4,99 €
Im Angesicht der Angst: Eine Wanderung durch Neuseeland wird zum Kampf ums Überleben Eine Wanderung durch Neuseeland, um zu sich selbst zu finden. Doch der Vergangenheit kann niemand entkommen. Nur wer seine Ängste überwindet, wird überleben. Das muss auch Uwe Maier am eigenen Leibe erfahren. Was als Selbsterfahrungstrip beginnt, endet für ihn in einem Albtraum. Sind Sie bereit für eine nervenzerreißende Reise durch die neuseeländische Wildnis, hinein in die Abgründe der menschlichen Psyche?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Höhenangst
Wolfgang Breitkopf, geboren am 8. Juli 1966 in Plochingen, arbeitet und lebt in Stuttgart. Im Jahr 2004 begann er mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und Märchen und liebt es, auf diese Weise seiner Kreativität Raum zu geben. Seine Freizeit verbringt er mit Schreiben und Reisen, wobei besonders die nördlichen Gefilde Europas es ihm angetan haben.
Im Angesicht der Angst: Eine Wanderung durch Neuseeland wird zum Kampf ums Überleben
Eine Wanderung durch Neuseeland, um zu sich selbst zu finden.Doch der Vergangenheit kann niemand entkommen. Nur wer seine Ängste überwindet, wird überleben. Das muss auch Uwe Maier am eigenen Leibe erfahren.Was als Selbsterfahrungstrip beginnt, endet für ihn in einem Albtraum.
Wolfgang Breitkopf
Neuseeland-Thriller
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
Originalausgabe bei Ullstein eBooksUllstein eBooks ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin April 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © ShutterstockAutorenfoto: © Wolfgang BreitkopfE-Book powered by pepyrusISBN978-3-8437-3205-5
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Das Buch
Titelseite
Impressum
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41.
42.
43.
44.
45.
46.
47.
48.
49.
50.
51.
52.
53.
54.
Danksagung
Leseprobe: Das Moorkind
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
1.
Angst entsteht in unserer Vorstellung. Intim und unvermittelt überflutet sie das Denken. Sie ist in diesem Augenblick weder mit anderen Menschen teilbar, noch vermag sie ein Außenstehender zu lindern. Angst macht einsam! Keine vorangegangene professionelle Hilfe ersetzt den Akt des eigenen Entgegenstellens.
Hier in Neuseeland beabsichtigte Uwe Maier, seinen persönlichen Kampf gegen das »Ich« auszufechten. Grund genug, ungeachtet des einsetzenden Nieselregens in einem billigen Plastikstuhl auszuharren und dieser Widrigkeit starrsinnig zu trotzen. Uwe trottete zur Theke und besorgte sich ein frisches Bier. Der richtige Einstieg in einen neuen Tag und ein neues Leben. Morgens um zehn. Im Nirgendwo auf der Südinsel Neuseelands. Er starrte trübsinnig auf das Getränk vor sich und schützte es mit einem Pappdeckel gegen unzumutbare Verwässerung.
Ein australisches Ehepaar hatte Uwe am Tag zuvor angeboten, ihn mit dem Auto nach Bainville mitzunehmen. Eine Offerte, die er gerne annahm. Überfüllte Busse waren nicht sein Ding. Es endete damit, dass er Stunden zu früh am Treffpunkt ankam. Die Zeit, bis sein Freund und Gastgeber ihn abholte, überbrückte er jedoch bereitwillig mit Müßiggang.
Das verschaffte ihm die Gelegenheit, über die kommenden Wochen seines Aufenthalts zu sinnieren. Noch gab es die Möglichkeit, einfach einen schönen Urlaub zu verbringen. Fern des heimischen Schwabenlandes. Uwe wischte den Gedanken beiseite. Nein, er würde es durchziehen. Die Alternative war weitaus schlimmer: nach der Rückkehr wieder zurückzufallen in den alten Trott aus Arbeit und der zwanghaften Umschiffung angstauslösender Reize. Solche Auslöser boten sich ihm in ausreichender Anzahl. Dunkelheit, Spinnen, Höhe, Wespen, Alleinsein und einiges mehr in unterschiedlich starker Ausprägung.
»Du bist ein Weichei. Stellst dich an wie ein Mädchen. Sei ein Mann!«, hatte ihn sein Vater früher am laufenden Band ermahnt.
Ehemaliger Berufssoldat, bevor er sich zur Kunst und zum Theater berufen fühlte. Was wollte man da schon erwarten? Er meinte es liebevoll, konnte nur nicht aus seiner Haut. Uwe genauso wenig. Deswegen: Neustart! Aus der Komfortzone ausbrechen. Ohne doppeltes Fangnetz. Sollte er unsanft am Boden zerschellen, würde er höchstens seine ohnehin angeknackste Würde verlieren. Darüber hinaus eine Menge Geld, das er im Anschluss wohl oder übel einem Therapeuten in den Rachen werfen müsste.
Während er einen kräftigen Schluck Bier nahm, schweiften seine Augen zur Straße unterhalb der Kaffeehausterrasse. Dem Umstand geschuldet, dass sich die Tourismussaison dem Ende zuneigte, setzten sich die Passanten überwiegend aus Einheimischen zusammen. Die einzige Ausnahme bildete eine Gruppe älterer Männer mit Wanderkleidung an der Bushaltestelle. Zur Abreise in heimische Gefilde bereit. Das Emblem des FC Liverpools wies sie eindeutig als Briten aus.
Angesichts der sich zunehmend verschlechternden Wetterbedingungen versiegte der Wandertourismus. Lediglich sehr hartgesottene brachen jetzt noch zu längeren Touren auf. Zähe Burschen, wie er selbst einer war. Bei diesem Gedanken lachte Uwe lauthals los, was ihm verwunderte Kommentare der anderen Gäste einbrachte. Zäher Naturbursche. Eine Beschreibung, die er als eingefleischter Städter selbst mit allem Wohlwollen keinesfalls für sich beanspruchen konnte.
