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Der siebzehnjährige Hans lebt in einem Dorf voller Ignoranz und Frust und flieht vor dem Chaos seines Lebens in die Welt des Comiczeichnens. Als sein Avatar, der Bettlerjunge Hansgar, in einer mittelalterlichen Parallelwelt erwacht, wird das Zeichnen plötzlich mehr als nur ein Rückzugsort. Ritter Ronald rettet den Bettlerjungen Hansgar und offenbart ihm, dass er ein Erwählter ist – ein Kriegerpriester, bestimmt für einen Kampf, den er nie gewollt hat. Widerwillig stellt sich Hansgar seiner Bestimmung und tritt gegen das Ungetüm Samael an. Doch kann er seine Mission erfüllen und das Vertrauen von Penelop gewinnen? Und was verbirgt Ritter Ronald wirklich? Während Hans in unserer Welt weiterzeichnet, verschwimmen die Grenzen zusehends, denn die Abenteuer in seiner Comicwelt haben Auswirkungen auf die Realität und erwecken die Macht eines dunklen Feindes. Tauche ein in das fesselnde Abenteuer von "Höllenhund" – einer einzigartigen Mischung aus Fantasy und Realität von Lew Marschall. Bereit für eine Reise in eine Welt jenseits deiner Vorstellungskraft? Entdecke »Höllenhund« noch heute!
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Veröffentlichungsjahr: 2020
// 3. Auflage 2025
// Copyright © 2019-2025 Lew Marschall
// All rights reserved.
// Website: https://lewmarschall.com
// Lektorat: Florian Führen
// Coverillustration: Jeff Brown (http://jeffbrowngraphics.com/)
// Copyright Coverbild: @ 2019 Patrick Pissang
// Copyright Ritter: @ 2018 Patrick Pissang
// Testleser: Martina, Melli, Monika, Patricia, Sandra, Florian, Franz, Stefan
// ISBN Paperback: 978-3-00-063011-8
// ISBN e-Book: 978-3-00-063010-1
// ISBN Hardcover: 978-3-910747-99-9
// Buch herausgegeben von: ZEMP Golden Goose GmbH, Salachweg 18a, 86807 Buchloe, Bayern
// Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
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Triggerwarnungen nehmen auf Menschen mit traumatischen Erfahrungen Rücksicht. Aus subjektiver Sicht können diese Trigger von Bedeutung sein oder nicht, unabhängig davon, in welchem Kontext oder Medium sie sich finden. Auch fiktive Texte, wie dieser Roman, können triggern. Wir weisen deshalb an dieser Stelle auf Trigger im vorliegenden Buch hin. Die Geschichte konfrontiert dich mit: Gewalt.
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Lieben Dank im Voraus! Für ein gutes Karma.
Für meine Vergangenheit;
du weißt, ich mag dich sehr.
Aber sieh es ein, es ist vorbei.
I. Am Anfang, das Ende
II. Bettler
III. Novize
IV. Priester
V. Kriegerpriester
VI. Heiliger
VII. Am Ende, zurück zum Anfang
Dramatis Personae
Leseprobe: Der Fluch des schwarzen Phönix (Band 1 der Heirs-of-the-Phoenix-Saga)
Nachwort
Bücher von Lew Marschall
Mit einem Heiligen habe ich trotz meines Namens nichts gemein: Franziskus ruft man mich; Nachname Jutebold. Im Krieg geboren, habe ich Berlin aus der Asche steigen sehen und alles dafür getan, die Schönheit an der Spree wieder herzurichten. Für die heutigen Berliner Gören, diese Generation von Großmäulern und Nichtsnutzen, bin ich ein alter Sack. Ich habe begriffen, dass ich mein Leben vor langer Zeit versaubeutelt habe. Wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, habe ich in Hans Maurer meine Erlösung gesehen; obwohl er mir von Anfang an nicht geheuer war. Er wählte seine Worte, wie mein Sohn es getan hatte. Das wühlte längst verschüttete Gefühle in mir auf. Sorgen über mein Leben, Schuld wegen meiner Verfehlungen. Und diese Reue, mich meinen Fehlern nie gestellt zu haben – Reue, die, wie er mir zeigte, belanglos war. Verschwendete Zeit.
Ich sitze in meinem geliebten Porsche Cayenne; der Motor säuselt wie eine geheimnisvolle Geliebte und verspricht mir ewige Treue.
Warum habe ich nur zugestimmt, die Familie Müller hier am Bahnhof abzuholen? Das Warten fällt mir gerade schwer. Ich bin schon lange unterwegs und will endlich beim Treffen ankommen; ich spüre meinen Puls; er rennt, denn ich habe auf Hans’ Wunsch eine Rede vorbereitet.
Ich greife hinüber zum Beifahrersitz und ziehe Hans’ aktuellstes Comic auf meinen Schoß. Dann betrachte ich es. Das Cover zeigt einen dreiköpfigen Wolf, einen schwarzen Engel sowie einen Kämpfer in weißem Umhang, der auf einem Greifen reitet.
Meine Finger gleiten über das Hochglanzmaterial. Sie stocken auf der Beschichtung und mein Zeigefinger bleibt zufällig über dem Bild des Greifen hängen. Das Fabelwesen ist weiß und übersät mit schwarzen Punkten. Es hat den Kopf eines Adlers und den Hinterleib eines Leoparden.
»Alasar, dein Seelentier!«, murmel ich und lächle, wobei sich mein Brustkorb hebt und senkt. »Du und deine Comics, Hans.« Wieder grinse ich über das gesamte Gesicht, als ich daran denke, wie er von seinen Ideen und Träumereien berichtet. »Was wäre wohl geschehen, wenn du … tja was eigentlich? Nicht gezeichnet hättest? Dann wären wir uns nie begegnet, was ich heute bereuen würde … wenn du aber dafür …?« Auf Autopilot blättern meine Hände durch das Comic, während ich in die Ferne starre. »Es ist wie es ist«, sage ich und könnte mich jemand sehen, würde er einfach behaupten, der Mann da im Auto starre apathisch in die Ferne.
Mich weckt das klackende Geräusch der Autotüren aus meinem Tagtraum.
Elisa Müller, Hans’ Freundin, setzt sich auf die Rückbank. Die hübsche junge Frau lächelt mich an.
Ich nicke ihr zu.
Auf Elisa folgt ihre Mutter Janina, die ihrer Tochter stark ähnelt und mich ebenso freundlich begrüßt. Ronny Müller steigt zeitgleich neben mir auf den Beifahrersitz und reicht mir seine Hand. Wir nicken beide ernst; tief schauen wir einander in die Augen. Bis zum Ziel seien es 1 Stunde 29 Minuten, sagt das Navi. Ich hingegen sage nichts und fahre los.
»Die Koffer!«, ruft Elisa hinter mir.
Ich halte abrupt an.
Die Familie Müller ist sichtlich aufgewühlt. Ronny springt aus dem Wagen, rollt die zwei Koffer herbei, die noch an der Haltestelle standen und wirft sie in meinen Kofferraum. Endlich sitzt er laut keuchend wieder neben mir. Erst jetzt fällt mir auf, dass Ronny Müller verletzt ist, denn er bewegt sich mit einer Schutzhaltung. Er erkennt meinen forschenden Blick und sagt: »Messerstich in die Rippen. Ich hatte Glück. Fragen Sie nicht … heben wir uns das für später auf.«
Mir ist es recht, ich interessiere mich nicht zu sehr für das Pech anderer Leute.
Für eine Weile herrscht Ruhe; eine angenehme Stille, nur das kraftvolle Sausen meines Motors ist zu hören.
Elisa hinter mir räuspert sich. »Woher kennen Sie Hans eigentlich, Herr Jutebold?«
Ich atme genervt aus, als ich den Genuss dieser Situation wegen einer neugierigen Frage von Elisa aufgeben muss. »Aus Berlin.« Ich schweige; sie wartet ein paar Minuten.
»Sie müssen es mir nicht erzählen …«
Ich sehe im Rückspiegel, wie Elisa ihre Arme verschränkt und ernst aus dem Fenster schaut.
»Der junge Mann stürmte in meine Wohnung, um meinen Laden zu mieten. Dann fing er an, blöde Fragen zu stellen. Da schmiss ich ihn raus!«, sage ich dann doch.
»Ich hätte Sie ja eher für einen Gentleman gehalten«, meint Elisa.
Ihre höfliche Offenheit bremst unser Gespräch aus.
Nachdem ich ihr Lob verdaut habe, erkläre ich mich. »Er erinnerte mich an etwas, was ich getan habe und vergessen wollte.«
Elisa schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und was war das?«
Sie scheint nicht im entferntesten davon auszugehen, dass sie mich mit ihren Fragen bedrängt. »Nichts … Es war nichts … es geht dich nichts an.« Ich konzentriere mich wieder voll auf die Straße vor mir und hoffe, die kleine neugierige Göre hört damit auf, mich zu löchern.
Wir fahren auf einer Allee, und die Bäume rauschen nur so an uns vorbei.
»Entschuldigen Sie, Herr Jutebold, ich wollte nicht unhöflich sein. Aber erzählen Sie doch weiter. Ich vermisse ihn. Zu hören, was ihm so zugestoßen ist, tut gut«, sagt sie.
Es tut mir auch gut, darüber zu reden. Ich versuche zu lächeln, als ich Elisa wieder durch den Rückspiegel ansehe, doch sie hat ihren Kopf sinken lassen und beobachtet ihre Hände. Also fahre ich fort: »Ich besuchte Hans über mehrere Wochen hinweg täglich im Krankenhaus. Er erzählte mir, wie er nach Berlin kam. Und auch von seiner Zeit mit dir, Elisa.«
Nun mustert mich Elisa. Sie will ergründen, was ich alles weiß. Sie wird augenblicklich rot, weicht meinem Blick aus und schaut aus dem Fenster des Wagens.
