Höllenkalt - Lilja Sigurðardóttir - E-Book
SONDERANGEBOT

Höllenkalt E-Book

Lilja Sigurdardóttir

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine junge Frau verschwindet spurlos, und ihre Schwester riskiert alles, um sie zu finden ... Áróra Jónsdóttir lebt in London und ist Ermittlerin im Bereich Wirtschaftskriminalität – sie spürt Geld auf, das illegal in Steuerparadiesen und auf Offshore-Konten versteckt ist, und sie ist sehr gut in ihrem Job. Privat ist Áróra eher eigenbrötlerisch. Zu ihrer Familie hat sie wenig Kontakt, und als ihre Mutter sie bittet, nach Island zu fahren, um nach ihrer älteren Schwester Ísafold zu schauen, die sich nicht mehr meldet, ist sie genervt. Dennoch macht sie sich auf nach Reykjavík und muss bald erkennen, dass Ísafold tatsächlich spurlos verschwunden ist. Áróra stellt Björn, den brutalen, mit Drogen dealenden Freund ihrer Schwester zur Rede und befragt die Nachbarn, die genau wie Björn ausweichend reagieren. Wurde Ísafold Opfer eines Verbrechens? Verzweifelt bittet sie den Polizisten Daníel um Hilfe, doch auch ihm erscheint die Situation mehr als rätselhaft. Auf ihrer atemlosen Suche wird Áróra nicht nur mit der Entfremdung von ihrer eigenen Schwester konfrontiert, sondern auch mit ungeahnten menschlichen Abgründen ... Die Áróra-Reihe: Band 1: Höllenkalt Band 2: Blutrot Band 3: Schneeweiß

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 460

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Áróra Jónsdóttir lebt in London und ist Ermittlerin im Bereich Wirtschaftskriminalität – sie spürt Geld auf, das illegal in Steuerparadiesen und auf Offshore-Konten versteckt ist, und sie ist sehr gut in ihrem Job. Privat ist Áróra eher eigenbrötlerisch. Zu ihrer Familie hat sie wenig Kontakt, und als ihre Mutter sie bittet, nach Island zu fahren, um nach ihrer älteren Schwester Ísafold zu schauen, die sich nicht mehr meldet, ist sie genervt. Dennoch macht sie sich auf nach Reykjavík und muss bald erkennen, dass Ísafold tatsächlich spurlos verschwunden ist. Áróra stellt Björn, den brutalen, mit Drogen dealenden Freund ihrer Schwester zur Rede und befragt die Nachbarn, die genau wie Björn ausweichend reagieren. Wurde Ísafold Opfer eines Verbrechens? Verzweifelt bittet sie den Polizisten Daníel um Hilfe, doch auch ihm erscheint die Situation mehr als rätselhaft. Auf ihrer atemlosen Suche wird Áróra nicht nur mit der Entfremdung von ihrer eigenen Schwester konfrontiert, sondern auch mit ungeahnten menschlichen Abgründen …

© Gassi

Silja Sigurðardóttir wurde 1972 in der isländischen Kleinstadt Akranes geboren und wuchs in Mexiko, Spanien und Island auf. Bereits mehrfach ausgezeichnet für ihre Theaterstücke, wurde sie mit ihrer Island-Trilogie auch einem internationalen Publikum bekannt. Der erste Band der Reihe, ›Das Netz‹, erschien 2020 bei DuMont, gefolgt von ›Die Schlinge‹ und ›Der Käfig‹ (beide 2021). 2022 erschien der Thriller ›Betrug‹.

Lilja Sigurðardóttir

HÖLLENKALTEIN ISLAND-KRIMI

Aus dem Isländischen von Betty Wahl

Von Lilja Sigurðardóttir sind bei DuMont außerdem erschienen:

Das Netz

Die Schlinge

Der Käfig

Betrug

E-Book 2023

DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

© Copyright Lilja Sigurðardóttir 2019

Die isländische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

›Helköld sól‹ bei Forlagið, Reykjavík.

This translation is published by arrangement with Forlagið, Reykjavik,

and Arrowsmith Agency, Hamburg.

© 2023 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Übersetzung: Betty Wahl

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © plainpicture/Ingrid Michel

Satz: Fagott, Ffm

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-8321-6089-0

www.dumont-buchverlag.de

HÖLLENKALT

Er kletterte über das scharfkantige Lavageröll, fand sein Gleichgewicht wieder und griff nach der Hand, die aus dem Reisekoffer ragte. Sie war eiskalt, und obwohl er sich das hätte denken können, warf ihn die kalte, gummiartige Haut dennoch aus der Bahn. Tränen rannen aus seinen Augenwinkeln, und er flüsterte »ich liebe dich« in die helle Sommernacht, die gegen Mitternacht für zwei oder drei Stunden zu verstummen schien, so als würde es selbst den Vögeln zu stressig, die ganze Nacht wach zu bleiben. Sein Flüstern in der Stille hatte etwas Frevelhaftes, also beschloss er, die Liebeserklärung nicht zu wiederholen, auch wenn er sie am liebsten über das ganze steinige Lavafeld gerufen, tief Luft geholt und aus Leibes- und Seelenkräften geschrien hätte, dass er sie liebte. Stattdessen beugte er sich nach vorn und legte seine Lippen zärtlich auf ihre Hand. So saß er einige Zeit, und bevor es ihm bewusst wurde, hatten seine Lippen den Handrücken erwärmt, als ob die Haut lebendig wäre. Er ließ seine Lippen über den Handrücken gleiten und küsste wieder und wieder die kalte Hand, küsste die Fingerknöchel, das Handgelenk, den weichen Teil der Handfläche, den man, das hatte er einmal gehört, Venushügel nannte, und die Finger, einen nach dem anderen, bis seine Lippen auf etwas Hartes stießen. Den Verlobungsring. Er umfasste den Ring und zog, doch der Finger schien geschwollen zu sein, sodass der Ring sich nicht vom Fleck bewegte, zur Hälfte eingesunken in diese schwammige, fettige Masse, die die Hand wie eine dicke Steppdecke umschloss. Er steckte seinen Finger in den Mund, spuckte auf den Ring und ruckelte ihn vor und zurück, bis er sich schließlich vom Finger löste. Er verstaute den Ring in seiner Hosentasche und drückte noch einmal einen flüchtigen Kuss auf den Handrücken, während er gegen die Versuchung ankämpfte, den Reißverschluss des Koffers ganz aufzuziehen, um ihr Gesicht zu sehen. Ob es ebenso von Schwellungen entstellt war und ebenso blass-bläulich schimmerte wie die Hand. Doch andererseits wollte er auch nicht sehen, was der Tod mit ihrem schönen Gesicht gemacht hatte. Es war allgemein bekannt, dass die Haut schnell ihre Farbe verlor, sobald das Blut nicht mehr durch den Körper strömte, und schon nach wenigen Stunden einen grauweißen Schimmer annahm. Der Tod zerstörte alles.

Er wischte sich die Tränen ab und zog die Nase hoch. Dann griff er mit der Hand noch einmal vorsichtig in den Koffer und zog den Reißverschluss zu. Er kletterte aus der Lavaspalte und schaute nach unten auf den dunkelroten Koffer, der dort verkehrt herum lag, nicht ganz am tiefsten Punkt der Spalte, aber zwischen spitzen Lavafelsen eingeklemmt, sodass sie, es sei denn direkt vom Rand der Spal

1

MITTWOCH

Verschwunden. Das hatte ihre Mutter am Telefon gesagt, als sie anrief, und Áróra hörte, wie ihre Stimme sich überschlug, was sie nur dann tat, wenn etwas Ernstes vorgefallen war.

»Deine Schwester ist verschwunden«, sagte sie, und in Áróra keimten Gefühle aus alten Zeiten auf. Angst. Wut. Bis vor Kurzem hatten diese Gefühle sie vom Sofa hochgeholt, sie raus zum Flughafen und bis nach Island befördert. Aber jetzt funktionierte das nicht mehr. Stattdessen meldete sich neuerdings ein Gefühl, auf das alles hinauslief, was mit Ísafold zu tun hatte: Erschöpfung.

»Sie hat bestimmt einfach zu viel zu tun, Mama-Schatz, um ans Telefon zu gehen.« Áróra wusste, dass es keinen Sinn hatte, zu streiten oder um die Dinge herumzureden, wenn ihre Mutter sich einmal in etwas verrannt hatte, doch sie versuchte es trotzdem. Sie hatte soeben den Fernseher eingeschaltet, um die Wiederholung von Wire in the Blood zu gucken, und hatte sich darauf gefreut, den ganzen Abend auf dem Sofa zu verbringen und sich dieser alten Kult-Krimiserie hinzugeben.

