Benjamin und das Tal der Dämonen - Wolfgang Breitkopf - E-Book

Benjamin und das Tal der Dämonen E-Book

Wolfgang Breitkopf

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Beschreibung

Deutschland - 200 Jahre nach einem globalen Krieg Der junge Benjamin wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Doch als seine große Liebe Emma entführt wird verlässt er seine Heimatstadt Wilhelmswall, um sie zu befreien. Doch er ist nicht der Einzige, der die mit einem wertvollen Rubin Verschwundene sucht. Es beginnt eine abenteuerliche und gefährliche Verfolgungsjagd bis in das verbotene Tal der Dämonen. Bald stellt sich heraus, dass nichts so ist, wie es scheint und selbst der Stadtrat Wilhelmswalls in verbrecherische Machenschaften verstrickt ist. Benjamin erkennt, dass er die Herrschaft des Rates brechen muss, wenn er Emma retten will.

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Seitenzahl: 359

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Benjamin und das Tal der Dämonen
Über den Autor
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Wolfgang Breitkopf

Benjamin und das Tal der Dämonen

XOXO Verlag

Über den Autor

Wolfgang Breitkopf, geboren am 8. Juli 1966 in Plochingen, arbeitet und lebt in Stuttgart. Von Beruf Diplom Verwaltungswirt, hat er 2004 mit dem Schreiben von Kurzgeschichten begonnen und liebt es auf diese Weise, seiner Kreativität Raum zu geben. Für seinen Text »Das Mädchen, das über Leichen ging.«, wurde ihm 2018 der Preis der Fachjury des Mölltaler-Geschichtenfestivals verliehen. Wolfgang Breitkopf ist nicht nur begeisterter Tangotänzer, sondern engagiert sich auch in der Schreibgruppe: »Tatort Schreibtisch«, als Juror bei Literaturausschreibungen und -festivals und ist Mitglied des BVjA Autorenstammtisches Stuttgart.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-223-5

E-Book-ISBN: 978-3-96752-721-6

Copyright (2023) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 1156085362, 2159407535

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Ich danke allen, ohne die dieses Buch nie entstanden wäre.

Vor allem:

Der Eisermann Media GmbH.

Meiner Ehefrau Simone, die meine Launen erträgt.

Simone Grebe, der mich stets zum Weiterschreiben ermutigt hat

und

der Autorin Melanie Neubert,die mit stoischer Gelassenheit viele meiner Texte liest und kritisiert.

1

Benjamin Vogt wählte den Umweg vorbei am Richterhaus. Die Aussicht, einen Blick auf Emma, die Tochter des Hauses, erhaschen zu können, lenkte seine Schritte unwillkürlich immer wieder dorthin. Manchmal stand sie auf dem Balkon und winkte zu ihm herunter. Er kannte sie aus Kindheitstagen. Oft hatte er mit ihrem Bruder am Fluss gespielt und geangelt. Das war lange her. Inzwischen war sie zu einer Frau herangewachsen und Teil der besseren Gesellschaft. Da zählten einige gemeinsam verbrachte Sommertage Jahre zuvor nicht mehr. Wunderschön mit ihrem schwarzen Rüschenkleid, der die schmale Taille betonenden Korsage, den eleganten Schnürstiefeln und dem kecken Hütchen auf ihrem Kopf. So nah und dennoch unerreichbar fern! Ein Bauerntölpel wie er durfte sich glücklich schätzen, ihre anmutige Gestalt wenigstens anschauen zu dürfen. Doch sie beachtete und grüßte ihn sogar.

Seit dem Tag, als Benjamin ihren heruntergefallenen Schirm aus der Gosse rettete und ihr verlegen entgegenstreckte, änderte sich alles. Ihr dankbares Lächeln verzauberte Benjamin. Seitdem war er unsterblich in die junge Frau verliebt. Wohl wissend, dass es für diese Liebe keine Perspektive gab. Das hinderte ihn mitnichten für Emma zu schwärmen. Eines Tages würde er Ruhm und Ehre erlangen. Dann bekam er vielleicht eine Chance.

Dieses Mal vermochte er zu seinem Leidwesen nicht einmal ein Fetzchen der feinen Spitze, die ihre Kleider stets säumte, zu entdecken.

Luftschlösser in Bezug auf eine gemeinsame Zukunft bauend, schwebte er tagträumend den morastigen Pfad entlang. Die Welt um sich herum vergessend. Ein Hindernis versetzte Benjamin jäh in die Wirklichkeit zurück. Der Rempler gegen die Schulter warf ihn aus der Bahn. Einen Moment kämpfte er mit dem Gleichgewicht. Der Mann, der seinen Weg kreuzte, landete hingegen auf dem Allerwertesten. Er trug die schlichte, funktionelle Baumwollkluft eines Fabrikarbeiters. Darüber einen weiten Umhang. Die Kapuze hatte er tief in die Stirn gezogen. Benjamin beabsichtigte gerade eine Entschuldigung murmelnd, ihm aufzuhelfen, als er etwas Glänzendes erspähte. Die Kehle schnürte sich zu. Das Herz pochte wie wild. Die Klinge eines Dolches lugte unter dem Cape hervor. Daneben erkannte er Seilschlaufen. Benjamin erstarrte. Das war keiner der Arbeiter! Ein Straßenräuber? Benjamin wollte fliehen, doch die Beine verweigerten den Dienst. Einfältig glotzte er sein Gegenüber an. Rechnete damit, die Waffe in den Leib eindringen zu spüren.

Der am Boden liegende raffte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, abrupt seine Habseligkeiten zusammen, sprang auf und ging in der zu den Fabriktoren des nahe gelegenen Dampfkraftwerkes strömenden Menge auf.

Noch Sekunden später stand Benjamin fassungslos am selben Fleck. Aus einem unbekannten Grund kam ihm das, was er unter der Kapuze vom Gesicht gesehen hatte, vertraut vor. Er spielte mit dem Gedanken, die Wachen zu informieren, verwarf diesen aber sofort. Das gab nur Ärger!

Dass die Entscheidung sein Leben in Bälde auf den Kopf stellte, ahnte Benjamin zu diesem Zeitpunkt nicht.

Die erste Tagesschicht im Kraftwerk begann um sechs. Die Uhr am hochaufragenden Turm im Zentrum erinnerte die Arbeiter daran, pünktlich vor den Toren zu stehen. Absolute Disziplin wurde gefordert. Notwendig, um den ständigen Fluss von Energie in die fünf gigantischen Rubine, die das Kraftfeld speisten, zu gewährleisten. Wer zu spät kam, fand keinen Einlass und verlor die Anstellung. Der Geruch von Asche war allgegenwärtig. Über das Gelände wogten Rauchschwaden, die es wie ein Leichentuch mit einem Schleier aus diffusem Grau bedeckten. Im Umfeld der Fabrik bestellten ausgemergelte Bauern ihre kargen Felder. Die von Ochsen gezogenen Pflüge bildeten einen anachronistischen Kontrast zu der modernen Industrieanlage. Ein steter Strom von Dampflokomotiven, samt unzähliger, schwerbeladener Güterwagen, ratterte vorbei. Sie brachten Nachschub für die Kessel. Kohle und Holz für gefräßige Feuerstellen, die nie verlöschen durften.