Ich will mir gerne alles von der Seele reden, was Hans mir offenbart hat. »Ronny, haben Sie Ihrer Tochter alles über sich und Hans erzählt?«, frage ich zur Seite blickend. Elisas Vater schüttelt den Kopf.
»Papa, was meint Herr Jutebold damit? Papa! Schau mich an.«
»Erzählen Sie ihr doch die ganze Geschichte, Herr Jutebold«, meint Ronny. Er wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Seine geröteten Augen und zitternden Lippen nehme ich mit einem überraschten Seitenblick wahr. Na ja, so sehr überrascht es mich dann doch nicht.
»Ihr macht mir Angst mit eurer Geheimniskrämerei! Was war mit ihm? Erzählen Sie es mir, Herr Jutebold?«
Das will ich hören; eine klare Aufforderung, verpackt in eine Frage. Mein alter Kopf weiß, dass es das Beste ist, wenn alle von den ungewöhnlichen Geschehnissen erfahren. »Alles begann vor knapp drei Monaten; hier in der Gegend, als Hans zitternd im Garten von Ricko Matzke hockte …«
Hans Maurer keuchte, als er sich hinter den Holzstapel fallen ließ. Unser siebzehnjähriger Freund nahm nicht den Mond wahr, der die Dunkelheit vertrieb und Obstbäume sowie Beete in Ricko Matzkes Garten beschien. Hans´ Jeans sog die Feuchtigkeit des Grases wie ein Blutegel auf. Seine Hand lag auf dem rauen Holz, dessen gesägte Flächen wie von feinen Nadeln übersät schienen und ihn stachen. Doch das bemerkte er nicht, denn er lauschte, ob er entdeckt worden war; entdeckt von seinem Nachbarn Ricko Matzke und dessen miesem Kumpel Ingo. Ein dürrer Kerl, Mitte dreißig, mit einem kantigen Gesicht und einem starrenden, kalten Blick; dazu gesellte sich eine Ausstrahlung der Unberechenbarkeit.
Ricko Matzke war ebenfalls Mitte dreißig, und obwohl sich Hans vor ihm fürchtete, schien er zugänglicher, ja, einschätzbar, zu sein; mit Ricko würde unser junger Held zur Not reden.
Dann hörte Hans beide Männer laut lachen. Sie saßen am Rande des Gartens an einem wackligen Gartentisch, auf billigen Plastikstühlen. An diesem Fleck sah der Junge Matzke öfter sitzen; häufig einsam mit einem Bier und dabei seine Kippen rauchend.
›Hoffentlich entdecken sie mich nicht‹, dachte Hans. Er schaute sich nach seiner Drohne um. Sie war am Nachmittag in Matzkes Garten gelandet, aber Hans hatte sich nicht getraut, seinen Nachbarn zu fragen, ob er sie holen könnte. Er sträubte sich, Ricko Matzke direkt anzusprechen. Dieser Mann schaute nie freundlich, wirkte ihm gegenüber unhöflich und ablehnend.
Plötzlich bellte Rickos Dogge laut auf.
Hans fing an zu schwitzen und schaute sich hektisch um. ›Oh Shit, der Hund!‹ Durch eine unvorsichtige Bewegung trieb er sich einen Schiefer vom Holz ein. Wie automatisch wanderte sein Finger in den Mund und er spürte den Splitter auf seiner Zunge. ›Wenn der Hund mich entdeckt … ist das die Drohne wert? Ich hau ab … ach komm. Beruhige dich, der Hund ist im Zwinger.‹ Hans’ Gedanken schwirrten wild durcheinander. Er hatte Angst vor der Dogge; sie war abgerichtet und schien immer aggressiv.
Alles am Nachbarn, alles an diesem Menschenschlag, ängstigte ihn. Warum die Menschen nicht freundlich sind – zumindest ab und an – verstand Hans nicht. Den frustrierten Blick, den trainierte Ricko wie Hans den Freistoß beim Fußball.
Hans atmete tief durch und versuchte über seinen Herzschlag hinweg zu lauschen. Der Hund bellte nicht mehr und die beiden Männer am Tisch schienen ihr Geschwafel beendet zu haben.
Mit einem Schreck erkannte Hans, dass sein Smartphone die ganze Zeit mit eingeschaltetem Blitzlicht im Taschenlampen-Modus war. Ein kleiner Lichtstreifen leuchtete einen der Obstbäume an.
Stille; Konzentriertes horchen. Laut pulsierte es in Hans’ Ohr. Die absolute Stille bedrückte ihn. Er dachte, Gefahr läge in der Luft. Seine Beine zitterten, denn er saß schon zu lange in einer gedrängten und ungewohnten Haltung; zusammengekauert hinter dem Holzstapel in Matzkes Garten. ›Oh nein, du Idiot. Haben sie das gesehen?‹
Dann hörte er ein Quietschen; ein lautes Schaben von Metall auf Metall. Es klang wie eine ungeölte Tür, die mit Wucht aufgezogen wurde.
Hans schossen vor Angst Tränen in die Augen. ›Der Käfig!‹ Urplötzlich und einem inneren Drang folgend rannte er los; zurück zum Gartenzaun, über den er geklettert war.
Dann vernahm er ein Hecheln hinter sich; Pfoten, die den Rasen zerfetzten, und ein gnadenloses Knurren. Hans rannte, so schnell es seine Beine vermochten. Er nahm jede Gliedmaße wahr und verfluchte deren unsägliche Langsamkeit, als wären seine Füße in zähem Gummi gefangen. Dann ein letztes Knurren. Er stürzte und krachte hart mit dem Gesicht auf den Rasen. Sein Nacken knackte kurz. ›Das war’s … mein Genick …‹ Er spürte, wie er Stück für Stück auf dem Rasen entlangglitt, weg vom Zaun. Die Dogge hatte ihn am Hosenbein seiner Jeans geschnappt. Zum Glück trug Hans, zur Freude einiger Spötter in der Schule, weite Hosen mit Schlag.
»Teddy, aus!«, schrie die grölende Stimme Ricko Matzkes. Der Hund ließ daraufhin sofort vom Flüchtenden ab. Dieser drehte sich auf den Rücken, wobei er erleichtert feststellte, dass er seine Beine noch bewegen konnte.
Da lag er im Rasen des Nachbarn.
Vom Mondlicht beschienen, leuchteten Ingos und Rickos kahle Köpfe, was ihre grobschlächtige Silhouette nur verstärkte. Ricko war muskulös; breites Kreuz; dicke Oberarme. Sein Kinn war so kräftig und ausladend, dass es unbesiegbar wirkte.
»Na, wen haben wir denn da? Ingo, schau mal! Eine kleine Memme … «, meinte Ricko an Ingo gerichtet.
»Ist das nicht dein debiler Nachbar Maurer?«, sagte Ingo, der sich um die gesamte Situation nicht scherte.
»Ja, das ist der Fatzke …«
»Herr Matzke, es tut mir leid. Ich wollte … wollte … wissen Sie, heute Nachmittag … die Drohne … wissen Sie …«, sagte Hans.
»Was quatscht der Typ da, Ingo?«
»Mann, kein Plan. Der pisst sich gleich ein …« Bei diesen Worten huschte ein Schatten über Ingos Gesicht. Jene Art von Mimik, welche bösartige Gedanken zum Ausdruck brachte, welche dem Denkenden mehr als bewusst waren.
Hans schluckte mit trockenem Mund. Seine Kehle kratzte und es fiel ihm schwer, ganze Sätze zu formen. Er war in Panik geraten, was seine Stimme ins Stocken brachte. Der junge Mann fühlte sich immer mehr als leichtes Opfer; das angeleinte Lamm, um das der Wolf schon hungrig kreiste.
»Herr Matzke, ich … ich geh … nach Hause … da drüben … wenn Sie … einfach über den Zaun … die Drohne …«, sagte Hans und gestikulierte nach seinem Haus gegenüber.
Ingo grinste breit und das Mondlicht warf tiefe Schatten in seinem Gesicht. »Jetzt steh doch endlich auf«, sagte er betont freundlich, schritt auf Hans zu und reichte ihm die Hand.
Der Junge zögerte, die Hand zu ergreifen, und sein sich zusammenziehender Magen schrie vor Ablehnung gegen den Typen förmlich auf. ›Beleidige ihn nicht und nimm die Hand‹, dachte Hans. ›Bevor er dich verprügelt, weil er denkt, du kannst ihn nicht leiden.‹ Somit griff Hans nach Ingos Hand und ließ sich hochziehen. Dann roch unser junger Freund die Fahne aus Alkohol und Zigaretten, die ihn schwindeln ließ. Seine Nase direkt hinter das Auspuffrohr eines Autos zu halten, konnte nicht unangenehmer sein.
Ingo klopfte ihm auf die Schulter und ließ seine Hand darauf liegen. »Na los, Kleiner. Komm, trink ein Bier mit. Dann erklärste uns alles.«
»Danke … aber … ich kann nicht. Ich sollte schon längst daheim … wissen sie, das ist wirklich … freundlich … aber«, sagte Hans. Er wünschte sich nur von hier weg. Allein die Möglichkeit und der Gedanke, weiter mit diesen Typen Zeit zu verbringen, ließ Hans am ganzen Leib zittern.
