommen anders ist“, meinte Carrie und erinnerte sich daran, wie wichtig es Mrs. Luttrell gewesen war, dass niemand den gleichen Fächer kaufen könnte wie den, den Lord Avery ihr geschenkt hatte.

„Was meinst du?“, erkundigte sich Marguerite.

„Es gibt viele Geschäfte, in denen Hauben und Hüte verkauft werden, auch wenn unsere einzigartig und besonders schön dekoriert sind“, beeilte sich Carrie hinzuzufügen. „Aber wir brauchen eine Ware, die die Damen nirgendwo sonst kaufen können.“

„Was schwebt dir vor?“ Marguerite sah vollkommen ratlos aus, Petra schien interessiert.

„Vielleicht etwas Gewagtes“, schlug Carrie vor, deren Gesicht sofort wieder glühte.

„Etwas Gewagtes?“ Marguerite spitzte missbilligend die Lippen. „Wir wollen doch nicht die falsche Art von Kundschaft anziehen.“

Das haben wir schon. Carrie biss sich auf die Zunge.

„Sei nicht so bieder, Marguerite“, widersprach Petra. „Uns ist es egal, wer unsere Waren kauft, oder? Wenn das Geschäft nicht läuft, müssen wir bei unserem Bruder in London wohnen. Und der will uns nur schnell verheiraten.“

Das wollte keine von ihnen. Also musste ihr Geschäft ein Erfolg werden. Carrie schluckte. „Ich dachte an etwas, das eine Dame zu Hause trägt, wenn sie mit ihrem Gatten allein ist. Etwas Weibliches und Verführerisches.“ Etwas, das ein Gentleman wie Lord Avery für seine geschätzte Dame kaufen würde. „Etwas, das eine Dame kaufen würde, um die Leidenschaft in ihrer Ehe neu zu entfachen.“

Die beiden machten große Augen.

„Das klingt … unschicklich“, wandte Marguerite besorgt ein. „Ich weiß nicht, ob Westram damit einverstanden wäre.“

„Er muss es nicht erfahren, wenn alle den Mund halten“, erwiderte Petra spitz.

Bei dieser Andeutung streckte Marguerite den Rücken durch und setzte sich kerzengerade in ihrem Stuhl auf. „Dann lasst uns zusammen etwas überlegen“, sagte Carrie schnell. „Wir werden nichts verkaufen, von dem wir nicht alle überzeugt sind.“

„Weißt du“, wandte sich Petra an Marguerite, „Carrie versteht viel mehr von der Leitung eines Geschäfts. Wir sollten auf ihren Rat vertrauen.“

„Du hast recht“, antwortete Marguerite. „Carrie, du musst tun, was deiner Meinung nach am besten ist. Wir werden dir helfen, so gut wir können.“

Angesichts ihres Vertrauensbekenntnisses schwoll Carries Herz vor Stolz an. „Wir führen das Geschäft gemeinsam, meine Lieben. Zusammen können wir es schaffen.“

3. KAPITEL

Avery öffnete für Lady Fontly die Tür des Hutgeschäfts. Seit seinem letzten Besuch waren zwei Wochen vergangen. Er hatte sich gezwungen fortzubleiben, und gleichzeitig Mimi ermutigt, das Geschäft weiterzuempfehlen.

Als er eintrat, wunderte er sich über die Veränderungen. Überall, wo nicht gerade Hüte oder Spitzenhauben ausgestellt waren, standen mit Rosen gefüllte Vasen. In dem kleinen Laden hielten sich bereits zwei Frauen auf, eine Dame und ihr Dienstmädchen, die von Mrs. Greystoke bedient wurden. Aus dem Hinterzimmer hinter dem Vorhang drang Gekicher zu ihnen vor. Wahrscheinlich tranken dort Dienstmädchen Tee.

