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Als ein junges Paar nachts durch den verschneiten Schwarzwald von einem Familientreffen nach Hause fährt, haben sie ein schockierendes Erlebnis: Plötzlich steht ein in Weiß gekleidetes junges Mädchen auf der Fahrbahn. In der Hand hält es einen blutigen Dolch und auch das Gewand ist blutdurchtränkt! Den Ermittlern Sarah Hansen und Thomas Bierman mangelt es zunächst an Ansatzpunkten, denn das geheimnisvolle Mädchen spricht kein Wort! Auch der Fund des Ortes der gruseligen Geschehnisse bringt die Polizei nicht weiter. Schließlich ist es eine missglückte Entführung, die eine Verbindung zu dem seltsamen Fall aufweist und die Er¬mittlungen in eine andere Richtung lenkt.
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Seitenzahl: 520
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Andre Rober
Höllenteufel
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Impressum neobooks
Als ein junges Paar nachts durch den verschneiten Schwarzwald von einem Familientreffen nach Hause fährt, haben sie ein schockierendes Erlebnis: Plötzlich steht ein in Weiß gekleidetes junges Mädchen auf der Fahrbahn. In der Hand hält es einen blutigen Dolch und auch das Gewand ist blutdurchtränkt! Den Ermittlern Sarah Hansen und Thomas Bierman mangelt es zunächst an Ansatzpunkten, denn das geheimnisvolle Mädchen spricht kein Wort! Auch der Fund des Ortes der gruseligen Geschehnisse bringt die Polizei nicht weiter. Schließlich ist es eine missglückte Entführung, die eine Verbindung zu dem seltsamen Fall aufweist und die Ermittlungen in eine andere Richtung lenkt.
Andre Rober, geboren 1970 in Freiburg im Breisgau, studierte Volkswirtschaftslehre und arbeitete nach dem Abschluss mehrere Jahre für Banken im In- und Ausland. Mit der Absicht, sich beruflich zu verändern, machte er eine Ausbildung zum Business Coach und arbeitete parallel an seinem Erstlingswerk „Sturmernte“.
Mit „Höllenteufel“ erscheint der vierte Band rund um die Ermittlerin Sarah Hansen, ihren Partner Thomas Bierman und deren Team bei der Kriminalpolizei Freiburg.
Andre Rober
Höllenteufel
Thriller
Ungekürzte Taschenbuchausgabe
1 Auflage Dezember 2021
© Andre Rober, Merzhausen
Korrektorat: Christiane Portele, Martina Woppman, Bettina Lieke-Rober, Nicole Rober-Kleber
Umschlaggestaltung: Andrea Budig, Merzhausen
Umschlagfoto: © Andre Rober
Satz: Andre Rober
Gesetzt aus der Palatino
„Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier“
(William Shakespeare, Der Sturm)
комната вскрытия- Obduktionsraum - stand auf derwuchtig anmutenden, doppelflügeligen Tür. Der einstige Glanz des Edelstahls war im Laufe der Jahrzehnte zu einer matten, mit Kratzern übersäten, unansehnlichen Oberfläche verkommen. Der Einsatz scharfer Scheuermittel hatte aber nicht nur auf dem Metall seine Spuren hinterlassen: Auch das Glas der beiden bullaugenähnlichen Fenster, die in je einem der Flügel in genieteten Rahmen für einen Ein- oder Ausblick sorgen sollten, war stumpf geworden. Nicht blind, aber man konnte dahinter nur noch schemenhaft Strukturen erkennen.
Vor dieser Barriere, der Grenze zwischen den Lebenden und den Toten, stand der junge Uniformierte und starrte vor sich auf den Boden. Betroffen zum einen und ängstlich, verlegen zum anderen. Sein erstes Mal. Nicht dass er im Laufe der Ausbildung schon den obligatorischen Gang in die Gerichtsmedizin hinter sich gebracht hatte. Heute war es etwas anderes. Scheu blickte er auf und als er merkte, dass seine Begleiterin in den Anblick einer Fotografie vertieft war, erlaubte er seinen Augen, einige Momente auf der jungen Frau zu verweilen. Zusammengesunken, fast kauernd, saß sie auf einem der Plastikstühle und hielt das Bild mit beiden Händen geradezu andächtig vor ihr Gesicht. Ihre Lippen formten stumme Laute, fast, als würde sie allein in einer Kirche sitzen und innig beten. Sie war schlank, zierlich, aber nicht dünn. Ihr ebenmäßiges Gesicht wurde eingerahmt von einigen lockigen Strähnen, die nicht wie der Rest ihrer blonden Haare in dem wilden Dutt an ihrem Hinterkopf gezähmt waren. Das Blau ihrer Augen konnte er auch aus dem gebotenen Abstand noch leuchten sehen, die Stupsnase, gerötet vom Gebrauch zu vieler Taschentücher, stand gerade über dem kleinen, aber volllippigen Mund. Zerbrechlich wirkte das Mädchen, und erschöpft. Er kannte ihre Geschichte und wusste, dass ihr das Leben in ihren jungen Jahren schon zu viel zugemutet hatte. Umstände, die ihr schon früh Verantwortung abgerungen hatten, die Entscheidungen und Taten erforderten, denen Menschen in ihrem Alter eigentlich noch nicht ausgesetzt werden sollten. Und wenn sich gleich hinter dieser Tür, die so abweisend kalt den Raum dahinter verschloss, die Vermutung bestätigen würde… ein weiterer Schicksalsschlag für seinen Schützling, als den er sie zumindest für den Moment ansah. Da sie immer noch das Foto betrachtete, von dem er nur vermuten konnte, was darauf zu sehen war, studierte er die zarten Finger, die schlanken Beine. Ihm fiel auf, dass sie die Füße, die in weinroten Stiefeletten steckten, ein wenig nach innen gedreht hatte, was ihre Verletzlichkeit in dieser Situation noch unterstrich.
Da waren sie nun: Er, wahrscheinlich kaum fünf Jahre älter als sie, und die blonde Frau, zwei Fremde, die sich erst kurz zuvor getroffen hatten, um an diesem unwirtlichen Ort zusammen zu warten. Zu warten, dass entweder eine schreckliche Ahnung zur nicht minder schrecklichen Gewissheit würde oder aber, dass die Erleichterung einen Atemzug lang durch den Körper strömte, um dann der zernagenden Ungewissheit wieder jenen Raum zu geben, der von allen anderen Gedanken Besitz ergriff.
Jetzt blickte sie auf, jedoch richtete sie ihre traurigen Augen nicht auf ihn, sondern auf die Uhr, die ihr gegenüber neben der Stahltür an der Wand hing. Was sie sah, löste keine erkennbare Reaktion aus: keine Langeweile, keine Ungeduld, keine Verärgerung. Wahrscheinlich schaute sie nur auf die Uhr, weil es Menschen, die auf etwas warten, einfach tun – und fragte man sie nach der Zeit, sie wüssten die Antwort nicht…
Hinter den Bullaugen veränderte sich das Licht ein wenig und kurz darauf öffnete sich ein Türflügel nach innen. In der Öffnung erschien ein Mann, vielleicht Anfang sechzig, untersetzt. Sein langer weißer Kittel war schmuddelig, die Finger, die an der Tür zu sehen waren, ungepflegt. Um seinen Hals baumelte eine OP-Maske und die dicken Gläser seiner Weitsichtbrille vermochten nicht, seinen glasigen Blick zu verschleiern. Ebenso wie die rote Nase und das aufgedunsene Gesicht gab er davon Zeugnis, dass auch am heutigen Vormittag schon zu viel Vodka die Kehle des Rechtsmediziners benetzt hatte.
„модойдите сюда“, grunzte er kaum verständlich und ohne Begrüßung. Kommen Sie.
Er trat einen Schritt zur Seite.
Zögerlich erhob sich die junge Frau, sah unsicher zu dem Uniformierten und trat, nachdem dieser genickt und mit der Hand Richtung Tür gewiesen hatte, in den Raum. Der junge Mann blieb dicht bei ihr. Schüchtern sah sie sich um, während sie dem Arzt zu einer Wand aus Kühlfächern folgte, deren Stahltüren ebenso abgenutzt und überaltert aussahen, wie die am Eingang. Sie fröstelte augenscheinlich, schob die gestrickten Pulswärmer bis über die Handfläche, stellte den Kragen ihres Mantels auf und zog den Schal etwas enger. Wieder suchte sie Augenkontakt zu dem Beamten, der ihren Blick unbeholfen erwiderte und sich dann dem Kühlfach zuwandte, an dem sich der bekittelte Mann zu schaffen machte. Die Tür schwang auf und eine Bahre wurde sichtbar. Ein Laken, weiß und sauber, deckte den menschlichen Körper ab, der auf der metallenen Schublade lag. Der Pathologe zog sie heraus, bis etwa die Hälfte davon in den Raum ragte. Ohne Ankündigung, ohne vorbereitende Worte und ohne die Frage, ob sie denn bereit sei, schlug er das Leinentuch zurück, so dass Kopf und Schultern einer jungen Frau zum Vorschein kamen. Der Tod war gnädig mit ihr gewesen. Die an Alabaster erinnernde Haut war unversehrt, die Augen und Lippen waren geschlossen. Sie strahlte eine paradoxe Friedlichkeit aus, fast, als würde sie schlafen. Der Polizist konnte sich dem zarten Antlitz der Toten ebenso nicht entziehen wie zuvor auf dem Gang dem Anblick seines Schützlings. Trotz der schulterlangen, rotgefärbten Haare der Verstorbenen war die verwandtschaftliche Beziehung zu seiner Begleiterin leicht zu erkennen. Innerlich sank er ein wenig zusammen. Wie musste sie sich fühlen? Er sah hinüber und bemerkte, dass sie vor sich auf den Boden starrte – sie hatte es noch nicht fertiggebracht, den Leichnam anzusehen. Und wie sie dastand, noch hilfloser und angreifbarer als zuvor, hätte er ihr die Notwendigkeit am liebsten erspart, auch wenn er wusste, dass dies nicht möglich war. Doch bevor er sich mit tröstenden Worten an die Frau wenden konnte, raunte der ungeduldig wirkende Arzt ein barsches „это ее?“ – Ist sie es?
