Höllenteufel - Andre Rober - E-Book

Höllenteufel E-Book

Andre Rober

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Beschreibung

Als ein junges Paar nachts durch den verschneiten Schwarzwald von einem Familientreffen nach Hause fährt, haben sie ein schockierendes Erlebnis: Plötzlich steht ein in Weiß gekleidetes junges Mädchen auf der Fahrbahn. In der Hand hält es einen blutigen Dolch und auch das Gewand ist blutdurchtränkt! Den Ermittlern Sarah Hansen und Thomas Bierman mangelt es zunächst an Ansatzpunkten, denn das geheimnisvolle Mädchen spricht kein Wort! Auch der Fund des Ortes der gruseligen Geschehnisse bringt die Polizei nicht weiter. Schließlich ist es eine missglückte Entführung, die eine Verbindung zu dem seltsamen Fall aufweist und die Er¬mittlungen in eine andere Richtung lenkt.

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Seitenzahl: 520

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Andre Rober

Höllenteufel

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Impressum neobooks

Kapitel 1

Als ein junges Paar nachts durch den verschneiten Schwarzwald von einem Familientreffen nach Hause fährt, haben sie ein schockierendes Erlebnis: Plötzlich steht ein in Weiß gekleidetes junges Mädchen auf der Fahrbahn. In der Hand hält es einen blutigen Dolch und auch das Gewand ist blutdurchtränkt! Den Ermittlern Sarah Hansen und Thomas Bierman mangelt es zunächst an Ansatzpunkten, denn das geheimnisvolle Mädchen spricht kein Wort! Auch der Fund des Ortes der gruseligen Geschehnisse bringt die Polizei nicht weiter. Schließlich ist es eine missglückte Entführung, die eine Verbindung zu dem seltsamen Fall aufweist und die Er­mittlungen in eine andere Richtung lenkt.

Andre Rober, geboren 1970 in Freiburg im Breisgau, studierte Volkswirtschaftslehre und arbeitete nach dem Ab­schluss mehrere Jahre für Banken im In- und Ausland. Mit der Absicht, sich beruflich zu verändern, machte er eine Aus­bildung zum Business Coach und arbeitete parallel an sei­nem Erstlingswerk „Sturmernte“.

Mit „Höllenteufel“ erscheint der vierte Band rund um die Ermittlerin Sarah Hansen, ihren Partner Thomas Bierman und deren Team bei der Kriminalpolizei Freiburg.

Andre Rober

Höllenteufel

Thriller

Ungekürzte Taschenbuchausgabe

1 Auflage Dezember 2021

© Andre Rober, Merzhausen

Korrektorat: Christiane Portele, Martina Woppman, Bettina Lieke-Rober, Nicole Rober-Kleber

Umschlaggestaltung: Andrea Budig, Merzhausen

Umschlagfoto: © Andre Rober

Satz: Andre Rober

Gesetzt aus der Palatino

„Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier“

(William Shakespeare, Der Sturm)

Kapitel II

комната вскрытия- Obduktionsraum - stand auf derwuchtig anmu­ten­den, doppelflügeligen Tür. Der einsti­ge Glanz des Edelstahls war im Laufe der Jahrzehnte zu einer matten, mit Kratzern übersäten, un­ansehnlichen Ober­fläche verkommen. Der Einsatz scharfer Scheuermittel hatte aber nicht nur auf dem Metall seine Spuren hinterlassen: Auch das Glas der beiden bullaugenähnlichen Fenster, die in je einem der Flügel in ge­nieteten Rahmen für einen Ein- oder Ausblick sorgen sollten, war stumpf geworden. Nicht blind, aber man konnte dahin­ter nur noch schemenhaft Strukturen erken­nen.

Vor dieser Barriere, der Grenze zwischen den Lebenden und den Toten, stand der junge Uniformierte und starrte vor sich auf den Boden. Betroffen zum einen und ängstlich, verlegen zum anderen. Sein erstes Mal. Nicht dass er im Laufe der Aus­bildung schon den obligatorischen Gang in die Gerichts­medizin hinter sich gebracht hatte. Heute war es etwas an­deres. Scheu blickte er auf und als er merkte, dass seine Be­gleiterin in den Anblick einer Fotografie vertieft war, er­laubte er seinen Augen, einige Momente auf der jungen Frau zu verweilen. Zusammengesunken, fast kauernd, saß sie auf einem der Plastikstühle und hielt das Bild mit beiden Hän­den geradezu andächtig vor ihr Gesicht. Ihre Lippen formten stum­­me Laute, fast, als würde sie allein in einer Kirche sitzen und innig beten. Sie war schlank, zierlich, aber nicht dünn. Ihr ebenmäßiges Gesicht wurde eingerahmt von einigen lo­ckigen Strähnen, die nicht wie der Rest ihrer blonden Haare in dem wilden Dutt an ihrem Hinterkopf gezähmt waren. Das Blau ihrer Augen konnte er auch aus dem ge­bo­tenen Abstand noch leuchten sehen, die Stupsnase, gerötet vom Ge­brauch zu vieler Taschentücher, stand gerade über dem kleinen, aber volllippigen Mund. Zerbrechlich wirkte das Mäd­chen, und erschöpft. Er kannte ihre Geschichte und wuss­­te, dass ihr das Leben in ihren jungen Jahren schon zu viel zugemutet hatte. Umstände, die ihr schon früh Verant­wor­tung abgerungen hatten, die Entscheidungen und Taten er­forderten, denen Menschen in ihrem Alter eigentlich noch nicht ausgesetzt werden sollten. Und wenn sich gleich hinter dieser Tür, die so abweisend kalt den Raum dahinter ver­schloss, die Vermutung bestätigen würde… ein weiterer Schick­­salsschlag für seinen Schützling, als den er sie zumin­dest für den Moment ansah. Da sie immer noch das Foto betrachtete, von dem er nur vermuten konnte, was darauf zu sehen war, studierte er die zarten Finger, die schlanken Bei­ne. Ihm fiel auf, dass sie die Füße, die in weinroten Stie­feletten steckten, ein wenig nach innen gedreht hatte, was ihre Ver­letzlichkeit in dieser Situation noch unterstrich.