»Schon seit zwei Wochen geht sie jetzt nicht mehr ans Telefon. Das ist zu lang, um als normal zu gelten. Sie kann doch nicht zwei Wochen lang zu viel zu tun haben. Und Björn antwortet auch nicht, und ich weiß nicht, wie ich in diesem isländischen Telefonbuch im Internet jemanden von seiner Familie finden kann.« Áróra seufzte, achtete aber darauf, dass ihre Mutter es nicht mitbekam.

»Kommt kein Freizeichen, oder ist dauernd besetzt, oder was?«

»Beim Festnetz geht nie jemand dran, und wenn ich die Handynummer wähle, lande ich immer direkt in der Mailbox.«

»Und hast du schon versucht, in der Mailbox eine Nachricht zu hinterlassen?«, fragte Áróra und glaubte zu hören, wie ihre Mutter die Augen verdrehte.

»Natürlich habe ich Nachrichten hinterlassen. Immer und immer wieder, aber sie antwortet einfach nicht. Und auf Facebook ist es genau dasselbe. Wie du sicher selbst gesehen hast, hat sie schon seit mehr als zwei Wochen nichts Neues mehr gepostet.« Ganz gleich, wie oft sie ihrer Mutter das erklärte, sie schien nicht zu begreifen, dass die Schwestern keinerlei Kontakt hatten.

»Du weißt doch, dass sie mich auf Facebook blockiert hat, Mama. Ich sehe nichts von ihrem Profil.« Ihre Mutter stöhnte laut auf.

»Komm, Liebes, lass den Unfug!«, sagte sie in einem Ton, der Áróra immer zu verstehen gab, dass sie es war, die ständig Schwierigkeiten machte. Sie machte nichts als Ärger, deshalb hieß es »Lass den Unfug!«, obwohl sie nichts gesagt hatte als die schlichte und pure Wahrheit. Niemals käme ihre Mutter auf die Idee, Ísafold mit »Lass den Unfug!« zurechtzuweisen, etwa weil sie nicht ans Telefon ging oder sich nicht meldete. Nachdem Ísafold mit zwanzig von zu Hause ausgezogen war, schien sie zu einem heiligen Wesen geworden zu sein, während die Mutter Áróra weiterhin wie einen Teenager maßregelte: »Jetzt tu mir den Gefallen und bring das in Erfahrung.«

»Okay«, sagte Áróra und spürte einen unerträglichen Druck in der Kehle, wie immer, wenn sie gezwungen war, ihren eigenen Willen herunterzuschlucken. Es war nur ihre Familie, die dieses Gefühl in ihr hervorrief, in letzter Zeit fast immer ihre Mutter, nachdem sie sich mit Ísafold entzweit hatte und der Kontakt zwischen ihnen abgerissen war. Ihre Mutter gab ihr das Gefühl, dass sie Dinge tun musste, die sie in Wahrheit nicht tun wollte. »Ich werde morgen versuchen, Björn oder seine Mutter oder irgendjemanden zu erreichen.«

»Vielleicht kannst du schon heute Abend mit einem von diesen Leuten sprechen?«, sagte ihre Mutter mit bittender Stimme. »Einfach, um zu hören, ob alles in Ordnung ist?«

»Morgen, Mama. Ich werde das morgen erledigen.« Áróra legte auf, bevor ihre Mutter widersprechen konnte. Sie konnte unmöglich jetzt zu diesem Kreuzweg aufbrechen. Sie war zu müde, um sich die Lügen ihrer Schwester anzuhören, wenn sie in fröhlichem Ton behauptete, alles sei in bester Ordnung. In bester, bester, bester Ordnung. Sie sei bloß gegen den Heizkörper gefallen und habe sich den Kiefer gebrochen, weshalb sie nicht telefonieren könne, oder sie sei im Treppenhaus ausgerutscht und habe sich den Finger gebrochen, sodass sie sich keinesfalls auf Facebook habe melden können. Und Áróra war ebenfalls zu müde, um sich von Björn niedermachen zu lassen, der sagen würde, Ísafold sei seine Frau und Áróra habe sich nicht in Dinge einzumischen, die sie nichts angingen.

Sie nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, ging damit ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen, wickelte sich in eine Wolldecke und trank die Flasche zu einem Viertel leer. Die Folge hatte schon begonnen, was ihr aber egal sein konnte, denn sie hatte die Serie schon unzählige Male gesehen, doch die Ruhe, die sich über sie gesenkt hatte, bis ihre Mutter anrief, war verflogen, und sie musste sich dazu durchringen, die unangenehmen Gefühle, die sich in ihr eingenistet hatten, zu verjagen. Als ob das Telefonat in ihrem Inneren eine Schleuse geöffnet hätte, die sie mit letzter Kraft für eine gewisse Zeit geschlossen hatte halten können. Der Ärger über ihre Mutter. Die Wut auf Björn. Die nagende Angst um Ísafold.

2

DONNERSTAG

»Versuch nicht, im Nachhinein zu handeln«, sagte Áróra am Tag danach zu dem Autoverkäufer, während dieser hinter seinem monströsen Schreibtisch saß, sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und es sich bequem machte. Er war in etwa das Gegenteil des Mannes, mit dem Áróra vor einer Woche gesprochen hatte, der sich über den Tisch nach vorne gelehnt hatte, während er die kleinen Automodelle vor ihm auf der Tischplatte von Staub befreit und sie mit erstickter Stimme angefleht hatte, ihm zu helfen. Da hatte er erwähnt, er werde wohl bald hier im Büro übernachten müssen, wenn er nicht dahinterkomme, wo seine Frau, mit der er in einem erbitterten Scheidungskrieg steckte, das Geld verberge, das sie in zwanzig Ehejahren gemeinsam angespart hätten. Und das war eine beträchtliche Summe, die vielleicht zu einem kleinen Teil aus ausländischen Kommissionsgeschäften stammte, Geld, das er vielleicht nicht unbedingt zu hundert Prozent bei der Steuer angegeben hatte. Deshalb hatte er sich nicht an die britischen Behörden gewandt, sondern an Áróra.

Nun, nach der ersten Erleichterung darüber, dass sie das Geld aufgespürt hatte, war der Autohändler die Überheblichkeit in Person und versuchte, den Vertrag mit Áróra aufzulösen, der festlegte, dass sie zehn Prozent des Betrags bekommen würde, was auch immer sie fand. Er fingerte einen Nikotinkaugummi aus der Packung vor ihm auf dem Schreibtisch und steckte ihn in den Mund. Er kam frisch vom Friseur, und die Jeans unter dem Blazer waren etwas zu eng, um bequem zu sein. Sie tippte auf den zweiten Frühling. Er hatte seine Frau, die mit ihm die Firma aufgebaut hatte, wohl gegen eine andere, jüngere ausgetauscht. Das würde ihre Verbitterung erklären.

»Das ist ein lächerlich hoher Prozentsatz, wenn man bedenkt, dass du die Sache in weniger als einer Woche erledigt hast«, sagte er und kaute gierig auf seinem Nikotinkaugummi herum, so wie Leute, die gerade aufgehört haben zu rauchen.

»Diese Woche hat mich eine Reise in die Schweiz gekostet, zehn Stunden Internetrecherche und die Beschaffung von Daten, sodass ich innerhalb dieser einen Woche beträchtliche Summen vorgestreckt und viel Zeit investiert habe. Ich arbeite schnell und ich habe Erfolg.« Áróra sprach leise und deutlich, um sicherzugehen, dass er sie verstand. »Das ist der Prozentsatz, auf den wir uns geeinigt haben, als ich zugesagt habe, dem Geld auf die Spur zu kommen.«

»Das ist Wucher«, sagte der Autohändler und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das bezahle ich nicht.« Áróra stöhnte. Dieses Muster schien verbreiteter, als man erwarten konnte. In ihrer Verzweiflung über das verlorene Geld erklärten sich die Leute dazu bereit, hohe Geldbeträge hinzulegen, und wenn das Geld dann wieder aufgetaucht war, schien ihnen plötzlich klar zu werden, wie teuer ihre Dienstleistung war.

»Mein Anteil beträgt zehn Prozent vom Gesamtbetrag – oder gar nichts.«

»Fünf Prozent sind das absolute Maximum für diese Gefälligkeit.«

»Wenn du meinst«, gab Áróra zurück und stand auf. »Dann such dir jemand anderen, der für dich arbeitet, und viel Glück dabei. Geld verstecken kann ich nämlich genauso gut wie welches finden.« Der Autohändler sprang auf die Füße, räusperte sich und hustete. Er hatte offenbar seinen Kaugummi verschluckt.