Avery wandte sich an seine Begleiterin. „Entschuldige, Elizabeth, ich hätte nicht gedacht, dass es so voll ist.“

Lady Fontly strahlte ihn mit ihren grünen Augen an. Ein paar Strähnen ihres kastanienbraunen Haars hatten sich gelöst und umrahmten anmutig ihr Gesicht. „Was für eine gute Idee, Avery! Ich habe schon Gerüchte über dieses Geschäft gehört, konnte aber seine genaue Adresse nicht herausfinden.“

Er setzte eine nichtssagende Miene auf. Gerüchte? Über Mrs. Greystoke? „Dann ist es mir eine Freude, dich hierherzubringen.“

Beim Klang seiner Stimme drehte sich die Kundin an der Ladentheke zu ihm um.

„Lord Avery?“ Mrs. Baxter-Smythes zog die Augenbrauen hoch und Avery stöhnte innerlich. „Und Lady Fontly“, fügte sie schief lächelnd hinzu. „Was für eine … Überraschung, Sie beide hier zu sehen.“ Sie sah ihn verschmitzt an. Ihre Anspielung war unmissverständlich.

Mrs. Baxter-Smythe hatte mehr als einmal versucht, mit ihm zu kokettieren, doch sie war Witwe, weshalb Avery kein Interesse an ihr hatte. Witwen hatten in der Regel Brüder, Väter oder entfernte Vettern, die gern die Rolle des Sittenhüters übernahmen. Auch wenn die Witwe noch so lebensfroh war, würden sich ihre männlichen Verwandten wohl kaum die Gelegenheit entgehen lassen, sie mit dem Sohn eines Dukes zu verheiraten.

Avery verbeugte sich. „Die Freude ist ganz meinerseits, Mrs. Baxter-Smythe.“

Die Witwe musterte seine Begleiterin. „Wie ich höre, ist Lord Fontly gerade verreist?“

Lady Elizabeth Fontly errötete. „Er ist bei dem Rennen in Newmarket.“ Sie klang etwas zu abwehrend.

„Bestimmt vermissen Sie ihn. Schließlich haben Sie erst vor Kurzem geheiratet.“

„Eines der Pferde von Lord Fontly nimmt an dem Rennen teil“, erklärte Avery in fröhlichem Ton. „So etwas lässt sich auch kein frisch Vermählter entgehen.“

Lady Fontly nahm wieder Haltung an. „Und da er selbst nicht gern einkaufen geht, hat er mir Lord Avery als Begleiter empfohlen.“

Avery drückte sanft ihren Arm. Elizabeth hatte sich über die kurzfristige Abreise ihres Mannes so kurz nach der Hochzeit geärgert, weshalb Avery ihr vorgeschlagen hatte, sich einen neuen Hut zu kaufen, um ihre Stimmung aufzuhellen.

Er bemerkte, dass ein Paar taubengrauer Augen den Wortwechsel zwischen ihm und den Damen verfolgte. Es war ein mahnender Blick. So hatte ihn sein Hauslehrer immer angesehen, wenn er fand, dass Avery seinen Fähigkeiten nicht gerecht wurde. In Mrs. Greystokes Augen spiegelten sich jedoch auch Neugier und langsames Begreifen.

Was hatte sie festgestellt? Dass er Damen begleitete, deren Ehemänner verreist waren? Glaubte sie, dass es mehr zu bedeuten hatte? Sollte sie doch denken, was sie wollte. Das taten alle anderen auch. Natürlich sprachen seine Damen nie mit anderen über ihn. Schließlich waren sie verheiratet.

„Offenbar hat nun alle Welt dieses Geschäft entdeckt“, seufzte Mrs. Baxter-Smythe. „Hat Mrs. Greystoke nicht die schönsten Hüte, die Sie je gesehen haben?“

„Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich umzusehen.“ Elizabeth ließ den Blick über die Regale schweifen. „Aber ich muss sagen, dass sie auf den ersten Blick wunderschön aussehen.“