Ein schlaksiger, groß gewachsener Mann erregte Uwes Aufmerksamkeit. Bekleidet mit einer abgetragenen blauen Regenjacke und mit überdimensionierten Kopfhörern auf den Ohren tanzte er über den nassen Asphalt. Die Bewegungen folgten keinem erkennbaren Muster. Sie machten einen willkürlichen und arrhythmischen Eindruck. Einige Sekunden lang stand der Mann still. Dann verfolgte er plötzlich einen umherhüpfenden Vogel. Sein Habitus wirkte aggressiv. Er brabbelte unablässig vor sich hin. Gelegentlich bedachte er niemand Bestimmten mit lauten Schimpftiraden. Aus der Distanz blieben die Worte unverständlich, der Gesichtsausdruck sprach indes Bände. Um ihn herum leerte sich die Straße. Die Umstehenden mieden ihn. Sie warfen dem Mann misstrauische, unsichere Blicke zu. Ein greiser Herr entfernte sich eilends, zumindest so weit, wie es der Gehstock und der gebeugte Gang zuließen. Die Bierdose, die unvermittelt hinter ihm herflog, verfehlte ihn um Haaresbreite. Keiner griff ein.
Die Szene erweckte Unbehagen in Uwe. Froh, abseits jeglicher Konfrontationsgefahr zu sitzen, beobachtete er und fühlte sich dabei wie ein feiger Voyeur. Er wandte beschämt den Kopf ab. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das rechtfertigte weder sein Verhalten, noch machte es dieses besser. Zögerlich suchte Uwe in der Jackentasche nach dem Handy. Er spielte mit dem Gedanken, die Polizei zu rufen.
Unwillkürlich wanderte sein Blick erneut zur Straße. Der seltsame Typ stand weiterhin am selben Fleck. Uwe konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Mann ihn unverhohlen anglotzte. Der Gesichtsausdruck blieb unergründlich.
Uwes Puls beschleunigte sich. Starrte die verwirrte Seele einfach in die Leere? Lag die Terrasse zufällig in seinem Blickfeld? Uwe überlegte, ob er sich das nur einbildete. War es die in ihm permanent vorhandene Unsicherheit, die sich auf diese Weise einen Weg zur Oberfläche seines Bewusstseins bahnte? Welchen Grund sollte es dafür geben, dass der schräge Vogel ausgerechnet ihn fixierte? Das Mobiltelefon protestierte ächzend unter Uwes verkrampften Fingern. Verzweifelt bemüht, den Kloß im Hals zu ignorieren, beobachtete er, wie ihm sein Gegenüber feixend zuwinkte. Definitiv kein Zufall. Uwe sprang auf.
Der Störenfried hatte zwischenzeitlich abgedreht. Er schlenderte in Richtung der Bushaltestelle. Dort platzierte er sich hinter einer jungen Frau in einer mit Sonnenblumenmuster bedruckten Fließjacke, die direkt am Fahrbahnrand stand. Er schnitt ihr Grimassen, als ob er sie verhöhnen wollte.
Ein Déjà-vu überkam Uwe. Beim Blick nach unten überfiel ihn ein leichter Schwindel. Er legte eine Hand auf das kalte Geländer vor ihm. Es vermittelte Stabilität und ließ die unangenehme Empfindung vorübergehen. Die Art, wie der Mann sich bewegte, kam ihm schlagartig vertraut vor, auch wenn er nicht ganz erfassen konnte, woher er sie kannte. Sofort setzte bei Uwe die Schnappatmung ein. Es kostete ihn einiges an Konzentration, sich wieder zu beruhigen. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Langsam und kontrolliert, so wie er es gelernt hatte. Allmählich zeigte die Übung Wirkung. Er erkämpfte sich Schritt für Schritt die Kontenance zurück.
Ein lautes Hupen kündigte das zügig einfahrende Fahrzeug von Nakedbus an. Die zahlreichen Menschen, die entlang der Straße verteilt waren, machten sich zum Einsteigen bereit. Niemand sah es kommen. Das Unfassbare geschah. Jäh flog die junge Frau vom Gehsteig aus mitten auf die Fahrbahn. Sie landete bäuchlings vor dem eintreffenden Bus. Der Fahrer bemerkte die unmittelbar bevorstehende Katastrophe. Er bremste scharf. Reifen quietschten. Doch er konnte den Zusammenprall nicht verhindern. Einer der Vorderreifen rollte über den auf dem Asphalt liegenden Körper. Mit zermalmtem Brustkorb wie eine Puppe hochgeschleudert, knallte das Knäuel aus Gliedern und Kleidung an das Unterbodenblech. Sekundenbruchteile später erfasste das Hinterrad den Rumpf. In einer Lache aus Blut blieb etwas zurück, das kaum mehr als menschliches Wesen zu erkennen war.
Von seinem erhöhten Standpunkt aus verfolgte Uwe schockiert die Geschehnisse. Er trat an das Terrassengeländer und sah Helfer zur Unfallstelle eilen. Unter dem Fahrzeug ragte ein Arm heraus. Er zeigte anklagend in den wolkenverhangenen Himmel. Der Ärmel trug ein deutlich erkennbares gelbes Blumenmuster. Ein unübersichtliches Gewimmel von erregten, vor Schreck erstarrten oder weinenden Männern und Frauen war in kurzer Zeit entstanden. Das kümmerte den zutiefst geschockten Beobachter lediglich am Rande. Uwes Interesse galt der Gestalt in der blauen Regenjacke, die eben noch hinter der Frau gestanden hatte und nun gemächlich, als ob nichts vorgefallen wäre, davonspazierte.