»Wie zur Hölle meinst du das? Du hast es mir doch schon überwiesen.« In seiner Stimme lag wieder der weinerliche Ton, den sie in der letzten Woche herausgehört hatte.

»Ich habe vierundzwanzig Stunden Widerrufsfrist für alle meine Kontobewegungen«, sagte Áróra, zog ihr Handy aus der Tasche, tippte die PIN ihrer Bank-App ein und machte die Überweisung rückgängig. »So, das hätten wir«, sagte sie und verließ das Büro.

Sie schlängelte sich zwischen den blitzblanken Autos hindurch quer über die Ausstellungsfläche und steuerte auf den Ausgang zu, wobei sie aus dem Augenwinkel durch die Glaswand einen Blick ins Büro werfen konnte, wo der Autohändler saß, verzweifelt auf seinem Handy herumtippte und todsicher auf seinen Kontostand starrte, über den er sich am Vorabend noch so gefreut hatte.

Áróra hatte den Parkplatz zur Hälfte überquert, als sie hinter ihr seine Stimme hörte.

»Okay, okay, selbstverständlich«, rief er außer Atem, nachdem er durch den Ausstellungsraum gehetzt war. »Du hast recht, natürlich haben wir das so vereinbart. Mein Fehler.« Áróra blieb stehen und drehte sich um.

»Ich wollte es nur vereinfachen, wollte dir den gesamten Betrag überweisen, und du hättest mir mein Geld dann über die Firma auszahlen können. Aber jetzt, wo mein Vertrauen in dich verloren ist, überweise ich dir deinen Anteil und behalte meinen Betrag ein.« Áróra sah ihn fragend an und hielt ihr Handy hoch, woraufhin der Autoverkäufer nickte und zustimmend die Hände hob.

Sie öffnete noch einmal die Bank-App, während der Autohändler ihr gegenüberstand und auf seinem Telefon herumtippte. Ohne Zweifel hatte er wieder sein Bankkonto aufgerufen, um zu kontrollieren, ob die Überweisung auch wirklich eintraf.

»So«, sagte Áróra, »das hätten wir. Und damit sind wir quitt.« Sie schaltete ihr Handy aus und steckte es in die Tasche, doch dann zögerte sie einen Moment, nur um das Gesicht des Autohändlers zu sehen, sobald ihm klar wurde, was er angerichtet hatte. Sie brauchte nicht lange zu warten.

»Nein!«, rief er, und seine Stimme schwankte zwischen Verzweiflung und Wut. »Wir sind überhaupt nicht quitt. Das ist ja nur die Hälfte! Weniger als die Hälfte!«

»Ja«, sagte Áróra. »Es war mir eine Lehre, dein wahres Gesicht zu erkennen. Das hat dazu geführt, dass ich dein Gejammere in Zweifel gezogen habe, die ganze Story, wie deine Frau dich bei der Scheidung über den Tisch gezogen und dir das Haus weggenommen hat, und was du mir letzte Woche sonst noch alles vorgeheult hast. Also werde ich die andere Hälfte des Geldes, die deiner Frau von Rechts wegen zusteht, auf ihr Schweizer Bankkonto rücküberweisen.«

»Das kannst du nicht machen!«, schrie der Autohändler, doch Áróra drehte sich auf dem Absatz um und ging.

»Wenn überhaupt, dann hat deine Frau noch viel mehr verdient als das, schließlich musste sie dich zwanzig Jahre lang ertragen«, sagte sie und stieg in ihr Auto. Sie legte den Gang ein, rollte langsam vom Parkplatz und winkte dem Autoverkäufer fröhlich zu, der ihr wie versteinert nachblickte. Das war der größte Vorteil ihres Jobs: Sie konnte Gerechtigkeit nach eigenem Belieben verteilen.

3

Die Beziehung zwischen den Schwestern war von klein auf nicht gut gewesen. Eine der frühesten Kindheitserinnerungen Áróras war der glühende Hass in Ísafolds Augen, wenn sie einen Schuh in die Hand nahm und ihn in Richtung Áróra schleuderte, die auf dem Boden saß, während Ísafold durch die zusammengebissenen Zähne zischte: »Widerliches Balg.«

Widerliches Balg. Das sollte sie noch oft zu hören bekommen. Mama nannte sie lovely oder darling, und Papa verwendete drollige isländische Kosenamen wie krúttmoli oder krúsídúlla. Doch Ísafold nannte sie einfach das Balg, was sie gern mit wenig ansprechenden Adjektiven ergänzte. Sechs Jahre Altersunterschied waren nicht gerade gut für sie gewesen.

Doch als sie nach England zogen, als Áróra acht und Ísafold vierzehn war, änderte sich alles. Die Pubertätshormone brachen aus Ísafold in Form von roten Pusteln hervor, die ihr Gesicht bedeckten, sie war unglücklich in der Schule, ihre Klassenkameraden hänselten sie, und so griff Ísafold auf Áróras Gesellschaft zurück.

Nach der Erniedrigung im Klassenzimmer und auf dem Pausenhof empfand sie es als Erleichterung, nach Hause zu kommen und mit ihrer kleinen Schwester Barbie zu spielen, die sie auf jene unlogische Art und Weise verehrte, wie jüngere Geschwister das eben tun. Áróra erinnerte sich noch heute daran, wie dankbar sie für diese Aufmerksamkeit gewesen war. Einmal sagte sie sogar ein playdate mit Freunden von der Schule ab, um sich zu Hause zu verkrümeln und mit der großen Schwester Barbie zu spielen.

Wenn sie jetzt daran zurückdachte, erinnerte sie sich nicht, ob sie in diesen frühen Jahren miteinander Isländisch oder Englisch gesprochen hatten. Wahrscheinlich war es eine Art Sprachgemisch gewesen, wie so oft in Familien, in denen die Eltern verschiedene Sprachen sprechen, doch nicht lange, nachdem ihr Vater gestorben war, wechselten sie komplett zum Englischen. Es war irgendwie dämlich, Isländisch zu sprechen, wenn es keinen direkten Grund mehr dafür gab.

Ihr Haus in Newcastle war ein typisch englisches Mittelklassehaus, zwei Stockwerke mit einer steilen Treppe, die Schlafzimmer oben, Wohnzimmer und Küche unten und ein sorgfältig eingezäunter Garten hinter dem Haus, wo Áróra das ganze Jahr über genüsslich im Schlamm spielte. Sie grub Löcher und legte Teiche an, sie riss die Pflanzen aus und setzte sie woanders wieder ein, und wenn ihre Mutter sich beschwerte, dass sie den Garten verunstaltete, unterbrach ihr Vater sie jedes Mal und sagte: »Lass sie doch. Sie ist halb Isländerin.«

Jetzt, im Nachhinein, war Áróra nicht mehr ganz sicher, ob er gemeint hatte, dass man es ihr, der kleinen Isländerin, doch erlauben solle, wo es doch so ungewohnt war, das ganze Jahr über im ungefrorenen Schlamm buddeln zu können. Oder aber er hatte gemeint, dass man gar nicht erst versuchen solle, dieses isländische Blut zu bändigen, das immer in einem anderen Rhythmus floss als das englische? Es gab so unendlich viel, das sie ihren Vater so gern noch gefragt hätte, doch nun war es zu spät.

4

Es war jedes Mal der gleiche Ärger, am Flughafen von Edinburgh einen Parkplatz zu finden, also beschloss Áróra, das Auto zu Hause zu lassen und ein Taxi zu nehmen. Der Flughafen war nicht weit genug entfernt, dass sie sich aufgerafft hätte, in den Zug und dann den Bus zu steigen, um sich das Taxi zu sparen, auch wenn ihre Mutter das ohne zu zögern gemacht hätte, ohne Áróra zurechtzuweisen, dass sie so schlecht mit Geld umgehen könne. Áróra antwortete meistens, es habe wenig Sinn, Geld zu besitzen, wenn man es nicht dazu verwende, sich das Leben leichter zu machen.

Es war lange her, dass sie im Sommer in Island gewesen war, aber sie erinnerte sich noch gut an die Kälte, weshalb sie ein paar warme Kleidungsstücke in ihren Weekender gepackt hatte. Sie hatte ein Hotelzimmer in der Innenstadt von Reykjavík gebucht; den Namen hatte sie noch nie gehört, es schien also neu zu sein. Ihre Mutter hatte vorgeschlagen, bei irgendwelchen Verwandten zu übernachten, an die sich Áróra nur ganz dunkel erinnerte, doch zum Glück war es ihr gelungen, ihrer Mutter diese Maßnahme auszureden. Es war ein Abendflug, obwohl das keine Rolle spielte, sie würde bei Tageslicht in Island landen, egal zu welcher Zeit, denn der Juni mit seiner kalten Sonne, die Tag und Nacht am Himmel stand, hatte gerade erst begonnen.