Da waren sie nun: Er, wahrscheinlich kaum fünf Jahre älter als sie, und die blonde Frau, zwei Fremde, die sich erst kurz zuvor getroffen hatten, um an diesem unwirtlichen Ort zu­sammen zu warten. Zu warten, dass entweder eine schreck­liche Ahnung zur nicht minder schrecklichen Gewissheit würde oder aber, dass die Erleichterung einen Atemzug lang durch den Körper strömte, um dann der zernagenden Unge­wissheit wieder jenen Raum zu geben, der von allen anderen Gedanken Besitz ergriff.

Jetzt blickte sie auf, jedoch richtete sie ihre traurigen Augen nicht auf ihn, sondern auf die Uhr, die ihr gegenüber neben der Stahl­tür an der Wand hing. Was sie sah, löste keine er­kenn­­bare Reaktion aus: keine Langeweile, keine Ungeduld, keine Verärgerung. Wahrscheinlich schaute sie nur auf die Uhr, weil es Menschen, die auf etwas warten, einfach tun – und fragte man sie nach der Zeit, sie wüssten die Antwort nicht…

Hinter den Bullaugen veränderte sich das Licht ein wenig und kurz darauf öffnete sich ein Türflügel nach innen. In der Öffnung erschien ein Mann, vielleicht Anfang sechzig, unter­setzt. Sein langer weißer Kittel war schmuddelig, die Finger, die an der Tür zu sehen waren, ungepflegt. Um seinen Hals baumelte eine OP-Maske und die dicken Gläser seiner Weit­sichtbrille vermochten nicht, seinen glasigen Blick zu ver­schleiern. Ebenso wie die rote Nase und das aufgedun­sene Gesicht gab er davon Zeugnis, dass auch am heutigen Vor­mittag schon zu viel Vodka die Kehle des Rechts­medi­ziners benetzt hatte.

„модойдите сюда“, grunzte er kaum verständlich und ohne Begrüßung. Kommen Sie.

Er trat einen Schritt zur Seite.

Zögerlich erhob sich die junge Frau, sah unsicher zu dem Uniformierten und trat, nachdem dieser genickt und mit der Hand Richtung Tür gewiesen hatte, in den Raum. Der junge Mann blieb dicht bei ihr. Schüchtern sah sie sich um, wäh­rend sie dem Arzt zu einer Wand aus Kühl­fäch­ern folgte, de­ren Stahltüren ebenso abgenutzt und über­al­tert aussahen, wie die am Eingang. Sie fröstelte augen­schein­­lich, schob die gestrickten Pulswärmer bis über die Hand­fläche, stellte den Kragen ihres Mantels auf und zog den Schal etwas enger. Wie­der suchte sie Augenkontakt zu dem Beamten, der ihren Blick unbeholfen erwiderte und sich dann dem Kühlfach zu­wandte, an dem sich der bekittelte Mann zu schaf­fen mach­te. Die Tür schwang auf und eine Bahre wurde sichtbar. Ein La­ken, weiß und sauber, deckte den mensch­lichen Kör­per ab, der auf der metallenen Schublade lag. Der Pathologe zog sie heraus, bis etwa die Hälfte davon in den Raum ragte. Ohne Ankündigung, ohne vorbereitende Worte und ohne die Fra­ge, ob sie denn bereit sei, schlug er das Lei­nentuch zu­rück, so dass Kopf und Schul­tern einer jun­gen Frau zum Vorschein kamen. Der Tod war gnädig mit ihr ge­we­sen. Die an Alabas­ter erinnernde Haut war un­versehrt, die Augen und Lippen waren geschlossen. Sie strahl­te eine para­doxe Friedlichkeit aus, fast, als würde sie schlafen. Der Poli­zist konnte sich dem zarten Antlitz der To­ten ebenso nicht ent­ziehen wie zuvor auf dem Gang dem Anblick seines Schütz­lings. Trotz der schulterlangen, rot­gefärbten Haare der Verstorbenen war die ver­wandt­schaft­liche Bezie­h­ung zu seiner Begleiterin leicht zu erkennen. In­nerlich sank er ein wenig zusammen. Wie musste sie sich füh­len? Er sah hin­über und bemerkte, dass sie vor sich auf den Boden starr­te – sie hatte es noch nicht fertiggebracht, den Leichnam an­zu­sehen. Und wie sie da­stand, noch hilfloser und angreif­barer als zuvor, hätte er ihr die Notwendigkeit am liebsten erspart, auch wenn er wusste, dass dies nicht mög­lich war. Doch bevor er sich mit trösten­den Worten an die Frau wen­den konnte, raunte der ungedul­dig wirkende Arzt ein bar­sches „это ее?“ – Ist sie es?

Die Frau blickte auf und sofort zeigte sich der Schmerz auf ihrem Gesicht. Es dauerte eine Zeit, bis sie schweigend nickte und sich, bevor einer der beiden Männer es hätten ver­hin­dern können, nach vorne beugte und der Toten einen Kuss auf die Stirn gab. Dann wandte sie sich dem Polizisten zu, den die feste, fast entschlossene Stimme überraschte, als sie ihn bat, ihr genau zu erzählen, was passiert sei.

Kapitel III

Heute, 14 Jahre später

„Ich habe doch gleich gesagt, dass es keine gute Idee ist, zu diesem Treffen zu gehen!“ Holger Wohlfahrt sah seine Frau Iris nicht an, der vorwurfsvolle Ton erübrigte eine Verstär­kung durch einen scharfen Blick. Außerdem konnte er trotz des Ärgers, den er verspürte, den Anblick ihres ver­heulten Gesichts nicht gut ertragen, immerhin war sie es, die es in die­ser Situation am schwersten hatte, das musste er ohne Abstriche eingestehen. Aber warum Iris im Vorfeld geglaubt hatte, dass es bei diesem – dem x-ten – Versuch besser laufen sollte als die Male zuvor, konnte Holger sich nicht erklären. Ein harmonisches Zusammen­treffen mit ihrer Schwester und deren Mann hatte sie sich trotz der nieder­schmetternden Er­fahrungen gewünscht. Er hatte sich gleich gefragt, warum es auf einmal anders sein könnte. Warum Patrick sie diesmal nicht von oben herab behandeln sollte, sich nicht über seine Tätigkeit als Sachbearbeiter in dem Lo­gistikunternehmen lus­­tig machen und nicht das halbe Deputat von Iris an der Grund­schule kleinreden? Nicht über die faszinie­ren­den Rei­sen prahlen würde oder ihn nicht gönner­haft zu einer Probe­fahrt in seinem neuen Ferrari oder McLaren einzu­laden, da­mit Holger auch einmal im Leben dieses Gefühl haben konn­te? Er hatte Iris diese Frage gestellt, aber in ihr schien der Wunsch, von ihrer Schwester ein wenig Beachtung, Zunei­gung, vielleicht gar Anerkennung zu erhal­ten, so be­stim­mend zu sein, dass sie seine Bedenken ausge­blendet und das Tref­fen organisiert hatte. Im Waldesruh, jenem sündhaft teu­ren Schlosshotel weit abseits gelegen in einem engen Schwarz­waldtal, in dem sie sich jetzt bei wildem Schnee­treiben durch die immer höher werdenden Verweh­ungen in Richtung Frei­burg kämpften.