Beständig in Uwes Richtung stierend, schien sie zu sagen: »Dir! Speziell dir habe ich dieses Schauspiel gewidmet.«
Vielleicht bildete er sich das auch ein. Dennoch, der Verdacht, dass kein schicksalhaftes Unglück geschehen war, überkam Uwe. Erschüttert verfolgte er mit den Augen den Weg des Verdächtigen, bis dieser um eine Straßenecke bog. Den Gedanken, die Polizei zu informieren, verwarf er. Im Grunde genommen konnte er nicht mit absoluter Sicherheit bezeugen, dass der Mann die arme Frau tatsächlich auf die Fahrbahn gestoßen hatte.
»Dir scheint unsere Verabredung relativ egal zu sein.«
Uwe fuhr auf dem Absatz herum.
Robert Schulz stand vor ihm und lächelte verschmitzt.
»Unsinn, Robert. Schön, dich nach so langer Zeit wiederzutreffen.« Uwe umarmte seinen Freund herzlich. Er nickte mit dem Kopf zur Bushaltestelle hin. »Sorry, ich habe dich in der Aufregung übersehen.«
»Was ist denn da los? Polizei? Krankenwagen?«
»Ein schrecklicher Unfall. Eine Frau ist zu Tode gekommen.«
Mit kritischer Miene kommentierte Robert: »Du betonst das Wort ›Unfall‹ so eigenartig. Du siehst bedrückt aus. Raus mit der Sprache.«
»Nachher. Ich muss es erst sacken lassen. Bin völlig durch den Wind. Lass uns erst einmal auf das Wiedersehen anstoßen. Ich kann’s vertragen.«
»Machen wir.« Mit Blick auf das Bierglas fügte Robert hinzu: »Wobei ich offensichtlich zu spät dran bin. Trink aus. Der Regen nimmt zu. Wir fahren besser zu mir nach Hause. Da ist es gemütlicher, und es brennt ein warmes Kaminfeuer. Du bist bestimmt groggy von der Reise und kannst dort die Beine hochlegen. Außerdem haben wir uns viel zu erzählen.«
Uwe leerte das mittlerweile schale Bier in einem Zug und ergriff seinen Rucksack und die Reisetasche. »Wir können los«, verkündete er und folgte seinem Freund zum Parkplatz. Ein alter Land Rover parkte vorschriftswidrig in der Einfahrt.
Robert steuerte zielsicher auf die Rostlaube zu. Er öffnete die Seiten- und Hecktüren. »Schmeiß dein Gepäck hinten rein. Die Strecke ist ein Katzensprung. In zehn Minuten sind wir bei meinem bescheidenen Heim.«
Uwe kam dem gerne nach und ließ sich anschließend auf dem Beifahrersitz nieder. Der Zündschlüssel des Wagens steckte im Schloss.
Auf den fragenden Blick Uwes antwortete Robert nur: »Ist hier völlig unproblematisch.«
Kennengelernt hatte Uwe Robert während einer Woche der Kontemplation in einem Kloster in Rheinland-Pfalz. Für ihn lediglich ein ruhiger Platz zum Arbeiten, um Artikel fertigzustellen, mit denen er als Journalist seine Brötchen verdiente. Für seine neue Bekanntschaft hingegen war es die Flucht vor dem drohenden Burn-out.
Von Beruf Statistiker und Unternehmensberater, hielt Robert den zunehmenden Erfolgsdruck, der mit einer Siebzig-Stunden-Woche einherging, nicht mehr aus. Er zog die Reißleine, gönnte sich eine Auszeit. Trotz unterschiedlicher Motivationen für den Aufenthalt verstanden sie sich sofort hervorragend. Aus dem zufälligen Zusammentreffen entwickelte sich eine inzwischen seit zehn Jahren bestehende Freundschaft, die auch Roberts Auswanderung auf die Südinsel Neuseelands überdauert hatte. Jetzt betrieb der Aussteiger einen kleinen Laden für Andenken und Sportequipment. Dass er diese Entscheidung für ein bescheideneres, stressfreieres Leben auf dem Land nie bereut hatte, bekräftigte Robert regelmäßig.
Zwei Jahre vergingen, bis Uwe die Koffer packte, um ihn in der Ferne zu besuchen. Nicht allein des Wiedersehens willens, sondern vor allem, um neu durchzustarten. Seine Pläne für den Aufenthalt legte er Robert im Vorfeld dar. Der vermochte aus eigener Erfahrung die Motivation nachzuvollziehen, obwohl er einige Bedenken hegte.
Die Autofahrt führte am Lauf eines Flusses entlang. Auf beiden Seiten sah Uwe an den sanft ansteigenden Hängen dichten, saftig grünen Wald. Natur pur. Er begann zu verstehen, warum Robert jeden Tag genoss, seit er Deutschland den Rücken gekehrt hatte. Links und rechts standen vereinzelte Häuser. Nach einigen Minuten bogen sie von der Hauptstraße ab.
Robert zeigte nach vorne. »Das ist der eigentliche Hauptort. Er bietet alles, was ein bescheidenes Herz begehrt. Allerdings klappen sie langsam die Gehwege hoch. Innerhalb der kommenden Wochen wird alles in tiefen Winterschlaf verfallen.«
»Wie verdienst du deine Brötchen, sobald die Touristen und Wanderer wegbleiben? Stellt sich da keine Langeweile ein?«
»Der Outdoorladen wirft den Sommer über genügend ab. Ich genieße die Ruhe und widme mich meinen Hobbys, die in den vergangenen Jahren brachlagen. Ich habe wieder zu malen und zu zeichnen angefangen. Viel brauche ich nicht zum Leben. Da ist schon mein Haus.« Er deutete auf ein kleines Gebäude mit Holzfassade. Das Erdgeschoss zierten große Schaufenster. Ein Schild verriet, dass der Laden heute geschlossen blieb. »Mein Reich ist in den oberen Stockwerken. Ich habe weder Kosten noch Mühen gescheut, die Gästerumpelkammer, die ich sonst als Lagerraum nutze, für dich freizuräumen.«
Frisch geduscht machte sich Uwe auf den Weg in Roberts Wohnzimmer. Ein Tablett mit hochprozentigen Getränken erwartete ihn. Er ließ sich in einen der schweren Ledersessel fallen. Die nächsten Stunden schwelgten sie in Erinnerungen und tauschten sich darüber aus, wie ihr Leben in den letzten Monaten verlaufen war. Uwes Gedanken kehrten, ungeachtet des gemeinsamen Lachens über alte Zeiten, unaufhörlich zum Geschehen des Vormittags zurück.