Leichter Nieselregen setzte ein. Benjamin betrachtete beeindruckt die von den Rubinen ausgehenden Strahlenbündel. Die winzigen Wassertropfen in der Luft machten diese im fahlen Morgenlicht sichtbar. Am Ende der Ebene verdichteten sich die Strahlen vor einer schroffen Felswand zu einem Vorhang aus gleißendem Rot, welches das dahinterliegende Tal hermetisch von der Außenwelt abschirmte. Ein Schutzwall gegen die Dämonen der Finsternis, die dort ihr Dasein fristeten. In der Nacht tauchte das Energiefeld, die Landschaft bis zu Wilhelmswalls Stadtgrenze hin in ein Meer aus Blut. Aber jetzt war nicht die Zeit zum Verweilen. Meister Baldur erwartete Pünktlichkeit. Benjamin löste den Blick und beeilte sich.

2

»Was für ein Trottel!«, schimpfte Philipp Jeremias Bicker, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, leise. Ein Name, dessen Verwendung er scheute. Für einen Augenblick hatte er befürchtet, der Idiot würde zu schreien anfangen. Philipp rappelte sich auf und bemühte sich schnell und ohne Aufsehen zu erregen, das Weite zu suchen. Wochenlange Planungen standen auf dem Spiel. Er musste rechtzeitig am Fabriktor eintreffen. Er eilte davon. Nach einigen Metern warf er einen prüfenden Blick über die Schulter und stellte erleichtert fest, dass der Bursche seines Weges ging.

Die Reihe vor den noch verschlossenen Dampfkraftwerktoren wuchs stetig an. Die Männer stierten trübsinnig ins Leere. Kaum einer sprach. Niemand beachtete den Neuankömmling, der sich wortlos einreihte. Das Dröhnen eines mächtigen Hornes ertönte. Das Zeichen für den Schichtwechsel. Die Masse kam langsam in Bewegung. Die Papiere, die sie als Arbeiter des Kraftwerkes auswiesen, wurden kontrolliert. Anschließend formierten sie sich auf dem Areal zu Gruppen. Dort zählte man sie ab, bevor die Aufseher sie an ihren jeweiligen Einsatzorten geleiteten.

Philipp überstand die Kontrolle mit den gefälschten Dokumenten anstandslos. Der Gedanke an das horrende Bestechungsgeld für diese Gefälligkeit ließ ihn stöhnen. Er folgte einem Trupp von etwa zwanzig Personen, der auf zwei kleine Gebäude zusteuerte. Bemüht hintenan zu bleiben, behielt er den vorausgehenden Vorarbeiter fest im Blick. Philipp wusste, dass der Weg zu den Kohlekesseln zwischen den eng beieinanderstehenden Lagerhäusern hindurchführte. Lief alles wie gewünscht, stand der Eingang zum linken Depot offen. Am Durchgang angekommen, stellte er sicher, dass die Luft rein war. Unbemerkt von den vor ihm Gehenden legte er die Hand an den Griff der Tür. Dem Himmel sei Dank! Unverschlossen! Rasch verschwand er im Inneren. Ein Teil der Anspannung fiel von ihm ab. Ein Stapel Säcke versprach ein angenehmes Lager. Jetzt galt es auszuharren.

Angst vor Verrat musste er nicht haben. Der Informant und Helfer ruhte, nachdem er beteuert hatte, die Aufgabe sei erledigt, fest verschnürt in einem Keller.

Das schmale Fenster gewährte Philipp einen guten Ausblick auf sein Ziel, das unbezwingbar wirkte. Auf der abstumpften Spitze des steinernen Kegels erblickte er die Haltevorrichtungen für die Rubine. Mindestens 20 Meter über der Erde. Zwei hervorstehende Wülste boten Schutz gegen Leitern. Die oben liegende Plattform konnte man einzig mittels einer Treppe im Inneren erreichen. Den Zugang zum Turm sicherte eine massive Pforte aus Eisen, vor der grimmig aussehende Soldaten mit Dampfdruckgewehren wachten.

Für Philipp bedeutete die steile Wand keine ernst zu nehmende Barriere. Nicht umsonst nannten sie ihn in einschlägigen Diebeskreisen: »Das Wiesel«. Bekannt aufgrund seiner meisterhaften Fassadenkletterkünste. Etliche Tage hatte er das Mauerwerk analysiert. Jeden Spalt, die geringfügigsten Vorsprünge und die unscheinbarsten Unebenheiten, die als Tritte geeignet schienen, prägte er sich ein. Selbst blind traute er sich einen Aufstieg zu. Heute Abend beim Einbruch der Dunkelheit galt es seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

3

Den Marktplatz querend, konnte Benjamin schon die Werkstatt erblicken. Sie befand sich direkt bei den Resten der alten Stadtmauern, die den Innenstadtbezirk markierten. Er beschleunigte die Schritte. Meister Baldur schätze es nicht, wenn sein Lehrling unpünktlich erschien. Offiziell stand er als einfacher Helfer in Baldurs Diensten. Dem Sohn eines Bauern war es nicht gestattet, ein Handwerk oder gar einen »anständigen« Beruf zu erlernen. Der Adel und das steuerzahlende Bürgertum achteten peinlich genau darauf, wer in ihre Ständeordnung einbrach und einen Teil ihrer Pfründe beanspruchte.

Lautlos schlich Benjamin in das Haus. Er hoffte, sein Lehrherr nähme noch in der Stube das Frühstück zu sich und bemerke die Verspätung nicht.

»Wie lange versuche ich bereits, dir Manieren beizubringen?«, donnerte es hinter einem Sammelsurium aus technischen Gerätschaften hervor. »Zuverlässigkeit ist eine vertrauenerweckende und unabdingbare Charaktereigenschaft. Wenn du Emma rumkriegen willst, nach der du dir vermutlich wie immer die Augen ausgeguckt hast, solltest du endlich erwachsen werden!« Ein Seufzen folgte der Tirade. »Ansonsten habe ich meine ohnehin angegriffenen Nerven unnütz an dich verschwendet.«

Rot werdend, presste der Ertappte: »Ich wünsche dir einen wunderschönen guten Morgen, Meister Baldur!«, hervor. Die Erinnerung an die unerfüllbare Schwärmerei für die Tochter des Richters vernahm er ungern. »Habt ihr eine geruhsame Nacht verbracht?«

»Du lenkst ab. Ich habe keine Lust, mir dieses Elend länger anzusehen. Du musst die Initiative ergreifen, anstatt Emma nur anzuschmachten. Immerhin habt ihr gemeinsam halb nackt im Uferschlamm gesessen, bevor ihr Vater in die besseren Kreise aufstieg. Sie ist keine Fremde. Das wird ja wohl kaum so schwer sein.«

»Da waren wir noch Kinder. Das ist ewig her«, verteidigte sich Benjamin.

»Aussichtsloser Fall!«, brummelte Baldur und wendete sich wieder seiner Arbeit zu.