Die Frau blickte auf und sofort zeigte sich der Schmerz auf ihrem Gesicht. Es dauerte eine Zeit, bis sie schweigend nickte und sich, bevor einer der beiden Männer es hätten verhindern können, nach vorne beugte und der Toten einen Kuss auf die Stirn gab. Dann wandte sie sich dem Polizisten zu, den die feste, fast entschlossene Stimme überraschte, als sie ihn bat, ihr genau zu erzählen, was passiert sei.
Heute, 14 Jahre später
„Ich habe doch gleich gesagt, dass es keine gute Idee ist, zu diesem Treffen zu gehen!“ Holger Wohlfahrt sah seine Frau Iris nicht an, der vorwurfsvolle Ton erübrigte eine Verstärkung durch einen scharfen Blick. Außerdem konnte er trotz des Ärgers, den er verspürte, den Anblick ihres verheulten Gesichts nicht gut ertragen, immerhin war sie es, die es in dieser Situation am schwersten hatte, das musste er ohne Abstriche eingestehen. Aber warum Iris im Vorfeld geglaubt hatte, dass es bei diesem – dem x-ten – Versuch besser laufen sollte als die Male zuvor, konnte Holger sich nicht erklären. Ein harmonisches Zusammentreffen mit ihrer Schwester und deren Mann hatte sie sich trotz der niederschmetternden Erfahrungen gewünscht. Er hatte sich gleich gefragt, warum es auf einmal anders sein könnte. Warum Patrick sie diesmal nicht von oben herab behandeln sollte, sich nicht über seine Tätigkeit als Sachbearbeiter in dem Logistikunternehmen lustig machen und nicht das halbe Deputat von Iris an der Grundschule kleinreden? Nicht über die faszinierenden Reisen prahlen würde oder ihn nicht gönnerhaft zu einer Probefahrt in seinem neuen Ferrari oder McLaren einzuladen, damit Holger auch einmal im Leben dieses Gefühl haben konnte? Er hatte Iris diese Frage gestellt, aber in ihr schien der Wunsch, von ihrer Schwester ein wenig Beachtung, Zuneigung, vielleicht gar Anerkennung zu erhalten, so bestimmend zu sein, dass sie seine Bedenken ausgeblendet und das Treffen organisiert hatte. Im Waldesruh, jenem sündhaft teuren Schlosshotel weit abseits gelegen in einem engen Schwarzwaldtal, in dem sie sich jetzt bei wildem Schneetreiben durch die immer höher werdenden Verwehungen in Richtung Freiburg kämpften.
„Wir nehmen bei diesem Wetter selbstverständlich ein Zimmer“, hatte Patrick spontan entschieden, obwohl es in Holgers Augen nichts gab, was den Mercedes G 4x42 seines Schwagers hätte aufhalten oder in Gefahr bringen können. Doch sie mussten zurück nach Freiburg: Der Gutschein, den Iris von ihren Kolleginnen zum Geburtstag bekommen hatte, deckte nicht einmal die Hälfte der Kosten für das Abendessen ab. Und so fanden sie sich, frustriert, genervt, erniedrigt und in Sorge um eine sichere Heimkehr in ihrem 2001er Renault Clio und schwiegen sich seit Holgers Feststellung gegenseitig an.
Die Bedingungen verschlechterten sich zusehends. Die Nebelscheinwerfer halfen wenig dabei, die Straße unter der Schneedecke auszumachen, und wären nicht die schwarz-roten Stangen am Fahrbahnrand gewesen, hätte man sich nicht sicher sein können, noch Asphalt unter den Rädern zu haben. Wenn es so weiterging, würden sie bald nicht mehr vorwärtskommen. Schon jetzt schob der Clio mit seiner Frontschürze Schnee auf, der dann und wann von Windböen über die Motorhaube und die Windschutzscheibe geblasen wurde. Nach und nach wurden Holgers Gedanken an den desaströsen Abend verdrängt von Plänen und Szenarien, wie Iris und er die Nacht in dem Auto verbringen könnten, sollten sie tatsächlich nicht mehr weiterkommen. Er sinnierte über die Risiken und Chancen, die Temperatur im Wageninneren bei laufendem Motor aufrechterhalten zu können und versuchte einzuschätzen, wie lange der Tankinhalt im Leerlauf die lebenserhaltende Wärme wohl bereitstellen konnte.
„Vorsicht!“
Erschrocken trat Holger auf die Bremse und riss das Steuer herum, um der Gestalt auszuweichen, die wie ein Geist aus dem Dunkel vor dem Renault aufgetaucht war! Im Augenwinkel erkannte er in Sekundenbruchteilen ein zierliches Mädchen mit langen, roten Haaren, die in ihrem weißen Nachthemd über der Straße zu schweben schien, dann schleuderte der Wagen um die eigene Achse und das Bild verlor sich Schneegestöber. Doch als das Auto nach zwei kompletten Drehungen mit dem Heck in einen Schneeberg prallte und entgegen der ursprünglichen Fahrtrichtung wieder zum Stehen kam, erfassten die Scheinwerfer die groteske Erscheinung wieder! Etwa zehn Meter vor ihnen stand das Mädchen, fast noch ein Kind. Erst jetzt nahm Holger Details der Szenerie war: Das weiße Nachthemd schien an Bauch und Brust blutdurchtränkt zu sein! Die Arme und Beine, die nackt aus dem dünnen Stoff ragten, waren blau vor Kälte und das furchteinflößende Messer, das das Mädchen in der Hand hielt, war ebenfalls blutverschmiert! Doch das bei weitem Schlimmste war der ausdruckslose, irre anmutende Blick, mit dem die Unbekannte ins Wageninnere starrte. Erst als die Gestalt mit zombieähnlichen Bewegungen auf sie zuwankte, hörte Holger die verzweifelten Schreie seiner Frau auf dem Beifahrersitz.
Als das Klingeln ihres Mobiltelefons Sarah Hansen aus der ersten Tiefschlafphase riss, musste sie sich zuerst orientieren. Die vier Wochen zuvor hatte sie sich, den Resturlaub nutzend, um ihre Mutter gekümmert, die nach einem Beinbruch aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen worden war. Sarah hatte selbstverständlich in ihrem Elternhaus übernachtet und war erst gestern Abend aus Kiel zurückgekehrt. Und da sie die Wohnung in ihrer Wahlheimat Freiburg erst vor einem guten halben Jahr bezogen hatte, war die Zeit im Norden lang genug gewesen, um jetzt im schlaftrunkenen Zustand erst einmal stirnrunzelnd umherblicken zu müssen. Doch nach wenigen Sekunden hatte sie die Gedanken sortiert, stand auf und steuerte zielsicher die Tür zur Wohnküche an, wo sie das Handy offensichtlich drei Stunden zuvor vergessen hatte. Im Display sah die Polizistin die Nummer ihres Partners Thomas Bierman, mit dem sie, seit sie sich zur Kriminalpolizei in der Breisgaumetropole hatte versetzen lassen, zusammenarbeitete. Dass ihr wortkarger Kollege um diese Uhrzeit bei ihr anrief, konnte nichts anderes bedeuten, als dass es einen Fall gab, bei dem ihrer beider Anwesenheit zwingend erforderlich war.
„Hallo Thomas, was gibt es?“, meldete sie sich.
„In einem Nebental zwischen Furtwangen und Titisee hat ein Ehepaar fast ein Mädchen überfahren. Sie konnten ausweichen, ohne den Teenager zu verletzen, stehen aber selbst unter Schock. Ich bin schon auf dem Weg zu dir.“
„Und was haben wir damit zu tun?“, fragte Sarah, steuerte jedoch bereits wieder das Schlafzimmer an, um sich der eisigen Nachtkälte angepasste Kleidung zusammenzusuchen. Denn eins war sicher: Wenn Thomas anrief, um sie abzuholen, war die Frage der Zuständigkeit eigentlich belanglos. Es würde triftige Gründe geben und er würde recht bald bei ihr vor der Tür stehen.
„Es sind äußerst merkwürdige Umstände: Die Kleidung des Mädchens war mit Blut geradezu durchtränkt. Außerdem trug sie nichts außer einem weißen, ja, sagen wir Gewand und hatte obendrein ein merkwürdiges Messer bei sich.“
Sarah hatte bereits die Merinounterwäsche hervorgeholt, stellte das Telefon auf Lautsprecher und streifte sich die warme Unterkleidung über. Jetzt nahm sie die Skisocken und die etwas dickere Jeans aus dem Schrank und langte auch nach ihrem wärmsten Winterpullover.
„Hat das Mädchen irgendetwas gesagt? Ist sie ansprechbar?“
Sie begann, in die Sachen zu schlüpfen.
„Es war hochgradig unterkühlt, wurde von den Rettungssanitätern stabilisiert und ist auf dem Weg in die Kinderuniklinik. Wann bist du soweit?“
„Ich brauche noch drei bis vier Minuten. Wo bist du?“
„Ich biege gerade in deine Straße ein, stehe also gleich vor der Haustür.“
Das hatte Sarah in etwa erwartet. Sie beeilte sich, ihr Outfit zu komplettieren, stieg in die kanadischen Winterboots und steckte sich auf die Schnelle einen Apfel in die Tasche. Auch wenn es ihr überflüssig erschien, holte sie noch ihre Dienstwaffe aus dem Möbeltresor hervor, steckte sie in den Gürtelholster, angelte den Schlüsselbund vom Küchentisch und verließ die Wohnung. Durch die Fenster im Treppenhaus konnte sie sehen, dass es wieder heftig schneite und sich bereits eine mehrere Zentimeter dicke Schneeschicht auf den parkenden Autos gebildet hatte. Auf der ebenfalls verschneiten Straße fuhr gerade im Moment Thomas in dem brandneuen Mercedes ML vor und hielt direkt vor der Haustür. Sarah trat hinaus in die Kälte und beeilte sich, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen.