„Wir nehmen bei diesem Wetter selbstverständlich ein Zim­mer“, hatte Patrick spontan entschieden, obwohl es in Hol­gers Augen nichts gab, was den Mercedes G 4x42 seines Schwa­­gers hätte aufhalten oder in Gefahr bringen können. Doch sie mussten zurück nach Freiburg: Der Gutschein, den Iris von ihren Kolleginnen zum Geburtstag bekommen hatte, deckte nicht einmal die Hälfte der Kosten für das Abend­essen ab. Und so fanden sie sich, frustriert, genervt, er­nied­rigt und in Sorge um eine sichere Heimkehr in ihrem 2001er Renault Clio und schwiegen sich seit Holgers Fest­stellung gegenseitig an.

Die Bedingungen verschlechterten sich zu­sehends. Die Ne­belscheinwerfer halfen wenig dabei, die Straße unter der Schnee­­decke auszumachen, und wären nicht die schwarz-ro­ten Stangen am Fahrbahnrand gewesen, hätte man sich nicht sicher sein können, noch Asphalt unter den Rädern zu ha­ben. Wenn es so weiterging, würden sie bald nicht mehr vor­wärts­kommen. Schon jetzt schob der Clio mit seiner Front­schürze Schnee auf, der dann und wann von Windböen über die Motorhaube und die Windschutzscheibe geblasen wur­de. Nach und nach wurden Holgers Gedanken an den desas­trösen Abend verdrängt von Plänen und Szenarien, wie Iris und er die Nacht in dem Auto verbringen könnten, sollten sie tatsächlich nicht mehr weiterkommen. Er sinnierte über die Risiken und Chancen, die Temperatur im Wagen­inneren bei laufendem Motor aufrechterhalten zu können und ver­suchte einzuschätzen, wie lange der Tankinhalt im Leerlauf die lebenserhaltende Wärme wohl bereitstellen konnte.

„Vorsicht!“

Erschrocken trat Holger auf die Bremse und riss das Steuer herum, um der Gestalt auszuweichen, die wie ein Geist aus dem Dunkel vor dem Renault aufgetaucht war! Im Augen­winkel erkannte er in Sekundenbruchteilen ein zierliches Mäd­chen mit lan­gen, roten Haaren, die in ihrem weißen Nacht­hemd über der Straße zu schweben schien, dann schleu­derte der Wagen um die eigene Achse und das Bild verlor sich Schneegestöber. Doch als das Auto nach zwei kompletten Drehun­gen mit dem Heck in einen Schnee­berg prallte und entgegen der ursprünglichen Fahrtrichtung wie­der zum Stehen kam, erfassten die Scheinwerfer die groteske Erscheinung wieder! Etwa zehn Meter vor ihnen stand das Mädchen, fast noch ein Kind. Erst jetzt nahm Holger Details der Szenerie war: Das weiße Nachthemd schien an Bauch und Brust blut­durch­tränkt zu sein! Die Arme und Beine, die nackt aus dem dün­nen Stoff ragten, waren blau vor Kälte und das furchteinflößende Mes­ser, das das Mädchen in der Hand hielt, war ebenfalls blut­verschmiert! Doch das bei weitem Schlimm­ste war der ausdrucks­lose, irre anmutende Blick, mit dem die Unbekannte ins Wagenin­nere starrte. Erst als die Gestalt mit zombieähnlichen Bewegun­gen auf sie zu­wankte, hörte Holger die verzwei­felten Schreie seiner Frau auf dem Beifahrersitz.

Als das Klingeln ihres Mobiltelefons Sarah Hansen aus der ersten Tiefschlafphase riss, musste sie sich zuerst orien­tieren. Die vier Wochen zuvor hatte sie sich, den Resturlaub nutzend, um ihre Mutter gekümmert, die nach einem Bein­bruch aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen worden war. Sarah hatte selbst­verständlich in ihrem Elternhaus über­­­nachtet und war erst gestern Abend aus Kiel zurück­gekehrt. Und da sie die Woh­nung in ihrer Wahlheimat Frei­burg erst vor einem guten hal­ben Jahr bezogen hatte, war die Zeit im Norden lang ge­nug gewesen, um jetzt im schlaf­trun­kenen Zustand erst ein­mal stirnrunzelnd umher­blicken zu müssen. Doch nach wenigen Sekunden hatte sie die Ge­dan­ken sortiert, stand auf und steu­erte zielsicher die Tür zur Wohn­küche an, wo sie das Handy offensichtlich drei Stun­den zuvor vergessen hatte. Im Display sah die Polizistin die Nummer ihres Partners Tho­mas Bierman, mit dem sie, seit sie sich zur Kriminalpolizei in der Breisgaumetropole hatte versetzen lassen, zusammen­arbeitete. Dass ihr wortkarger Kol­lege um diese Uhrzeit bei ihr anrief, konnte nichts an­de­res bedeuten, als dass es einen Fall gab, bei dem ihrer beider Anwesenheit zwingend erfor­derlich war.

„Hallo Thomas, was gibt es?“, meldete sie sich.

„In einem Nebental zwischen Furtwangen und Titisee hat ein Ehe­paar fast ein Mädchen überfahren. Sie konn­ten aus­wei­­chen, ohne den Teenager zu verletzen, stehen aber selbst un­ter Schock. Ich bin schon auf dem Weg zu dir.“

„Und was haben wir damit zu tun?“, fragte Sarah, steuerte jedoch bereits wieder das Schlafzimmer an, um sich der ei­sigen Nachtkälte angepasste Kleidung zusammen­zusu­chen. Denn eins war sicher: Wenn Thomas anrief, um sie abzu­holen, war die Frage der Zuständigkeit eigentlich be­langlos. Es würde triftige Gründe geben und er würde recht bald bei ihr vor der Tür stehen.