Wie jeden Tag bestand Benjamins morgendliche Aufgabe darin, die Werkstatt, die Baldur gerne als Labor bezeichnete, auszufegen. Er erinnerte sich, wie er zum ersten Mal diese heiligen Hallen für einen Botengang, mit dem er Geld nebenher verdiente, betrat. Baldur galt allseits als sonderbar und eigenbrötlerisch. Selten zeigte er sich in der Öffentlichkeit. Was aber, wie Benjamin später erfuhr, eher daran lag, dass er seine Arbeit liebte und das Haus nur verließ, sofern es unbedingt notwendig war. Die naive Erwartung Benjamins, eine Art verwirrten Professor anzutreffen, der zwischen blubbernden Kesseln und mit undefinierbaren Substanzen gefüllten Reagenzgläsern wandelte und einen buckligen, zahnlosen Gehilfen beschäftigte, wurden enttäuscht. Ihn erwartete eine ordentlich aufgeräumte Arbeitsstätte. Ein blitzendes Wunderland aus technischen Apparaturen, metallenen Bauteilen und farbigen Konstruktionsplänen. Der Inhaber selbst bot trotz des gesetzten Alters eine imposante Erscheinung. Großgewachsen, muskulös und augenscheinlich körperlich fit. Mit seinen kurz geschorenen Haaren und dem fein geschneiderten schwarzen Gehrock, nebst blütenweißem Hemd und Kniebundhosen über weißen Strümpfen, entsprach er absolut nicht dem Bild, das Benjamin vorab von ihm hatte. Dass Baldur tatsächlich schrullige Züge aufwies, erkannte er erst, als er in dessen Dienste aufgenommen wurde.

Benjamin nahm den Besen zur Hand und trat an die Werkbank, an der Baldur arbeitete. Ein unförmiger Klotz, gespickt mit Zahnrädern in allerlei Größen, lag dort. »Was ist das?«, erkundigte er sich neugierig.

»Eine Uhr. Was sonst?«

»Damit könnte man ja einen ausgewachsenen Affen erschlagen«, merkte Benjamin an und erntete einen bösen Blick. »Wozu dienen denn die Zahnräder an der Außenseite?«

»Die haben null Funktion, aber unsere hochwohlgeborenen Kunden lieben so etwas!«

Benjamin konnte ein Grinsen schwerlich unterdrücken. Sein Meister bezeichnete sich selbst als Forscher und Freigeist. Eine der Haupteinnahmequellen bestand jedoch in der Uhrmacherei. Obwohl er stets betonte: er sei ein Erfinder, keinesfalls ein simpler Uhrmacher. Nichtsdestotrotz kamen die Menschen überwiegend wegen der Uhren zu ihm. Es galt als schick und stellte ein Statussymbol dar, einen der teuren Chronografen aus des Meisters Produktion sein Eigen zu nennen. Manch einer der Herren Stadträte trug sogar an jedem Arm mehrere der protzigen, schweren Uhren. Diese zogen die Glieder der fracktragenden Besitzer unweigerlich fortwährend herunter. Im Volksmund nannte man sie deshalb hinter vorgehaltener Hand »Affen«. Freilich hatte kaum einer je einen Affen leibhaftig gesehen, außer auf Bildern, was die Verbreitung des Schmähnamens nicht verhinderte. Im selben Atemzug titulierten die Leute Baldur häufig als Magier. Was diesen maßlos ärgerte. Doch es schien kein Kraut dagegen gewachsen, dass eine Uhr, in der kein Sand rieselte, als Zauberei empfunden wurde.

Benjamin startete mit dem morgendlichen Reinemachen.

Eine Stunde später saß er vor einem Zeichenblock und machte sich daran, am Vortag begonnene Skizzen für neue Uhrenkreationen fertigzustellen. Eine Aufgabe, die andere sicherlich zu keiner Zeit einem ungebildeten Bauernsohn anvertraut hätten. Doch Meister Baldur war keineswegs wie andere. Standesdünkel scherten ihn kaum, trotz seiner adligen Abstammung. Er verschrieb sich der Wissenschaft. Entgegen dem Willen der Eltern! Sein Denken bestimmten die Naturgesetze. Das Streben nach Wissen. Oft betonte er, dass er in Benjamin sofort das schlummernde Potenzial erkannte und ihn deshalb unter die Fittiche nahm. Benjamin erahnte Baldurs stillen Wunsch, dass er eines Tages die Werkstatt weiterführe. Da Erfinder nicht als Beruf galt und dadurch nicht den strengen ständischen Regeln unterlag, bestand diese Möglichkeit. Handwerkliches Geschick schrieb sich Benjamin durchaus zu. Doch den Makel der Abstammung zu kompensieren, erforderte weitaus mehr Fertigkeiten. Darum pochte sein Meister darauf, dass Benjamin lernte, wie man sich in besseren gesellschaftlichen Kreisen bewegt, zu denen er ansonsten keinen Zugang besaß. Abgesehen von der praktischen Ausbildung bedeutete das eine fundierte Allgemeinbildung, wenigstens rudimentäre Fremdsprachenkenntnisse, perfekt Lesen und Schreiben zu können und makellose Umgangsformen aufzuweisen. Zweifellos warteten diesbezüglich noch einige Mühen auf Baldur, wie sich Benjamin insgeheim eingestehen musste.

Am Vormittag werkelten sie schweigend nebeneinander her. Benjamin ließ die Gedanken schweifen. Der Zusammenstoß am Morgen ging ihm nicht aus dem Kopf. Ein scharfer Blick Baldurs sorgte dafür, dass er sich auf seine Tätigkeit konzentrierte. Bei aller Strenge, die sein Lehrherr an den Tag legte, war Benjamin klar, wie viel Glück ihm widerfahren war. Baldur war inzwischen so etwas wie ein Familienersatz für ihn geworden.

Nach dem Tod der Eltern wohnte Benjamin noch ein Jahr mit seiner Großmutter in ihrem Häuschen unweit der Stadt. Bis auch sie ihn allein dort zurückließ. Das zugehörige kärgliche Ackerland verpachtete er an einen Großbauern aus der Umgebung. Ein kleines, aber regelmäßiges Einkommen, das leider bei Weitem nicht ausreichte, um davon zu leben. Das Gehalt, welches ihm Baldur zukommen ließ, hatte er entsprechend bitternötig.

Benjamin blickte zu seinem Meister, der mittlerweile in die Konstruktion einer seltsamen Gerätschaft, die äußerlich einem Füller glich, vertieft war. »Kann ich dir bitte mal eine Frage stellen?«, richtete er das Wort zaghaft an Baldur.

Der Angesprochene nickte, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.

»Als ich heute Morgen am Dampfkraftwerk vorbeigelaufen bin und den Schutzschirm betrachtete, ist mir aufgefallen, wie wenig ich im Grunde genommen vom großen Krieg weiß.«

»Und das wäre?«, entgegnete Baldur.

»Das, was alle wissen. Nachdem unsere Vorfahren die Feinde besiegten, verbannten sie die Dämonenhorden in das Tal oben in den Bergen. Seitdem hüten die Nachkommen der damaligen Helden, deren Gefängnis. Wachen über das Wohl der Stadt und die Sicherheit des ganzen Landes. Sie errichteten einen Schutzwall aus reiner Energie. Dieser garantiert, dass die dort Eingesperrten niemals ausbrechen.«

»Dämonen? Ja, so heißt es!«, brummte Baldur kryptisch.