»Du wirkst tatsächlich ein bisschen durch den Wind«, merkte Robert an. »Hängt dir der Unfall an der Bushaltestelle von heute Morgen nach?«, äußerte er direkt seine Vermutung.
»Mmhh, habe es mit angesehen. Unschöne Sache. Den Anblick kriegt man nicht so einfach aus dem Kopf. Die arme Frau. Geht aber wieder, bin bloß müde.« Uwe fiel ein, dass er Robert bisher weder über das, was er glaubte, vor und nach dem Unglück wahrgenommen zu haben, noch über seinen Verdacht ins Bild gesetzt hatte. In wenigen Worten fasste er die Beobachtungen zusammen, wohl wissend um die subjektive Färbung der Darstellung.
Robert überlegte einen Moment, bevor er Uwes Schilderung kommentierte. »Dieser komische Typ ist mir ebenfalls aufgefallen. So ein schlaksiger, großer mit blauer Regenjacke und Jeans? Der hängt seit ein paar Tagen im Ort herum.«
»Wir reden definitiv von demselben.«
»Weshalb hast du keinen der Polizisten angesprochen und eine Aussage gemacht?«
»Genau genommen sind es reine Vermutungen. Ich habe nicht gesehen, dass er die Frau auf die Straße gestoßen hat. Der Eindruck, dass er mich danach gezielt wirr angeglotzt und mir zugewunken hat, reicht gewiss für keine Verhaftung aus. Trotzdem bleibt bei mir ein ungutes Gefühl zurück, wenn ich an diesen Mann denke. Dass er mir bekannt vorkommt, macht es kaum besser. Du bist doch hier bestens vernetzt. Du kannst dich ja mal umhören.«
»Gerne. Darf ich anmerken, dass du dich ansonsten gut gehalten hast?«
Uwe erhob sich und trat vor den Spiegel an der Garderobe. Er musterte sein Ebenbild. Groß gewachsen, volles blondes Haar. Kantige Gesichtszüge, die er dem aktuellen Trend folgend hinter einem gepflegten Vollbart versteckte. Natürlich hatte er nicht mehr die Figur eines Zwanzigjährigen, aber bis auf einen leichten Bauchansatz gab er durchaus noch eine stattliche Erscheinung ab. »Bin jedenfalls hübscher als du«, stellte er augenzwinkernd fest. »Leider ist nicht alles Gold, was glänzt. In meinem Inneren sieht es weniger gefällig aus. Dort findet man die Narben, die die letzten Jahre hinterlassen haben.«
»Die tragen wir alle mit uns herum«, kommentierte Robert. Mit Blick auf den sichtbar reduzierten Füllstand der Whiskyflasche auf dem Tisch fügte er hinzu: »Vielleicht sollten wir uns eine Runde aufs Ohr legen. Heute Abend gehen wir dann nach nebenan zu Molly. Die macht die besten Braised Lamb Shanks weit und breit.«
Dieser Vorschlag gefiel Uwe. Er spürte aufgrund der langen Anreise und des Alkohols tatsächlich eine bleierne Müdigkeit in den Gliedern. Unbestreitbar würden ihm ein paar Stunden Schlaf guttun.
»Du hältst an deinem Plan fest, die Tour unbegleitet zu unternehmen?«, vergewisserte sich Robert zum wiederholten Male.
»Selbstverständlich. Ich weiß, dass man normalerweise mindestens zu zweit losgeht, aber das Alleinsein ist in diesem Fall der Zweck der Übung«, bekräftige Uwe. Er schob sich eine Portion Lamm in den Mund. Robert hatte wahrlich nicht zu viel versprochen. Das zarte Fleisch der Lammhaxe zerging auf der Zunge. Rotwein, Essig und Zucker vereinten sich in der Soße zu einer Geschmacksexplosion. Er schmeckte einen Hauch von Knoblauch und eine leicht bittere Thymiannote. Die in der Komposition enthaltenen Himbeeren verliehen dem Gericht einen faszinierenden fruchtigen Schliff. Molly, die Wirtin kredenzte ihnen zum Mahl einen reifen Cabernet Sauvignon aus Marlborough, der wie Samt den Gaumen hinunterfloss.
»Mir gefällt das nicht. Es ist ein unnötiges Risiko. In einem Notfall kann es Tage dauern bis dich jemand sucht und findet«, gab Robert zu bedenken.
»Die meisten Unfälle passieren im häuslichen Bereich. Wenn ich beim Bilderaufhängen von der Leiter falle, dauert es Wochen, bis es bemerkt wird. In der Zeitung habe ich sogar von einem Mann gelesen, der mehrere Tage tot vor seinem Schreibtisch im Büro saß, bevor die Kollegen darauf aufmerksam wurden. Im Wald bin ich im Gegensatz dazu so sicher wie in Abrahams Schoß.«
Uwes Blick schweifte durch den Pub. Der miserablen Witterung geschuldet, welche keinesfalls zu Outdooraktivitäten einlud, befand sich zu dieser frühen Abendstunde bereits eine ansehnliche Menge von Besuchern im Gastraum. Dämmriges Licht fiel durch die getönten Scheiben, an die der Regen trommelte. Die Einrichtung bestand aus schlichten Holzmöbeln, die, in offenen, durch solide Balken abgegrenzten Nischen platziert, einen Anschein von Privatsphäre erweckten.