„Es sind äußerst merkwürdige Umstände: Die Kleidung des Mädchens war mit Blut geradezu durchtränkt. Außerdem trug sie nichts außer einem weißen, ja, sagen wir Gewand und hatte obendrein ein merkwürdiges Messer bei sich.“

Sarah hatte bereits die Merinounterwäsche hervorgeholt, stell­te das Telefon auf Lautsprecher und streifte sich die war­me Unterkleidung über. Jetzt nahm sie die Skisocken und die etwas dickere Jeans aus dem Schrank und langte auch nach ihrem wärmsten Winterpullover.

„Hat das Mädchen irgendetwas gesagt? Ist sie an­sprech­bar?“

Sie begann, in die Sachen zu schlüpfen.

„Es war hochgradig unterkühlt, wurde von den Ret­tungs­sanitätern stabilisiert und ist auf dem Weg in die Kin­der­uniklinik. Wann bist du soweit?“

„Ich brauche noch drei bis vier Minuten. Wo bist du?“

„Ich biege gerade in deine Straße ein, stehe also gleich vor der Haustür.“

Das hatte Sarah in etwa erwartet. Sie beeilte sich, ihr Outfit zu komplettieren, stieg in die kanadischen Winterboots und steckte sich auf die Schnelle einen Apfel in die Tasche. Auch wenn es ihr überflüssig erschien, holte sie noch ihre Dienst­waffe aus dem Möbeltresor hervor, steckte sie in den Gürtel­holster, angelte den Schlüsselbund vom Küchentisch und verließ die Woh­nung. Durch die Fenster im Treppenhaus konnte sie sehen, dass es wieder heftig schneite und sich be­reits eine mehrere Zentimeter dicke Schneeschicht auf den parkenden Autos ge­bil­det hatte. Auf der ebenfalls ver­schneiten Straße fuhr ge­rade im Moment Thomas in dem brand­neuen Mercedes ML vor und hielt direkt vor der Haus­tür. Sarah trat hinaus in die Kälte und beeilte sich, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen.

„Hallo“, sagte sie, schlug die Tür zu und schnallte sich an.

„Grüß dich“, entgegnete ihr Partner und fuhr sofort los.

„Ich habe dich“, erläuterte er, „so kurzfristig informiert, weil ich erst noch Schwarz gebeten habe, das Kind in der Klinik in Empfang zu nehmen und Spuren zu sichern, be­vor sie vernichtet werden. Außerdem habe ich die Hunde­staffel or­ganisiert. Die werden wir bei diesen Bedingun­gen dringend brauchen, denn Spuren sind inner­halb einer halben Stunde zugeschneit. Zudem musste ich die Rettungs­sanitäter dazu bewegen, ein Stück Kleidung zu entfernen, wel­ches wir als Probe für die Hunde verwenden können. Sie haben sich ziemlich geziert, aber sie haben den Streifen­polizisten ein Stückchen dagelassen.“

Sarah war wie schon mehrfach zuvor von der Übersicht und der tadellosen Organisation Biermans beeindruckt. Den Rechts­­­mediziner Dr. Schwarz in die Klinik zu beordern und dafür zu sorgen, dass vor Ort die Spuren verfolgt werden konnten, war angesichts der unklaren Sachlage sehr vor­aus­schauend.

„Okay“, antwortete Sarah. „Da du nur von Unterkühlung gesprochen hast, gehe ich davon aus, dass das erwähnte Blut nicht von dem Mädchen stammt?“

„So ist es“, bestätigte Thomas. „Auf dem Messer, das die Polizisten vor Ort als merkwürdig bezeichnet haben, soll auch jede Menge Blut gewesen sein. Aber ganz offensichtlich stammt es nicht von dem Mädchen.“

„Konnte schon festgestellt werden, ob es sich um mensch­liches Blut handelt?“

„Nein. Aber die Skurrilität der Szenerie hat ausgereicht, dass die Streifenpolizisten es für angesagt hielten, die Kripo zu informieren. Und du kennst ja Gröber, wenn ein Fall das Potential hat, spektakulär zu werden, reißt er ihn sich unter den Nagel.“

Sarah musste lächeln, kannte sie doch die Profilneurose des Chefs nur allzu gut.

„Ist das Paar noch vor Ort?“, fragte sie, während Thomas in Richtung der Schnellstraße Richtung Höllental fuhr.

„Ja, auch wenn den beiden sicherlich recht kalt sein dürfte, habe ich darauf bestanden, dass sie dortbleiben. Im Umfeld der Vorkommnisse ist das Erinnerungsvermögen besser und wer weiß, welches Detail uns später weiterhilft.“

Trotz der fortgeschrittenen Zeit näherten sie sich einem Schneepflug, der vor ihnen die Straße freiräumte und am Heck Salz auf der Straße verteilte. Thomas schien die Ge­schwindigkeit des Räumfahrzeugs aber nicht auszurei­chen. Kurzum scherte er auf die noch schneebedeckte linke Spur und gab ordentlich Gas. Sarahs fragenden Blick von der Seite bemerkte er offensichtlich, denn er lächelte und mur­melte nur etwas von Allradantrieb und Winterreifen.

„Wo ist das Ganze denn eigentlich passiert?“, fragte Sarah, als sie am Ende der Schnellstraße auf die rechte Spur wech­selten.

„Gegen Ende des Höllentals müssen wir erst Richtung Furt­wangen abbiegen und dann in ein Seitental, dessen Na­men ich nicht kenne. Es führt wohl zu einem Schlossres­taurant ir­gendwo in den Tiefen des Schwarzwalds.“

Sorge darüber, dass auch irgendwann für das SUV der Schnee zu hoch liegen konnte, hatte er offensichtlich nicht.

Als sie die Gemeinde Kirchzarten hinter sich gelassen hatten und schon ins Höllental einfuhren, läutete Thomas` Mobilte­lefon und der Anruf sprang auf die Freisprecheinrichtung des ML. Die Nummer war beiden Polizisten bekannt.