Benjamin blickte ihn grüblerisch an. »Keine Dämonen?«

»Kindergeschichten! Meiner Ansicht nach. Ich glaube nicht an Gespenster.« Baldur hielt inne. Er schien die Worte sorgsam abzuwägen. Schließlich sprach er weiter: »Der Krieg ist seit Generationen vorbei. Es gibt wenig, das wir als Fakten festzuhalten vermögen. Ein langer und erbittert geführter Kampf. Fast alles wurde dem Erdboden gleichgemacht. Lediglich spärliche Aufzeichnungen und Relikte blieben der Nachwelt erhalten. Die siegreichen Soldaten unseres Volkes errichtenden unter Zuhilfenahme alter Baupläne eine auf Dampfkraft basierende Zivilisation. Sie schufen eine Zukunft für die Überlebenden. Man gründete Wilhelmswall auf den Überresten einer aufgegebenen Stadt. Angeblich, um die im Tal ihr Dasein fristenden Dämonen zu bewachen. Der Stadtrat trägt die Verantwortung für den Schutz des Landes, einschließlich dessen Bürger. Als Gegenleistung spendiert unser König viel Geld samt wirtschaftlichen Privilegien. Ein guter Grund, die Mär am Leben zu erhalten.«

»Was meinst du denn mit angeblich?«, hakte Benjamin irritiert nach. »Wenn es keine Dämonen gibt, was oder wen hält das Kraftfeld im Tal gefangen?«

»Wer weiß? Das wollten schon viele von unseren Stadträten in Erfahrung bringen. Einige verschwanden spurlos. Sind in andere Städte gezogen, heißt es.«

»Wenn dort Seltsames passiert. Könnte man das überhaupt geheim halten? Irgendwann kommt es doch raus. Es existieren immer Mitwisser.«

»Ja, aber die kann man mit Gold oder gewaltsam zum Schweigen bringen. Es wird viel gemunkelt. Der Zugang zum Tal ist weitläufig abgeschirmt. Es wird gut bewacht. Keiner weiß, was da genau vor sich geht. Ich bin ein alter Mann und habe gelernt, nicht überall meine Nase hereinzustecken. Jedenfalls verdanken unsere Stadtherren ihre Macht und ihren Reichtum, dem Schutzschirm und dem, was dahinterliegt. Diesen Status quo wollen sie um jeden Preis erhalten!« Baldur wandte sich ab. Demonstrativ nahm er die Beschäftigung mit einer Reihe von vor ihm liegenden Kästchen auf, die er auf Bitten eines Freundes konstruierte.

Den Wink verstand Benjamin. Das Gespräch war beendet. Er glaubte, dass sein Meister mehr wusste, als er offenbarte. Die Fragen, die Benjamin auf der Zunge brannten, mussten zurückstehen. Nachdenklich geworden arbeitete er weiter, ohne richtig bei der Sache zu bleiben.

4

Zwei kritische Phasen galt es zu überstehen. Die Besteigung des Turmes und das heimliche Verlassen des Grundstückes, sobald er den Rubin in Händen hielt. Auch wenn niemand damit rechnete, dass jemand eine beinahe senkrechte Mauer bezwang, würde er wie eine Fliege an einer Zimmerwand hängen. Der eng anliegende, in dunklem, rotbraun eingefärbte Anzug, den Philipp unter der Arbeiterkluft trug, schützte keinesfalls vor einem direkten Blick. Die andere Herausforderung bestand darin, nach dem Entfernen des Edelsteines unbemerkt zu verschwinden. Die Schwächung des Kraftfeldes würde den Wachmannschaften umgehend auffallen. Das Timing war deshalb für das Gelingen des Planes ausschlaggebend. Philipp wusste um die Schicksale, die von seinem Erfolg abhingen. In diesem Fall ging es ihm nicht um Reichtum. Er erfüllte eine Mission!

Philipp öffnete die Tür einen Spalt und observierte das Fabrikgelände. Dann trat er ins Freie und schlich ohne Zögern im Schutz der Schuppen bis zur Rückseite des Turmes. Am Sockel angekommen, verharrte er im Schatten. Schließlich legte er den Umhang ab, um sich anschließend am steilen Mauerwerk nach oben zu arbeiten. Unentdeckt erreichte »das Wiesel« die mit Kabeln, Rohren und technischen Gerätschaften gespickte Plattform. Er warf sich flach auf den Boden, um keinen Blickfang zu bieten. Die Luke, die von innen zum Dach führte, ließ sich einfach verkeilen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, obwohl seinen Beobachtungen nach die Installationen nur einmal am Tag kontrolliert wurden. Stets am frühen Morgen. Es gab jedoch keinen Grund, ein unnötiges Risiko einzugehen. Das mitgeführte dünne, aber extrem widerstandsfähige Seil befestigte er sorgfältig an einer Metallstrebe. Einer kleinen Umhängetasche entnahm er einen handlichen Dampfspreizer und ein Paar Handschuhe. Diese bestanden vorwiegend aus Kautschuk. Einem neuen Material aus den Kolonien, welches ideale Eigenschaften besaß: Elastizität und Hitzebeständigkeit. Die Rubine saßen, von Bügeln eingefasst, auf fünf mannshohen Podesten. Sie verströmten Wärme, die dem ungebetenen Gast Schweißperlen auf die Stirn trieb.

Noch war auf dem Areal alles ruhig. Endlich ertönte das Horn, das den Schichtwechsel ankündigte.

Aufspringend streifte Philipp die Handschuhe über und setzte den Dampfspreizer an. Die Halterung gab nach. Mit dem Dolch hebelte er den Rubin heraus. Ein merklicher Effekt stellte sich sogleich ein. Eins der fünf Strahlenbündel erlosch. Das Energiefeld am Taleingang flackerte. Wie Wellen liefen Lichtreflexe durch die rot leuchtende Wand. Philipp ignorierte den faszinierenden Anblick. Er verstaute den erstaunlicherweise kühlen Stein im Rucksack. Zeit abzuhauen!

Er hangelte am Seil hinunter, stand wenige Sekunden später neben der zurückgelassenen Kleidung und legte sie wieder an. Eine Sirene begann durchdringend zu heulen. Ein deutliches Anzeichen, dass die Funktionsstörung bereits entdeckt war. 50 Meter entfernt strömte ein Pulk von Arbeitern, deren Schicht endete, auf das Ausfalltor zu. Geduckt rannte Philipp über die Freifläche. Ein in der Nähe umherstehender Soldat sichtete ihn. Er schnitt ihm den Weg ab und brüllte ihn an, sofort haltzumachen.

Ohne die Geschwindigkeit zu verringern, rammte Philipp dem Uniformierten die Schulter in die Brust. Aus den Augenwinkeln sah er den Mann stürzen. Das Gefühl, dass er diesen Soldaten kenne, überkam ihn. Der Eindruck verflog, während er weiter hetzte. Sich unter die Menschenmasse mischend, versuchte er, in deren Mitte unterzutauchen. Vor ihm schlossen Soldaten die Ausgänge. Noch 20 Meter! Die von ihrem unablässig in seine Richtung deutende Kameraden alarmierten Wachen eilten mit Dampfdruckgewehren heran. Philipp vernahm ein Ploppen. Auf dem Rücken eines vor ihm gehenden Arbeiters breitete sich ein roter Fleck aus. Philipp setzte über den zu Boden Sinkenden hinweg. Er hegte keine Zweifel, wem die Schüsse galten. 10 Meter! Einige, der mit ihm Laufenden, bemerkten den Beschuss. Panik brach aus. Wie eine wild gewordene Kuhherde brandete die Menge in Richtung des Ausganges. Die Soldaten vermochten angesichts der Stampede, weder die Heranstürmenden zurückzudrängen noch die Gatter zu schließen.