Die Schwestern hatten das elterliche Erbe auf höchst sonderbare Weise untereinander aufgeteilt. Áróra war immer die Englischere der beiden gewesen, obwohl sie vom Typ her eine richtige Isländerin war, mit hellem Teint und stämmigem Körperbau. Ísafold hingegen sah zweifellos britisch aus, mit etwas dunklerem Haar, aber elfenbeinfarbener Haut und zierlichem Körperbau, war aber in jeder Hinsicht isländischer als ihre jüngere Schwester. Das verwunderte eigentlich nicht sehr, denn Ísafold hatte den größeren Teil ihrer Jugend in Island verbracht und war außerdem immer das Papakind gewesen.

»Ich habe ein Elfenmädchen und ein Trollmädchen«, hatte ihr Vater oft gesagt, als sie klein waren, und bei ihm klang das immer, als wäre beides gleichermaßen erstrebenswert. Ísafold war zufrieden damit, ein Elfenmädchen zu sein, sie machte Ballett und später Gymnastik, wobei ihre Gelenkigkeit hervorragend zum Einsatz kam. Áróra wiederum war zufrieden damit, ein Trollmädchen zu sein, denn sie kam nach ihrem Vater, der mit seiner Statur sogar sein Geld verdiente, als Türsteher und bei den Highland Games, und so war Körperkraft in dieser Familie ein Dauerthema.

Es spielte keine Rolle, ob sie in Island oder in England wohnten, die Schwestern pendelten immer zwischen den unterschiedlichen Kulturen ihrer Eltern und wussten oft nicht, wohin der nächste Schritt sie führen würde. Auseinandersetzungen endeten oft damit, dass Ísafold sich auf die Seite ihres Vaters schlug und Áróra zu ihrer Mutter hielt, als ob der Vergleich von Speisen und Gerichten, von Traditionen oder Sprache ein Wettbewerb von der Tragweite eines Fußballländerspiels wäre.

»Island eins, England null«, hatte Ísafold einmal gezischt, als ihre Mutter angedeutet hatte, dass isländisches Essen am ehesten für Barbaren geeignet sei, worauf ihr Vater antwortete, das einzig Essbare in Großbritannien sei das Frühstück. Es regte ihn jedes Mal auf, wenn seine Frau andeutete, dass Island in irgendeiner Weise rückständig sei.

Und er regte sich ebenfalls auf, wenn er spontane Ideen zu einer Reise oder irgendeinem Projekt hatte und die innere Bremse seiner Frau sich gleich mit Zweifeln und Widersprüchen zu Wort meldete. Die Mutter der Mädchen wollte die Dinge planen, wollte alles frühzeitig entscheiden, um sich dann lange im Voraus freuen zu können, anstatt mit hängender Zunge der Voreiligkeit hinterherzurennen, wie ihr Vater und der ganze isländische Zweig der Familie das offenbar gerne taten.

Jetzt, als sie im Taxi durch Edinburgh fuhr, dachte Áróra, dass ihr Vater es vielleicht lieber gehabt hätte, sie wäre mehr nach der isländischen Seite geschlagen, und dann spürte sie ein Stechen in der Magengrube, den Schmerz des Verlustes und der ohnmächtigen Schuldgefühle, die sich immer dann meldeten, wenn sie an ihren Vater dachte. Auf irgendeine Art hatte sie das Gefühl, dass sie Island verraten hatte, und damit ihn.

Sie hatte, trotz aller Sommerferien und Besuche über Weihnachten, das Interesse an Island verloren. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie sich mit allerlei Ausreden davor gedrückt, weiterhin nach Island zu fliegen, und nach und nach hatten sich die Familienbande gelockert, sodass auch die Einladungen zu Taufen und Hochzeiten und Familienfesten, die man in Island so liebte, allmählich weniger wurden. Ísafold dagegen hatte solche Zusammenkünfte immer geliebt. Sie hatte jede Gelegenheit genutzt, nach Island zu kommen, und wenn gerade kein Anlass da war, schuf sie sich selbst einen. Sie unternahm Wochenendtrips mit ihren Freundinnen, um ihnen das Reykjavíker Nachtleben zu zeigen, und als sie etwas älter war, suchte sie sich hier und dort einen Sommerjob. Deshalb war Áróra auch nicht im Geringsten erstaunt gewesen, als sie einen Isländer geheiratet hatte. Es hatte sozusagen in der Luft gelegen, und dann war es so weit.

Áróra hatte nur Handgepäck dabei, sodass der Check-in am Schalter und die Sicherheitsschleuse so schnell abgehakt waren, dass sie noch fast eine Stunde totschlagen musste, bevor die Maschine zum Boarding bereit sein würde. Sie hastete durch den Duty-Free und lief dann schnurstracks zum Gate, wo sie einen Sitz auf einer Bank ergatterte und ihr Handy herausholte. Sie rief Ísafolds Schwiegermutter an und ihren Schwager Ebbi, Björns Bruder, und hinterließ bei beiden eine Nachricht auf der Mailbox. Dann schickte sie an Björn selbst mehrere SMS. Keiner von ihnen hatte geantwortet, weder war eine SMS eingetroffen, noch hatte jemand zurückgerufen.

5

Vor drei Jahren war dann Björn auf der Bildfläche erschienen. Und es war schon bald klar, dass er anders war als alle früheren Männer, mit denen Ísafold zusammen gewesen war und die nie lange geblieben waren. Der, der am längsten durchgehalten hatte, war nicht einmal auf ein Jahr gekommen. Es schien, als wäre sie ständig auf der Suche nach etwas gewesen, und als sie Björn begegnete, war es, als hätte sie es gefunden.

Ísafold hatte Áróra zu einem isländischen Mittwinterfest in London mitgenommen, und sie wiederum hatte sich mitschleppen lassen, obwohl sie es besser wusste, denn sie konnte mit den wenigsten der dort servierten Speisen etwas anfangen und hatte auch für Isländer im Großen und Ganzen nicht allzu viel übrig, erst recht nicht, wenn sie anfingen zu singen. Doch Ísafold hatte ihre Schwester angefleht, sie würde wahnsinnig gern auf dieses Fest gehen, habe aber niemanden, der mitkomme, und so ließ Áróra sich breitschlagen, nur um es dann tausendmal zu bereuen, dass sie den überwiegenden Teil des Abends auf ihrem Stuhl hockte und Ísafold und Björn beim Tanzen zusah.

Björn war ein gut aussehender Typ. Er war groß, dunkelhaarig und stämmig, und um seine Unterarme, die aus den hochgekrempelten Ärmeln ragten, schlängelten sich kunstfertige Tattoos, gemusterte Schlangen, die unter seinem Shirt verschwanden. Er hatte ein befreundetes Ehepaar aus London im Schlepptau und gab pausenlos Drinks für die ganze Runde aus. Áróra war stockbesoffen, als sie sich ein Taxi bestellte und ins Hotel aufbrach. Ísafold ging mit Björn.

Und nach diesem Abend schien sie wie besessen. Björn dies und Björn das. Björn war ihr einziges Gesprächsthema. Und Áróra hatte sich für sie gefreut. Ísafold war bis über beide Ohren verliebt und glücklich, und Áróra genoss es, ihre Schwester so freudestrahlend zu sehen. Es war, als hätte Island, nach dessen Nähe sich Ísafold immer gesehnt hatte, sie endlich mit offenen Armen empfangen, und nachdem sie Björn ein paar Wochen kannte, zog sie zu ihm in seine Wohnung im Engihjalli in Kópavogur.

»Und jetzt musst du dir auch noch einen isländischen Typen angeln!«, hatte Ísafold lachend gesagt, kurz nachdem sie nach Island gezogen war, und Áróra hatte mitgelacht und gefragt, ob Björn denn nicht einen scharfen Kumpel habe. Aber das war natürlich nicht ernst gemeint gewesen. Áróra interessierte sich nicht für Beziehungen. Sie wollte frei sein.

Während sie beim Anflug auf Keflavík die Aussicht genoss, das graugrüne Moos, dem es auch nach Jahrhunderten nicht gelungen war, die Lava zu überwuchern, versuchte sie sich zu erinnern, wann es zwischen Björn und Ísafold zu kriseln begonnen hatte. Es war ziemlich bald, aber auch nicht gleich von Anfang an gewesen, denn sie hatte die beiden im ersten Winter in Island besucht, hatte bei ihnen auf dem Sofa übernachtet und Ísafolds verzweifelte Versuche verfolgt, sich in die isländische Weihnachtsbäckerei zu stürzen. Da war noch alles gut gewesen. Sie hatten zusammen gelacht, und sie hatte Björn gemocht.