„Schwarz, was haben Sie für uns?“, fragte Thomas den Rechts­­­mediziner ohne jegliche Begrüßung.

„Ich wollte Sie beide nur informieren: Die Kleine ist gerade angekommen“, informierte der Anrufer. „Sie scheint stabil, wird aber erst untersucht, ob nicht doch Verletzungen vor­liegen, die lebenserhaltende Maßnahmen erfordern. Danach kann ich mit der behandelnden Ärztin zusammen die Unter­suchungen vornehmen und Beweismaterial sichern. Sie ist sehr kooperativ.“

„Sehr gut!“, ließ Thomas zufrieden verlauten. „Stellen Sie bit­te so schnell wie möglich fest, ob das Blut an der Klei­dung des Mädchens menschliches Blut ist. Davon hängt unsere weitere Vorgehensweise ab.“

„Das werde ich“, versprach Schwarz. „Haben Sie sonst noch etwas, auf das ich im Besonderen achten soll?“

Thomas wandte Sarah den Kopf zu und sah sie fragend an.

„Fesselungsspuren werden Ihnen ja sicherlich ohnehin auf­fallen“, meinte er, fügte aber einer Intuition folgend noch eine Bitte hinzu.

„Ist ein Tox-Screening Standardprocedere? Ich würde gerne überprüft haben, ob Sedativa oder andere Betäubungsmittel nachzuweisen sind“, fragte Sarah.

„Werde ich an das Labor weitergeben. Und die Finger­ab­drücke sowie physiologische Daten werde ich Ihnen zu­kom­men lassen, dass Sie so schnell wie möglich bei den Vermiss­ten­meldungen und in der Datenbank forschen können.“

Schwarz hatte aus den Nachfragen geschlossen, dass die Polizistin einen Zusammenhang mit einem Vermisstenfall oder gar einer Entführung für möglich hielt.

„Sehr gut, danke“, quittierte Thomas den Vorschlag.

„Die Ärztin kommt gerade aus dem Untersuchungsraum, ich lege jetzt auf“, unterbrach Schwarz das Telefonat und es klickte in der Leitung.

Während der nächsten zwanzig Minuten, die die Polizisten schweigend nebeneinandersaßen, wurden die Straßen im­mer schmaler, der Wald immer dichter und die Schneehöhe erreichte geschätzte vierzig Zentimeter. Trotzdem kamen sie in der weißen Winterlandschaft zügig voran. Sarah, für die es der erste Winter im Schwarzwald war, beobachtete inter­essiert das Spiel von Licht und Schatten, das die Schein­wer­fer auf Straße und Bäume vor ihnen zauberte. Die Sze­nerie löste ambivalente Gefühle in ihr aus. Zum einen spürte sie einen tiefen Frieden, strahlten die unberührte Schnee­decke und die dicken, nieder­sinkenden Flocken doch etwas Be­ruhigendes, fast Weihnachtliches aus. Ein Gefühl von Ge­bor­genheit, einer warmen Stube mit einem knis­ternden Kamin­feuer. Zum anderen aber erschienen ihr die bewegten Schat­ten zuweilen wie flüchtige Geister oder bös­artige Krea­turen, die vor dem Licht des SUV zu fliehen such­ten. Sie stell­te sich vor, was für ein Schock es für das Ehepaar gewesen sein muss­te, als plötzlich die blutver­schmierte Ge­stalt auf der Straße aufgetaucht war, und sie fröstelte unwill­kürlich. Ja, der Wald hatte auch eine sehr be­drohliche Aus­strahlung!

Nach einer Kurve, die Thomas Bierman mit leicht ausbre­chen­dem Heck etwas zu schnell durchfuhr, war in gut ein­hun­dert Metern Entfernung ein Blaulicht zu erkennen. Aus der Ent­fernung sah es aus, als wäre die Stelle, an der auch zwei Fahr­zeuge zu erkennen waren, aus einer Märchener­zählung ent­nommen, in der ein Zauberer mit blauen Blitzen die schnee­bedeckten Bäume mystisch zum Leuchten brachte. Ob ihr Partner ebenfalls von dem fast magischen Schauspiel gefes­selt war, oder er einfach gerade nichts mitzuteilen hatte, ver­mochte Sarah nicht zu entschei­den. Aber er starrte auch durch die von den Wischblättern vom Schnee freigehaltene Wind­schutz­­s­cheibe und sprach kein Wort, bis der ML hinter dem Einsatzfahrzeug der Polizei zum Stehen kam.

„Da wären wir“, sagte er kurz, zog sich den Kragen seines Parka fester zu und stülpte sich die Kapuze über. Dann öff­nete er die Tür und stieg aus. Sarah folgte seinem Beispiel und optimierte den Sitz ihrer Kleidung, verließ das Fahrzeug und stapfte neben ih­rem Partner auf den Polizeiwagen zu, der mit laufendem Mo­­tor sowohl den zwei Polizisten als auch offensichtlich dem unbekannten Ehepaar Wärme und Schutz bot. Thomas klopfte an die Scheibe. Als das Glas her­untergefahren war und einen mehrere Zentimeter hohen Schneerand im Rah­men stehen ließ, bat Thomas zunächst das Paar auszusteigen und zu schildern, was ihnen wider­fahren war. Erstaunlich ge­lassen berichteten die beiden von dem Vorfall und zeigten auch, wo das Mädchen zum ersten Mal aufgetaucht war, wie ihr Fahrzeug ins Schlittern geriet und an die Stelle rutschte, an der es immer noch stand.

„Wie haben Sie danach mit dem Kind interagiert?“, fragte Sarah.

Der Mann blickte kurz zu seiner Frau und antwortete, nach­dem diese ihm zugenickt hatte.

„Zunächst haben wir nur dagesessen, im Schock sozusagen, denn es sah unheimlich gruselig aus, wie diese Gestalt mit dem Messer in der Hand auf uns zugetorkelt ist.“

Er schüttelte sich ein wenig

„Aber wir haben recht schnell bemerkt, dass das Mädchen orientierungslos war und sich in einer Notlage befand. Ich bin ausgestiegen und habe es angesprochen.“

„Hat es irgendwie reagiert?“, hakte Thomas nach.

„Es hat aufgeschaut, aber eher durch mich durch. Ich bin ganz langsam zu ihm gegangen und habe leise und be­schwich­­­­tigend auf es eingeredet.“

„Sie haben sich ihr trotz des Messers genähert? Das ist mu­tig!“ stellte Sarah fest.