»Schau mal, ihm ist kalt, Ricko.«
»Na dann brauch’ er wohl noch einen Schnaps«, meinte dieser.
»Wirklich. Ich möchte wirklich lieber gehen … die Drohne können Sie behalten … aber bitte … lassen Sie mich gehen. Wirklich …«
»Hat der Spasti etwa Angst vor uns, Ricko? Sehen wir aus wie Unmenschen, oder was?« Er schoss herum und brüllte Hans an, die Augenbrauen zusammengezogenen, Augen und Mund weit aufgerissen: »Oder denkst du, du bist was Besseres, du Würstchen!?«
Hans´ Herz schlug schneller als ein Viertaktmotor. Seine Furcht schlug ihm auf den Darm: Er riss sich zusammen, um nicht buchstäblich in die Hose zu machen. Schüchtern schüttelte Hans den Kopf. Dann knallte es in seinem Gesicht. Erst war es laut, dann brannte es.
»Mann, mach die Fresse auf!«, rief Ingo, nachdem er ihm eine gescheuert hatte.
»Nein, ich bin nichts Besseres als Sie!«
»Was bist du dann?«
Hans wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Was konnte er denn sagen? Gab es eine richtige Antwort? Er hatte das Gefühl, dass es egal war, was er sagte. Der Typ würde ihn damit malträtieren. »Der Nachbarsjunge.« Hans sprach leise. Er hob in Erwartung eines weiteren Schlages Schultern und Arme vor sein Gesicht. Doch der Schmerz blieb aus. Als Hans aufschaute, sah er, wie Ingo grinste.
»Richtig! Und ist es nachbarschaftlich, ein Bier abzulehnen?«, fragte der dürre Ingo, zuerst an Hans gerichtet und dann Ricko mit erhobenen Schultern fragend.
»Wenn er nicht will, dann hetzen wir eben Teddy auf ihn«, meinte Matzke daraufhin beiläufig.
Hans spürte seine feuchten Hände und roch seinen Angstschweiß. Er rang mit sich; Flucht oder mitgehen?
Um ihn herum herrschte feuchte Kälte; schlammig, glitschig, klamm. Er musste es schaffen – es ging nur so; nur so. Aber es war zu schwer; es klappte nicht! Es zwang ihn weiterzumachen; es folterte ihn! Er nahm den großen, runden Felsbrocken auf, der sich kalt und scharf in seine Haut biss. Dann balancierte er ihn wackelnd auf den größeren Brocken darunter. Dieser wiederum lag auf einem weiteren Stein. Nur noch den Letzten aufbringen! Den ganzen Turm nicht wieder einreißen! Mit zitternden, blutenden Finger richtete er den finalen Stein aus und setzte ihn wackelnd ab. Nachdem er ihn langsam losgelassen hatte, wankte der ganze Turm. Er hielt die Luft an und das Gebilde kam zur Ruhe. Vorsichtig ließ er die Luft entweichen: Geschafft! Dann ein Geräusch wie die ungeölten Räder einer Kutsche. Sein Turm wackelte deutlich. Er griff danach, um ihn am Umfallen zu hindern. Doch die Steine glitten durch seine blutigen Finger … Hansgar schlug die Augen auf, als sich quietschend die schwere, eisenbeschlagene Tür des Kerkers öffnete.
»Los, raus mit dir, du verlauste Ratte!«, schrie ihn eine Stadtwache an.
Der Junge spürte den eisigen Luftzug, der in die kalte Zelle strömte wie Winterluft durch eine löchrige Bettdecke. Sein fiebernder Körper zitterte und Hansgar zog unbewusst die Beine an. »Herr, bitte, habt Ihr noch etwas Essen, bevor Ihr mich in die eisige Kälte schickt?«
»Ja, mein Schwert kannst du in die Fresse bekommen! Verschwinde, Abschaum!«.
Hansgar blickte mit Tränen in den Augen zu der Stadtwache auf. Ein hämisches Grinsen stand dem Mann im Gesicht, dessen Schneidezähne vorstanden und ihm das Aussehen einer Ratte verliehen. Mit mehreren Tritten trieb er Hansgar aus dem Kerker. Es war Herbst, doch einige ungeduldige Schneeflocken fielen bereits sanft auf die braunen Pflastersteine des dreckigen Weges, direkt oberhalb der Wehrmauer der Stadt. Hier oben hatten die Schmiede und einige Händler ihren festen Platz. Hammerschläge waren zu hören, die flirrend, springend und klirrend, das sich wehrende Erz malträtierten; dahinter erhaschte man die Geräusche der geschwätzigen Mägde, die geschäftig allerlei Stände abliefen, um nicht nur Nahrung, sondern auch Neuigkeiten einzuheimsen.
Hansgar, in zu dünner und verdreckter Kleidung, setzte sich frierend an den Ausgang seiner kleinen angestammten Gasse, direkt neben dem Stand eines Händlers, der Gemüse und gebratene Äpfel feilbot. Die armselige Gestalt bestaunte mit wachen Augen die Formen der Schneeflocken, die den Dreck der Stadt bald bedeckten. Wie schön seine Heimatstadt Ingelspfort doch sein konnte. Dieses Wunder der Wintergöttin Reifa kostete jedoch jeden Jahreszeitenzyklus einige Tote unter den Ärmsten der Stadt.
›Wie konnte sich aus den verletzlichen, kleinen Flocken bald so eine imposante Schneedecke bilden? Ob ich den nahenden Winter überstehen werde?‹, fragte sich der Bettlerjunge. Er musste lächeln, stellte sich vor, er säße auf einem fellbedeckten Lager in der Heimstatt des Wintergottes. Daraufhin spürte er, wie sich Wärme in ihm ausbreitete.
Im Gegensatz zu den Bratäpfeln, die neben ihm ihren unwiderstehlichen Duft verbreiteten, stank Hansgar fürchterlich. Sogar so widerlich, dass er sich selbst nicht riechen konnte. Sein Blick war klar, seine blauen Augen leuchteten, aber versteckten sich in einem Gesicht voller Straßendreck und Blut. Seine Haare waren verklebt und fettig, hingen ihm wie nasse Lederriemen vom Haupt. Seine Kleidung bestand allein aus Resten alter Säcke; ein Strick diente ihm als Gürtel. Schuhe hatte er noch nie besessen.
Langsam forderte die Kälte ihren Tribut. Hansgar konnte die Konzentration auf die Schneeflocken und seinen Tagtraum nicht aufrechterhalten. Zitternd, seine Arme fest um sich schlingend, schaute er sich um.
Der Händler neben ihm erwiderte seinen Blick. »Geh, du Abschaum! Kusch! Du vertreibst mir meine Kunden … oder ich hole die Stadtwache. Dreckiger Lümmel! Widerlich.«
Auf die Büttel hatte Hansgar nun gar keine Lust. Die Stadtwache war brutal. Das letzte Mal hatten sie ihm einen Finger und die Nase gebrochen, obwohl er nur einen Kohlrabi geklaut hatte. Langsam stand er auf; seine jungen Knochen fühlten sich steif an. Die Nacht im Kerker war kalt gewesen und Hansgar fieberte bereits seit drei Tagen. Er glaubte nicht, dass er wieder gesund werden würde; auch den Hunger bemerkte er nicht mehr. Er war es gewohnt, vertrieben zu werden; er wünschte sich nur noch hinüber zur alten Schmiede. Vielleicht erlaubte man ihm, sich in der Nähe des Schmiedefeuers aufzuhalten und sich am Feuer zu wärmen. Gerade schleppte er sich über die schlecht gepflasterte Straße, auf der Unrat in stinkenden schillernden Bächen nach unten floß, da traf ihn etwas hart am Oberkörper. Hansgar sah Sterne vor den Augen, Blitze zuckten in seinem Kopf. Ein heftiger Schmerz durchzog seinen Körper wie beim Zähnereißen.
Er wurde ein paar Schritte weit nach hinten geschleudert. Hansgar versuchte, den Sturz auf das Kopfsteinpflaster mit seinem gestreckten linken Arm abzufangen, wobei ein weiterer kreischender Schmerz vom Handgelenk bis in seinen Schädel schoß. Er landete hart auf dem Boden. Mit geschlossenen Augen erspürte er den Bruch. Ihm wurde klar, dass diese zusätzliche Verletzung sein Todesurteil war.
»Beim Heiligen Heinrich, bist du in Ordnung, Junge?«
Hansgar träumte lächelnd davon, dass sein Vater ihn festhielt und mit kräftiger, aber sanfter Stimme zu ihm sprach. Der junge Bettler öffnete daraufhin die Augen. Er schaute in ein freundliches, glattrasiertes und sauberes Gesicht mit strahlenden, grünen Augen. »Seid ihr mein Vater?«, fragte er.
Der Mann mit den grünen Augen schüttelte nur lächelnd den Kopf.
»Ich war auf dem Weg hinüber zur alten Schmiede dort«, sagte der Bettler. Er zeigte mit seiner schmutzigen rechten Hand, was er meinte.
Dann tastete der Ritter den Jungen ab, ohne den starken Geruch auch nur zu bemerken, der von dem Verletzten ausging. »Halt still, Junge. Warum schaust du mich so verträumt an? Du bist doch noch keine fünfzehn Winter alt und schon so ausgezehrt. Wo sind deine Eltern?«
Hansgar schüttelte teilnahmslos den Kopf.
»Ich verstehe … Bei Zulora, dein Arm ist ja gebrochen und du glühst wie eine Jungfrau im Badehaus. Das muss sich ein Medicus anschauen.«
›Ein Medicus?‹, dachte Hansgar. Der ließ ihn ja nicht mal vor seine Kate, geschweige denn hinein, um ihn zu behandeln, so ekelerregend wie er stank.