Philipp verließ den beleuchteten Umkreis des Kraftwerkes und rannte zum in der Ferne blutrot glitzernden Wasserband. Hinter ihm nahten Gaslaternen. Laute Stimmen ertönten. Er lief den Fluss entlang. Bald erschien das dümpelnde Boot in seinem Blickfeld. Mit einem Satz sprang er in die wackelnde Nussschale.

Seine Schwester, die dort auf ihn wartete, betätigte das Ventil des vorgeheizten Kessels, während sie besorgt an Land schaute. Der dampfbetriebene Außenborder erwachte zum Leben.

Unterdessen tauchten Lampen das Flussufer in helles Licht. »Da ist er!«, schrie jemand.

Das Boot nahm Fahrt auf. Holz splitterte. Neben ihnen, dort wo die Kugeln der Gewehre das Wasser trafen, spritzten Fontänen auf.

»Hört auf mit dem Schießen!«, durchschnitt ein Ruf die Nacht. »Es ist eine Frau bei ihm! Ich glaube, es ist die Tochter des Richters.«

Unbehelligt und unverletzt erreichten die Flüchtenden die Mitte des Stromes.

»Wir haben es geschafft!«, stellte Emma Philomena Bicker erleichtert fest.

Philipp schwieg. In Gedanken versunken, behielt er die Umgebung im Auge. Die Stadträte würden Depeschen flussabwärts schicken. Aber bis die ankamen, hoffte er längst über alle Berge zu sein.

5

Durch die Fenster drang Stimmengewirr. Eine Sirene heulte in der Ferne. Neugierig traten Benjamin und sein Lehrherr Baldur vor die Tür. Soldaten hasteten durch die Gassen. Zahlreiche Menschen strömten zum Marktplatz.

Benjamin packte ein vorbeilaufendes Kind am Ärmel. »Sag! Was ist denn hier los?«

»Habt ihr es nicht gehört? Man sagt, das Dampfkraftwerk sei überfallen worden. Der Bürgermeister hält eine Kundgebung ab.« Der Junge riss sich los und eilte weiter.

»Das verspricht interessant zu werden«, dachte Baldur laut. Er schloss die Werkstatttür ab. »Komm, das schauen wir uns an!« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er Benjamin hinter sich her.

Vor dem Rathaus stand ein hölzernes Podest. Pranger für Steuersünder und andere Delinquenten, die kleinere Missetaten auf dem Kerbholz hatten. Arnold Horace Castleton, seines Zeichens Stadtoberhaupt der Stadt Wilhelmswall, blickte von dort aus auf die stetig wachsende Menge herab. Laternen verströmten einen blassen Lichtschein. Einzelne Zuschauer schwenkten lodernde Fackeln. Das Gemurmel verstummte schlagartig, als der Bürgermeister die Arme hob. Er setzte zum Sprechen an.

»Unglaubliches ist geschehen«, hallte seine kräftige Stimme über den Platz. »Die Sicherheit unserer Stadt und des ganzen Landes ist in Gefahr. Ein dreister Dieb ist in das Kraftwerksgelände eingedrungen. Er hat gewaltsam einen der unersetzlichen Rubine entwendet, die den Schutzschirm aufrechterhalten!«

Unzählige wütende Entsetzensrufe durchzogen das Publikum.

Der Redner heizte die von erwartungsvoll ins aggressive umschlagende Stimmung weiter an: »Ihr wisst, was das für uns bedeutet. Die Horden des Bösen lauern seit je her auf die Gelegenheit auszubrechen. Noch nie befanden wir uns so nahe an einer Katastrophe. Die Stabilität des einzigen Schutzes unserer Stadt gegen die Dämonen ist in Gefahr.« Er ließ dieser Ankündigung eine bedeutungsschwangere Pause folgen. Dann sprach er weiter: »Der gemeine Dieb ist auf der Flucht. Wie wir durch Augenzeugenberichte erfahren haben, befindet sich die ehrenwerte Tochter unseres Herrn Richters in dessen Gewalt.«

Hatte Benjamin eben noch die Rede mit Gleichgültigkeit verfolgt und den sich aufheizenden Mob lediglich misstrauisch beäugt, wurden seine Augen jetzt vor Bestürzung groß. Emma! Sie war in Gefahr. In den Händen eines skrupellosen Verbrechers. Er drängte nach vorne, um die Proklamation besser zu hören. Vor Aufregung und Sorge zitterten die Knie. Das Herz schlug bis zum Hals.

»Deshalb«, fuhr derweil Castleton fort, »deshalb hat der Stadtrat beschlossen, eine Belohnung auf die Wiederbeschaffung des Rubins und die Gefangennahme des Diebes auszusetzen.« Auffordernd blickte er ins Publikum. »Jeder, der einen entscheidenden Hinweis liefert, kann mit der Großzügigkeit des Stadtrates rechnen.«

Applaus brandete auf.

Bürgermeister Castleton machte sich bereit, auf die Bühne zu verlassen, kehrte dann doch noch einmal auf das Podest zurück. »Selbstverständlich erhoffen wir auch eine wohlbehaltene Rückkehr und Befreiung Emma Philomena Bickers«, fügte er hinzu und übergab dem Kommandanten der Stadtwache das Wort.

Der Rest der Rede ging im aufkommenden Stimmengewirr unter, doch das interessierte Benjamin ohnehin nicht mehr. Seine große Liebe in Nöten. Er musste etwas unternehmen! Aber er war nur ein einfacher Bauer und Erfinderlehrling, was sollte er schon gegen einen bewaffneten, gewieften Dieb und Entführer ausrichten können? So schnell er vermochte, eilte er zur Werkstatt, um nachzudenken. Pläne zu schmieden.

6

Im mit dunklem Holz getäfelten Nebenzimmer des Ratssaals herrschte eine angespannte Atmosphäre. In der Mitte des Raumes flackerte unstet eine Kerze auf dem Tisch. Sie tauchte die Szene in ein der Stimmung angemessenes düsteres Zwielicht. Die massive Tür hatten die vier Männer, um heimliche Lauscher zu vermeiden, fest verschlossen. Vor ihr wachten Soldaten, die ein ungestörtes Treffen gewährleisteten.

»Verdammt noch mal Jakob, ich hätte niemals auf dich hören sollen. Wäre dein missratener Sohn damals auf dem Schafott gelandet, gäbe es jetzt keine Schwierigkeiten!«, fluchte Bürgermeister Arnold Horace Castleton lautstark, während er seinen Zylinder auf den Tisch schleuderte.

Der Angesprochene schaute betreten auf den Boden. Der fehlenden Härte gegenüber Philipp war sich Richter Jakob Bicker wohl bewusst. Mit Mühe bewahrte er seinen Sohn vor dem Schlimmsten, als er das in ihn gesetzte Vertrauen enttäuschte. Die Verbannung mit der Auflage zu schweigen, war das kleinere Übel gewesen. Doch Bicker kannte seinen Sohn nur zu gut. Er befürchtete seit Langem, dass er einst wiederkehren würde. Nun konnte er nichts mehr für ihn tun.