„Ja, aber es war doch ganz offensichtlich noch fast ein Kind. Aber vor­sichtig war ich trotzdem, das können Sie mir glau­ben. Meine Frau hat auch gerufen, ich solle von ihm fernblei­ben.“

Er warf einen Blick auf seine Partnerin, die sofort anfing, sich zu verteidigen.

„Ich hatte so eine Angst um ihn! Diese groteske Situation, wir zwei allein hier im verschneiten Wald…man hat schon so viele entsetzliche Geschichten gehört.“

„Und 99,99 Prozent davon sind Urban Legends“, ließ Thomas verlauten, doch Sarah beschwichtigte die Frau.

„Ich hätte auch große Sorge gehabt, werfen Sie sich nichts vor.“ Dann wandte sie sich wieder dem Mann zu, der gerade den frischen Schnee von der Mütze schüttelte.

„Wie haben Sie das Mädchen entwaffnet?“

„Es hat das Messer in den Schnee fallen lassen und ist schnur­­stracks auf mich zu gelaufen, da habe ich es in den Arm ge­nommen und festgehalten. Daraufhin stieg meine Frau aus, wir haben es ins warme Auto gebracht und die Heizung weiter aufgedreht.“

„Ich habe“, warf die Frau ein, „es mit auf den Rücksitz ge­nommen und die ganze Zeit im Arm gehalten, während Hol­­ger den Notruf gewählt hat. Gott sei Dank hat man hier einigermaßen Empfang.“

Sarah und Thomas nickten wissend, gab es in den dünn besiedelten Ecken des Schwarzwalds noch so einige Funk­löcher.

„Hat das Mädchen irgendetwas gesagt, während Sie mit ihm zusammen waren?“, wollte Thomas wissen.

Beide schüttelten den Kopf.

„Nicht ein einziges Wort. Es hat auch keine Emotionen wie Weinen oder Schreien gezeigt, ließ sich einfach von mir festhalten.“ Der Frau standen Tränen der Rührung in den Au­gen.

„Als dann die Sanitäter kamen, ließ es sich widerstandslos aus den Armen meiner Frau nehmen und in den Rettungs­wagen bringen“, beendete der Mann den Bericht.

„In Ordnung.“ Thomas schien mit der Befragung zufrieden. „Machen Sie sich auf den Heimweg, wir brauchen Sie im Moment nicht mehr. Ihre Personalien haben wir?“

Der Mann nickte, Thomas deutete die Straße hinunter.

„Glauben Sie, die Spur, die wir mit dem SUV ge­zo­gen haben, reicht aus, um sicher zu den Hauptstraßen zu kommen?“

Der Angesprochene sah sich den Weg hinter dem Mer­cedes an, wo die Schneise, die die beiden Krimina­lbeamten zuvor gebahnt hatten, bereits wieder weichere Konturen annahm.

„Ja, das schaffen wir“, entgegnete er, den skeptischen Blicken seiner Frau zum Trotz, und stieg in den Wagen. Als auch sei­ne Begleitung eingestiegen war, gelang es ihm nach einigen An­läufen und mit durchdrehenden Reifen, an den beiden Poli­zei­­fahrzeugen vorbeizumanövrieren und schließ­lich auf dem festgefahrenen Schnee ohne sichtbare Beein­träch­ti­gung weiterzufahren.

Als die Rücklichter in der Dunkelheit verschwunden waren, stiegen Sarah und Thomas kurzerhand in den Streifen­wa­gen.

„So, Kollegen. Zeigen Sie uns doch als erstes das Messer, welches das Kind bei sich gehabt hat.“

Der Uniformierte auf dem Beifahrersitz langte in den Fuß­raum und reichte eine transparente Beweismitteltüte nach hinten. Sarah nahm die Stichwaffe entgegen. Sie und ihr Part­­ner betrachteten das blutverschmierte Corpus Delikti eine Weile. Dann ergriff Sarah das Wort.

„Das ist eher ein Dolch als ein Messer.“

Sie hielt die einschneidige, spitze Waffe näher an die Fond­beleuchtung des Autos.

„Der sieht aus, als käme er direkt aus einem Fantasyfilm. Aus Herr der Ringe oder so.“

Thomas nickte bekräftigend.

„Ja, er erinnert an eine rituelle Waffe, eine Art Opferdolch.“

Schweigend studierten sie Klinge und Griff des Objekts, die reich verziert und mit seltsamen Symbolen graviert wa­ren. Die beiden bemühten sich, die Geschehnisse und die Waffe in einen plau­siblen Kontext zu bringen. Nach einigen Mi­nuten trafen sich ihre Blicke und Thomas sagte:

„Du zuerst!“

Sarah nahm die Einladung gerne an und begann, ohne auf die schweigend auf die in der Front sitzenden Beamten zu achten, ihre Theorie vorzutragen.

„So grotesk das auch klingen mag, aber ist es möglich, dass das junge Mädchen an einer rituellen Zeremonie teilge­nom­men hat? Sie nach Vollzug an dem Opfer, sei es ein Tier oder ein Mensch einen Schock erlitt und verwirrt in den Wald lief?“

„Genau diesen Gedanken hatte ich auch.“ Er sah un­ge­duldig auf die Uhr.

„Wir brauchen dringend die Hunde und auch die Spu­ren­sicherung. Ich bin sicher, dass es einen Tatort zu finden gibt.“

Jetzt erst wandte sich Thomas an die Beamten auf dem Fah­rer- und Beifahrersitz.

„Haben Sie noch etwas bemerkt, was Ihnen aufgestoßen ist oder was für uns von Relevanz sein könnte?“

Zwei übermüdete Augenpaare trafen sich, dann drehten sich beide nach hinten um und schüttelten den Kopf.

„Nicht, dass ich mich an etwas erinnern könnte“, sagte der ältere Polizist auf dem Fahrersitz.