»Wie heißt du, mein Junge?«, fragte der Ritter. Er suchte den Blick des Bettlers.
»Ich bin Hansgar und fast achtzehn Winter alt«, antwortete dieser. »Lasst mich gehen, Herr. Ich bin es nicht wert …«
»… Schweig und spar deine Kräfte. Gut Hansgar, ich bin Ritter Ronald, Prinz von Lichterwald. Ich werde dir helfen. Wo ist der nächste Tempel der Zulora in dieser düsteren Stadt?«
»Hier gibt es keinen Tempel der Zulora. Die Leute hier beten den Gott Fuscusius an«, meinte Hansgar.
Der Ritter schaute sich besorgt um und musterte die Umgebung; seine Stirn legte sich in Falten.
Hans spürte Ingos knochigen Arm über seiner Schulter; dessen Fahne nach Bier und Kippen im Gesicht. Sein Atem war warm und legte sich feucht auf Hans’ Wange. Er ekelte sich dermaßen, dass ihn ein Gänsehaut überkam, die ihm bis unter die Kopfhaut kroch.
Ingo schob Hans einen freien Plastikstuhl zu, der kratzend durch den trockenen Split ratterte. »Setz dich, Bursche!«
Hans schaute sich noch reflexartig um, während Ricko und der Dürre sich schon setzten.
»Hast du was Besseres vor, Maurer?«, fragte Matzke mit hochgezogenen Augenbrauen.
Hans wurde blass. Er setzte sich umgehend und schüttelte den Kopf. Ihm war kalt. Er rieb mit den Händen zuerst über seine Hosen. Doch als er merkte, dass Matzke darauf achtete, umklammerte er das billige Plastik des Gartenstuhls. Die vor Angst feuchten Hände quietschten, als er sie auf der Oberfläche des Stuhles bewegte.
»Will ich dir auch geraten haben!«, sagte Ingo und reichte Hans ein Bier.
»Danke.« Hans nahm das Bier, stieß mit den beiden an und trank. Das Gesöff war zu süß und wenig herb. Der Junge studierte das Etikett.
»Passt dir was nicht, Maurer?«, fragte der Dürre.
Der junge Mann schluckte und schüttelte wieder den Kopf. »Darf ich Sie nach meiner Drohne fragen? Sie ist heute Nachmittag bei Ihnen im Garten gelandet, Herr Matzke.«
»Mann Hans, nerv´ mich nicht mit deinem Sie«, sagte der Nachbar. »Und deine scheiß Drohne kassiere ich als Pfand.«
»Wie viel wollen Sie … Euro meine ich … Du! … wie viel willst du? … für die Drohne!« Hans sah in die lachenden Gesichter von Ricko und Ingo. Gemeinheit lag in ihrem Ausdruck, weiter verstärkt durch das Mondlicht.
Eine kleine Mückenlampe auf dem Campingtisch flackerte munter vor sich her und tat so beschäftigt, dass sie vergaß, Mücken zu vertreiben.
Hans kratzte eine juckende Stelle am Ellbogen. ›Auch das noch. Ich will heim… Komm, steh´ einfach auf und geh´. Die Drohne geben die mir eh nicht. Komm schon. Was könntest du denn sagen, dass sie dich gehen lassen? Die wollen doch was von dir … Ach jetzt komm, hab die Eier aufzustehen‹, dachte der Junge, wobei er nicht hörte, dass Ingo mit ihm sprach.
Als Hans nicht antwortete, sagte er: »Verstanden, Maurer?«
Der Junge schüttelte mit dem Kopf.
»Machst du es nicht, ist nicht nur deine Drohne weg, sondern wir werden ein paar kleine Geschichten über dich erzählen«, meinte Ricko. »Schau mal da hin …« Er kippelte auf seinem Plastikstuhl, um hinter sich deuten zu können, auf das Fenster zu Hans’ Zimmer, »was meinst du, was man als Nachbar so alles mitbekommt? So ein pubertierender Junge in seinem Zimmer …«
Hans wurde leichenblass. Er dachte an die Situationen, in denen er mit sich alleine war; etwas Unbestimmtes sagte ihm, dass Matzke eigentlich nichts gesehen haben konnte. ›Aber was, wenn doch?‹ Hans schluckte schwer. Als er sich traute aufzuschauen, sah er, wie Ingo auf ein in Frischhaltefolie eingewickeltes Stück Fleisch starrte. Dann deutete er Hans mit einer Geste seiner rechten Hand an, das Bündel aufzunehmen.
»Soll ich euch das Grillen?«, fragte Hans.
»Du Fatzke!«, rief Ingo, während er aufsprang. »Willst du mich verarschen?«
»Pass auf, Hans«, mischte sich Matzke ein. »Was würdest du denn sagen, wenn sich Max Erhardt in der Kneipe über, sagen wir mal, deinen Vater lustig macht? Hmm?«
»Ich weiß nicht … kommt drauf an … ich würde …«
»Richtig, du würdest dir das nicht gefallen lassen«, meinte Ricko. »Und deswegen wird seine Töle von Rottweiler dran glauben müssen.«
Ricko und Ingo prosteten einander mit einem Nicken zu. Dann gluckerten sie hörbar ihre Bierflaschen leer.
In dieser Situation ahnte Hans, dass die beiden sowieso vorhatten, Erhardts Hund zu töten. ›Jetzt benutzen sie mich als Gehilfen… Scheiße, warum ich?‹, dachte Hans und sein Gesicht drückte das Unbehagen aus: Er wurde weiß wie die Kreidefelsen Südenglands; kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Wer seine Bierflasche sah, erkannte, dass er vor Nervosität das gesamte Etikett abgepellt hatte.
Die beiden Grobiane warteten immer noch auf eine Antwort, nutzten aber die Zeit, um drei Klare einzuschenken.
»Tut … tut mir leid … aber … aber … das … ich habe keine Zeit … und …«
Alle schwiegen.
Hans war den starren Blicken ausgesetzt. ›Steh doch auf!‹, schrie er sich innerlich an. Dann bewegten sich seine Beine und er stand tatsächlich auf. »Tut mir leid, ich muss das leider ablehnen!«, sagte unser junger Held. Er war selber überrascht, wie gut ihm diese Antwort gelang. Die Überraschung spiegelte sich in den Gesichtern der Grobiane wider. Hans dachte, es sei eine gute Idee, den ihm dargereichten Schnaps zu trinken und sich dann zu verabschieden. »Ich werde eher das Gerücht ertragen, dass ich mir einen runtergeholt habe, als dass ich sinnlos ein Lebewesen vergifte. Danke für das Bier und den Schnaps!« Die Worte kamen butterweich, da Hans an Mut gewann, als Ricko und Ingo regungslos zu ihm aufblickten.
Plötzlich prusteten beide los. Bier und Spucke flogen wie aus einem Feuerwehrschlauch über Tisch und Stühle. Hans spürte feine Tropfen auf seinem Unterarm. Dann setzte er an zu gehen.
»Teddy, gib acht!«, sagte Matzke. Der Hund setzte sich auf und wartete auf einen Befehl seines Herrchens. »Noch ein Schritt, Maurer und Teddy kümmert sich um dich. Setz´ dich wieder zu uns. Jetzt wird es doch gerade erst lustig.«
Hans blinzelte zur Dogge, welche die Zähne fletschte.
»Außerdem …«, sagte Ingo, »außerdem … Mann, Junge … du hast genauso einen Grund, dem Erhardt eins auszuwischen.«
Hans dachte kurz nach, was die beiden meinten. »Er hat sich schon bei meiner Mutter dafür entschuldigt, dass er mir eine geklatscht hat …«, erwiderte der Junge, als er sich wieder setzte.
Daraufhin prusteten beide Männer wieder los. Herzhaft und dröhnend erklang ihr Lachen. Sie bekamen sich gar nicht mehr ein und dicke Tränen der Freude flossen ihre Wangen hinab. Ingo bekam sogar keine Luft mehr und musste aufstehen, um seine Fassung wiederzuerlangen.
Matzke lehnte sich zu Hans hinüber, wobei er ihm tief in die Augen schaute. »Pass auf! Du bekommst sieben Tage … bis dahin hast du den Job erledigt!«
Unser junger Freund sagte nichts; er starrte zu Boden.
»Sag, dass du es machst, Maurer«, sagte Matzke eindrücklicher.
Hans schüttelte den Kopf, den Blick immer noch auf den Boden gerichtet. ›Meine Schuhe …‹, begann er einen Gedanken, als er die dreckigen weißen Sneaker sah, aber holte sich gleich wieder in die Realität zurück.
»Sag es!«, brüllte Matzke.
Hans rührte sich nicht. Wieder der Geruch des Gesöffs, vermischt mit billigem Tabak. Er erwartete Schläge; er spannte sich an; er machte sich klein. Ingo schmiss ihm das eingewickelte Fleisch in den Schoß, er hielt es fest.
»Sag – jetzt – ja!«
Der Junge nässte sich plötzlich ein, denn die Anspannung war zu groß geworden. Das war ihm peinlich. So peinlich, dass er jede Furcht vergaß. Hans sprang vom Stuhl auf und lief zum Hoftor. Es lag vom Gartentisch nur fünf Meter entfernt. ›Renn … renn … schneller …!‹ Während er zum Tor spurtete, rasselte sein Atem schwerer als jemals zuvor in seinem Leben. Er hörte ihre Stimmen hinter sich. Zu laut rauschte es in seinen Ohren, um die Worte annähernd zu verstehen. Klar war ihm jedoch, dass Teddy ihm folgte.