„Hallo“, sagte sie, schlug die Tür zu und schnallte sich an.
„Grüß dich“, entgegnete ihr Partner und fuhr sofort los.
„Ich habe dich“, erläuterte er, „so kurzfristig informiert, weil ich erst noch Schwarz gebeten habe, das Kind in der Klinik in Empfang zu nehmen und Spuren zu sichern, bevor sie vernichtet werden. Außerdem habe ich die Hundestaffel organisiert. Die werden wir bei diesen Bedingungen dringend brauchen, denn Spuren sind innerhalb einer halben Stunde zugeschneit. Zudem musste ich die Rettungssanitäter dazu bewegen, ein Stück Kleidung zu entfernen, welches wir als Probe für die Hunde verwenden können. Sie haben sich ziemlich geziert, aber sie haben den Streifenpolizisten ein Stückchen dagelassen.“
Sarah war wie schon mehrfach zuvor von der Übersicht und der tadellosen Organisation Biermans beeindruckt. Den Rechtsmediziner Dr. Schwarz in die Klinik zu beordern und dafür zu sorgen, dass vor Ort die Spuren verfolgt werden konnten, war angesichts der unklaren Sachlage sehr vorausschauend.
„Okay“, antwortete Sarah. „Da du nur von Unterkühlung gesprochen hast, gehe ich davon aus, dass das erwähnte Blut nicht von dem Mädchen stammt?“
„So ist es“, bestätigte Thomas. „Auf dem Messer, das die Polizisten vor Ort als merkwürdig bezeichnet haben, soll auch jede Menge Blut gewesen sein. Aber ganz offensichtlich stammt es nicht von dem Mädchen.“
„Konnte schon festgestellt werden, ob es sich um menschliches Blut handelt?“
„Nein. Aber die Skurrilität der Szenerie hat ausgereicht, dass die Streifenpolizisten es für angesagt hielten, die Kripo zu informieren. Und du kennst ja Gröber, wenn ein Fall das Potential hat, spektakulär zu werden, reißt er ihn sich unter den Nagel.“
Sarah musste lächeln, kannte sie doch die Profilneurose des Chefs nur allzu gut.
„Ist das Paar noch vor Ort?“, fragte sie, während Thomas in Richtung der Schnellstraße Richtung Höllental fuhr.
„Ja, auch wenn den beiden sicherlich recht kalt sein dürfte, habe ich darauf bestanden, dass sie dortbleiben. Im Umfeld der Vorkommnisse ist das Erinnerungsvermögen besser und wer weiß, welches Detail uns später weiterhilft.“
Trotz der fortgeschrittenen Zeit näherten sie sich einem Schneepflug, der vor ihnen die Straße freiräumte und am Heck Salz auf der Straße verteilte. Thomas schien die Geschwindigkeit des Räumfahrzeugs aber nicht auszureichen. Kurzum scherte er auf die noch schneebedeckte linke Spur und gab ordentlich Gas. Sarahs fragenden Blick von der Seite bemerkte er offensichtlich, denn er lächelte und murmelte nur etwas von Allradantrieb und Winterreifen.
„Wo ist das Ganze denn eigentlich passiert?“, fragte Sarah, als sie am Ende der Schnellstraße auf die rechte Spur wechselten.
„Gegen Ende des Höllentals müssen wir erst Richtung Furtwangen abbiegen und dann in ein Seitental, dessen Namen ich nicht kenne. Es führt wohl zu einem Schlossrestaurant irgendwo in den Tiefen des Schwarzwalds.“
Sorge darüber, dass auch irgendwann für das SUV der Schnee zu hoch liegen konnte, hatte er offensichtlich nicht.
Als sie die Gemeinde Kirchzarten hinter sich gelassen hatten und schon ins Höllental einfuhren, läutete Thomas` Mobiltelefon und der Anruf sprang auf die Freisprecheinrichtung des ML. Die Nummer war beiden Polizisten bekannt.
„Schwarz, was haben Sie für uns?“, fragte Thomas den Rechtsmediziner ohne jegliche Begrüßung.
„Ich wollte Sie beide nur informieren: Die Kleine ist gerade angekommen“, informierte der Anrufer. „Sie scheint stabil, wird aber erst untersucht, ob nicht doch Verletzungen vorliegen, die lebenserhaltende Maßnahmen erfordern. Danach kann ich mit der behandelnden Ärztin zusammen die Untersuchungen vornehmen und Beweismaterial sichern. Sie ist sehr kooperativ.“
„Sehr gut!“, ließ Thomas zufrieden verlauten. „Stellen Sie bitte so schnell wie möglich fest, ob das Blut an der Kleidung des Mädchens menschliches Blut ist. Davon hängt unsere weitere Vorgehensweise ab.“
„Das werde ich“, versprach Schwarz. „Haben Sie sonst noch etwas, auf das ich im Besonderen achten soll?“
Thomas wandte Sarah den Kopf zu und sah sie fragend an.
„Fesselungsspuren werden Ihnen ja sicherlich ohnehin auffallen“, meinte er, fügte aber einer Intuition folgend noch eine Bitte hinzu.
„Ist ein Tox-Screening Standardprocedere? Ich würde gerne überprüft haben, ob Sedativa oder andere Betäubungsmittel nachzuweisen sind“, fragte Sarah.
„Werde ich an das Labor weitergeben. Und die Fingerabdrücke sowie physiologische Daten werde ich Ihnen zukommen lassen, dass Sie so schnell wie möglich bei den Vermisstenmeldungen und in der Datenbank forschen können.“
Schwarz hatte aus den Nachfragen geschlossen, dass die Polizistin einen Zusammenhang mit einem Vermisstenfall oder gar einer Entführung für möglich hielt.
„Sehr gut, danke“, quittierte Thomas den Vorschlag.
„Die Ärztin kommt gerade aus dem Untersuchungsraum, ich lege jetzt auf“, unterbrach Schwarz das Telefonat und es klickte in der Leitung.
Während der nächsten zwanzig Minuten, die die Polizisten schweigend nebeneinandersaßen, wurden die Straßen immer schmaler, der Wald immer dichter und die Schneehöhe erreichte geschätzte vierzig Zentimeter. Trotzdem kamen sie in der weißen Winterlandschaft zügig voran. Sarah, für die es der erste Winter im Schwarzwald war, beobachtete interessiert das Spiel von Licht und Schatten, das die Scheinwerfer auf Straße und Bäume vor ihnen zauberte. Die Szenerie löste ambivalente Gefühle in ihr aus. Zum einen spürte sie einen tiefen Frieden, strahlten die unberührte Schneedecke und die dicken, niedersinkenden Flocken doch etwas Beruhigendes, fast Weihnachtliches aus. Ein Gefühl von Geborgenheit, einer warmen Stube mit einem knisternden Kaminfeuer. Zum anderen aber erschienen ihr die bewegten Schatten zuweilen wie flüchtige Geister oder bösartige Kreaturen, die vor dem Licht des SUV zu fliehen suchten. Sie stellte sich vor, was für ein Schock es für das Ehepaar gewesen sein musste, als plötzlich die blutverschmierte Gestalt auf der Straße aufgetaucht war, und sie fröstelte unwillkürlich. Ja, der Wald hatte auch eine sehr bedrohliche Ausstrahlung!
Nach einer Kurve, die Thomas Bierman mit leicht ausbrechendem Heck etwas zu schnell durchfuhr, war in gut einhundert Metern Entfernung ein Blaulicht zu erkennen. Aus der Entfernung sah es aus, als wäre die Stelle, an der auch zwei Fahrzeuge zu erkennen waren, aus einer Märchenerzählung entnommen, in der ein Zauberer mit blauen Blitzen die schneebedeckten Bäume mystisch zum Leuchten brachte. Ob ihr Partner ebenfalls von dem fast magischen Schauspiel gefesselt war, oder er einfach gerade nichts mitzuteilen hatte, vermochte Sarah nicht zu entscheiden. Aber er starrte auch durch die von den Wischblättern vom Schnee freigehaltene Windschutzscheibe und sprach kein Wort, bis der ML hinter dem Einsatzfahrzeug der Polizei zum Stehen kam.
„Da wären wir“, sagte er kurz, zog sich den Kragen seines Parka fester zu und stülpte sich die Kapuze über. Dann öffnete er die Tür und stieg aus. Sarah folgte seinem Beispiel und optimierte den Sitz ihrer Kleidung, verließ das Fahrzeug und stapfte neben ihrem Partner auf den Polizeiwagen zu, der mit laufendem Motor sowohl den zwei Polizisten als auch offensichtlich dem unbekannten Ehepaar Wärme und Schutz bot. Thomas klopfte an die Scheibe. Als das Glas heruntergefahren war und einen mehrere Zentimeter hohen Schneerand im Rahmen stehen ließ, bat Thomas zunächst das Paar auszusteigen und zu schildern, was ihnen widerfahren war. Erstaunlich gelassen berichteten die beiden von dem Vorfall und zeigten auch, wo das Mädchen zum ersten Mal aufgetaucht war, wie ihr Fahrzeug ins Schlittern geriet und an die Stelle rutschte, an der es immer noch stand.
„Wie haben Sie danach mit dem Kind interagiert?“, fragte Sarah.