»Na gut. Gehen wir es erneut durch. Zumindest die elementarsten Punkte«, seufzte Robert, der den Freund lange genug kannte, um die Umstimmungsversuche endgültig einzustellen. »Ich habe dir eine detaillierte Umgebungskarte besorgt.«
»Nett gemeint, jedoch verfüge ich über einen Kompass, eine Wander-App, GPS und mehrere Powerbanks.«
»Und wenn dein Handy von einem Werwolf gefressen wird?«
»Blödmann! Du stehst wohl immer noch auf drittklassige Horrorschinken.«
Robert ignorierte die Bemerkung und sprach weiter. »Es werden abgesehen von dir bei diesem Mistwetter kaum Wanderer unterwegs sein. Wer startet schon im Juni, wo der Winter quasi vor der Tür steht, einen Wanderurlaub? Du bist auf dich gestellt. Größtenteils gibt es kein Mobilnetz. Du musst mit überschwemmten Abschnitten und schlechter Wegbeschaffenheit rechnen. Sei entsprechend vorsichtig. Kehr im Zweifel um. Du solltest jeweils die nächste Schutzhütte erreichen, bevor der Tag zu Ende geht. In der Dunkelheit weiterzulaufen, ist zu gefährlich. Im Zweifelsfall schlägst du dein Zelt auf. Am besten abseits des Pfades.«
Uwe zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Die Trails benutzen gerne Wildschweine. Die meiden das Unterholz, sofern eine bequemere Möglichkeit existiert. Wir wollen ja nicht, dass du über den Haufen gerannt wirst. Ansonsten ist alles friedlich und harmlos. Außer den Werwölfen, die auf teutonisches Frischfleisch warten.«
Uwe schnaubte. »Ich trage wahrlich ein Bündel von Phobien mit mir herum. Werwölfe gehören zu einer anderen Kategorie. Die finde ich total kuschelig.«
Robert ignorierte die Anmerkung und fuhr ungerührt fort. »Drei Tage hin und von der dritten Hütte am Okana Rock aus zwei quer durch den Wald zurück. Fünf Tage Isolation. Pass auf, dass du auf dem Hinweg keinesfalls versehentlich die Abzweigung zum Aussichtspunkt nimmst. Der Aufstieg ist etwas für trittsichere Wanderer. Der neu eröffnete Kiwi-Trail ist anständig ausgeschildert, sodass du nur die Augen aufmachen musst.«
»Kiwi-Trail? Dachte, die sind so gut wie ausgestorben?«
»Mir persönlich ist bisher noch nie ein Kiwi über den Weg gelaufen. Die stellen also dein geringstes Problem dar.«
»Mach dir keine Gedanken. Ich bin ausgezeichnet vorbereitet. Mit etwas Glück zieht die Regenfront bis übermorgen weiter. Ich gehe dir nicht verloren.« Bemüht, einen selbstsicheren Eindruck zu hinterlassen, grinste Uwe sein Gegenüber an und erntete dafür ein Augenrollen.
Abgesehen von der willkommenen Gelegenheit, seinen Freund zu besuchen, trieb Uwe der Traum an, ohne Begleitung eine Trekkingtour zu unternehmen. Die Südinsel Neuseelands bot die ideale Location für diesen Trip. Es existierten keine giftigen Schlangen, Spinnen, menschenfressenden Raubtiere oder anderes Getier, das einem den Urlaub vermieste. Er würde genügend mit sich zu tun haben. Letztendlich ging es darum, sich zu beweisen, dass er in der Lage war, diese Herausforderung trotz seiner Ängste und Phobien zu meistern.
Das »Aus« seiner Ehe Monate zuvor hatte den Ausschlag gegeben. Empfindlich getroffen beschloss er, sein Leben auf die Reihe zu kriegen, neu zu beginnen und sich im ersten Schritt selbst zu therapieren. Dies in Neuseeland anzugehen, besaß darüber hinaus den Charme, dass er vorab ein renommiertes Magazin aufgetan hatte, das den Reisebericht über seinen Selbstfindungstrip ankaufen und veröffentlichen wollte. Im Anschluss an die selbst auferlegte Pflichtaufgabe beabsichtigte er, im Land einen längeren Urlaub zu verbringen. Dann würde sich genug Zeit ergeben, mit Robert Unternehmungen zu starten.
Unweigerlich kam ihm erneut der Verkehrsunfall in den Sinn. »Hast du was von diesem Kerl von der Bushaltestelle gehört?«, erkundigte er sich bei Robert.
»Habe ein bisschen telefoniert. Dubios ist, dass er angeblich an verschiedenen Orten gleichzeitig gesehen wurde. Ein richtiges Phantom der Mann. Doch darauf kann man wenig geben. Während der Saison laufen im Dorf seltsame Gestalten in Massen herum. Das sieht man hier entspannt. Es heißt, er habe irgendwo im Wald gezeltet.«
»Na gut. Die Spekulationen führen ohnehin zu nichts. Lassen wir das Thema. Der ist über alle Berge. Ich hole uns lieber Nachschub für die trockenen Kehlen.«
Uwe erhob sich und griff nach den Gläsern. Das Poltern eines Stuhls, der auf dem Dielenboden aufschlug, ließ ihn aufschauen. Eine halb volle Cola einige Tische weiter verriet, dass vor Kurzem dort jemand gesessen hatte. Im Augenwinkel erblickte Uwe eine blaue Regenjacke, die soeben samt Träger den Raum verließ.
Für einen Moment überkam ihn der Impuls, hinterherzulaufen. Dann schaltete er den Verstand ein. Alle trugen bei diesem Wetter Regenbekleidung. Die Hälfte davon bestand aus gedeckten Blautönen. Er sah schon Gespenster. Kopfschüttelnd bahnte er sich einen Weg zur Theke.