Die Krallen der Dogge kratzen hörbar über den kleinen Weg. Aufkommende Panik stachelte Hans an. Er war schnell unterwegs. Doch Teddy war schneller. Der Hund sprang ab und schnappte nach Hans’ Bein. Die Dogge erwischte seine Hose.
Unser Held stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Er kämpfte mit dem Hund, bis seine Jeans riss. Damit rettete er sich durch das Hoftor und knallte es hinter sich zu. Hans lief weiter. Tränen der Erleichterung bahnten sich ihren Weg über seine blassen Wangen. Als er zu Hause ankam, hielt er immer noch das vergiftete Fleisch umklammert.
Ritter Ronald diskutierte heftig mit dem Medicus, der seinen kleinen Behandlungsraum im Burghof hatte. Etliche Kübel mit Pflanzen standen vor der Kate des Heilers, die trotz des nahenden Winters in prächtigen Farben blühten: Rostiges Rot, leuchtendes Lila, glänzendes Gelb und berauschendes Blau ließen Hansgars Gedanken wandern. Wieder vergaß er für einen kurzen Augenblick den frostigen Griff des Winters und die Schmerzen des gebrochenen Arms.
»Aus dem Weg, du Stinktier«, schnaubte jemand, stieß Hansgar dabei zur Seite und setzte seinen Weg mit verachtendem Blick auf den Jungen fort. Der Stoß verdrehte den bereits verletzten Arm.
Hansgar sank in Schmerzen auf die Knie. Er stöhnte durch seine zusammengepressten Zähne. Unter Tränen blickte der Bettler über den Burghof, wo der Ritter immer noch mit dem Medicus verhandelte. Um sich abzulenken, konzentrierte er sich auf die vor seinen Augen flimmernde Szene: Der Heiler deutete wieder und wieder ablehnend in Richtung Hansgar, doch Ronald redete bestimmt, aber ruhig auf diesen ein. Der Bettler erstaunte, als er sah, wie Ronald dem Medicus Münzen zusteckte. Dieser willigte daraufhin seufzend ein und winkte Hansgar zu sich. Er schleppte sich zur Kate des Alten; die dünne, abgewetzte Kleidung komplett durchnässt vom kalten, klebrigen Schweiß seines Fiebers. Ronald wischte dem Jungen aufmunternd durchs Haar, dann lächelte er ihn mitfühlend an.
›Warum hilft mir dieser Ritter nur?‹, dachte Hansgar, als er das Haus des Medicus betrat. Dem Jungen strömten stechende und doch befreiende Gerüche in die Nase, sodass er dachte, seine Nasenlöcher seien aufgebläht. Je aufmerksamer er schnüffelte, desto mehr roch es nach Kräutern wie Minze, Kamille und Traumbeerenblatt, sowie nach allerlei Gebräu, das er nicht einzuordnen vermochte; und über allem roch es nach Krankheit und Tod.
Der Medicus war schon wirklich alt, sicherlich um die siebzig Winter. Seine Stimme klang knarzig wie der Innenraum eines alten Segelschiffs bei starkem Seegang.
»Gut, mein Junge. Du sollst also ein Heiliger sein?« Der Alte kicherte und hustete daraufhin heftig. Als er seinen kleinen Anfall überwunden hatte, fuhr er fort: »Na dann schauen wir doch mal nach – zieh’ dich aus. Komm schon. Hopp Hopp.«
Hansgar war verwirrt, aber tat willfährig wie ihm geheißen. Sein linker Unterarm stand merkwürdig schräg ab, doch der Medicus untersuchte zuerst seinen gesamten nackten Körper. »Tatsächlich, hihi … tatsächlich deutet nichts darauf hin, dass Ihr ein Heiliger seid. Hihi! Tja, Junge. Nun schau mich nicht so traurig an. Es ist uns nicht allen gegeben, jemand Außergewöhnliches zu sein. Wo kämen wir denn da hin, was? Hihi! Nun wein’ doch nicht. Komm, ich richte dir deinen Arm und verabreiche dir meine Fiebertinktur. Dann schaffst du es vielleicht über den Winter«, meinte der Medicus. Fachmännisch zog er dann Hansgars Arm wieder gerade und fixierte ihn mit Stöcken, die er wiederum mit Lederriemen festzurrte. Abschließend rieb er eine Salbe auf den Arm, die wie kaltes Feuer auf der Haut brannte.
»Nun trink, trink! Mach deinen ritterlichen Wohltäter nicht zu traurig, Junge, wenn du ihm beichtest, dass du kein Heiliger bist. Hihi. Was für ein Schelm! Weißt du, Junge? Schon mein Vater sagte, dass diese Lichterwalder Menschen Breitschädel sind. Von Wahnvorstellungen geplagtes Völkchen. Trau ihnen nicht weiter, als du stinkst! Hihi. Ach, und das ist bei dir schon arg viel. Hihi. So, nun hopp hopp. Raus mit dir. Schau nicht so verdutzt. Du stinkst schlimmer als eine Leiche im Sommer auf der Kirchturmspitze. Hihi. Wie widerwärtig. Ich sagte, schau nicht so! Raus …«
»Was meint ihr mit ›Heiliger‹, Euer Wohlgeboren?«, fragte Hansgar gerade, als eine junge Schönheit die Stube betrat. Allein die Präsenz des Mädchens heizte Hansgars Fieber an, heißer, feuriger als je zuvor und doch quälend angenehm. Wie die Hälse verliebter Schwäne vereinten sich die Blicke aus den großen, braunen Augen der Maid und den blauen Augen des Jungen. Beide erröteten zeitgleich. Scheue Blicke waren alles, die noch ausgetauscht wurden, nachdem sie schließlich zum Heiler sprach: »Mein Vater schickt nach Euch, werter Medicus. Er fühlt ein Stechen im Bauch.«
»Danke Penelop, ich bin schon auf dem Wege«, antwortete der Heiler und ignorierte Hansgars Frage damit vollkommen.
Das Herz des Bettlers pochte, als wolle es seinen Käfig aus Knochen sprengen. »Penelop!«, flüsterte er.
›Wie komme ich aus der Scheiße wieder raus?‹
Unermüdlich wälzte Hans diese Frage. Mit jeder Runde erhitzte sich der Gedanke wie das Wasser in einem Durchlauferhitzer. Das schwelende Unheil, das sich ankündigte, wuchs an wie ein Tumor, denn Matzkes Wochenfrist lief heute ab. Ricko hatte ihm sieben Tage gegeben, sieben Tage lang hatte sich Hans daheim versteckt. Bis auf die Schule verließ er das Haus nicht mehr. Hinter seinem Bett lag das vergiftete Fleisch; in Frischhaltefolie eingewickelt wie eine Leiche, die er vor der Polizei versteckte. Ein übler Geruch schlängelte sich langsam durch die feinen Öffnungen der Plastikfolie, was unseren Helden ständig an die ihm gestellte Aufgabe erinnerte.
Hans war verzweifelt, er hatte regelrecht Angst, dem Nachbarn zu begegnen und wüsste nicht, was er ihm sagen sollte, wenn das geschähe. Ihm blieb nichts, als sich mit Serien auf Netflix abzulenken. So bewusst ihm war, dass es dadurch nur schlimmer wurde, so wenig hatte er den Mut, die Situation anzugehen.
»Hans, komm Essen, bitte!«, rief seine Mutter nach oben. Sein Magen grummelte schon. Bedrückt schleppte er sich zum Abendessen. Während der letzten Tage hatten ihn seine Eltern zwar gesehen, aber seine Isolation nicht wahrgenommen. Er glaubte nicht, dass sie von seinen inneren Kämpfen wussten.
Nachdem Hans ins Esszimmer trat, stand er starr wie der Ehemann vor dem Kavalier im Wandschrank. Denn da saßen der Nachbar Ricko Matzke und dessen Erzfeind Erhardt am Tisch. Gemeinsam!
Der Hals unseres Freundes schnürte sich zu und seine Augenbrauen stürzten zur Nase herab. ›Was wollen die denn hier?‹ Er entschied, sich umzudrehen und zu verschwinden, doch sein Vater hatte ihn schon gesehen.
»Komm her, Junge. Sei höflich und sage guten Abend zu unseren Gästen. Und dann hilf deiner Mutter noch, alles aufzutragen.« Hans gehorchte, vermied aber jeglichen Blickkontakt. Er stellte Teller und Brot sowie Wurst und Senf auf den Tisch. Dabei musste er an Matzke vorbeilaufen, wobei dieser ihn mit gespielt freundlichem Lächeln ansah und ein gesäuseltes »Guten Abend, Hans« von sich gab.
Das Abendessen war eine Qual für unseren Helden. Er lugte öfter vorsichtig zu Matzke. Ein fies schauender Kerl; lachte nie, hatte perfekte Zähne und seine Lippen waren schmal wie ein Faden. Die Haare hatte er kurz geschoren, was seinen vernarbten Kopf und die kleinen, abstehenden Ohren zur Geltung brachte.
Die gesamte Erscheinung dieses Typen ließ Hans an befreundete Fußballclubs denken, die ihre Wertschätzung zueinander dadurch Ausdruck verliehen, dass sie sich gegenseitig und hingebungsvoll die Fresse polierten. Er sah vor sich, wie Ricko einen Mundschutz einlegte, ihn mit der Zunge festdrückte und dann geräuschvoll ansaugte. Kreisende Schultern wärmten sich für ihren Einsatz auf; und die Lederhandschuhe mit Nietenbesatz lechzten nach den Visagen der Freunde. Ricko ist ihr Anführer. Mutig sind sie in der Meute; eng im Weltbild, hart im Schritt. Für ihn prügelten sie sich; heimlich aber für fehlende Liebe und Verständnis. Während sich die Eltern der Jungs fragten, was in ihrer Erziehung schief gelaufen war.