»Wie ist der Stand?«, wandte sich Bürgermeister Castleton an Oberst Jasper Roth, den Befehlshaber über die Stadtwache und nahm seinen verachtungsvollen Blick von Richter Bicker.

»Wie wir bereits wissen, ist der Dieb mit großer Wahrscheinlichkeit der Sohn unseres ehrenhaften Richters. Einer der Soldaten, die das Kraftwerk beaufsichtigen, erkannte ihn. Einer der Rubine befindet sich in Philipp Bickers Besitz. Am Fluss wartete eine Frau in einem Boot auf ihn. Wir gehen fest davon aus, dass es sich um seine Schwester Emma handelt, die ihm offenbar bei dem Vorhaben half. Wie er den Diebstahl bewerkstelligte, ist unklar. Wir konnten die Identität des Diebes unter Verschluss halten. Für das Schweigen des Soldaten ist gesorgt. In Bezug auf das Mädchen ist Stillschweigen kaum möglich. Man kennt sie in der Stadt und sie wurde von mehreren Schaulustigen gesehen. Wir vermochten jedoch die Tatsache ihrer Mithilfe zu verbergen.« Er bedachte den Richter mit einem vernichtenden Blick, bevor er fortfuhr. »Beide befinden sich auf der Flucht. Das Boot wurde verlassen auf dem Fluss treibend vorgefunden. Ich vermutete, dass sie auf einen der großen Schaufelradlastendampfer umgestiegen sind.«

»Eine Idee, was ihr Ziel ist?«

»Rigstein!«, mischte sich der vierte Mann im Raum zum ersten Mal in das Gespräch ein. »Nur dort kann man den Stein fachmännisch zerteilen und schleifen lassen, ohne eine beschwerliche Reise ins Ausland anzutreten. Die einzige Option, das Diebesgut in Geld zu verwandeln.« Die Stimme klang blechern, als ob man in einen Eimer hineinspräche.

Richter Bicker fühlte sich in Gegenwart von Thomas Hahn, der sich selbst »Hawk, der Falke« nannte, stets unwohl. Einst ein Söldner, stand der Falke inzwischen als skrupelloser Kopfgeldjäger in den persönlichen Diensten des Bürgermeisters. Sein Habitus strahlte etwas Böses und Gewalttätiges aus. Teile des Körpers waren durch mechanische Bauteile ersetzt. Der linke Arm bestand ab dem Ellbogen gänzlich aus einer metallenen Prothese. Der Kopf wurde am Hals durch ein Gestell aus Stäben gestützt. Glänzende Kupferrohre bildeten die Rippen. Dahinter konnte man Zahnräder und ein eiförmiges Behältnis erkennen. Richter Bicker hatte gehört, dass darin unter hohem Druck Dampf gespeichert sei, der die Körperfunktionen mit Energie versorgte. Er wich unbewusst einen Schritt zurück. Besorgt der Söldner könne in seiner Anwesenheit explodieren und ihm um die Ohren fliegen. Ob der »mechanische Mann«, wie ihn Bicker in Gedanken bezeichnete, aufgrund eines Unfalles so leben musste oder dieses Dasein aus freien Stücken wählte, wusste niemand. Jedenfalls verstärkten die künstlichen Bauteile den Eindruck, es stehe eine gefühllose Maschine am Tisch. Ein unangenehmer Zeitgenosse. Der Mann für das Grobe.

»Hawk, nehmen Sie die Verfolgung auf. Es ist Ihre Aufgabe, für eine endgültige Lösung unseres Problems zu sorgen«, wies Bürgermeister Castleton an. Er wendete sich an Oberst Roth. »Stellen Sie ihm einige handverlesene, verschwiegene Soldaten zur Seite.«

»Nein! Das erledigen meine Männer.« Der Falke grinste freudlos. Eine lange Klinge schoss aus dem linken Armersatz heraus. Der Dolch bildete eine beängstigende Einheit mit seinem Besitzer. Zusammen stellten sie eine perfekte Waffe dar. Bedeutungsvoll strich er mit der Schneide über die Metallstreben an der Kehle. Vorfreude und Lust glitzerten dabei in den Augen. Kleine Dampfschwaden entwichen bei jeder Bewegung, jedem Atemzug dem halbmechanischen Körper und hüllten ihn in eine Dunstwolke.

Das kreischende Geräusch der Klinge, wie Kreide auf einer Schiefertafel, jagte Richter Bicker eisige Schauer das Rückgrat hinauf. »Das könnt ihr nicht machen!«, flehte er mit zittriger Stimme. »Verschone Emma! Bitte Arnold, sie ist nur ein Opfer der wirren Ideen ihres Bruders. Von ihm verführt und benutzt.«

Frostiges Schweigen schlug ihm entgegen.

Dann gab sich Bürgermeister Castleton einen Ruck. »In Ordnung, unserer langen Freundschaft willen.« Er blickte zum Falken. »Lasst Emma am Leben. Aber sie darf keinesfalls in die Stadt zurückkehren. Sie wissen, wo Emma hinzubringen ist und was für uns alle auf dem Spiel steht!«

7

Mit bekümmerter Miene betrachtete Baldur seinen Schützling Benjamin, der unruhig im Raum umhertigerte. Er verstand nur einen Teil der Selbstgespräche, erahnte dennoch den inneren Widerstreit und die Sorgen, die seinen Lehrling plagten. »Jetzt setzt dich endlich hin. Du machst mich noch ganz verrückt mit diesem sinnlosen Herumgerenne.«, schnauzte er Benjamin an.

»Ihr habt leicht reden! Emma wurde entführt und ich sitze hier untätig herum.«

»Wenn du tatsächlich mal sitzen würdest«, klagte Baldur.

»Wie konnte das geschehen?«, fragte Benjamin ärgerlich, ohne eine Antwort zu erwarten. Er ließ sich auf einem Hocker nieder. Unruhig rutschte er hin und her. »Wer ist dieses Schwein, das sie gegen ihren Willen mitgenommen hat? Unsere Ratsherren interessiert in Wirklichkeit nur dieser verdammte Rubin. Keiner schert sich um das Schicksal Emmas, außer Richter Bicker vielleicht. Ich muss etwas unternehmen, wenn es sonst keiner tut. Aber wie?« Er blickte seinen Meister hilfesuchend an.

Baldur wiegte nachdenklich den Kopf. »Du bist ein junger Mann ohne ausreichende finanzielle Mittel, der niemals zuvor über die Stadtgrenzen hinausgekommen ist. Die Welt da draußen ist gefährlich. Du bist darauf nicht vorbereitet. Es wäre klüger, diese Angelegenheit denen zu überlassen, deren Aufgabe es ist. Sie werden den Dieb jagen und sicherlich auch deine Emma finden.«

Baldur sah den Widerspruch und Wut in Benjamins Augen aufblitzen. Er hegte die Befürchtung, dass der Junge sich in seinem Schmerz von niemanden würde aufhalten lassen. Das barg die Gefahr, dass er in seinem Eifer Unbedachtes tat. Womöglich war es besser, ihn bestmöglich zu unterstützen, falls er mit Appellen an die Vernunft scheiterte. Schnell fügte er hinzu: »Ich verstehe dich ja, Benjamin. Wenn du es auch nicht glaubst. In meiner Jugend war ich ebenfalls ein Heißsporn, der einfach losrannte und mit dem Kopf durch die Wand wollte. Trotzdem, alleine auf die Suche zu gehen wäre ein waghalsiges Unterfangen. Ich bin zu alt, um dich zu begleiten.«

»Wahrscheinlich stimmt, was du sagst. Was kann ich schon ausrichten? Ich wüsste nicht einmal, wo ich mit meinen Nachforschungen anfangen sollte«, lenkte Benjamin ein.