Eine lange Schlange klagender Menschen folgte dem blumengeschmückten Sarg. Uwe wartete vor dem frisch ausgehobenen, leeren Grab. Eine Dixieland-Band intonierte eine traurige Weise. Letztes Geleit für eine unschuldig und unvermittelt aus dem Leben gerissene junge Frau. Der Trauerzug stoppte. Die mit blauen Regenjacken versehenen Träger setzten ihre Last auf Balken über der endgültigen Ruhestätte ab. Eine kurze Rede schloss sich an. Der Sarg wurde an Bändern in die Tiefe herabgelassen. Die Friedhofsbediensteten traten respektvoll in die zweite Reihe. Sie grinsten unpassend, was ihr würdiges Erscheinungsbild mit schwarzen Lackschuhen, weißen Handschuhen und Hut konterkarierte.
Die Trauergemeinde platzierte sich im Halbkreis um die offene Grube. Uwe registrierte, dass er als Einziger auf der gegenüberliegenden Seite stand. Die Gäste stierten ihn mit hasserfüllten Fratzen an. Der Geistliche zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn. Kein Wunder! Hatte er es doch unterlassen, die Polizei über seine Beobachtungen zu informieren. Seltsamerweise trug er ein rosa T-Shirt und Shorts. Bei einer Beerdigung? Bei Temperaturen unter zehn Grad. Was hatte er sich bei diesem Outfit nur gedacht?
Er nahm eine Bewegung wahr und schaute nach unten. Langsam begann sich der Sarg zu öffnen. Ein Schwall fauligen Geruchs stieg aus dem Erdloch. Der Deckel klappte auf und landete mit einem dumpfen Geräusch an der Wand. Aus dem samtenen Inneren erhob sich ein Wesen, das einst ein Mensch gewesen war. Die Musik untermalte die Szenerie mit anschwellender Lautstärke und einem beschleunigten Rhythmus, der Uwe in die Glieder fuhr. Mit Entsetzen sah er, wie der zerschmetterte Körper der Toten sich aufrichtete. Eine undefinierbare Masse von Gewebefetzen und herausragenden Gebeinen. Sie reckte ihm ihre verdrehten fleischlosen Arme entgegen. Der Todesmarsch strebte mit schrillen Posaunenfanfaren dem Höhepunkt zu. Zu keiner Regung fähig starrte Uwe das Unfassbare an. Ein unsanfter Stoß traf seinen Rücken. Er stürzte. Scheinbar endlos. In die Dunkelheit des Erdlochs. Kalte Klauen griffen nach ihm. Panisch strampelnd gelang es Uwe, sich zur Seite zu wälzen und den Sargdeckel zuzuschlagen. Halb skelettierte Finger ragten unter der Kante hervor. Mit einem Mal herrschte unheimliche Stille. Dann rieselte Erde auf ihn herunter. Über sich vermochte er die dunklen Wolken zu sehen. Inmitten des Grauens erschien das Gesicht des Mörders. Dreckbrocken landeten auf Uwe. Dieser Mistkerl schaufelte das Grab zu.
Panik erfasste Uwe. Immer größere Mengen klebrig-feuchter Klumpen ergossen sich wie eine Lawine auf ihn. Das Atmen fiel ihm schwer. Hustend wollte er sich erheben, doch er scheiterte. Sein Hals schnürte sich in Erwartung des Erstickungstodes zu. Totenglocken fingen dröhnend und unheilverkündend zu läuten an.
Schweißgebadet schreckte Uwe hoch. Die Höllenglocke, die den Beginn eines bekannten Rocksongs einleitete, ertönte aus dem Handy. Er fragte sich, welcher Teufel ihn wohl geritten hatte, als er diesen bescheuerten Weckton eingerichtet hatte? Das durchnässte und zerwühlte Laken zeugte von der unruhigen Nacht.
Die wilden Träume hallten in Uwe nach. Sie ließen ihn schaudern. Obgleich Einzelheiten im Nu verschwammen, brachten sie den Unfall am Tage zuvor in das Bewusstsein zurück. Bestrebt, das unerquickliche Erlebnis zur Seite zu schieben, versuchte er, sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren. Es gelang ihm nur unzureichend. In seinem Kopf drängte sich permanent das Bild des Mannes mit der blauen Regenjacke in den Vordergrund.
Es fand sich dafür kein vernünftiger Anlass. Er wusste von keinen weiteren »Sichtungen«, wie er es im Geheimen betitelte. Ein deutliches Indiz, dass der Typ längst die Gegend verlassen hatte. Trotzdem regte sich eine Erinnerung in ihm, die er nicht greifen konnte. Je mehr er grübelte, umso größer wurde die Gewissheit, etwas Wichtiges außer Acht zu lassen. Er kannte den Mann. Er wirkte vertraut. Stück für Stück durchforschte er seine sämtlichen Lebensbereiche. Arbeit, Sportstudio, Einkaufen und Orte, an denen er sich häufig aufhielt. Er war sich sicher: Würde er den Bereich seines Lebens entdecken, der die Gemeinsamkeit beinhaltete, würde er die Zusammenhänge sofort erkennen. Schließlich gab er genervt auf. Die Eingebung lauerte versteckt in den Gehirnwindungen. Er musste warten, bis ihm ein Licht aufging.
Das Display zeigte neun Uhr. Höchste Zeit zum Aufstehen. Das nasse, beschlagene Fenster verriet ihm, dass der Regen unvermindert niederprasselte. In der Küche fand er eine Kanne Kaffee und einen reichlich gedeckten Frühstückstisch vor. Ein kleiner Zettel lag auf dem Teller.
»Bin im Laden. Hau rein und richte danach deine Ausrüstung für morgen. Falls etwas fehlt, habe ich alles Notwendige vorrätig. Komm einfach runter, sobald du fertig bist. Bis später!«
Uwe langte beim Frühstück kräftig zu. Dann fing er damit an, die Packliste abzuarbeiten. Einen Großteil des erforderlichen Equipments hatte er vor Antritt der Reise bei Robert geordert. Erneut beschlichen ihn Zweifel an der eigenen Courage.