Unser junger Freund hegte bereits die Hoffnung, dass sich die Erpressung erledigt hatte, denn Matzke ließ sich wegen des Vorfalls letzte Woche nichts anmerken.
Indessen argumentierte er lautstark das aktuelle Thema am Esstisch. »Wenn ihr mich fragt, ist das alles pure Scheiße!« Mit erhobener Gabel fuchtelte Ricko herum und sah jedem Anwesenden tief in die Augen. »Wir sind doch keine Nazis, nur weil wir unsere Meinung sagen und hier keinen reinlassen wollen. Wir haben doch schon selber nichts! Oder habt ihr was? Ich habe nichts… Nun kommen auch noch irgendwelche Fremde und nehmen uns unsere Jobs weg … unsere Jobs und unsere Frauen.«
»Ja, das stimmt. Und wir wissen ja nicht mal, wer da kommt«, sagte Hans’ Vater. »Gegen Ärzte und Fachkräfte hat ja keiner was. Aber die irren Messerstecher und Terroristen, oder Bettler? Was sollen wir mit denen? Egal, wo wir sie hinstecken, da leben sie unter sich: Lernen kein Deutsch, übernehmen die Macht über ganze Stadtviertel. Ich sage es euch geradeheraus: Mir macht das schon Angst, was die Tagesschau da manchmal zeigt.« Als Oliver Maurer den Blick seines Sohnes, unseres jungen Freundes, streifte, da senkte er schnell die Augen und gaukelte seinem Sohn vor, er müsse besonders aufs Brotschmieren achtgeben.
›Was ist denn hier los?‹, fragte sich Hans. Sein Herz pochte laut in seinen Ohren, denn die Nachbarn brachten eine ungewohnte Aggressivität an den Esstisch. Vermutlich hätten die Maurers heute keinen Strom bezahlen müssen, so flirrte das Wohnzimmer vor lauter (negativer) Energie. Die angestaute Ladung reichte locker, um einige Lampen zum Glühen zu bringen.
Oliver Maurer schaute öfter mal Nachrichten und schimpfte dabei über die Politik; darüber, dass sie den kleinen Mann verarschen. Er sagte dabei immer aufgeregt zum Sprecher gerichtet: »Macht es doch wie Luther und schaut dem Volk aufs Maul, dann wisst ihr schon, was zu tun ist!« Aber die Wortwahl von Vaters Festrede eben war Hans neu. Und wenn er ehrlich zu sich war, bereitete ihm das Angst.
»Das finde ich auch, Oliver«, sagte Susanne Maurer. Sie sprach leise und mit belegter Stimme. »Ich finde auch, dass wir unsere Kinder beschützen müssen. Seht doch, wie schlimm es da in den Großstädten schon abgeht. Frankfurt, Stuttgart oder Berlin … Parallelgesellschaften und rechtsfreie Zonen, in die sich nicht einmal die Polizei mehr traut. Wusstet ihr das? … Ich kann es nicht verstehen.«
Es herrschte kurz Stille nach dem Kommentar von Hans´ Mutter. Die Bestecke klirrten auf den Tellern, denn alle nutzten die Gelegenheit, eine Kleinigkeit zu essen. Hans hörte das Ticken der alten Standuhr, das schwere Pendel tat stoisch sein Tagewerk. Matzke wandte sich an unseren jungen Freund und fragte mit einer Stimme, die klang, als hätte er Kreide gefressen: »Das Ganze nervt dich doch bestimmt auch Hans, oder? Schließlich gehörst du doch zur nächsten Generation … ihr werdet diesen ganzen Scheiß doch wieder ausbaden müssen.«
Das Pendel der Standuhr schien gespannt innezuhalten und Hans verschluckte sich fast, so erschrocken war er von der Frage. Er kaute schneller, alle Augen neugierig auf ihn gerichtet. Dann würgte er den monströsen Happen herunter, sodass er kurz befürchtete, daran zu ersticken. Er trank Tee nach. Hans blinzelte über den Rand seiner Tasse in die Runde. Endlich setzte er das Gefäß langsam ab. Mit einem Ohr lauschend, schwang es sanft weiter, das Pendel.
»Mich nervt das auch.« Hans nickte zustimmend. Woher unser Freund plötzlich den Mut hatte, sich dem allgemeinen Tenor entgegenzusetzen, war vor allem ihm unklar. Aber ein innerer Drang peitschte ihn vorwärts wie einen kleinen Spielzeugkreisel. Seine Gedanken waren in Ruhe, sogar geordnet, als er fortfuhr: »Vor allem, wenn jedes Jahr die Weißstörche wiederkommen. Ich frage mich, wer die immer reinlässt. Wisst ihr das?« Hans musterte nacheinander die ernsten Gesichter am Tisch. Was konnte ihm Matzke hier schon antun? »Ich sollte der Kanzlerin einen Brief schreiben, meint ihr nicht auch? Es kann nicht sein, dass die Störche hier eine Parallelgesellschaft aufbauen. Es kann einfach nicht sein … die sprechen ja nicht einmal unsere Sprache. Ich glaube sogar auch … und das ist die Höhe, dass die unsere Frösche fressen und keine Steuern dafür zahlen!« Gespielt empört schüttelte Hans den Kopf, als er in sein Brötchen biss.
Matzke lächelte als Erster; über seinen Augen lag ein dunkler Schatten. »Du bist ein schlaues Kerlchen«, meinte Ricko. Der ausgestreckte Zeigefinger seiner wippenden Hand deutete auf Hans, während er einen tiefen Schluck von seinem Pils nahm. Hörbar und genussvoll schluckte Ricko das Bier hinunter. Unseren Helden ekelte dieses Geräusch an. Matzkes riesiger Adamsapfel sprang auf und ab, sein Blick ruhte unbeirrt auf Hans.
›Scheiße, ich bin zu weit gegangen‹, dachte der Junge.
»Dann sag mir doch mal, was hälst du eigentlich von Menschen, die ihre Versprechen nicht einhalten?«, fragte Matzke.
Hans wurde blass. Er schaute zu seinen Eltern und hoffte, sie merkten nichts. Sie schienen das Gesagte als normale Konversation zu verstehen. Nur der andere Nachbar, Erhardt, drehte den Kopf halb schräg und schaute sich die Szene aus den Augenwinkeln an. Dann sah er geradeaus lächelnd auf Hans.
»Na ja, das kommt darauf an, wie man an dieses Versprechen gelangt ist. Nicht wahr?«, meinte Hans.
»Nichts da, Hans. Versprechen sind Ehrensache und werden immer eingehalten!«, sagte Papa Maurer.
Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute sich Hans am Tisch um. »Wenn mich doch zum Beispiel Herr Erhardt hier …«, unser Freund gestikulierte, mit der flachen Hand in Richtung seines Nachbarn zeigend, »… zu dem Versprechen zwingen würde, Ihnen eins auszuwischen, Herr Matzke, dann würden sie doch sicher wollen, dass ich dieses Versprechen breche, oder?«
Sein Vater schob sich mit schüttelndem Kopf ein dick belegtes Brot mit Aufschnitt und Tomate in den Mund.
»Wieso sollte ich denn dem Matzke was auswischen wollen?«, fragte Erhardt mit vollem Mund. Die Tischrunde hielt sich, zumindest in diesem heiklen Fall, eisern an die Regel, ›Einfach mal nicht einmischen, wenn man nichts Genaues weiß‹. Erhardt und Matzke schauten sich prüfend in die Augen. Beide spürten, dass dieses Gespräch nicht nur oberflächliche Konversation war.
»Wo ist eigentlich ihre Freundin, Herr Matzke? … Entschuldige … Ricko natürlich. Ich sollte dich ja nicht mehr siezen«, sagte Hans. Er goss sich langsam vom Tee nach und schaute dann fragend zu Ricko auf. ›Was du kannst, das kann ich auch‹, dachte der Junge.
Matzke lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte den Kopf schief, wobei er Hans musterte. Er blieb aber still.
»Junge!«, sagte Mama Maurer. Sie ließ Messer und Gabel hörbar auf den Teller fallen.
Inspiriert von Susanne Maurers Geste ließ sich Ricko dazu verleiten, doch Folgendes zu erwidern: »Wäre ich dein Vater, hättest du schon längst eine gefangen!« Der Brutalo verschränkte dabei lässig die Arme, die Mundwinkel verzogen sich zu einem entspannten Lächeln.
»Ach, ich glaube, Sie … äh du … würdest dich auch nicht abhalten lassen, wenn du nicht mein Vater wärst.« Hans stieg Feuer in den Kopf.
Nun sprang Oliver Maurer auf. »Schluss jetzt, Hans! Geh auf dein Zimmer. Dein Verhalten besprechen wir nachher.« Mit ausgestrecktem Arm zeigte er in Richtung Esszimmertür.
Hans bewegte sich aber nicht. »Nein!«
»Tut mir leid, Ricko, ist sicherlich die Pubertät. Nimm’s ihm nicht übel«, sagte Hans’ Papa.
»Nein!«, meinte Hans wieder.
»Kein Problem, ich rede mal alleine mit ihm, wenn du erlaubst, Oliver«, erwiderte Matzke.