Doch dann geriet die ganze Sache aus dem Gleichgewicht. Angefangen hatte es damit, dass Ísafold ihre Schwester mitten in der Nacht anrief und mit tränenerstickter Stimme sagte, Björn habe sie geschlagen. Und Áróra machte sich unverzüglich auf nach Island, holte Ísafold ab und fuhr mit ihr zu einem Gespräch im Frauenhaus. Zum ersten Mal.

6

Normalerweise fand Áróra isländische Männer erbärmlich und im Vergleich mit den Engländern oft anzüglich, doch dieser hier war anders. Er war nicht unbeholfen und verklemmt, wie das bei vielen Isländern vorkam, die sich verlegen einer Frau näherten, aber sofort dazu bereit waren, sie mit Beschimpfungen zu übergießen, falls ihr Interesse nicht erwidert wurde. Dieser hier näherte sich ihr mit Selbstbewusstsein. Sie hatte ihn in Sekundenschnelle taxiert, er schien in ausgezeichneter Verfassung, schlank und gut aussehend, auch wenn das Gesicht mit dem hellen, schütteren Dreitagebart vielleicht etwas kindlich wirkte. Das sorgfältig gebügelte Hemd war stramm in die Hose gesteckt, und die Krawatte saß noch immer eng am Hals, obwohl es schon Abend war. Sie hatte etwas übrig für Männer, die sich um ihr Aussehen kümmerten.

»Noch so einen für mich«, sagte er und reichte dem Barkeeper sein Glas, »und dasselbe für die Dame.« Sie lächelte und reichte ihm die Hand.

»Áróra«, sagte sie, und das verblüffte ihn.

»Bist du Isländerin?«

»Halb isländisch«, sagte sie lächelnd. »Oder vielleicht eher halb britisch. Ich bin in den letzten Jahren selten hier gewesen. Aber die Sprache kann ich noch einigermaßen.«

»Die Aussprache ist ziemlich sexy«, sagte er und schob sich einen Schritt näher an sie heran. »Ich hätte schwören können, du wärst Touristin. Entweder so eine Luxus-Kulturtouristin oder eine Ausländerin auf Geschäftsreise.«

Das war die Gelegenheit für sie, sich dezent auszuklinken. Doch sie blieb sitzen.

»Oh. Danke«, sagte sie. »Hast du einen Namen?«

»Hákon«, antwortete er, und sie gaben sich noch mal die Hand. Er hielt ihre Hand lange fest, und sie spürte den Strom, der zwischen ihnen zu fließen begann. Sie versuchte, den Duft seines Rasierwassers einzuordnen, und kam zu dem Ergebnis, dass sie ihm bisher nicht begegnet war, aber dass sie es mochte. Ein frischer, dezent würziger Duft. Einen Moment lang war sie versucht, ihn mit auf ihr Zimmer zu nehmen, um zu sehen, was er noch so draufhatte, ob er ihr Blut in Wallung bringen konnte, doch sie pfiff sich sofort wieder zurück. Er war natürlich verheiratet.

»Bist du verheiratet?«, entfuhr es ihr, und er schüttelte den Kopf.

»Geschieden, zweieinhalb Kinder.« Fuck. Das konnte sie also nicht als Ausrede verwenden. Sie hatte nicht die Hotelbar angesteuert, um Beute zu machen. Sie hatte bei diesem verfluchten Tageslicht einfach nicht einschlafen können. Trotz der Verdunklungsgardinen im Zimmer kroch die Sonne überallhin, und nachdem sie sich noch ein paarmal im Bett hin und her gewälzt hatte, beschloss sie, zwei bis drei Gläser Wein würden sie schläfrig genug machen, um dieses unerträgliche, endlose Tageslicht zu besiegen.

7

Papa sagt, in puncto Ernährung und Fitness gelten unterschiedliche Regeln für unterschiedliche Arten des Körperbaus. Elfenmädchen und Trollmädchen brauchen unterschiedliche Behandlung.

Er legt zwei Scheiben Toast auf Ísafolds Frühstücksteller und eine tüchtige Portion Speck auf meinen. Nach dem Frühstück geht Ísafold eine Runde laufen, und ich gehe mit Papa zum Krafttraining.

Mama hat sich beurlaubt von dem ganzen Training. Sie sagt, sie habe nicht vor, bei diesem Unsinn mitzumachen.

Eines Tages will Ísafold unbedingt zum Krafttraining mitkommen, und ich lache sie aus, während sie sich mit den Anfängergewichten abquält, aber Papa wirft mir einen strengen Blick zu, nimmt die Gewichte von ihrer Hantel und schwindelt ihr vor, ich hätte am Anfang auch mit einer Hantel ohne Gewichte trainiert. Ich will protestieren, doch er legt den Finger an die Lippen und nimmt mich beiseite.

Ísafold ist deine große Schwester, aber du bist die Stärkere, und deshalb musst du sie beschützen, anstatt sie zu demütigen, sagt er. Die Körperkraft verweist auf die innere Stärke, und davon hast du viel mehr als sie.

Ich vergleiche uns beide im Spiegel des Krafttrainingssaals. Wir stehen Seite an Seite, ich mit zweimal dreißig Kilo an den Hanteln und sie völlig ohne Gewichte, und ich habe das Gefühl, mich selbst wachsen zu sehen. Auf einmal bin ich einen Kopf größer als Ísafold, meine Oberschenkel stramm wie bei einem Pferd und die Arme vom Muskelspiel geformt. Sie dagegen schrumpft und sackt in sich zusammen, als ob sich unter ihrer weißen Haut nur Sehnen und Knochen befänden, die sie kaum aufrechthalten können.

Am Abend weint Ísafold, weil sie ein Kilo zugenommen hat, während ich mich über jedes zusätzliche Gramm freue. Muskeln sind schwer. Je mehr Muskeln, desto größer die Kraft.

8

FREITAG

Grímur schreckte hoch, als die Türklingel der Wohnung im Stockwerk über ihm schrillte. Die Wohnung von denen. Er stieg aus dem Bett und schlich vorsichtig zum Fenster, als befürchtete er, der da draußen, der die Klingel betätigt hatte, könnte ihn hören. Doch in dieser Hinsicht bestand keine Gefahr. Sein Fenster, das auf den Haupteingang des Wohnblocks hinausging, lag ein halbes Stockwerk höher, sodass es unwahrscheinlich war, dass seine Schritte auf der teppichbespannten Treppe durch die isolierte Außenwand und das doppelte Fensterglas nach draußen drangen. Doch es ging um etwas anderes als die Geräusche aus der Wohnung im oberen Stockwerk. Ihre Geräusche.

Die Frau, die draußen stand, ließ ihn für einen Moment zusammenzucken, denn sie sah Ísafold zum Verwechseln ähnlich, nur etwas blonder und größer, und er brauchte eine gewisse Zeit, bis ihm aufging, dass sie Ísafolds Schwester aus Großbritannien sein musste. Er erinnerte sich an sie. Als sie Ísafold einmal bei ihm abgeholt hatte. Auf dem Parkplatz stand ein Auto mit laufendem Motor, das die Frau da geparkt hatte, und auf der Windschutzscheibe klebte ein kleiner roter Aufkleber, der auf eine Autovermietung verwies. Das war zu erwarten gewesen. Früher oder später war das zu erwarten gewesen.

Grímur rührte sich nicht und beobachtete die Frau. Sie stand auf der Treppenstufe, drückte nochmals die Türklingel und trat von einem Fuß auf den anderen. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und sah nach oben zum Dachfirst, und er trat schnell einen Schritt vom Fenster zurück und hatte trotzdem das Gefühl, als hätten sich ihre Blicke für einen Moment getroffen, war sich aber nicht sicher.

Er war kurz vorm Platzen, wollte aber warten, bis sie aufgeben und wegfahren würde, was er aber auch nicht konnte, also schoss er ins Bad und entleerte seine Blase mit einem geräuschvollen Strahl. Er wusch sich die Hände und spritzte sich dabei kaltes Wasser ins Gesicht, um endlich richtig aufzuwachen. Doch als er wieder seinen Posten am Fenster einnahm, das Handtuch noch in der Hand, stand da draußen der Araberidiot und unterhielt sich mit der Frau. Natürlich wollte er sich auch in diese Angelegenheit einmischen. Es schien, als gäbe es keinerlei Grenzen für den Jungen. Er wünschte, das Fenster hätte einen öffenbaren Flügel, damit er das Gespräch verfolgen könnte, aber der Körpersprache nach zu urteilen schien der Araberjunge zu sagen, dass er Ísafold nicht gesehen habe. Er schüttelte den Kopf und gestikulierte wild in alle Richtungen, so wie immer, wenn er sich in seiner hoffnungslosen Mischung aus Isländisch und Englisch auszudrücken versuchte, während die Frau vor ihm stand, ihn anschaute und nickte.