»Nein! Ausflüchte suchen ist feige«, wetterte er in den menschenleeren Raum hinein. »Du ziehst das jetzt durch. Was sind sechs popelige unbehütete Tage im Wald. Sei keine Memme!«
Die Küche kommentierte den Ausbruch nicht. Seufzend räumte Uwe das Geschirr in die Spülmaschine.
Die nächsten Stunden verbrachte er damit, seine Siebensachen zusammenzusuchen. Der von Robert vorbereitete Stapel war übersichtlich, wohingegen sein Haufen bedenkliche Ausmaße annahm. Er verstaute alles in wasserdichten Kompressionssäcken und stopfte sie in den Rucksack. Es dauerte Minuten, bis er die ideale Packtechnik ertüftelt hatte. Ein bisschen war es wie Puzzeln, aber mit der zusätzlichen Herausforderung, Gegenstände, die er häufiger brauchte, gut erreichbar zu platzieren. Die Kleidung, die er anzuziehen beabsichtigte, legte Uwe neben das Bett. Probehalber hob er das Gepäck an, das ihn die kommenden Tage versorgen und begleiten würde. Ein Stöhnen entfuhr ihm. Verteufelt schwer. Das Mühlrad, das sich klammheimlich darin versteckte, übersah er anscheinend. Unvorstellbar, diese Last durch die Wildnis zu schleppen. Er rekapitulierte im Geiste seine Auswahl, fand aber wenig, auf das er verzichten konnte oder wollte. Die Kofferwaage näherte sich sechsundzwanzig Kilogramm. Fast dreißig Prozent des eigenen Körpergewichtes. Eindeutig zu viel. Entnervt lehnte er das Ergebnis seiner Bemühungen an die Wand. Pause. Es ging auf Mittag zu. Der Magen erdreistete sich zu knurren. Zeit, sich in den Laden zu begeben.
»Du siehst immer noch kacke aus«, begrüßte ihn Robert ungalant, während er den Laptop zuklappte, an dem er gearbeitet hatte.
»Schlecht geschlafen«, antwortete Uwe kurz angebunden.
»Bekommst du nun doch Muffensausen?«
»Sehe ich so aus?« Uwe wusste um Roberts Meinung zu Männern, die Anfang vierzig auf einen Selbsterfahrungstrip gehen. Dessen Ansicht nach existierten weniger gefährliche und deutlich angenehmere Strategien, eine Midlife-Crisis auszuleben und sich selbst zu therapieren, als mutterseelenallein durch die Botanik zu latschen. Allerdings verstand er das »Warum«.
»Definitiv. Ich muss jedoch zugeben, dass ich deinen Mut bewundere, dich deinen persönlichen Dämonen entgegenzustellen. Sollen wir einen Mittagshappen zu uns nehmen, bevor wir die letzten Vorbereitungen für diesen idiotischen Trip treffen? Ich kenne einen hervorragenden Seelenklempner.«
»Null Bedarf im Moment. Was das Zweite anbelangt. Kannst du hier weg?«
»Kein Problem. Über Mittag mache ich zu Saisonende ohnehin immer zu. Lust auf Tacos?«
Uwe lief das Wasser im Mund zusammen. »Ich liebe scharfe mexikanische Küche.«
Eine Handvoll Tische nebst passenden orangen Plastikstühlen dominierte die Inneneinrichtung des kleinen Imbisses. Die Qualität der gereichten Speisen litt mitnichten unter dieser Schlichtheit. Beim Eintreten empfing sie der verführerische Geruch von landestypischen Gewürzen. Sie traten an die Theke. Uwe überließ Robert das Bestellen. Mit zwei Flaschen Bier nahmen sie Platz.
Die pikante Mischung aus Fleisch, Chilis und Avocados trieb Uwe den Schweiß auf die Stirn. Die angenehme Wärme, die den Körper einer Welle gleich überflutete, trug zur Aufheiterung seiner Laune bei. Das eisige Mistwetter vor der Tür wirkte plötzlich wesentlich weniger abschreckend. Uwe gab ein wohliges Seufzen von sich.
»Genieße es, solange du noch kannst. Ab morgen ist es mit der Gemütlichkeit vorbei«, betonte Robert grinsend. »Iss auf. Wir sollten nach Hause und gemeinsam dein Gepäck kontrollieren.«
Uwe kam der Aufforderung seufzend nach.
Roberts Miene sprach Bände. Er musterte die Packliste, schüttelte den Kopf, ging zum Rucksack und schulterte ihn.
»Da hilft bloß ausmisten. Den musst du von mindestens sechs bis sieben Kilo befreien«, diagnostizierte er. »Den ganzen Kladderadatsch wieder raus. Dann von vorne. Sonst brichst du innerhalb von zehn Kilometern zusammen.«
»Ich habe ausschließlich das Unentbehrliche eingepackt«, verteidigte Uwe die Auswahl, fügte sich aber nach einem strengen Blick Roberts dem Unvermeidlichen. Jedes einzelne Teil stand auf dem Prüfstand. In kürzester Zeit bildete sich ein ungeordneter Berg aus Kleidung, Nahrungsmitteln und Einzelteilen. Meistens sah Uwe das Sparpotenzial ein. Wer wechselte bei einer sechstägigen Wanderung schon fünfmal die Unterwäsche. Vor allem bei den Essensrationen ließ sich Uwe zu energiereicheren, platz- und gewichtsparenden Alternativen bekehren. Obwohl er sich von den Packungen mit nahrhaften, glücklich machenden Chips und Schokokeksen nur mit Widerstand zugunsten von Müsliriegeln trennte.
Mehrere Durchläufe darauf zeigte sich Robert endlich zufrieden.