»Eine Idee, wohin er geflohen sein könnte, hätte ich durchaus. Rigstein.« Zu spät bemerkte Baldur den Fehler. Das unterdrückte Lächeln im Gesicht Benjamins sprach Bände. Hereingelegt!

»Rigstein, das ist also mein Ziel«, grübelte Benjamin laut. »Ich breche sofort auf. Wenn es so sein soll, ohne jede Hilfe. Emma werde ich keinesfalls im Stich lassen.«

»Kann dich offensichtlich nicht davon abhalten«, seufzte Baldur. »Es macht aber absolut keinen Sinn, die Sache zu überstürzen. Heute Nacht kommst du nirgends mehr hin. Wir sollten lieber die Zeit nutzen, deine Reise so gut wie möglich vorzubereiten.«

Auf dem Tisch standen zwei Tassen dampfenden Gebräus, von dem Baldur wusste, dass dieses wachhielt. Kaffee nannte man die streng riechende Brühe, die aus heißem Wasser vermischt mit gerösteten und anschließend zerstoßenen Samenkörnern bestand. Eine sündhaft teure Delikatesse aus den Kolonien. Benjamin verabscheute den bitteren, leicht öligen Geschmack trotzdem. Nichtsdestotrotz zwang ihn Baldur, die Flüssigkeit in kleinen Schlucken zu trinken, um die zufallenden Augenlider im Zaum zu halten.

»Was ist an Rigstein so besonders, dass es als Ziel infrage kommt?«, wollte Benjamin wissen.

»Man nennt sie die Stadt der Edelsteinschleifer. Als Ganzes ist der Rubin unverkäuflich. Dort existieren zahllose seriöse und darüber hinaus einige zwielichtige Werkstätten, die in der Lage sind, den Stein zu zerschneiden und die entstehenden Einzelstücke mit einem neuen Schliff zu versehen.«

»Eine große Stadt?«

»Ja.«

»Das bedeutet, dass ich den Dieb schwerlich finden kann, sobald er sich innerhalb der Stadtmauern befindet. Werden ihn die Wachen nicht am Stadttor kontrollieren und aufhalten?«

»Rigstein ist dem vom König privilegierten Wilhelmswall nicht übermäßig wohl gesonnen. Eine Depesche ging bestimmt raus. Das wird den Rat von Rigstein kaum scheren. Die freuen sich über jede Gelegenheit, ihrem Konkurrenten um die Gunst des Hofes eins auszuwischen. Sie werden die Fahndung ignorieren. Vermutlich wird der Flüchtige ungehindert in die Stadt gelangen. Du müsstest vor ihm an der Brücke eintreffen. Die stellt tagsüber den einzigen Zugang dar. Dann könntest du den Dieb abfangen. Deine Überlegung ist richtig, verschwindet er erst einmal im Gewirr der Gassen, wird es beinahe unmöglich, ihn aufzuspüren.« Baldur setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Der Dieb hat mindestens einen halben Tag Vorsprung. Es wird schwer, ihn auf dem Weg zu überholen.«

»Dann scheidet ein Flussdampfer aus. Vielleicht eine Dampfdroschke, mit der die Post und Passagiere befördert werden?«, sinnierte Benjamin.

»Die fahren unterwegs viele Stationen an. Das dauert ewig.«

»Verdammt! Versuchen muss ich es auf jeden Fall und wenn ich laufe.«

»Eine Möglichkeit gäbe es.« Baldur dachte konzentriert nach. Schließlich schüttelte er traurig den Kopf und sprach zu sich selbst. »Nein, das funktioniert auch nicht. Die Passagen sind Monate im Voraus ausgebucht. Keine Chance, jemanden an Bord zu kriegen.«

Benjamin schaute Baldur neugierig an. »Wovon redet ihr Meister?«

»Vom Luftschiff, das am frühen Morgen auf die Reise nach Rigstein geht.«

»Darin besteht, wenn ich dich richtig verstehe, die einzige Möglichkeit, Rigstein rechtzeitig zu erreichen? Ich finde einen Weg an Bord zu gelangen.«

»Das Gelände ist umzäunt und gut gesichert. Man benötigt einen Passagierschein. Selbst mit viel Geld kommst du da nicht weiter.«

»Ich habe keine Wahl!«

Baldur schnaubte. »Und wie sieht dein Plan aus?«

»Ich vertraue auf mein Glück.«

»Na, das ist mal eine erfolgversprechende Idee. Aber tu, was du nicht lassen kannst. Ich prophezeie, dass du in ein paar Stunden wieder vor meiner Tür stehst. Falls du es wider Erwarten schaffst, brauchst du vor Ort womöglich jemanden, der sich in Rigstein auskennt. Ein Freund von mir lebt dort. Suche ihn auf, wenn du Hilfe benötigst.«

»Wie finde ich ihn?«

»Suche im Handwerkerviertel nach Horst dem Steinbrecher. Man kennt ihn. Sag ihm, dass ich dich schicke.« Baldur runzelte für einen Moment die Stirn.

»Meister Baldur?«

»In seinem letzten Brief machte er seltsame Andeutungen. Von ihm stammen die Pläne für diese Geräte.« Er zeigte zu den Kästen, an denen er bereits den ganzen Vormittag herumbastelte. »Irgendwas brütet Horst aus. Mir schwant, dass das ihn in Schwierigkeiten bringen könnte.«

»Verzeihen Sie die Frage. Kann ich ihm trauen?«, erkundigte sich Benjamin und trat dabei verlegen von einem Bein auf das andere.

»Unumschränkt. Er ist ein aufrichtiger Mensch. Manchmal ziemlich schrullig. Man weiß nie, was für Ideen in seinem Kopf herumspuken.«

Baldur sah Benjamin an, dass dieser sich einen Kommentar verkniff und stattdessen verkündete, dass er vor dem Aufbruch noch ein paar Stunden schlafen wolle.

Baldur nickte lediglich und stierte in eigene Gedanken versunken die Wand an.

8

Ein Silberstreif am Horizont kündigte das nahende Morgenlicht an. Zwischen Bäumen verborgen, bewunderte Benjamin die Wilhelmina, den Stolz der Luftfahrtgesellschaft Wilhelmswalls. Das noch fest am Boden vertäute Luftschiff erwartete seine Gäste. Arbeiter schwirrten wie Bienen umher und bereiteten den Abflug vor. Seit einer Stunde harrte Benjamin vor den Zäunen des Flugfeldes aus, ohne dass er einen Schritt weitergekommen wäre. Die ersten Reisenden fanden sich vor der dampfbetriebenen Schleuse ein und zückten ihr Bordkarten. Sobald sie diese in einen Schlitz am Tor einführten, schwangen die Türflügel mit einem Zischen zurück und ließen die Davorstehenden passieren. Die feuchte Nachtluft kroch längst unter Benjamins Kleidung. Ihn fröstelte.