Der Mann blickte kurz zu seiner Frau und antwortete, nachdem diese ihm zugenickt hatte.
„Zunächst haben wir nur dagesessen, im Schock sozusagen, denn es sah unheimlich gruselig aus, wie diese Gestalt mit dem Messer in der Hand auf uns zugetorkelt ist.“
Er schüttelte sich ein wenig
„Aber wir haben recht schnell bemerkt, dass das Mädchen orientierungslos war und sich in einer Notlage befand. Ich bin ausgestiegen und habe es angesprochen.“
„Hat es irgendwie reagiert?“, hakte Thomas nach.
„Es hat aufgeschaut, aber eher durch mich durch. Ich bin ganz langsam zu ihm gegangen und habe leise und beschwichtigend auf es eingeredet.“
„Sie haben sich ihr trotz des Messers genähert? Das ist mutig!“ stellte Sarah fest.
„Ja, aber es war doch ganz offensichtlich noch fast ein Kind. Aber vorsichtig war ich trotzdem, das können Sie mir glauben. Meine Frau hat auch gerufen, ich solle von ihm fernbleiben.“
Er warf einen Blick auf seine Partnerin, die sofort anfing, sich zu verteidigen.
„Ich hatte so eine Angst um ihn! Diese groteske Situation, wir zwei allein hier im verschneiten Wald…man hat schon so viele entsetzliche Geschichten gehört.“
„Und 99,99 Prozent davon sind Urban Legends“, ließ Thomas verlauten, doch Sarah beschwichtigte die Frau.
„Ich hätte auch große Sorge gehabt, werfen Sie sich nichts vor.“ Dann wandte sie sich wieder dem Mann zu, der gerade den frischen Schnee von der Mütze schüttelte.
„Wie haben Sie das Mädchen entwaffnet?“
„Es hat das Messer in den Schnee fallen lassen und ist schnurstracks auf mich zu gelaufen, da habe ich es in den Arm genommen und festgehalten. Daraufhin stieg meine Frau aus, wir haben es ins warme Auto gebracht und die Heizung weiter aufgedreht.“
„Ich habe“, warf die Frau ein, „es mit auf den Rücksitz genommen und die ganze Zeit im Arm gehalten, während Holger den Notruf gewählt hat. Gott sei Dank hat man hier einigermaßen Empfang.“
Sarah und Thomas nickten wissend, gab es in den dünn besiedelten Ecken des Schwarzwalds noch so einige Funklöcher.
„Hat das Mädchen irgendetwas gesagt, während Sie mit ihm zusammen waren?“, wollte Thomas wissen.
Beide schüttelten den Kopf.
„Nicht ein einziges Wort. Es hat auch keine Emotionen wie Weinen oder Schreien gezeigt, ließ sich einfach von mir festhalten.“ Der Frau standen Tränen der Rührung in den Augen.
„Als dann die Sanitäter kamen, ließ es sich widerstandslos aus den Armen meiner Frau nehmen und in den Rettungswagen bringen“, beendete der Mann den Bericht.
„In Ordnung.“ Thomas schien mit der Befragung zufrieden. „Machen Sie sich auf den Heimweg, wir brauchen Sie im Moment nicht mehr. Ihre Personalien haben wir?“
Der Mann nickte, Thomas deutete die Straße hinunter.
„Glauben Sie, die Spur, die wir mit dem SUV gezogen haben, reicht aus, um sicher zu den Hauptstraßen zu kommen?“
Der Angesprochene sah sich den Weg hinter dem Mercedes an, wo die Schneise, die die beiden Kriminalbeamten zuvor gebahnt hatten, bereits wieder weichere Konturen annahm.
„Ja, das schaffen wir“, entgegnete er, den skeptischen Blicken seiner Frau zum Trotz, und stieg in den Wagen. Als auch seine Begleitung eingestiegen war, gelang es ihm nach einigen Anläufen und mit durchdrehenden Reifen, an den beiden Polizeifahrzeugen vorbeizumanövrieren und schließlich auf dem festgefahrenen Schnee ohne sichtbare Beeinträchtigung weiterzufahren.
Als die Rücklichter in der Dunkelheit verschwunden waren, stiegen Sarah und Thomas kurzerhand in den Streifenwagen.
„So, Kollegen. Zeigen Sie uns doch als erstes das Messer, welches das Kind bei sich gehabt hat.“
Der Uniformierte auf dem Beifahrersitz langte in den Fußraum und reichte eine transparente Beweismitteltüte nach hinten. Sarah nahm die Stichwaffe entgegen. Sie und ihr Partner betrachteten das blutverschmierte Corpus Delikti eine Weile. Dann ergriff Sarah das Wort.
„Das ist eher ein Dolch als ein Messer.“
Sie hielt die einschneidige, spitze Waffe näher an die Fondbeleuchtung des Autos.
„Der sieht aus, als käme er direkt aus einem Fantasyfilm. Aus Herr der Ringe oder so.“
Thomas nickte bekräftigend.
„Ja, er erinnert an eine rituelle Waffe, eine Art Opferdolch.“
Schweigend studierten sie Klinge und Griff des Objekts, die reich verziert und mit seltsamen Symbolen graviert waren. Die beiden bemühten sich, die Geschehnisse und die Waffe in einen plausiblen Kontext zu bringen. Nach einigen Minuten trafen sich ihre Blicke und Thomas sagte:
„Du zuerst!“
Sarah nahm die Einladung gerne an und begann, ohne auf die schweigend auf die in der Front sitzenden Beamten zu achten, ihre Theorie vorzutragen.
„So grotesk das auch klingen mag, aber ist es möglich, dass das junge Mädchen an einer rituellen Zeremonie teilgenommen hat? Sie nach Vollzug an dem Opfer, sei es ein Tier oder ein Mensch einen Schock erlitt und verwirrt in den Wald lief?“
„Genau diesen Gedanken hatte ich auch.“ Er sah ungeduldig auf die Uhr.
„Wir brauchen dringend die Hunde und auch die Spurensicherung. Ich bin sicher, dass es einen Tatort zu finden gibt.“
Jetzt erst wandte sich Thomas an die Beamten auf dem Fahrer- und Beifahrersitz.
„Haben Sie noch etwas bemerkt, was Ihnen aufgestoßen ist oder was für uns von Relevanz sein könnte?“
Zwei übermüdete Augenpaare trafen sich, dann drehten sich beide nach hinten um und schüttelten den Kopf.
„Nicht, dass ich mich an etwas erinnern könnte“, sagte der ältere Polizist auf dem Fahrersitz.
„Okay, dann wären Sie beide eigentlich hier fertig. Den vollständigen Einsatzbericht bitte an das K11 zu meinen Händen.“
Nachdem er ein verlangsamtes, fast resigniertes Nicken entgegengenommen hatte, setzte er im Laufe des Montagvormittags hinzu, woraufhin die Gesichter der Polizisten deutlich entspannter wirkten. Sarah nahm diese verständnisvolle Geste ihres Partners ein wenig erstaunt aber erfreut wahr, ließ Thomas doch für gewöhnlich keine Verzögerungen oder Entschuldigungen zu, wenn es um berufliche Anweisungen ging. Der Uniformierte auf dem Beifahrersitz übergab Thomas, der die Tür bereits geöffnet hatte, einen weiteren Beutel, in dem ein Stück weißer, mit Blut beschmutzter Stoff zu sehen war.
„Dankeschön! Ihnen einen stressfreien Abend“, wünschte Sarah den Beamten, nachdem ihr Kollege den Wagen grußlos verlassen hatte. Sie stieg ebenfalls aus, setzte sich zurück in den ML und beobachtete das Wendemanöver des Einsatzfahrzeugs. Noch bevor der Wagen außer Sicht war, kündigte eine Komposition aus gelben und blauen Blinklichtern die Ankunft der Hundestaffel und der Kriminaltechnik an. Voraus fuhr ein ziviler Schneepflug, den die Kollegen irgendwie zu dieser nächtlichen Stunde organisiert hatten. Sofort nahm sich Thomas eine Taschenlampe und das mobile Funkgerät. Dann stieg er aus, um das städtische Fahrzeug und die ihm folgenden Wagen der Polizei vor der Stelle zu stoppen, an dem das Mädchen aus dem Wald aufgetaucht war. Sarah rüstete sich ebenfalls mit WalkieTalkie und Taschenlampe aus und verließ den Wagen. Noch während ihr Partner den Schneepflug anwies, zu wenden und die Straße weiter freizuhalten, verließen zwei in Winteruniformen gepackte Beamte der Hundestaffel das erste Fahrzeug und gingen in Richtung der Hecktüren des Kastenwagens. Sogleich war aufgeregtes Gebell zu hören. Auch dem Wagen der Spurensicherung entstiegen den Witterungsverhältnissen entsprechend gekleidete Polizisten. Thomas wandte sich an die Kollegen.
„Guten Abend, oder besser: Guten Morgen zusammen. Wir haben folgende Situation: Dort vorne“, er wies auf die Stelle, die das Ehepaar zuvor gezeigt hatte, „ist es zu einem Beinaheunfall mit einer Minderjährigen gekommen, die nur mit einem Nachthemd bekleidet und einem Messer in der Hand aus dem Wald aufgetaucht ist. Die Kleidung war mit einer ziemlichen Menge an Blut beschmutzt. Das Mädchen hat sich nicht zu dem Vorfall äußern können, aber wir vermuten in der Umgebung einen wie auch immer gearteten Tatort. Das bedeutet: Die Hunde gehen voraus, um die Spur aufzunehmen. Meine Partnerin und ich folgen, um gegebenenfalls den Tatort zu sichern. Sie von der Spusi haben also noch etwas Zeit, um Ihre Ausrüstung zu packen. Wir rufen Sie, wenn wir etwas finden, das kriminaltechnisch untersucht werden muss. Kanal 48.“
Er stöpselte den Kopfhörer in das Gerät und drückte sich den Lautsprecher in den Gehörgang. Dann winkte er mit dem Funkgerät und wandte sich an die Hundeführer.