Grímur atmete auf, als die Frau in ihren Mietwagen stieg und vom Parkplatz des Wohnblocks fuhr. Er schluckte den Ärger hinunter, der in ihm brodelte, als er sah, dass der Araber sich einen Besen geschnappt und angefangen hatte, den Bürgersteig vor dem Eingang des Wohnblocks zu kehren. Es war nicht gelogen, dass er oft kein Ende finden konnte. Olga hatte ihn bestimmt schon hundertmal ermahnt, sich drinnen aufzuhalten, um kein Aufsehen zu erregen, doch der Trottel ließ sich ja nichts sagen. Dann war das eben so. Außerdem hatte sie Grímur gebeten, ein Auge auf ihn zu haben, wenn er sich draußen herumtrieb, doch Grímur hatte schon bald aufgegeben. Er würde für einen Erwachsenen nicht den Babysitter spielen. Der Junge würde irgendwann zur Kasse gebeten werden wie alle anderen auch.

Grímur spürte, wie sich seine Bartstoppeln nach der Nacht bemerkbar machten, doch er konnte sich nicht dazu durchringen, sich über das Gesicht zu streichen, um zu fühlen, wie ernst der Zustand war. Wahrscheinlich sprossen sie auch auf seinem Kopf und an den Beinen. Und der Brust. Und dem Sack. Und dann waren da die verdammten Augenbrauen.

Er eilte ins Bad und stellte die Dusche an. Dann nahm er ei- ne neue Packung Einwegrasierer aus dem Schränkchen unter dem Waschbecken und nahm vier davon heraus. Vier reichten normalerweise. Er zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser und die Wärme weichten die Haarwurzeln allmählich auf, wodurch die Rasur sanfter und präziser wurde, was die Stoppeln davon abhalten würde, noch vor dem Abend wieder hervorzusprießen. Er nahm die Flasche mit dem Rasierschaum, sprühte die Handfläche voll mit weißem, festem Schaum und massierte damit seinen Kopf. Er fing immer mit dem Kopf an, dann kam das Gesicht – erst die Augenbrauen, dann der Bart. Hier wechselte er die Rasierklinge und arbeitete sich den Körper entlang nach unten und schloss die Rasur mit den Füßen ab. Dann seifte er sich noch einmal ein, gefolgt von zwei Runden mit einem weiteren Einmalrasierer, um ganz sicher zu sein, dass auch kein einziges ekliges und bakterienbehaftetes Haar übrig geblieben war.

Grímur setzte sich an den Küchentisch und versuchte, seine Nerven zu beruhigen, die seinen Körper unter Spannung gesetzt hatten wie einen Bogen, der zum Abschießen gedehnt wird. Die Dusche und seine Rasur hatten es nicht vermocht, ihn zu beruhigen. In seinem Kopf klopfte die Frau, Ísafolds Schwester, so laut, als ob sie direkt vor der Eingangstür stünde und mit den Knöcheln gegen die Tür hämmerte. Das war zu erwarten gewesen. Es war zu erwarten gewesen, dass früher oder später jemand kam und nach Ísafold fragte.

9

Vor ihr in der Schlange am Info-Kiosk im Erdgeschoss des Landeskrankenhauses Fossvogur standen zwei Personen. Áróra stellte sich hinter die beiden und wartete, bis sie an der Reihe war. Sie war schon zweimal vorher hier gewesen, beide Male mit Ísafold. Es gab viel Andrang in der Eingangshalle, Leute, die kamen und gingen, Ärzte, Pflegepersonal, Patienten in weißer Krankenhauskleidung, die ihre Infusionen an rollenden Infusionsständern hinter sich herzogen und sich zu einer heimlichen Zigarette hinausschlichen, und dann gewöhnlich gekleidete Leute, die jemanden besuchten oder jemanden von den alten Leuten abholten, die entweder geduldig in ihrem Rollstuhl warteten oder sich zitternd auf ihren Rollator stützten.

Die Frau vor ihr wandte sich zum Gehen, und Áróra setzte an, ihr Anliegen vorzutragen, als sich ein junger Mann in einer grünen Regenjacke an ihr vorbeischob, sich auf die Theke lehnte und den Mann hinter der Glasscheibe ansprach. Überall sonst hätte sie mit einer strengen Bemerkung gekontert, doch hier machte sie sich nicht die Mühe. Typisch isländisches Verhalten eben. Die Männer drängelten sich im Straßenverkehr an einem vorbei, und die Frauen machten es genauso. Es war, als wäre der Gedanke, sich in einer Schlange anzustellen oder sich abzuwechseln, hier in diesem Land völlig fremd.

Als der Mann in der grünen Regenjacke fertig war, warf Áróra ihm einen bösen Blick zu, dann lehnte sie sich an die Glasscheibe und schenkte dem Klinikangestellten auf der anderen Seite ein gewinnendes Lächeln.

»Ich will meine Schwester besuchen, die hier in der Klinik behandelt wird, habe aber vergessen, auf welcher Station sie ist«, sagte Áróra. »Könntest du das für mich herausfinden?«

»Selbstverständlich«, sagte der Mann, und Áróra nannte Ísafolds Namen. Er tippte ihn ein und starrte auf den Bildschirm. »Ich kann sie leider nicht finden«, sagte er und zuckte mit den Schultern.

»Wirklich?« Áróra tat verblüfft. »Kannst du vielleicht noch mal genauer nachsehen?« Der Mann schüttelte den Kopf.

»Wir haben hier im Verzeichnis keine Ísafold.«

»Könnte es sein, dass sie unten im Hauptgebäude an der Hringbraut liegt?«

»Nein«, sagte der Mann. Das hier ist ein Gesamtverzeichnis für das ganze Krankenhaus, unabhängig vom Gebäude.«

»Komisch«, sagte Áróra. »Und was, wenn sie heute entlassen wurde oder gestern Abend? Kannst du vielleicht ein paar Tage zurückgehen und dort nachschauen?« Der Mann tippte etwas ein, schaute mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm und schüttelte noch einmal den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Wir haben keine Ísafold hier im Patientenverzeichnis. Du musst schon selbst mit ihr Kontakt aufnehmen.«

Wenn das so einfach wäre, dachte Áróra, bedankte sich und trat hinaus in die kühle Sommerluft. Dann wusste sie es also. Ísafold lag jedenfalls nicht im Krankenhaus.

10

»Was machst du denn hier?«

Das war in etwa die Reaktion, die sie von Björn erwartet hatte, als sie in dem Handyladen auftauchte, in dem er eine Art Teilzeitjob hatte, ein Job, der offenbar nicht wichtig genug war, dass er dort telefonisch jederzeit erreichbar gewesen wäre. Man konnte nicht direkt sagen, dass es zwischen Björn und ihr besonders warmherzig zuging. Sie würde das hier so schnell wie möglich abhaken, wollte von ihm nur wissen, wie sie Ísafold erreichen konnte, und dann würde sie diese Information zu Hause bei ihrer Mutter abliefern – sei es eine neue Telefonnummer, ein neuer Arbeitsplatz oder ein neuer Kieferbruch, der dafür sorgte, dass man sie nicht erreichen konnte und sie sich nicht meldete. Áróra freute sich darauf, die Sache hinter sich zu bringen, dann könnte sie zurück ins Hotel fahren, sich etwas hinlegen und sich dann für den Abend schick machen, um mit dem Typen von gestern Abend essen zu gehen, wenn nicht gar die Nacht mit ihm zu verbringen, bis sie am Tag darauf die Mittagsmaschine nehmen und nach Hause fliegen würde.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie. »Meine Mutter schickt mich. Sie ist schon ganz hysterisch, weil sie Ísafold nicht erreichen kann. Ich wollte dich nur nach ihrer neuen Telefonnummer fragen oder irgendetwas anderem, um sie zu beruhigen. Auf die Türklingel bei euch zu Hause reagiert auch niemand, also vermutete ich, sie ist auf der Arbeit. Hat sie noch den Job in diesem Modeladen im Kringlan-Einkaufszentrum?