„Okay, dann wären Sie beide eigentlich hier fertig. Den voll­ständigen Einsatzbericht bitte an das K11 zu meinen Hän­den.“

Nachdem er ein verlangsamtes, fast resigniertes Nicken entgegengenommen hatte, setzte er im Laufe des Montagvor­mittags hinzu, woraufhin die Gesichter der Poli­zisten deut­lich entspannter wirkten. Sarah nahm diese ver­ständ­nisvolle Geste ihres Partners ein wenig erstaunt aber erfreut wahr, ließ Thomas doch für gewöhnlich keine Ver­zö­gerungen oder Entschuldigungen zu, wenn es um be­ruf­liche Anweisungen ging. Der Uniformierte auf dem Beifah­rersitz übergab Tho­mas, der die Tür bereits geöffnet hatte, einen wei­teren Beutel, in dem ein Stück weißer, mit Blut be­schmutzter Stoff zu se­hen war.

„Dankeschön! Ihnen einen stressfreien Abend“, wün­schte Sarah den Beamten, nachdem ihr Kollege den Wa­gen gruß­los verlassen hatte. Sie stieg ebenfalls aus, setzte sich zurück in den ML und beobachtete das Wendemanöver des Ein­satz­fahrzeugs. Noch bevor der Wagen außer Sicht war, kün­­digte eine Komposition aus gelben und blauen Blink­lichtern die Ankunft der Hundestaffel und der Kriminal­tech­nik an. Vo­raus fuhr ein ziviler Schneepflug, den die Kollegen ir­gend­wie zu dieser nächtlichen Stun­de orga­nisiert hatten. So­fort nahm sich Thomas eine Ta­schen­lampe und das mobile Funk­gerät. Dann stieg er aus, um das städt­ische Fahrzeug und die ihm folgenden Wagen der Polizei vor der Stelle zu stoppen, an dem das Mädchen aus dem Wald aufgetaucht war. Sarah rüstete sich ebenfalls mit Walkie­Talkie und Ta­schenlampe aus und verließ den Wagen. Noch während ihr Partner den Schneepflug anwies, zu wenden und die Straße weiter frei­zuhalten, verließen zwei in Winteruniformen ge­packte Be­amte der Hundestaffel das erste Fahrzeug und gin­gen in Rich­tung der Hecktüren des Kastenwagens. Sogleich war aufgeregtes Gebell zu hören. Auch dem Wa­gen der Spu­ren­sicherung entstiegen den Witterungs­verhält­nissen ent­sprech­end gekleidete Polizisten. Thomas wandte sich an die Kollegen.

„Guten Abend, oder besser: Guten Morgen zusammen. Wir haben folgende Situation: Dort vorne“, er wies auf die Stelle, die das Ehepaar zuvor gezeigt hatte, „ist es zu einem Bei­na­he­unfall mit einer Minderjährigen gekommen, die nur mit einem Nachthemd bekleidet und einem Messer in der Hand aus dem Wald aufgetaucht ist. Die Kleidung war mit einer ziemlichen Menge an Blut beschmutzt. Das Mädchen hat sich nicht zu dem Vorfall äußern können, aber wir vermuten in der Umgebung einen wie auch immer gearteten Tatort. Das bedeutet: Die Hunde gehen voraus, um die Spur auf­zu­neh­men. Meine Partnerin und ich folgen, um gegebenenfalls den Tatort zu sichern. Sie von der Spusi haben also noch etwas Zeit, um Ihre Ausrüstung zu packen. Wir rufen Sie, wenn wir etwas finden, das kriminaltechnisch unter­sucht werden muss. Kanal 48.“

Er stöpselte den Kopfhörer in das Gerät und drückte sich den Lautsprecher in den Gehörgang. Dann winkte er mit dem Funkgerät und wandte sich an die Hundeführer.

„Ich habe eine Geruchsprobe, die sowohl von dem Kind als auch von unbekanntem Blut kontaminiert ist.“

Sarah zog die Tüte aus ihrer Tasche und zeigte sie den Be­amten.

„Das Mädchen war wohl barfuß unterwegs. Entscheiden Sie, welcher Ihrer Vierbeiner am besten geeignet ist.“

Die beiden sahen auf das Stück Stoff in dem Beutel, blickten einander kurz an und schienen wortlos übereingekommen zu sein.

„Das mache ich mit Connor“, sagte der jüngere Hunde­füh­rer, ging um den Wagen herum und erschien kurz darauf mit einem Australian Shepherd Rüden. Der Ältere nahm Sarah die Tüte ab, öffnete sie und ließ den Hund die Schnau­ze hin­ein­stecken. Dieser schnüffelte, zog nach einer knappen hal­ben Minute die Nase aus der Tüte, setzte sich auf die Hin­terläufe und wartete.

„Such!“

Es dauerte nicht lange, bis Connor anschlug, und den Er­zäh­lungen der Zeugen zufolge musste dies die Stelle gewe­sen sein, wo das Kind das Messer hatte fallen lassen. Der Hunde­führer blickte fragend in Sarahs und Thomas` Rich­tung. Letz­terer bedeutete dem Kollegen, den Hund weiter­suchen zu lassen. Wieder vergingen keine fünf Minuten, bis der Vier­­beiner sein Herrchen schnurstracks von der Straße weg in den Wald zog.

„In Ordnung“, meinte Sarah und schaltete die Taschen­lam­pe ein. „Dann mal los.“

„Ohrhörer rein und Funkgerät auf VOX stellen! Ich möchte nicht, dass wir uns lautstark unterhalten müssen. Handys auf lautlos!“

Während Sarah und der Beamte der Hundestaffel der Auf­for­derung nachkamen, kramte Thomas noch sein Smart­phone aus der Tasche, aktivierte die GPS gestützte Strecken­aufzeichnung und ließ ebenfalls die Lampe aufleuchten. Dann folgten sie Connor in kurzem Abstand ins Dickicht des Waldes.