„Ich habe eine Geruchsprobe, die sowohl von dem Kind als auch von unbekanntem Blut kontaminiert ist.“
Sarah zog die Tüte aus ihrer Tasche und zeigte sie den Beamten.
„Das Mädchen war wohl barfuß unterwegs. Entscheiden Sie, welcher Ihrer Vierbeiner am besten geeignet ist.“
Die beiden sahen auf das Stück Stoff in dem Beutel, blickten einander kurz an und schienen wortlos übereingekommen zu sein.
„Das mache ich mit Connor“, sagte der jüngere Hundeführer, ging um den Wagen herum und erschien kurz darauf mit einem Australian Shepherd Rüden. Der Ältere nahm Sarah die Tüte ab, öffnete sie und ließ den Hund die Schnauze hineinstecken. Dieser schnüffelte, zog nach einer knappen halben Minute die Nase aus der Tüte, setzte sich auf die Hinterläufe und wartete.
„Such!“
Es dauerte nicht lange, bis Connor anschlug, und den Erzählungen der Zeugen zufolge musste dies die Stelle gewesen sein, wo das Kind das Messer hatte fallen lassen. Der Hundeführer blickte fragend in Sarahs und Thomas` Richtung. Letzterer bedeutete dem Kollegen, den Hund weitersuchen zu lassen. Wieder vergingen keine fünf Minuten, bis der Vierbeiner sein Herrchen schnurstracks von der Straße weg in den Wald zog.
„In Ordnung“, meinte Sarah und schaltete die Taschenlampe ein. „Dann mal los.“
„Ohrhörer rein und Funkgerät auf VOX stellen! Ich möchte nicht, dass wir uns lautstark unterhalten müssen. Handys auf lautlos!“
Während Sarah und der Beamte der Hundestaffel der Aufforderung nachkamen, kramte Thomas noch sein Smartphone aus der Tasche, aktivierte die GPS gestützte Streckenaufzeichnung und ließ ebenfalls die Lampe aufleuchten. Dann folgten sie Connor in kurzem Abstand ins Dickicht des Waldes.
Auch wenn unter den hohen Tannen, um die sie der Spürhund leitete, nicht ganz so viel Schnee lag wie auf der Straße, war es anstrengend, sich durch den Wald zu bewegen. Was von den Flocken am Boden ankam, reichte allemal aus, um die Spuren des Kindes innerhalb der letzten zwei Stunden unkenntlich zu machen. Zusammen mit dem Altschnee, der in den vorangegangenen Tagen im Südschwarzwald niedergegangen war, bildete er einen anspruchsvollen Untergrund für die Vierergruppe. Allein Connor, der mit der Schnauze den Neuschnee durchpflügte, brach nicht tief ein. Manchmal versanken die Polizisten bis zur Hüfte in der weißen Pracht und Sarah begann sich zu fragen, wie das Mädchen es überhaupt bis zur Straße geschafft hatte. Wahrscheinlich, so mutmaßte sie, war das Kind wie auch der Vierbeiner einfach nicht schwer genug gewesen, um die knapp unter dem Neuschnee liegende, angefrorene Schicht zu durchbrechen und einzusinken. Während sie sich wieder einmal aus einem Loch befreite und etwas zurückblieb, sah sie, wie ihr Partner und der Hundeführer mit ihren Lampen geradezu gespenstische Szenen heraufbeschworen. Mal mutierte der Schatten des Hundes zu einer übergroßen Bestie, die mit geöffnetem Maul alles zu verschlingen versuchte, mal wurde einer der Kollegen zu einem riesigen Troll, der von Baum zu Baum sprang, bereit, alles und jeden mit seiner gewaltigen Keule zu zerschmettern! Da es selbst Sarah bei diesem Schauspiel ein wenig mulmig wurde, war sie einerseits froh, dass das Mädchen im Dunkel der Nacht unterwegs gewesen war. Allerdings wurde ihr schnell gewahr, dass sie in fast absoluter Dunkelheit von einem Baum zum nächsten gestolpert sein musste, vollkommen orientierungslos und ohne erkennbares Ziel; vor Kälte zitternd, mit halberfrorenen Gliedmaßen, das Messer wie eine Art Rettungsring krampfhaft umklammernd. Sarah schüttelte sich.
Dann doch viel lieber so, dachte sie und beeilte sich, zu ihren Kollegen aufzuschließen.
„Licht aus!“, zischte Thomas ohne Ton aber mit viel Druck in der Stimme, dass sowohl Sarah als auch der Hundeführer die Aufforderung gut hören konnten. Fast gleichzeitig erloschen die Taschenlampen der drei Polizisten. Keiner von ihnen regte sich! Das einzige Geräusch, das wahrzunehmen war, war das Hecheln des Hundes, welches über die Schneedecke merkwürdig gedämpft an die Ohren drang. Nach etwa einer Minute bemerkte Sarah, dass sie begann, Konturen wahrzunehmen. Erstaunt stellte sie fest, dass offensichtlich trotz der Dunkelheit und der Wolkendecke ein klein wenig Restlicht des Mondes den Waldboden erreichte. Jetzt erkannte sie auch, warum ihr Partner sie aufgefordert hatte, die Lampen auszuschalten: Etwas entfernt, es mochten weitere einhundert Meter sein, war ein erleuchtetes Fensterkreuz zu erkennen, das leicht flackernd zwischen den Bäumen zu schweben schien. Wie groß die Behausung, oder was auch immer sich dort befinden musste, war, konnte Sarah nicht sagen. Vom Bauwagen bis hin zu einem Schwarzwaldhof hielt sie alles für möglich. Langsam bewegte sie sich auf Thomas zu, der immer noch an der Stelle verharrte, von der aus er das Licht entdeckt hatte.
„Und tut sich dort etwas?“, fragte Sarah, als sie ihren Partner erreicht hatte.
„Hat man uns entdeckt?“
Thomas schüttelte den Kopf.
„Gerührt hat sich bisher nichts. Keine Silhouette hinter dem Fenster, keine Tür, die sich geöffnet hat oder Ähnliches. Vielleicht ist niemand da. Oder aber man hat unsere Taschenlampen nicht bemerkt. Steuert der Hund diese Hütte dort an?“
Der Hundeführer drehte sich um.
„Ja, Connor zieht schnurstracks in Richtung dieses Fensters. Von dort ist das Mädchen gekommen. Oder sie lief in der Nähe daran vorbei.“
„Dann sehen wir uns das einmal genauer an“, entschied Thomas und setzte seinen Weg fort. Sarah und der Hundeführer folgten ihm. Alle behielten das flackernde Licht und dessen Umgebung scharf im Blick und als Thomas seine Waffe zog, durchlud und vor sich hielt, taten Sarah und der Kollege es ihm gleich. Es hatte mittlerweile aufgehört zu schneien und als sich das Trio plus Vierbeiner bis auf knappe fünfzig Meter angenähert hatten, konnten sie erkennen, dass es sich bei dem Gebäude um eine Waldhütte handelte, einstöckig, aber doch recht groß. Anhand der Anzahl der unbeleuchteten Fenster mochten es drei, vielleicht sogar vier Räume sein. Einer davon, am rechten Ende des länglichen Gebäudes, war möglicherweise eine Küche oder zumindest mit einer Möglichkeit zu heizen ausgestattet, denn an der rechten Seitenwand ragte ein Kamin in die Höhe. Dass dieser in Betrieb war, erkannten die Polizisten erst jetzt, offensichtlich hatte eine leichte Brise den angenehmen Geruch von Buchenfeuer von ihnen weggetrieben. Außerdem war in diesem Raum ein leichtes Flackern zu erkennen, deutlich dezenter als in dem Fenster am anderen Ende des Hauses; es entsprang wohl einem Ofen oder Herd. Die Hütte befand sich nicht auf einer Lichtung, sondern war von Wald umgeben. Wahrscheinlich hatte man nur eine Anzahl Bäume gefällt, um Platz für die Behausung zu schaffen. Allerdings verriet eine relativ schmale Schneise, die sich neben der Hütte im Dunkel verlor, dass dieser Ort auch mit dem Auto zu erreichen war. Sicher nicht mit einem gewöhnlichen Fahrzeug, aber mit einem tauglichen Geländewagen und der richtigen Bereifung mochte dieser Weg durchaus befahrbar sein. Und wenn der Anschein nicht trog, hatte ein solches Auto vor nicht allzu langer Zeit den Weg benutzt; es waren zwei parallele Vertiefungen zu erahnen, wo der Neuschnee ein bisschen weniger an Höhe erreicht hatte, als auf dem Rest der Fläche.
„Sie gehen einmal um das Haus und klären ab, ob es eine weitere Tür gibt“, wies Thomas den Hundeführer an. „Und sorgen Sie dafür, dass der Hund nicht Laut gibt!“
Der Angesprochene nickte, vermittelte dem Australian Shepherd mittels einer Geste, dass er nicht mehr anschlagen musste, und entfernte sich von Thomas und seiner Partnerin.
„Was glaubst du, erwartet uns da drinnen?“, fragte Sarah ihren Kollegen. Ihre Stimme war nicht mehr als ein leises Flüstern.
„Keine Ahnung!“, lautete die lakonische Antwort.
„Meinst du, wir finden dort tatsächlich Spuren, die auf die Anwesenheit des Mädchens hindeuten?“
Thomas wandte sich ihr zu und rümpfte die Nase.