»Nein, da arbeitet sie schon lange nicht mehr.« Björn umfasste ihren Ellenbogen und bugsierte sie aus dem Laden hinaus auf den Bürgersteig. Die Sonne stand hoch am Himmel, es ging auf Mittag zu, doch Áróra wunderte sich jedes Mal, wenn sie ins Freie kam, darüber, wie kühl die Luft trotz der Sonne war. Das mildere Klima in Großbritannien war mehr nach ihrem Geschmack. Harte Winter, wie man sie auch in Schottland kannte, waren in Ordnung, wenn man dafür einen anständig heißen Sommer bekam, aber diese kalten isländischen Sommer waren so etwas wie ein Sinnbild der Hoffnungslosigkeit.

»Wo arbeitet sie denn jetzt?«

»Woher soll ich das wissen?«, antwortete Björn, nahm seine E-Zigarette heraus, steckte sie in den Mund und verschwand in einer Dampfwolke mit strengem Erdbeeraroma.

»Na ja, ihr lebt zusammen, da musst du doch wissen, wo sie arbeitet.« Áróra versuchte, die Ungeduld in ihrer Stimme zu zügeln, was ihr aber, Björns Gesichtsausdruck nach zu urteilen, nicht besonders gut gelang.

»Wir leben doch gar nicht mehr zusammen«, sagte er und verstaute die E-Zigarette wieder in der Tasche. »Ísafold hat mich verlassen. Ich nehme an, sie ist wieder zurück nach England.«

»Was?« Áróra starrte ihn mit offenem Mund an. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ísafold, die Björn unendlich anbetete, ihn für den Besten, Größten und Wunderbarsten und alles, was er sagte und tat, für grandios hielt. Außer wenn er sie gerade geschlagen hatte. Dann weinte sie und wollte ihn verlassen. Aber das hielt meist nur so lange an, bis man sie in der Notaufnahme wieder zusammengenäht hatte. So jedenfalls war es die drei Mal gewesen, als Áróra nach Island gekommen war, nachdem Ísafold ins Telefon geschluchzt und gleichzeitig versucht hatte, sich vor Björn in Sicherheit zu bringen.

»Ja«, sagte Björn, und ein Anflug von Verachtung zeigte sich in seinem Gesicht, etwas, das sie schon immer schlecht ertragen konnte. »Und das solltest du wissen, wenn du eine anständige Schwester wärst.«

Er kehrte auf dem Absatz um und verschwand in seinem Handyladen. Áróra blieb stehen und betrachtete einen gelben Löwenzahn, der seinen Weg durch einen Riss im Asphalt gefunden hatte und zart wehte, als ob ihn das kalte Lüftchen zum Zittern brächte.

Es musste etwas Schwerwiegendes passiert sein, wenn Ísafold beschlossen hatte, zurück nach England zu gehen. Sie hatte sich dort nie wohlgefühlt, und Island war in den letzten Jahren mehr oder weniger ihr Zuhause geworden. Sie hatte den größten Teil ihres Erwachsenenlebens über weitreichende Versuche unternommen, sich in Island anzusiedeln, hatte auf dem Land in einer Fischfabrik gearbeitet, Unterkunft inklusive, und ein Jahr lang verschiedene Gehöfte geleitet. Meistens jedoch war sie innerhalb weniger Monate wieder in Newcastle aufgetaucht, wo sie sich sofort daranmachte, die nächste Islandreise zu organisieren. Ihre unzähligen Versuche, in diesem kalten Land Fuß zu fassen, waren nicht von Erfolg gekrönt gewesen, als ob das Land sie wieder ausgespuckt, ihr die Anwesenheit verweigert hätte. Bis sie Björn kennenlernte. Doch ganz gleich, ob Ísafold in England oder noch in Island war, es war seltsam, dass sie sich nicht bei ihrer Mutter meldete. Es musste irgendetwas geben, das sie ihr nicht zu erzählen wagte. Vielleicht wusste sie nicht, wie sie formulieren sollte, dass sie sich von Björn getrennt hatte. Vielleicht wollte sie nicht das Hab ich's doch gesagt ihrer Mutter hören. Aber vielleicht war es auch etwas anderes, das Ísafold geheim hielt. Vielleicht hatte er sie grün und blau geschlagen, und sie wollte nicht, dass jemand das sah, denn sie wusste, dass ihre Mutter Áróra bitten würde, nach Island zu reisen, um sich um ihre Schwester zu kümmern. Und Ísafold wusste, dass Áróra die Schnauze voll hatte. Doch es war nun einmal so, wie Björn es formuliert hatte: Áróra wüsste das alles, wenn sie sich näherstünden. Wenn sie eine richtige Schwester wäre.

11

Olga seufzte, als sie aus dem Auto stieg und sah, dass nicht nur der Bürgersteig vor dem Haus vom Löwenzahn befreit war, vielmehr war auch der Parkplatz so sauber gekehrt, dass man kein einziges Sandkorn entdecken konnte. Der mit Rauputz überzogene Wohnblock war vielleicht nicht der schönste im ganzen Viertel, aber Hof und Garten waren denen der Nachbarn um einiges voraus. Und das war Ómar zu verdanken. Er schlich sich ständig hinaus ins Freie, obwohl sie ihm schon unzählige Male eingeschärft hatte, er solle drinnen im Haus bleiben, um nicht zu viel Aufsehen zu erregen.

»Aber ich will dir helfen«, sagte er immer. »So, wie du mir hilfst.« Es war ganz gleich, wie oft sie ihm erklärte, er brauche für Kost und Logis nicht zu arbeiten. Es sei ihr eine Freude gewesen, ihn bei sich aufzunehmen. In Wahrheit sei es sogar ihre Pflicht als Mensch, einem Geflüchteten Obdach zu gewähren. Ihm Schutz und Beistand vor Bedrohungen zu bieten. Trotzdem lag er ihr stetig in den Ohren damit, dass er ihr helfen wolle, dass er ihr das Leben erleichtern wolle.

Und um genau zu sein, setzte er das auch in die Tat um. Ihre Ausgaben für Lebensmittel waren nicht gestiegen, obwohl ein weiterer Esser mit am Tisch saß. Abends kochte er für sie beide und verwendete so wenige Zutaten, dass sie oft verblüfft war, dass er daraus etwas zauberte, das man Mahlzeit nennen konnte. Er verrührte eine Dose Erbsen mit einer Dose Kokosmilch, fügte einen Suppenwürfel und drei Kardamomkapseln hinzu und kochte daraus einen Eintopf, den sie mit Reis aßen und von dem sie zwei Abende hintereinander satt wurden. Sie hatte bisher nie darüber nachgedacht, wie viel man sparen konnte, wenn man darauf verzichtete, zu jeder Mahlzeit Fleisch oder Fisch zu essen. Und die Reste verwertete er auch. Selbst wenn nicht mehr als ein guter Esslöffel von etwas übrig war, kleckste er es auf ein Tellerchen und stellte es in den Kühlschrank, um es aufgewärmt am nächsten Tag wieder auf den Tisch zu stellen.

Olga drehte den Schlüssel im Schloss herum, und ein starker Geruch nach Putzmitteln schlug ihr entgegen. Es gab nämlich eins, woran er niemals sparte, und das waren Reinigungsmittel jeder Art. Wahrscheinlich waren Menschen aus heißen Ländern, in denen es von Insekten und Bakterien nur so wimmelte, mit gründlichen Desinfektionsmaßnahmen eher vertraut als die Leute hierzulande.

»Ich habe geputzt!«, rief er fröhlich, während sie die Tür hinter sich schloss.

»Das sehe ich, Ómar«, sagte sie. »Du bist wirklich ein Tausendsassa.« Sie hatte erwogen, ihn zu fragen, ob er den Parkplatz gekehrt habe, doch das erübrigte sich. Er öffnete die Tür und kam ihr im Flur mit schuldbewusster Miene entgegen.

»Ich war nur kurz draußen und habe gekehrt«, sagte er. »Überall um das Haus war furchtbar viel Staub und Dreck.«

»Du weißt, wie gefährlich das ist, lieber Ómar«, ermahnte sie ihn. »Da braucht nur irgendein Nachbar zu bemerken, dass du nicht bei mir auf dem Klingelschild stehst, obwohl du hier wohnst, und zwei und zwei zusammenzuzählen …«

»Ich weiß, ich weiß!«, sagte er und gestikulierte, wie so oft, ausdrucksvoll herum. »Aber draußen schien die Sonne, und es war so, so, so gutes Wetter. Es war so schön, ein bisschen Sonne auf meine Haut zu bekommen.« Olga lächelte über seine drolligen Formulierungen. Natürlich, es war sicher schwierig für einen dunkelhäutigen Mann, fast nie in der Sonne zu sein. Leute wie er brauchten gewiss mehr Sonne als Weiße, das lag auf der Hand, wenn sie genauer darüber nachdachte. Und dann tat es ihr unendlich leid, dass er den allergrößten Teil seiner Zeit mit einer alten Frau wie ihr hier in der Wohnung hocken musste. Er hatte so viel Energie und sehnte sich nach Bewegung und Leben, und alles, was sie ihm zur Abwechslung anbieten konnte, waren Fernsehen, Stricken und Kartenspielen.