»N-Nein! Ich gehe nicht auf mein Zimmer!«
Die Versammlung am Esstisch wurde wachgerüttelt wie ein Boxer, der nach dem K. O. mit Eiswasser überschüttet wird.
Hans pulsierten die Wangen, sein Bauch war angespannt, wie in der Erwartung eines Schlages in die Magengrube. »Euren, ›Ich-bin-das-Opfer‹-Scheiss kann ja kein Mensch ertragen. Kapiert ihr es noch?«
»Du kleiner Fatzke!« Matzke sprang auf, dabei kippte der Stuhl um und flog krachend auf den hinter ihm eingetopften Elefantenbaum. Der Topf zersprang in tausend Teile. Gut genässte Blumenerde füllte die Fugen der Esszimmerfliesen. »Du lausiges, kleines Arschloch. Komm schon, ich zeige dir, wer hier das Opfer ist«, rief Ricko und missachtete die Hinrichtung der Pflanze hinter sich.
Oliver Maurer wurde bleich. Susanne schaute Max Erhardt flehend an.
»Beruhige dich, Ricko«, sagte der andere Nachbar. »Er ist doch noch ein Kind.«
Matzke ergriff Erhardt am Hals und drückte ohne Vorwarnung mit einer Hand wie einer Kralle tief unter des Nachbars Kiefer in die weiche Haut. »Sag du mir nicht, was ich tun soll, du Wurm. Sonst blase ich dir mal die Lichter aus. Oder noch besser; ich posaune deine großen Neuigkeiten heraus! Verzieh dich, Mann!«
Susanne sprang heran. Sie zerrte an Rickos Arm, auf dass er den verhassten Nachbarn freigäbe. »Lass ihn doch los! Er bekommt keine Luft … lass ihn los jetzt!«
Rickos Gesicht war zu einer Fratze verzerrt, die Lippen weit nach hinten gezogen. Er präsentierte seine makellos weißen, großen Zähne wie ein grausamer Löwenkönig.
Hans verschlug es den Atem. ›Der killt den Erhardt!‹ Als ihm das bewusst wurde, übergab sich der Junge spontan.
Mettbrötchen gesellte sich zur Blumenerde in den Fugen der Esszimmerfliesen. Plötzlich knallte es, als Erhardt zu Boden schlug wie eine Ming-Vase in einem billigen Krimi.
»Ricko …!?« Hans’ Vater schrie Matzke an. »Ricko, Mann! Bist du noch ganz zu retten?« Oliver traute sich nicht, den Nachbarn anzufassen; wahrscheinlich, weil er ahnte, dass er sich dann eine Abreibung einfangen würde.
Hans wischte sich unappetitliche Reste aus dem Gesicht und erkannte, dass Matzkes Gesichtsausdruck sich verändert hatte. Er wirkte ängstlich. Seine Augen vor Schock geweitet; die Arme eng um sich geschlungen, nahm er eine gebückte Haltung ein. Es wirkte, als würde er plötzlich frieren.
Matzke schaute sich flehend um. »Bi … Bitte … holt nicht die Bullen!« Er bückte sich zu Erhardt. Der röchelte nur. »Mann Alter, das tut mir leid. Alter, verstehst du mich?«
Keiner wagte zu sprechen.
Dann kam Max Erhardts Stimme zurück. »Mir … gehts gut … alles gut«. Er rappelte sich langsam auf, wobei er Rickos zur Hilfe hingereichte Hand zur Seite stieß. Oliver reichte dem Geschlagenen ein Glas Wasser.
›Scheiße, was war das? Und dieser Typ läuft frei rum?‹, dachte Hans.
»Das hat ein Nachspiel, Matzke«, sagte Erhardt, traute sich jedoch nicht, den Brutalo anzuschauen.
»Wer ist denn Schuld an dem Schlamassel?«, fragte Ricko mit hochgezogenen Schultern. Er blickte zu Hans. Seine Souveränität war ausgelöscht. Ihm wurde schlecht und er bekam kalte Hände.
»Jetzt geh endlich, Junge. Es reicht für heute!«, sagte sein Vater.
»Ich gehe jetzt auch«, sagte Max Erhardt.
Hätte Hans in diesem Moment darauf geachtet, dann hätte er gesehen, wie seine Mutter fast zu besorgt um ihren Nachbarn war.
Unser Freund zitterte heftig vor Aufregung. Er glaubte das alles nicht, fluchte in sich hinein, drehte sich um und verschwand mit flauem Magen auf sein Zimmer. »Das Fleisch kommt weg! Ich werde nicht tun, was Matzke will. Komme, was wolle. Komme, was wolle!«
Mit der getroffenen Entscheidung fühlte sich Hans beschissen, doch irgendwie auch freier.
Ronald hatte Hansgar eine Nacht in einer Herberge spendiert. Am späten Vormittag trat der Ritter an seine Koje, um ihn zu wecken. »Wie geht es deinem Arm, Junge?«
Der Bettler konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so gut geschlafen hatte. Sein Fieber war gesunken. Der quälende Fiebertraum, der ihn noch im Kerker geplagt hatte, war vergessen. Hansgar befühlte den linken Arm eingehend, verzog hier und da das Gesicht und nickte dem Ritter tapfer zu. »Es schmerzt sehr, Euer Wohlgeboren. Doch ich will weiterleben.« Dann setzte sich der Bettler ganz auf. »Ich danke Euch für Eure Hilfe. Fuscusius und die anderen Götter haben Euch geschickt.«
»Hör zu, Junge. Zulora hat mich auf dich aufmerksam gemacht. Sie ließ dich in mein Pferd stolpern. Ich glaube, du bist der Auserwählte, Hansgar«, sagte Ronald.
»Herr, ich muss zusehen, wie ich die nächsten Tage überhaupt durchkomme …«
»Ruhe! Junge, hör mir zu: Der Heilige Heinrich war der letzte Kriegerpriester Zuloras. Doch ich sah ihn vor achtzehn Wintern im Kampf sterben. Und seitdem suche ich nach seinem Nachfolger. Es muss einen Nachfolger geben …« Ronald blickte aus dem Fenster. Dicke Schneeflocken schwebten zu Boden und hefteten sich wie Kletten an das Glas.
Hansgar schaute ihm nach. »Herr, ich bin Bettler und Waise. Ich gehöre nach Ingelspfort, denn Fuscusius hat mich dafür auserkoren, hier mein Leben zu fristen.«
»›Papperlapapp und Geschwafel – gibt’s nicht an meiner Tafel‹, so sagte mein Vater, der König von Lichterwald, zu mir, wenn ich mit meiner Schwester Puppen spielen wollte, anstatt Reiten und Fechten zu lernen. Hör auf, mit Puppen zu spielen, Junge. Schnür dein Päckchen und kommt mit mir. Was hast du schon zu verlieren, bei Zulora?«
»Maria im Armenhaus zählt auf mich. Ich helfe ihr oft, bei allem, was so anfällt. Ohne mich hätte sie es noch schwerer, all ihre Schützlinge zu versorgen.«
»Junge, was sollen diese Ausreden? Im Gegenteil, sie hätte es leichter, weil ein Schützling weniger zu bemuttern wäre!«
»Und ich verdiene hier gutes Geld. Die Stadtwachen geben mir immer einen Kupferling, wenn ich in die Kanalisation krieche, um sie zu reinigen oder was rauszuholen. Im nächsten Frühling nimmt mich sogar der Metzger Brummersohn als Lehrling auf.«
»Du wirst ein armer Schlucker bleiben, wenn du nicht größer denkst! Versteh’ doch, du bist auserwählt. Nimm’ es an, wenn du keinen guten Grund hast, abzulehnen.«
Hansgar dachte, dass seine Gründe es sehr wohl wert waren, gehört zu werden. ›Was soll man schon mit mehr als einem Kupferling am Tag kaufen?‹ Unvermittelt wurde die Erinnerung an die schöne Penelop in ihm wach. Seine Hände wurden feucht und sein Magen zog sich zusammen. »Außerdem muss ich hierbleiben, um eine Frau für mich zu gewinnen!«
Ronald grinste. »Eine Frau? Soso.«
»Lacht nur! Mit Frauenzimmern kenne ich mich wohl aus. Schließlich beschütze ich immer die kleine Inessia auf ihrem Weg vom Armenhaus zum Bordell. Als Dank hat sie mir schon einige Kniffe verraten!« Hansgar wurde rot, als er Ronalds breites Grinsen bemerkte. Daraufhin senkte er den Blick. »Ich bin verliebt in Penelop und ich weiß, dass sie mich ebenso liebt. Ich habe es in ihren Augen gesehen!«
Ronald zog die Augenbrauen zusammen, während er Hansgar direkt anstarrte. »Du meinst, sie würde einen Bettler zum Manne nehmen? So, wie du stinkst? Mit deinen ungehobelten Manieren und deinem Stand als oberstes Kriechtier der Kanalisation von Ingelspfort?«
Hansgar war den Tränen nahe, das Gespräch wühlte ihn auf. Es schmerzte, zu hören, was der Ritter ihm sagte. »Zumindest bin ich in der Stadt, und ihr nahe. Was wisst ihr denn über Penelop und darüber, wie wir uns ansahen? Alles Weitere will ich schon lernen.« Ingelspfort zu verlassen, war für Hansgar ebenso unvorstellbar, wie die Standesgrenzen zu übertreten und Penelop seine Geliebte zu nennen. Es schien ausweglos und jede Möglichkeit hielt nur mehr Leid für ihn bereit.