„Ich habe mehrere Ideen, wie es da drin aussehen könnte, und keine davon gefällt mir sonderlich.“
Professor Doktor Schwarz, Leiter der Rechtsmedizin an der Uni Freiburg, sah mit hoffnungsvollen Augen auf die junge Ärztin, die aus dem Behandlungszimmer kam, sich kurz umsah und dann auf ihn zuschritt.
„Physisch gesehen geht es der Patientin bis auf die leichten Erfrierungen und eine mittelschwere Unterkühlung gut“, begann sie ohne Umschweife. „Sie weist bis auf die eindeutigen Fesselspuren an Hand- und Fußgelenken keinerlei äußere Verletzungen auf, hat guten Pupillenreflex, Greifreflex, reagiert auf Ansprache mit Drehung des Kopfes. Sie ist gefügig bezüglich meiner Anweisungen, ich meine, sie tut, was ich ihr zeige. Aber sie spricht nicht! Es ist ein mittelschwerer Zustand von Lethargie. Sie reagiert nicht auf Fragen, die eine Antwort oder Geste wie Nicken oder Kopfschütteln erfordern. Wenn ich sie bitte, den Arm zu heben, tut sie nichts, bis ich ihr den Arm führe. Das lässt sie aber bereitwillig zu.“
Schwarz runzelte die Stirn. Diese Art, auf ein Trauma zu reagieren, kam, neben einer in unterschiedlichen Ausprägungen auftretenden Lethargie, gelegentlich vor.
„Nicht ungewöhnlich“, sagte er. „Wir wissen zwar nicht, was ihr widerfahren ist, aber die Kollegen vor Ort vermuten, dass es etwas Schreckliches gewesen sein muss. Sie haben die Kleidung ja ebenfalls gesehen. Nichtsdestotrotz müssen wir so schnell wie möglich mit der Beweissicherung anfangen. Ich habe leider derzeit keine medizinische Mitarbeiterin. Würden Sie mich unterstützen?“
„Natürlich! Aber gestatten Sie mir eine Frage. Sie erinnern sich nicht an mich?“
Der Rechtsmediziner musterte die Ärztin einen Moment eindringlich.
„Ja, Sie kommen mir irgendwie bekannt vor“, gab er von sich. „Sie saßen sicher während des Studiums in einem meiner Kurse zum Thema Rechtsmedizin?“
Die Frau lachte.
„Ja, das auch. Außerdem haben Sie mich mündlich geprüft. Vier Jahre ist das her, damals wog ich satte 20 Kilo mehr, hatte noch kurzes Haar und war blond.“
Jetzt klickte es bei Schwarz.
„Saskia Fichter!“, brach es aus ihm heraus. „ich erinnere mich! Ich gab Ihnen damals eine Eins.“
Die Ärztin wiegte den Kopf ein wenig hin und her.
„Eine Eins minus“, korrigierte sie und lächelte. „Und dass ich nicht mehr Fichter heiße, sondern Wiese, hat es Ihnen neben den Haaren sicher nicht leichter gemacht.“
Der Rechtsmediziner nickte zustimmend.
„Ja, das stimmt. Brünett steht Ihnen aber gut! Nun, dann sind Sie ja geradezu prädestiniert, die Beweise abzunehmen. Eine Frage vorweg: Haben Sie das Mädchen schon gynäkologisch untersucht?“
Dr. Wiese nickte.
„Ja, und zwar ohne Befund. Ich meine, keinerlei Anzeichen eines sexuellen Missbrauchs. Das Hymen ist intakt, sie ist definitiv noch Jungfrau.“
„Gott sei Dank!“, entfuhr es Schwarz. „Wenigstens ist ihr das erspart geblieben. Einen Moment bitte.“
Er griff nach seinem Handy, das stummgeschaltet in seiner Kitteltasche vibrierte.
„Ja, Mustafa?“, meldete er sich und lauschte dem Gegenüber.
„Haben Sie Bierman schon Bescheid gegeben?“, hakte er nach.
Das Gespräch war kurz. Als Schwarz aufgelegt hatte, sah er mit ernster Miene zu Dr. Wiese hinüber.
„Das war ein Mitarbeiter des kriminaltechnischen Labors, dem schon eine Blutprobe gebracht wurde. Er ist schnell und gut, und er hat herausgefunden, dass es sich bei dem Blut auf der Kleidung des Mädchens und auf dem Messer, das es bei sich trug, eindeutig um menschliches Blut handelt! Ich wage mir gar nicht auszumalen, was die Kleine hat ansehen müssen!“
„Schrecklich!“, pflichtete Dr. Wiese bei. „Wollen wir loslegen?“
Sie schritt voran und führte den Rechtswissenschaftler zu dem Behandlungsraum, aus dem sie kurz zuvor gekommen war. In dem einzigen Bett lag mit aufgerichtetem Oberkörper das etwa vierzehn Jahre alte Mädchen unter einer Schicht warmer Decken, und ein Bedienmodul, das am Bett hing, zeigte an, dass auch eine Heizdecke in Betrieb war. Außer einer Fingermanschette, welche die Sauerstoffsättigung und den Puls auf einen Monitor übertrug, war die Patientin an keine weiteren Geräte angeschlossen. Die Schwester, die neben der Jugendlichen auf der Bettkannte saß und ihr die freie Hand hielt, sah auf, als die beiden Ärzte eintraten. Auch das Mädchen hob den Kopf und wandte sich der Tür zu, ihr Blick aber war leer und ausdruckslos und sie zeigte keinerlei Mimik.
„Da bin ich wieder“, flötete Dr. Wiese in fröhlichem Tonfall, um die Situation gar nicht erst bedrückend oder beängstigend werden zu lassen.
„Und wie ich dir gesagt habe, habe ich dir einen netten Herrn mitgebracht, der sich deine Arme, Hände und Füße anschauen möchte. Hab keine Angst, du brauchst dich nicht auszuziehen!“
Ob das Mädchen die an sie gerichtete Erklärung verstand, war in keiner Weise festzustellen. Kaum waren die Worte der Ärztin verklungen, sah sie wieder mittig auf die Bettdecke vor sich, ohne dass eine Regung auf dem Gesicht zu erkennen gewesen wäre. Sie zuckte nicht einmal zurück, als die Ärztin vorsichtig ihren rechten Arm von der Bettkante aufnahm und ihrem Kollegen das Handgelenk zeigte, an dem sich blauunterlaufene Einschnürungen abzeichneten. Sogar das Muster eines sehr groben, dicken Stricks oder Seils war zu erkennen. Schwarz winkte seine Kollegin in eine Ecke des Raumes und besprach sich mit ihr in gedämpfter Lautstärke.
„Hatten die Sanis die Hände in Plastiktüten gepackt?“, fragte Schwarz hoffnungsvoll.
Mit einem belustigten und gespielter Empörung durchsetzten Blick sah Wiese den Rechtsmediziner an.
„Ihnen merkt man aber auch an, dass Sie sonst nur an Leichen arbeiten“, gab sie zurück. „Selbstverständlich nicht, schließlich musste die junge Frau erst mal stabilisiert werden.“
Schwarz zuckte die Schultern.
„Machen Sie bitte trotzdem einen Abstrich rund um das Gelenk und sehen Sie sich die Schürfmale unter der Lupe an. Vielleicht lässt sich ja doch noch ein Faserstück finden. Die Fingernägel?“
Die beiden Mediziner traten wieder ans Bett und Dr. Wiese nahm die Hand des Mädchens behutsam, ja fast zärtlich, und hob die Fingerspitzen ins Licht. Es waren immer noch Reste von dem Blut zu erkennen, das wohl nur notdürftig weggewischt worden war.
„Nichts zu sehen, ich nehme natürlich trotzdem Proben“, sagte die Ärztin und begann, das Gelenk mit einer Lupe abzusuchen. Schwarz sah ihr interessiert zu, wie sie im Anschluss geschickt ein steriles Tuch nahm, um das Handgelenk fuhr und es in eine Beweismitteltüte gleiten ließ.
„Meinen Sie nicht, bei den Mengen an Sanguis ist eine Tatortzuordnung auch ohne weitere forensische Spuren eindeutig?“, fragte sie, während sie mit dem Fuß des Mädchens auf die gleiche Weise verfuhr. Um das Mädchen nicht zu verschrecken nutzte sie bewusst den medizinischen Fachausdruck für Blut.
„Sicher“, bestätigte Schwarz. „Aber meist gilt es, verschiedene andere Dinge ebenfalls forensisch in Verbindung zu bringen. DNA von Drittpersonen, die Eigentümerschaft beziehungsweise den Lagerort des Seils, vielleicht sogar die Einzigartigkeit eines Knotens. Deswegen machen Sie auch bitte Makroaufnahmen jeder einzelnen Druckstelle. Eine entsprechende Kamera habe ich dabei. Stopp!“
Wiese hielt inne.
„Hatten die Sanis einen Zugang am Fuß der Patientin gelegt? Oder Sie hier in der Klinik?“
Die Angesprochene schüttelte den Kopf.
„Ich sehe, was Sie meinen“, kam sie Schwarz zuvor und deutete auf einen Punkt am Spann des Fußes, um den sich ein blauer Fleck gebildet hatte.
„Als sie eingeliefert wurde, waren ihre Gliedmaßen noch kälteinduziert zyanotisch, da ist mir das nicht aufgefallen.“
Sie beäugte die kleine Wunde mit der Lupe.
„Ja, das wird ein Zugang gewesen sein. Mit einer sehr dünnen Kanüle.“
„Machen Sie ein Foto!“, ordnete Schwarz an. „Wird bei dem Tox-Screening auch auf BTM getestet?“
Wiese hob den Kopf.