Benjamin hatte sich trotz der Einwände Baldurs und der Tatsache, dass er keinen annähernd sinnvollen Plan vorweisen konnte, auf den Weg gemacht. Die Vorstellung, als blinder Passagier mitzufliegen, kam ihm inzwischen selbst lächerlich vor. Nicht einmal auf das Gelände würde er gelangen. Nur das Notwendigste befand sich in seinem Gepäck, das aus einem Lederrucksack bestand. Proviant, Wechselkleidung und ein Notizbuch füllten ihn bis zur Kante. In der Innentasche seiner Jacke verwahrte er das Geld und den kleinen Apparat, den Baldur ihm mitgegeben hatte.

Er dachte an die kurze Unterhaltung, die er mit Baldur vor dem Aufbruch geführt hatte.

»Wenn ich dich schon nicht hindern kann, sei wenigstens vorsichtig! Mit neunzehn war ich auch noch ein unverbesserlicher Sturkopf, mit Flausen im Kopf. Ich kann dich ja irgendwie verstehen«, wiederholte Baldur resigniert und gab nach mehreren Versuchen Benjamin umzustimmen nach. »Du bist auf dich allein gestellt. Es wird eine gefährliche Reise. Ich versuche, Horst telegrafisch über dein Kommen zu informieren. Es ist trotzdem jugendlicher Irrsinn, was du vorhast.« Er zog die Gerätschaft hervor, die Benjamin für einen Füller gehalten hatte. »Ich möchte dir etwas mitgeben. Hoffe, du musst es niemals benutzen.«

»Was ist das?«

»Eine als Füller getarnte Waffe. Kein Spielzeug. Gebrauche sie mit Bedacht.« Er nahm eine gläserne Ampulle aus einem kleinen unscheinbaren Holzschächtelchen, setzte sie in die aufgeklappte Apparatur ein und verschloss diese. »Die Glasphiole enthält ein Gift. Gelangt es in den Körper, führt es zu Bewusstlosigkeit. Normalerweise wacht man nach ein paar Stunden wieder auf. Aber sei dir bewusst: Bei Alten oder Kranken könnte es tödlich wirken. Siehst du das Zahnrad oder besser gesagt die Kurbel an der Seite?«

Benjamin nickte.

»Wenn du sie drehst, wird im Innern ein Überdruck erzeugt. Der kleine Knopf hier ist der Auslösemechanismus. Beim Betätigen schießt der Inhalt an der Spitze heraus. Sofern du nah genug dran bist, funktioniert das sogar durch Kleidung hindurch. Sobald die Flüssigkeit in die Haut eindringt, entfaltet sich die Wirkung innerhalb von Sekunden. Wer weiß, ob du es brauchen kannst.« Er hatte Benjamin das Holzschächtelchen, mit der geladenen Waffe, einigen Ersatzphiolen nebst mehreren Silbermünzen in die Hand gedrückt und ihn dann kurz zum Abschied umarmt.

Das rumpelnde Geräusch von Rädern drang an seine Ohren. Benjamin kauerte nieder, bemüht mit den Schatten zu verschmelzen. Eine Kutsche hielt nur wenige Meter von ihm entfernt. Die Tür öffnete sich. Eine hagere Gestalt sprang heraus. Benjamin spitzte die Ohren.

»Kutscher, er reiche mir meine Tasche. Ich werde die restlichen Schritte laufen. Vite, vite. Muss dringend zwischen die Bäume. Eine lange Fahrt liegt hinter mir. Im Luftschiff ist das so eine Sache.«

Die Antwort bestand aus einem unverständlichen und desinteressierten Brummeln. Eine Tasche nebst einem kleinen Koffer flogen vom Bock hinunter auf den Boden.

»Geht es ein bisschen freundlicher, Monsieur?«, schüttelte der Fahrgast den Kopf und schaute dem bereits kehrtmachenden Gefährt nach. Er platzierte das Gepäck am Rande des Weges. Dann suchte er nach einer geeigneten Stelle, um sich zu erleichtern.

Benjamin brach trotz der Kälte der Schweiß aus, als der Blick des frisch Eingetroffenen über sein Versteck schweifte. Unbemerkt bleibend musterte er den jungen Mann, der Frack und Zylinder nach französischer Machart trug. Teuer und gepflegt. Unter dem Hut lugten weiße Locken einer Perücke hervor, wie man sie in besseren Kreisen im Ausland nach wie vor als schick empfand, obwohl sie in Wilhelmswall längst aus der Mode waren. Benjamin vermutete, dass ein Handlungsreisender vor ihm stand. Auch in Baldurs Werkstatt gingen Kaufleute ein und aus. Die Musterkoffer, die diese mit sich führten, glichen dem vor ihm auf dem Waldboden Stehenden, aufs Haar. Benjamin beobachtete, wie der Fremde langsam auf den Wald zusteuerte. Vielleicht war das die Gelegenheit.

Benjamin fummelte den Füller aus der Jackentasche heraus. Er kurbelte wie wild, um den nötigen Druck zu erzeugen. Sein Gegenüber glich ihm in Statur und Größe. Den feinen Schnösel in einem Kampf niederzuringen, traute Benjamin sich ohne Weiteres zu. Dabei bestand jedoch das Risiko, dass der Angegriffene um Hilfe rief. Allerdings verabscheute Benjamin unnötige Gewalt. Er verwarf deshalb den Gedanken, ihn hinterrücks niederzuschlagen. Das Geschenk Baldurs stellte dagegen eine vergleichsweise humane Möglichkeit dar, den jungen Mann auszuschalten. Dass er das Schlafmittel ohne Schäden verkraftete, daran bestand für Benjamin kein Zweifel. Um dessen Platz im Luftschiff einzunehmen, musste er lediglich nahe genug herankommen.

Benjamin wartete ab, bis der Mann zwischen die Bäume trat und sich hinhockte. Sollte es einen Kampf geben, bedeutete die unschickliche und ungünstige Haltung seines Opfers einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Die Waffe hinter dem Rücken verborgen, verließ Benjamin sein Versteck und kam zwischen den Bäumen zum Vorschein.

»Kühl heute Morgen. Hat der werte Herr keinen anderen Wald gefunden als meinen? Ich bitte um Verzeihung für mein forsches Herantreten. Ich bemerkte nicht, welches Geschäft ihr gerade verrichtet. Bin selbst auf der Suche nach einem stillen Örtchen.«

Der Angesprochene wollte erschrocken hochfahren, überlegte es sich aber aus verständlichen Gründen anders. »Mon dieu, wer seid ihr?«

»Thomas von der Greifenwald ist mein Name. Ich beabsichtige, mit der Wilhelmina nach Rigstein zu reisen.« Zumindest der zweite Teil war nicht gelogen. Benjamin hielt es für angebracht, seinen wirklichen Namen zu verschweigen. »Und Euer Name ist? Ihr seid nicht von hier. Welche Geschäfte führen euch nach Wilhelmswall?«

»Dominique Francois Legrand«, erfolgte die Antwort. Er zog eiligst die Beinkleider nach oben und stand auf. Verwirrung und Misstrauen standen in seinen Augen. Trotzdem sprach er weiter, bemüht einen Sicherheitsabstand einzuhalten. »Ich habe meinen Onkel in Baltmannsweiler besucht, um Holzproben abzuholen. Mein Vater fertigt Möbel an.«