»Du hast recht, ich weiß nicht, was euch beide verbindet. Eines weiß ich jedoch: Kommst du nicht mit mir, besteht die Möglichkeit, dass wir uns nie wieder sehen, weil du in diesem Rattenloch von Stadt verreckst.«
Hansgar standen die Tränen in den Augen. Der Ritter hatte recht. Sollte sein Pech weiter anhalten, würde er diesen Winter in der Stadt, in der alles knapp war, sterben. Andererseits kannte er sich hier aus und hatte schon Schlimmeres überlebt. Er würde einen Weg finden. Maria und das Armenhaus ließen ihn sicher nicht verhungern oder erfrieren. Und Penelop war auch hier.
»Ich will zurück zu meiner Schmiede. Da wird man mir Essensreste spenden, ich werde mir ein paar Kupferlinge verdienen … ein paar Almosen dazu … und dann kaufe ich mir bessere Kleidung. Hosen ohne Löcher. Ein Hemd, das wärmt. Und einen Hut! Hört ihr, Euer Wohlgeboren? Einen Hut! Und dann … dann suche ich die Stadt nach ihr ab! … So Fuscusius will, kommt sie sogar an der Schmiede vorbei! Ja … lächelt nicht … dieser Ort ist gut besucht. Sogar der König war schon da! Glaubt es ruhig. Es gibt die besten Händler dort. Sie kommt bestimmt von selbst vorbei. Sie sucht mich sicher auch.« Hansgar hatte sich in einen Rausch geredet. Seine Worte hüpften wie wild von hier nach dort, eben wie ein Rehkitz.
Ritter Ronald lächelte daraufhin gutmütig und legte ihm eine Hand an die Wange. »Nun, dann geh deiner Wege, Bettler, der sich Hansgar nennt. Doch lass dem Kriegerpriester in dir die Möglichkeit, sich zu offenbaren. Ersticke nicht das Samenkorn, aus welchem die Blume deines Schicksals erwächst.« Ronald reichte dem Bettlerjungen einen Beutel gefüllt mit Kupferlingen. »Nimm dies als mein Abschiedsgeschenk an! Opfere es deinem Fuscusius oder versaufe es in einer Schenke, mir ist es gleich. Sei Zulora mit dir.«
Hansgar streckte die Hand nach dem Ritter aus. »Wartet! Warum ist der Heilige Heinrich gestorben?«
Ronald atmete tief ein, zögerte, bevor er antwortete. »Heinrich … er tötete drei Titanen, welche die dunkle Inquisitorin beschworen hatte. Im Kampf gegen den dritten Titanen fiel Heinrich.« Der Ritter wandte sich zum Gehen um.
»Und die Inquisitorin?«
Ronald sprach mit dem Gesicht Richtung Tür. »Sie ist die Beraterin des Königs von Dunkelmoor. Du solltest sie kennen, sie lebt hier in deiner Stadt.«
»Aber … wenn sie noch einmal …?«
»Das ist die Frage, Hansgar.«
Damit verließ der Ritter die Herberge.
In Hansgars Ohren rauschte es. Sein Atem wurde flacher und er schluckte mit trockenem Mund. »Bitte findet jemanden, der sie aufhalten kann.«
Der nahende Winter übertünchte sichtbar das Leben in der Stadt wie der Zuckerguss auf Bäckermeister Stabmanns Ingelspforter Kuchenrolle.
Hansgar hockte neben der alten Schmiede im Handwerkerviertel Ingelspforts. Der Duft gegrillter Kohlrabis weckte die Säfte des Bettlers, vor allem die in seinem Mund. Speichel sprudelte wie das Wasser eines Gebirgsbaches. Sein Magen knurrte so laut, er konkurrierte mit den Hunden. Er musterte hungrig den Gemüsestand. Dazu fror der Bettler. Er entschied sich, von dem Kupfer des Ritters einen Mantel und Schuhe zu besorgen. ›Ich brauche bessere Kleidung, sonst verrecke ich in Raifas erbarmungslosem Griff.‹ Schwächlich wie ein Greis schlurfte er zum Krämerladen.
Schon aus der Ferne erspähte er eine Bande junger Burschen, die vor dem Laden lungerte. Es waren die Söhne der Handwerkerfamilien, die ihre spärliche Freizeit miteinander verbrachten. Ihren Frust über die viele harte Arbeit und die strenge Ausbildung durch ihre Eltern ließen sie gerne an anderen aus. Vor allem Angehörige niedriger Stände waren ihnen dafür immer recht.
Hansgar kannte einen der Burschen vom Sehen. Es war ausgerechnet der Sohn des Gemüsehändlers. Das Äußere dieses speziellen Jungen erinnerte, mit seinem aufgedunsenen Gesicht und den kleinen Äuglein, an ein Schwein. Zum Erscheinungsbild trug die nach oben gewachsene Nasenspitze ein Übriges bei, so als hätte er zu oft mit dem Hemdsärmel den Rotz abgewischt.
Unmut stieg in dem Bettlerjungen auf. Er spürte förmlich den Ärger im Anmarsch. ›Sollte ich nicht besser abhauen? Nein! Ich friere und diese aufgeblasenen Gestalten werden mich nicht aufhalten. Ich habe mehr Mist erlebt, als die sich vorstellen können. Los jetzt, Hansgar, es gibt keinen Grund zu kneifen!‹
Der Bettler lief unbedarft an den Jungen vorbei, bis die Schweineschnauze sagte: »Heda, Stinkmorchel! Wo willst du denn hin?«
»Was geht’s dich an, Jorgen?«
Schweineschnauze presste seine Lippen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er lief hochrot an und drohte dann mit beschwörender Stimmlage. »Mich geht es schon was an, wo du rumstinkst. Vermiest meinem Vater das Geschäft. Hör auf, an unserem Stand herumzulungern! Wegen dir bekomme ich mein neues Messer nicht.«
Hansgars Haare stellten sich auf wie bei einer Katze, die zu nah an einen Hund geriet. Vorsichtig drehte er sich frontal auf Schweineschnauze zu. »Dein Vater geht seiner Profession nach und ich meiner. Würde er frisches Gemüse anbieten, dann hätte er auch mehr Umsatz!«
»Du wirst mir die fehlenden Kupferlinge ersetzen, Stinkmorchel. Du schuldest sie mir. Und offensichtlich wolltest du doch gerade zum Krämer. Also her mit allem, was du hast!«
Damit hatte Hansgar nicht gerechnet. Aber Schweineschnauze meinte es ernst. Der Bettler beugte leicht die Knie. Er machte sich fluchtbereit. Dann nahm er seinen linken Arm hinter den Rücken, um ihn vor weiteren Verletzungen zu schützen. »Wieso sollte ich das tun, Euer Wohlgeboren Schweinegesicht?«
»Weil ich dich sonst absteche. Jungs, schnappt euch die Stinkmorchel!«
Sofort hatten die Jungen ihn eingekesselt. Einer sprang von hinten heran, ergriff Hansgars verletzten Arm und verdrehte ihn kräftig. Ein Knirschen ertönte, als der Arm sich bog wie ein toter Fisch.
Hansgar schrie vor Entsetzen und Schmerz; der Knochen brach durch die Haut des Unterarmes. Der Bettler fühlte den zuckenden Schmerz bis in den Kopf steigen. Die Pein führte zur Ohnmacht und diese brachte ihm die wohlige Erlösung. Schwarze Nacht umfing ihn, als hätte seine Mutter die Kerze auf dem Nachttisch ausgeblasen.
Hansgar sah flimmernd die Sonne wieder aufgehen. Tränen und Dreck verklebten seine Augen. Er rieb sie aus, aber nur die rechte Hand fand ihr Ziel. Die Linke stand unnatürlich ab. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen und verlockten ihn, in die nächste Ohnmacht zu fallen.
Hansgar kratzte alle Selbstbeherrschung zusammen und versuchte, sich den Unterarm selbst zu richten, doch die Knochen ließen sich nicht unter die Haut drücken. Er verlor nahezu das Bewusstsein vor Schmerz. Der Bettler hechelte; versuchte, das Brennen und die Angst vor dem Tod wegzuatmen. Ihm war heiß. Seine dünne Kleidung war trotz der Kälte durchgeschwitzt. ›Ich muss es zu Maria ins Armenhaus schaffen‹, dachte er. Immer wieder visualisierte er den Weg. Er ging gebückt. Die nächste Gasse rechts. Dann durch den Hinterhof mit dem Kirschbaum. Er schleppte sich auf allen vieren. Gasse rechts. Wieder rechts, die Hausreihe an der Stadtmauer entlang. Er nutzte einen Knüppel als Gehhilfe. Dann befand er sich auf Höhe der alten Schmiede, wo er sonst bettelte. Nur zwei Abzweigungen noch bis zum Ziel! Da vorne war es gleich. Wärme, Sicherheit, Nahrung und Heilung.
Da erhielt er unvermittelt einen Tritt. So kräftig, dass er zwei Schritt weit Richtung Stadtmauer flog.
Hansgar fühlte nur noch Taubheit. Er wünschte sich, zu sterben; hier und jetzt. Diese Welt war nicht seine Welt, hielt nichts für ihn bereit. Diese Welt war nur geschaffen, um ihn leiden zu lassen. Unter Schmerzenstränen schaute er auf und sah, dass eine Stadtwache ihn getreten hatte, die den Weg für die Sänfte des Königs freimachte.
Als die Sänfte näher schaukelte wie eine Karavelle auf Vergnügungsfahrt, traute der Bettler seinen Augen nicht. Darin saß das wunderschöne Mädchen, welches er beim Heiler zum ersten Mal erblickt hatte.
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