„Sie glauben, dass sie über diesen Zugang anästhesiert wurde? Wäre denkbar. Und ja, auch diese Werte habe ich angefordert.“
„Sehr gut!“, kommentierte der Rechtmediziner und reichte seiner Kollegin die digitale Spiegelreflexkamera. Bevor diese den Apparat entgegennahm, warf sie einen prüfenden Blick auf die kleine Patientin. Das Mädchen schien von nichts, was um es herum vorging, Kenntnis zu nehmen. Selbst dass die Krankenschwester auf dem linken Bettrand fürsorglich durch seine Haare strich und ihm beruhigend zuflüsterte, lag offenbar außerhalb seiner Wahrnehmung. Erst als der Ringblitz, der sich vorne auf dem Objektiv befand, das erste Mal das Behandlungszimmer erleuchtete, zeigte die junge Patientin eine sehr massive Reaktion: Sie schlug so plötzlich beide Arme über dem Gesicht zusammen und zog die Knie ruckartig bis ans Kinn, dass sie heftig mit der über sie gebeugten Dr. Wiese zusammenstieß. Die Kamera, hinter deren Sucher sich das Gesicht der Ärztin befand, schlug ihr hart ins Gesicht und die Getroffene taumelte zwei Schritte zurück, in der einen Hand die Canon, die andere Hand auf die rechte Augenbraue gepresst. Alle im Raum waren schwer erschrocken und der erste Blick von Schwarz und der Krankenschwester galt der jungen Patientin, die jetzt bewegungs- und tonlos im Bett saß und die Arme weiter vor dem Gesicht verschränkt hielt. Da sie keine Anzeichen einer weiteren Dekompensation hatte, legte die Schwester wieder ihre Hand auf die Stirn des Mädchens und Dr. Schwarz wandte sich seiner Kollegin zu. Dr. Wiese hatte die Kamera inzwischen abgelegt und fing mit der frei gewordenen Hand einige Blutstropfen auf, die sich ihren Weg zwischen den Fingern hindurch gebahnt hatten.
„Oh, da haben Sie wohl eine Platzwunde über dem Auge“, stellte Schwarz in aller Ruhe fest. „Haben Sie was zum Nähen da?“
„Da drüben, zweite Schublade links.“
Auch Dr. Wiese schien die Folge des Zwischenfalls recht pragmatisch zu sehen und machte keinerlei Anstalten, zu fluchen oder zu jammern.
„Können Sie denn mit so feinem Garn noch umgehen?“, fragte sie lächelnd, auf das grobe Paketgarn anspielend, mit dem der Rechtsmediziner nach Abschluss einer Obduktion die Leichname wieder zuzunähen pflegte.
„Sie werden staunen!“, kokettierte er, desinfizierte sich die Hände und nahm das Nähbesteck. „Setzen Sie sich mal da auf den Hocker und legen Sie den Kopf in den Nacken. Ja genau so.“
Er zog etwas sterilen Verbandsmull aus dem Spender an der Wand.
„Betäubungsmittel?“, fragte er und reichte der Verletzten den Mull, um das Blut etwas abzutupfen.
„Wie viele Stiche werden es denn?“, entgegnete sie.
Schwarz blickte auf die Wunde, die seine Kollegin geschickt mit Daumen und Zeigefinger zusammendrückte.
„So zwei bis drei, denke ich.“
„Dann legen Sie los.“
Schwarz sah noch einmal zu dem Mädchen, das sich zurück in eine liegende Position begeben hatte und abermals in Apathie gefallen war. Nachdem die Krankenschwester ihm durch ein aufmunterndes Nicken versichert hatte, dass sie die Situation kontrollierte, setzte er die Nadel an.
„Ich denke“, begann er, um Dr. Wiese abzulenken, „dass unsere Patientin, während sie traumatisiert wurde, unter anderem Blitzlicht ausgesetzt wurde. Sei es ein Gewitter, ein Stroboskop oder das Blitzlicht eines Fotoapparates gewesen. Nicht auszudenken, was abgelichtet wurde!“
Dr. Wiese war so sehr bei der Sache, dass sie den ersten Stich nicht wahrnahm.
„Ja, schrecklich! Ich werde für die nächsten Aufnahmen den Blitz abschalten und die ISO nach oben drehen. Die Fotos werden trotzdem sehr gut.“
„Das sehe ich auch so“, pflichtete Schwarz bei. „Wer weiß, was wir bei dem armen Kind mit dem Flashlight auslösen, beziehungsweise ob sie uns nicht komplett durchdreht.“
Er zog den Faden ein weiteres Mal durch. Diesmal zuckte seine Patientin leicht zusammen.
„Keine Sorge, mit drei komme ich aus“, beruhigte er sie und beeilte sich, die Arbeit zum Abschluss zu bringen.
„So, das war`s. Brauchen Sie ein Päuschen?“
„Nein, sagte Dr. Wiese bestimmt. „Lassen Sie uns weitermachen, damit die Kleine ihre Ruhe bekommt.“
Sprach es, stand auf und nahm sich den Fotoapparat vom Sideboard.
„Reinschleichen oder stürmen?“, flüsterte Sarah, als sie mit Thomas an der Tür angekommen war und sie rechts und links davon Position bezogen hatten. Sie hielt die Pistole mit beiden Händen knapp über der rechten Schulter nach oben gerichtet und wartete, was ihr Partner entscheiden würde. Thomas sprach leise in das Mikrofon am Ohrhörerkabel.
„Wie sieht die Rückseite aus? Gibt es da noch einen Eingang?“
Unter leichtem Rauschen kam die Antwort des Kollegen.
„Hier ist eine weitere Tür, die auf eine Art Veranda führt. In diesem Raum brennt ein sehr schwaches Licht, wie wir es schon von der anderen Seite aus gesehen haben. Ansonsten ist nichts zu erkennen. Keinerlei Regung.“
„Okay, dann sichern Sie die Rückseite, wir gehen rein. Behutsam und leise, um deine Frage zu beantworten.“ Er blickte auf die Türklinke und sah Sarah an, die daraufhin mit der linken Hand vorsichtig zu dem verrosteten Stück Eisen griff, es hinunterdrückte und die Tür langsam nach außen öffnete. Thomas ging in die Knie und wagte einen schnellen Blick in das Zimmer dahinter. Dann einen weiteren, etwas längeren, und schließlich schob er seinen Oberkörper nach vorne, um sich den schwach erleuchteten Raum genauer anzusehen.
„Leer!“, informierte er mit gedämpfter Stimme. „Rechter Hand sehe ich einen Ofen, in dem noch schwach ein Feuer brennt. Mittig steht ein Küchentisch mit fünf Stühlen darum. An den Wänden befinden einfache Holzschränke. Linker Hand ist eine geschlossene Tür, die zum nächsten Raum führt.“
Er richtete sich auf, behielt die erwähnte Tür über das Visier seiner Waffe im Auge und betrat den Raum. Sarah folgte ihm und hielt ihre Pistole ebenfalls in Richtung des weiteren Zugangs zu dem Zimmer, während sie die Eingangstür mit der Linken vorsichtig hinter sich schloss. Wie aus der Beschreibung ihres Kollegen herauszuhören gewesen war, handelte es sich bei dem Raum um eine Art Wohnküche, das mit alten, nicht zueinander passenden Möbeln ausgestattet war, die gespenstische, flackernde Schatten an die Wände warfen. Sie sah zu dem Ofen, in dessen nur knapp über dem Boden liegenden Heizklappe ein einzelner Scheit die Reste seines brennfähigen Materials den spärlichen Flammen opferte. Sarah wurde bewusst, dass wegen der tiefen Position des Feuers die Schatten der Stühle und des Tisches so groß und bedrohlich über die Wände zitterten und die unheimliche Stimmung im wahrsten Sinne des Wortes befeuerten. Thomas vor ihr hatte inzwischen seine Taschenlampe eingeschaltet und leuchtete, den Lichtstrahl stark abgeschirmt, auf den Boden. Er deutete mit seiner Heckler&Koch nach unten. Dort waren zwei, drei Blutstropfen zu sehen, ein Stückchen weiter konnte Sarah den roten Teilabdruck eines kleinen menschlichen Fußes erkennen. Das Mädchen war bei seiner Flucht durch diesen Raum gekommen und zuvor in Blut getreten! Es gab also keinen Zweifel mehr, dass sie hier richtig waren! Ein Schauer überkam Sarah, würden sie doch möglicherweise in wenigen Augenblicken entdecken, was dem Kind widerfahren war oder welche Umstände dazu geführt hatten, dass es halbnackt und blutverschmiert auf der Straße aufgetaucht war.