12

Áróra fand ihn wirklich süß. Vielleicht sogar etwas zu süß, wenn das möglich war. Das jungenhafte Gesicht war glattrasiert, und er duftete nach diesem speziellen Aftershave, das sie nicht kannte, doch das in ihr die Sehnsucht entflammte, ihr Gesicht an seinen Hals zu schmiegen und tief einzuatmen. Sie war unsicher gewesen, ob sie zu dem Date erscheinen sollte oder nicht, und war ein paarmal an diesem Tag drauf und dran gewesen, ihm eine SMS zu schicken und abzusagen. Doch als er etwas schüchtern im Restaurant an ihrem Tisch stand, war sie froh, dass sie Nägel mit Köpfen gemacht hatte. Er schien sich so aufrichtig über das Treffen zu freuen, dass seine Augen leuchteten, und er wirkte sogar ein bisschen nervös, als er sie fragte, was sie als Aperitif wünsche.

Jetzt, nachdem sie ihr Fünf-Gänge-Fischmenü hinter sich hatten und bei Kaffee und Cognac angekommen waren, merkte Áróra, dass sie ziemlich beschwipst war, während sie anfing, ihm von ihrer Schwester und ihrer Beziehung zueinander zu erzählen. Oder, besser gesagt, von der nicht vorhandenen Beziehung. Und dann erzählte sie die Geschichte, wie die Mutter ihres Schwagers Björn ihr fast die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, als sie am Mittag bei ihr vorbeigefahren war, um nach Ísafold zu fragen. Die alte Frau schien zu brodeln vor Wut.

»Sie hat schließlich ihn verlassen!«, hatte sie gezischt, als wäre Áróra für die Hinterhältigkeiten ihrer Schwester verantwortlich. »Dass sie zurück nach England wollte, ist nachvollziehbar, aber dass sie ihn einfach so ohne irgendeine Erklärung hat sitzen lassen, das war einfach gemein. Mein Björn ist seitdem völlig neben der Spur!« Áróra trank ihren Kaffee aus, schob aber ihren Cognac beiseite. »Das ist kein besonders unterhaltsames Gesprächsthema«, entschuldigte sie sich, doch Hákon legte seine Hand auf ihre.

»Doch«, sagte er. »Natürlich ist es schade, kein gutes Verhältnis zu seiner Familie zu haben, aber ich höre dir gerne zu, wenn du redest. Ich finde deinen Akzent süß.«

»Hör bloß auf«, sagte sie lachend und knuffte ihn gegen die Schulter, und irgendwie küssten sie sich auf einmal quer über den Tisch, was damit endete, dass er hastig die Rechnung kommen ließ und sie Hand in Hand hinüber ins Hotel eilten. Es war kurz vor drei Uhr nachts, als Áróra aus dem Bett hochschreckte, weil Hákon aufstand und ins Bad ging. Im Zimmer war es taghell, und draußen vor dem Fenster zwitscherten die Vögel aus vollem Hals, es hätte genauso gut schon Morgen sein können.

»Kannst du mir etwas Wasser bringen?«, rief sie und hörte, wie Hákon den Wasserhahn aufdrehte; einen Augenblick später brachte er ihr ein Glas kaltes Wasser.

»Willst du noch irgendwas anderes?«, fragte er. »Ich kann den Zimmerservice rufen und bestellen, was immer du willst. Etwas, worauf du Lust hast. Die beschaffen dir einfach alles.«

»Du bist ein Gentleman«, sagte sie und streichelte seinen Rücken, während er sich auf die Bettkante setzte. »Und woher willst du wissen, dass sie hier alles beschaffen können?« Übernachtest du regelmäßig hier?«

»Na ja, eigentlich wohne ich hier. Ich habe mich vor zwei Jahren scheiden lassen und ja …« Er sprach den Satz nicht zu Ende und machte ein verlegenes Gesicht. Áróra schaute sich um. In diesem Zimmer lag, verglichen mit gewöhnlichen Hotelzimmern, erstaunlich viel Kram herum. Stapelweise Bücher, ein Schrank bis oben voll mit Kleidung und auf dem Schreibtisch alles Mögliche. Das hier war mehr, als sich in einem oder zwei Koffern verstauen ließ.

»Moment, war das eine schwierige Scheidung?«

Er lachte verlegen und schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Oder, na ja, doch. Aber das ist nicht der Grund. Ich wohne hier, weil mir das Hotel gehört, ganz einfach.«

»Gehört? Dir gehört also das Hotel?«

»Ähm, ja.« Das Ja klang beinahe wie eine Frage, und er sah Áróra in die Augen, wie um zu erfahren, was sie über all das dachte. Sie schaffte es nicht, ihre Gedanken zu ordnen, bevor er aufstand und noch einmal ins Bad hinüberging. Sie hörte wieder das Wasser plätschern, und dann stand er plötzlich in der Badezimmertür, nackt, und leerte langsam das Wasserglas, als wartete er darauf, dass sie etwas sagte. Sie musterte ihn genau und wunderte sich, dass seine Augen nicht mehr leuchteten, stattdessen wirkte er schüchtern, und da ging ihr allmählich ein Licht auf. Ihr Blick blieb an seinem Bein hängen, wo sich der rote Abdruck einer Fußfessel abzeichnete, die man offensichtlich erst kürzlich entfernt hatte.

»Hákon«, sagte sie langsam. »Wie ist dein Vatersname?«

13

Grímur war nicht direkt bewusst gewesen, dass er innerlich bereit war, doch als er Björn, seinen Nachbarn aus dem Stockwerk über ihm, durch die Glasscheibe eines Restaurants in der Innenstadt sah, da nahm sein Plan Gestalt an und brach mit voller Kraft aus ihm hervor. Dort nämlich saß Björn mit einer anderen Frau, und Grímur blieb stehen und blickte ein paar Sekunden nach drinnen, bis sie sich tief in die Augen sahen und die Gläser erhoben, um sich zuzuprosten. Das rötlich-goldene Licht im Restaurant war warm, einladend und romantisch, während er draußen im kaltblauen Abendlicht stand und im kühlen Nordwind fröstelte. Drei Wochen. Viel Zeit hatte er sich nicht genommen, um sich eine Neue zu suchen. Drei verdammte Wochen, mehr nicht.

Grímur musterte die Frau. Sie war dunkelhaarig, genau wie Ísafold, aber mit einem breiteren Gesicht und deutlich fröhlicher. Anfangs war auch Ísafold ziemlich gut gelaunt gewesen, als sie gerade erst in den Wohnblock eingezogen war und Grímur sie hin und wieder im Treppenhaus traf. Doch mit der Zeit verschwand die gute Laune, und sie konnte ihre Verzweiflung nicht mehr mit dem eingefrorenen Lächeln vertuschen, das sie aufsetzte, um anderen das Gegenteil vorzuspiegeln.

Für einen Moment erwog Grímur hineinzugehen, sich ein Bier und eine Kleinigkeit zu bestellen und sich in die Nähe der beiden zu setzen, um mitzuhören, über was sie redeten. Um zu hören, wie Björn seinen Einstieg inszenierte. Welches Bild von sich er der Frau verkaufte, wie er sie einwickelte. Wie er sie in sich verliebt machte. Wer weiß, vielleicht konnte er sogar noch ein paar taktische Kniffe von ihm lernen, das könnte sicher nicht schaden, denn er selbst war in Sachen Frauen nicht besonders erfolgreich. Aber dann verwarf er diese Idee wieder. Es wäre zu peinlich, wenn Björn ihn erkannte. Und natürlich war er leicht zu erkennen, so wie er jetzt aussah. Er bemerkte genau, wie die Leute ihn anstarrten und ihn seltsam fanden, so ganz ohne Augenbrauen. Und außerdem brauchte er sowieso nicht mitzukriegen, was sie sagten, er sah genau, dass Björn sich vor der Frau in Szene setzte und dass sie zweifellos von ihm beeindruckt war. Sie sah ihn mit großen Augen an, lachte und lächelte abwechselnd, fuhr sich immer wieder durchs Haar, um es aus dem Gesicht zu streichen, und Grímur war sich sicher, dass er mit einer besseren Sicht durch das Fenster gesehen hätte, wie sich ihre Füße unter dem Tisch berührten.