»Bei uns schlägt das Wetter ständig um. Es ist unberechenbar. Um diese Jahreszeit kann dir sogar ein Hagelschauer blühen. Hast du eine Mütze und Handschuhe eingepackt?«
»Ja. Ich besteige weder den Mount Everest, noch plane ich einen dreiwöchigen Gewaltmarsch durch die Wüste. Alles bestens. Ich bin voll ausgestattet. Einschließlich einer Siegeszigarre. Für den Fall, dass ich die Strapazen körperlich und psychisch unversehrt überstehe.«
Robert schien nicht überzeugt, nickte schließlich trotzdem.
Der Rest des Tages verlief gemütlich, wenngleich Uwes Nervosität immer mehr zunahm, je näher der Aufbruch kam. So oft er sich auch versicherte, es zu schaffen, standhaft zu sein und keinesfalls wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz reumütig umzukehren, blieb ein flaues Gefühl in der Magengegend.
Die zwischen den Wolken herausblitzende Sonne machte Uwe die Entscheidung leicht, einen Spaziergang durch den Ort zu wagen. Die Straßen waren gesäumt von Bäumen, deren Blätter in verschiedenen Schattierungen von Rot, Orange und Gelb leuchteten. Durch den Ort schlendernd hörte er den angenehmen Klang von fließendem Wasser. Er folgte dem malerischen Bach, in dem sich die Bäume spiegelten. Die kühle Brise trug den Duft von feuchter Erde und frischer Luft mit sich. Vögel sangen in den Bäumen. Ein Bild, das friedlicher und beschaulicher nicht hätte sein können. Die Regenpause trieb gleichermaßen Einheimische wie Besucher ins Freie.
Uwe flanierte an den farbenfroh gestrichenen Fassaden der Gebäude vorbei, die den lebendigen Charakter der Stadt unterstrichen. Die meisten der Häuser waren aus Holz gebaut, was ihnen einen warmen und natürlichen Charme verlieh und dazu beitrug, dass sie sich ideal in die Umgebung einfügten. Manche waren im Kolonialstil erbaut, der an die frühe europäische Besiedlung erinnerte. Sie waren mit Holzverzierungen und Spitzgiebeln geschmückt. Die meisten waren mit Veranden ausgestattet, auf denen sich nun Menschen tummelten, die Uwe freundlich zunickten. Entlang der Hauptstraße entdeckte er eine Reihe von kleinen Geschäften und Cafés. Er holte sich einen Kaffee und versuchte, die Gedanken an die nächsten Tage zu verdrängen und einfach die Atmosphäre zu genießen und sich zu entspannen. Die Bewegung tat gut, und nach den aufregenden Stunden seit seiner Ankunft kam er endlich zur Ruhe.
Er nahm sich vor, früh schlafen zu gehen. Er hoffte, dieses Mal von Albträumen verschont zu bleiben. Am kommenden Morgen nahte die Stunde der Wahrheit.
Nach zwei Stunden kehrte er zurück. Robert wartete bereits auf ihn.
»Du siehst erholt aus«, begrüßte er Uwe.
»Ja, hier ist es wahrlich wunderschön. Ich verstehe, dass du nicht mehr wegwillst.«
»Ich habe für uns eine Kleinigkeit gekocht. Vegetarisch. Vor deinem großen Auftritt solltest du nicht zu schwer essen. Vorher will ich dir aber noch etwas zeigen. Es gibt es ein Geschenk für dich, falls du erfolgreich zurückkehrst.«
Gespannt folgte Uwe seinem Freund in das Dachgeschoss. Ein Maleratelier, das einem alten Meister zur Ehre gereicht hätte, empfing ihn. Mit offenem Mund betrachtete er den Raum. Riesige Fenster gewährten dem Tageslicht Zugang. Staffeleien, wohin man schaute. Die Wände waren mit Kunstwerken übersät. In allen Variationen. Uwe entdeckte Ölgemälde, Aquarelle und Kohlezeichnungen. Die Motive reichten von Landschaftsmalereien über impressionistisch anmutende Werke bis hin zu Porträts. Uwe trat näher. Die filigranen Arbeiten, die sicherlich viele Stunden in Anspruch genommen hatten, faszinierten ihn. »So verbringst du also deine Zeit, anstatt dich für den Weltfrieden einzusetzen und in deinem Laden zu schuften«, stellte er fest. »Das ist großartig. Wer hätte gedacht, dass aus einem windigen Börsenmakler ein Künstler werden kann.«
»Jeder findet irgendwann seine Berufung. Doch ich wollte dir das nicht zeigen, um dir meine Genialität vor Augen zu führen. Obwohl, ehrlich gesagt, auch das.«
»Sondern?«
Robert deutete auf eine mit einem Tuch verhüllte Staffelei.
»Was ist das?«
»Mein Geschenk an dich, sofern du deine Aufgabe, den Trail zu überstehen, erfolgreich absolvierst. Vorsicht! Ein Detail musste ich nachträglich einfügen. Die Farbe ist noch feucht.«
»Darf ich?«, fragte Uwe.
Robert nickte.
Mit einem Ruck zog Uwe die Abdeckung weg und sah in sein Spiegelbild in Öl. Gestochen scharf. In Siegerpose mit einer Zigarre im Mund, deren gemalter Rauch beinahe lebendig wirkte.
Uwe ahnte, dass es das Detail war, von dem Robert gesprochen hatte.
»Das ist besser und rückt mich vorteilhafter ins Bild, als es je ein Foto tun könnte. Danke! Das kriegt einen Ehrenplatz. Wie machst du das?«
»Eine vergilbte Aufnahme als Vorlage. Ein Hauch Schmeichelei, weil du in natura bei Weitem nicht so hübsch bist, und Geschick, Zeit und Fantasie. Aber Finger weg! Erst wenn du wohlbehalten und erfolgreich zurückgekehrt bist. Ansonsten verbrenne ich es.«