Thomas hatte sich inzwischen der rückwärtigen Tür genähert. Er bedeutete Sarah, auch herzukommen und erneut gingen sie rechts und links davon in Stellung. Thomas zog sein Smartphone aus der Tasche, schaltete auf Kamera und hielt es an den Türrahmen. Sarah war klar, dass er diese Vorsichtsmaßnahme ergriff, weil sich diesmal seine Silhouette vor dem mäßig beleuchteten Raum deutlich abzeichnen und somit ein leichteres Ziel sein würde. Dem aufmunternden Nicken folgend legte sie die Hand an die Klinke und zog das Blatt nur einen spaltbreit auf, so dass Thomas das Handy durch die entstandene Öffnung schieben konnte. Der LED-Blitz fiel unter der Tür durch, als er den Auslöser betätigte, und sofort zog er das Telefon wieder aus dem Schlitz. Er betrachtete die Aufnahme und hielt sie nach einigen Sekunden Sarah hin. Zu sehen war eine Art Wohnzimmer, doch Couches und Sessel waren an eine Wand geschoben, einen kniehohen Tisch hatte man ebenfalls an den Rand des Zimmers gestellt. Stattdessen befand sich in der Mitte des Raums ein schwerer, wuchtiger Tisch, der Sarah unweigerlich an einen Altar erinnerte. Viel mehr konnte man auf dem dunklen Bild nicht erkennen, doch es schien sicher genug zu sein, den Raum zu betreten. Dieser Meinung war wohl auch Thomas, der sich aufrichtete, die Tür öffnete und innen neben dem Rahmen nach einem Lichtschalter tastete. Der Art, wie er nach wenigen Sekunden den Arm verdrehte, und das mit dem Aufflackern des Lichts ertönende Klacken zeigten Sarah, dass er fündig geworden war und es sich bei dem elektrischen Bauteil um ein solches handeln musste, wie sie es aus dem Keller ihres Elternhauses kannte: einen Drehschalter, der mit erheblichem mechanischen Widerstand zu betätigen war und laut in der nächsten Position einrastete. Das Licht indes, das jetzt durch die geöffnete Tür fiel, verdiente diesen Namen kaum. Funzelig erhellte es die Szenerie, und als Sarah hinter Thomas in den Raum trat, war es immer noch nicht leicht, die Details des Horrorkabinetts zu erkennen, in dem sie sich befanden. Zuerst blieben die Blicke an dem altarähnlichen Tisch haften, in dessen vier Ecken metallene Ösen schweren Ketten als Anker dienten. An deren Enden befanden sich gürtelähnliche Schnallen aus Leder, deren Zweck eindeutig die Fixierung von Hand- und Fußgelenken sein musste. Die Schlaufen sahen neu aus und der Gedanke, dass sie noch nicht allzu oft in Gebrauch gewesen sein konnten, dämpften die schrecklichen Vorstellungen, die Sarah mit dem Anblick verband. Doch die zentrale Opferstelle, denn danach sah die massive Platte aus, war bei Weitem nicht das einzige schreckenerregende Accessoire. An den Wänden hingen Jagdtrophäen, bei denen der Präparator sich augenscheinlich viel Mühe gegeben hatte, einen aggressiven, bösen Gesichtsausdruck zu konservieren. So säumten Dachse mit gefletschten Zähnen, Füchse mit hochgezogenen Lefzen, Marder mit kampfbereiten Kiefern und Wildschweine mit entblößten Hauern die Wände. Selbst die schwarze Krähe, die auf einem Rundholz saß, stellte einen eigentümlich menschlichen, hasserfüllten Gesichtsausdruck zur Schau. Lediglich ein Chamäleon, das als Exot definitiv nicht in die Sammlung der sonst heimischen Fauna passte, sah recht friedlich aus. Auf einem Highboard neben der Tür dienten mehrere Totenschädel als Kerzenhalter, ein weißes Huhn war dazwischen an die Wand genagelt und der Bauchraum geöffnet worden, so dass die Innereien in eine aus Silber anmutende Schale hingen. Der Geruch des Ensembles bestätigte dessen Echtheit, während den Totenschädeln anzusehen war, dass sie eher in China hergestellt denn einem Grab entnommen worden waren. Als sich Sarah der Wand zuwandte, durch deren offenstehende Tür sie den Raum betreten hatten, sah sie ein gigantisches Pentagramm, in dem keltische Runen in verschiedenen Farben wohl Schreckliches offenbarten. In dem Bild eines gehörnten Ziegenkopfes erkannte Sarah die Darstellung von Baphomet, dem Götzenbild, dem den Templerprozessen zufolge die Ritter des Ordens angeblich huldigten. Auf einem Eckregal ragte eine Hühnerpfote aus einem Messingtiegel und die Spritzer von geronnenem Blut, die auf einer kruden Zeichnung eines Gesichtes zu sehen waren, ließen keinen Zweifel an dem Inhalt des Gefäßes.
„Meine Güte!“, entfuhr es Sarah und ihre Blicke trafen sich mit denen Thomas`, der die widerlichen Artefakte ebenfalls eindringlich musterte.
„Haben wir es möglicherweise mit einer Sekte zu tun? Oder mit schwarzer Magie?“, fragte sie ihren Partner, der mit den Schultern zuckte, aber nicht auf ihre Frage einging. Also sah sie sich weiter um. Erst jetzt wurde ihr gewahr, dass der schwere Hochlehner, der sich dem riesigen Highboard gegenüber an der Wand befand, auf einem Sockel stand, und ihn wie einen Thron erscheinen ließ. Hätte man alles, was sich in diesem Raum befand, in einer großen Halle mit Geschick angeordnet, hätte das Ergebnis, so gruselig es auch sein mochte, etwas Erhabenes ausgestrahlt. So wie der Saal des Eisernen Throns aus der Fantasy Serie, die sie so gerne ansah. Hier aber, auf engem Raum zusammengepfercht, erweckten die Gegenstände den Eindruck eines Provisoriums, bei dem ein Notbehelf die Erfordernisse eines Besessenen befriedigen musste. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie auf dem Highboard neben einem Blatt Taro-Karten eine nicht hierher passen zu wollende Fernbedienung für ein TV-Gerät oder einen DVD-Player. Obschon sie das dazugehörige Gerät hinter den Türen des Highboards vermutete und auch die Sichtachse zwischen dem Thron und dem Möbel erkannte, widerstand sie der Versuchung, sie zu öffnen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Partner zu. Thomas wies mit seinem Kopf auf die rückwärtige Seite des Raumes.
Sarah nickte und bewegte sich umsichtig in Richtung der Tür, die zum hinteren Teil der Hütte führen musste. Doch bevor sie diese erreichte, stockte ihr der Atem! Hinter dem massiven Highboard ragten zwei Beine reglos in den Raum. Der Größe der Schuhe und der Dicke der Unterschenkel nach gehörten sie zu einem Mann, der hinter dem Möbelstück an dessen Seitenwand lehnen musste!
„Thomas!“, flüsterte sie scharf und näherte sich dem Beinpaar mit vorgehaltener Waffe. Ihr Partner kam hinzu, sah sofort, was Sarahs Aufmerksamkeit erregt hatte, und nahm seine Dienstpistole ebenfalls in Anschlag.
„Vorsicht!“, raunte er halblaut und umrundete Sarah, um ihr Deckung geben zu können. Die Polizistin schob sich langsam weiter vor, bis sie den Rest des Mannes sehen konnte, der tatsächlich mit aufgerichtetem Oberkörper halb an der Wand, halb an dem Highboard lehnte. Er saß in einer Lache aus dunklem Blut, seine rechte Hand lag offen im Schoß, seine linke neben dem Oberschenkel auf dem Boden. Beide Hände waren blutig und Sarah schlussfolgerte, dass der Unbekannte sie auf die große Bauchwunde gepresst hatte, die sich unter dem komplett durchtränkten Hemd befinden musste. Jetzt erkannte Sarah auch Schnitte in den Unterarmen. Hals und Gesicht wiesen ebenfalls grässliche, klaffende Wunden auf. Der Täter musste mit großer Wut auf sein Opfer eingestochen haben oder aber, sofort kam Sarah das Mädchen wieder in den Sinn, mit panischer Angst versucht haben, sich zu retten. Ohne in die Blutlache zu treten wagte sie sich anzunähern, ging in die Knie und versuchte, an den geschlossenen Augenlidern des Mannes eine Bewegung zu erkennen, doch es war nicht einmal das geringste Zittern zu sehen. Etwas mutiger rutschte sie näher und streckte die linke Hand aus, um möglicherweise einen Puls zu ertasten. Sie bemühte sich, nicht in das Blut zu fassen, das auch am Hals hinunterlief, legte die Finger auf die Carotis und hoffte, noch ein Lebenszeichen feststellen zu können.
Mit einem Mal richtete sich der Körper unter lautem Schreien auf! Die blutverschmierte Hand griff nach Sarahs Schulter und das groteske Gesicht näherte sich ihr mit weit aufgerissenen Augen. Sarah versuchte panisch zurückzuweichen, doch der Mann hielt sie mit eisernem Griff! Der laute Schrei ging in ein Gurgeln über. Sekundenbruchteile darauf schoss ein Schwall Blut aus dem Mund und ergoss sich über Sarahs Jacke und Jeans. Dann würgte und hustete der tödlich Verwundete und Sarah konnte die Spritzer des warmen Blutes in ihrem Gesicht spüren! Endlich gelang es ihr, sich von dem Mann wegzustoßen. Sie landete unsanft auf dem Boden und war erst jetzt in der Lage, zitternd die Pistole zu heben. Doch trotz des Schreckens und des Ekels realisierte sie, dass keine Gefahr mehr von dem Verletzten ausging. Spasmisch schüttelte sich sein Körper, ein letztes Röcheln kam über seine Lippen, blutiger Schaum quoll aus dem Mund. Langsam kippte er zur Seite. Sarah war sofort klar, dass er in eben diesem Moment den letzten Rest Lebens ausgehaucht hatte, und sie ließ die Waffe sinken. Sie sah zu Thomas, der seine H&K aus dem Anschlag nahm und begriff, dass er zwar hätte schießen können, aber rechtzeitig erkannt hatte, dass es sich bei dem vermeintlichen Angriff lediglich um die Reflexe eines unbewaffneten Totgeweihten gehandelt haben musste. Mit zitternden Händen legte sie die Pistole neben sich, öffnete die Seitentasche ihrer Winterjacke und brachte eine Packung Papiertaschentücher zum Vorschein. Diese aufzureißen vermochte sie nicht zu bewerkstelligen, doch Thomas, der seine Pistole weggesteckt hatte, ging neben ihr in die Knie, öffnete die Cellophanhülle, entnahm eines der Tücher und wischte Sarah vorsichtig durch das Gesicht. Erst um den Mund, dann um die Augen und schließlich über Nase, Wangen und Stirn. Perplex über das unerwartete Verhalten und dankbar für die Hilfe ihres Partners, ließ sie die fast zärtlich anmutende Prozedur über sich ergehen.