Auch wenn unter den hohen Tannen, um die sie der Spür­hund leitete, nicht ganz so viel Schnee lag wie auf der Straße, war es anstrengend, sich durch den Wald zu bewegen. Was von den Flocken am Boden ankam, reichte allemal aus, um die Spuren des Kindes innerhalb der letzten zwei Stunden unkenntlich zu machen. Zusammen mit dem Altschnee, der in den vorangegangenen Tagen im Süd­schwarzwald nieder­gegangen war, bildete er einen an­spruchs­vollen Untergrund für die Vierergruppe. Allein Con­nor, der mit der Schnauze den Neuschnee durchpflügte, brach nicht tief ein. Manchmal versanken die Polizisten bis zur Hüfte in der weißen Pracht und Sarah begann sich zu fragen, wie das Mäd­chen es über­haupt bis zur Straße geschafft hatte. Wahr­scheinlich, so mut­maßte sie, war das Kind wie auch der Vier­beiner einfach nicht schwer genug gewesen, um die knapp unter dem Neu­schnee liegende, angefrorene Schicht zu durchbrechen und einzusinken. Während sie sich wieder ein­mal aus einem Loch befreite und etwas zurückblieb, sah sie, wie ihr Partner und der Hunde­führer mit ihren Lampen ge­radezu ge­spens­tische Szenen heraufbeschworen. Mal mu­tierte der Schat­ten des Hundes zu einer übergroßen Bestie, die mit geöffnetem Maul alles zu verschlingen versuchte, mal wurde einer der Kollegen zu einem riesigen Troll, der von Baum zu Baum sprang, bereit, alles und jeden mit seiner gewaltigen Keule zu zer­schmet­tern! Da es selbst Sarah bei diesem Schau­spiel ein wenig mulmig wurde, war sie einer­seits froh, dass das Mädchen im Dunkel der Nacht unter­wegs gewesen war. Allerdings wurde ihr schnell gewahr, dass sie in fast abso­luter Dunkelheit von einem Baum zum nächsten ge­stol­pert sein musste, vollkommen orientierungs­los und ohne er­kenn­bares Ziel; vor Kälte zitternd, mit halber­frorenen Glied­­­ma­ßen, das Messer wie eine Art Rettungsring krampf­haft um­klammernd. Sarah schüttelte sich.

Dann doch viel lieber so, dachte sie und beeilte sich, zu ihren Kollegen aufzuschließen.

„Licht aus!“, zischte Thomas ohne Ton aber mit viel Druck in der Stimme, dass sowohl Sarah als auch der Hundeführer die Aufforderung gut hören konnten. Fast gleichzeitig er­lo­schen die Taschenlampen der drei Polizisten. Keiner von ih­nen regte sich! Das einzige Geräusch, das wahrzunehmen war, war das Hecheln des Hundes, welches über die Schnee­decke merkwürdig gedämpft an die Ohren drang. Nach etwa einer Minute bemerkte Sarah, dass sie begann, Konturen wahr­zunehmen. Erstaunt stellte sie fest, dass offensichtlich trotz der Dunkelheit und der Wolkendecke ein klein wenig Restlicht des Mondes den Waldboden erreichte. Jetzt erkann­te sie auch, warum ihr Partner sie aufgefordert hatte, die Lampen auszuschalten: Etwas entfernt, es mochten weitere einhundert Meter sein, war ein erleuchtetes Fensterkreuz zu erkennen, das leicht flackernd zwischen den Bäumen zu schweben schien. Wie groß die Behausung, oder was auch immer sich dort befinden musste, war, konnte Sarah nicht sagen. Vom Bauwagen bis hin zu einem Schwarzwaldhof hielt sie alles für möglich. Langsam bewegte sie sich auf Thomas zu, der immer noch an der Stelle verharrte, von der aus er das Licht entdeckt hatte.

„Und tut sich dort etwas?“, fragte Sarah, als sie ihren Partner erreicht hatte.

„Hat man uns entdeckt?“

Thomas schüttelte den Kopf.

„Gerührt hat sich bisher nichts. Keine Silhouette hinter dem Fenster, keine Tür, die sich geöffnet hat oder Ähnliches. Viel­leicht ist niemand da. Oder aber man hat un­sere Taschen­lam­pen nicht bemerkt. Steuert der Hund die­se Hütte dort an?“

Der Hundeführer drehte sich um.

„Ja, Connor zieht schnurstracks in Richtung dieses Fensters. Von dort ist das Mädchen gekommen. Oder sie lief in der Nä­he daran vorbei.“

„Dann sehen wir uns das einmal genauer an“, entschied Tho­mas und setzte seinen Weg fort. Sarah und der Hunde­führer folgten ihm. Alle behielten das flackernde Licht und dessen Umgebung scharf im Blick und als Thomas seine Waffe zog, durchlud und vor sich hielt, taten Sarah und der Kollege es ihm gleich. Es hatte mittlerweile aufgehört zu schne­ien und als sich das Trio plus Vierbeiner bis auf knappe fünfzig Meter angenähert hatten, konnten sie erkennen, dass es sich bei dem Gebäude um eine Waldhütte handelte, ein­stöckig, aber doch recht groß. Anhand der Anzahl der un­beleuchteten Fenster mochten es drei, vielleicht sogar vier Räume sein. Einer davon, am rechten Ende des länglichen Gebäudes, war möglicherweise eine Küche oder zumindest mit einer Möglichkeit zu heizen ausgestattet, denn an der rechten Seitenwand ragte ein Kamin in die Höhe. Dass dieser in Betrieb war, erkannten die Polizisten erst jetzt, offen­sichtlich hatte eine leichte Brise den angenehmen Geruch von Buchenfeuer von ihnen weggetrieben. Außerdem war in diesem Raum ein leich­tes Flackern zu erkennen, deutlich dezenter als in dem Fenster am anderen Ende des Hauses; es entsprang wohl ei­nem Ofen oder Herd. Die Hütte befand sich nicht auf einer Lichtung, sondern war von Wald um­geben. Wahr­schein­lich hatte man nur eine Anzahl Bäume gefällt, um Platz für die Behausung zu schaffen. Allerdings verriet eine relativ schma­le Schneise, die sich neben der Hüt­te im Dunkel verlor, dass dieser Ort auch mit dem Auto zu erreichen war. Sicher nicht mit einem gewöhnlichen Fahr­zeug, aber mit einem tauglichen Geländewagen und der rich­tigen Berei­fung moch­­te dieser Weg durchaus befahrbar sein. Und wenn der Anschein nicht trog, hatte ein solches Auto vor nicht allzu lan­ger Zeit den Weg benutzt; es waren zwei pa­rallele Ver­tiefungen zu erahnen, wo der Neuschnee ein biss­chen we­niger an Höhe erreicht hatte, als auf dem Rest der Fläche.

„Sie gehen einmal um das Haus und klären ab, ob es eine weitere Tür gibt“, wies Thomas den Hundeführer an. „Und sorgen Sie dafür, dass der Hund nicht Laut gibt!“

Der Angesprochene nickte, vermittelte dem Australian She­ph­erd mittels einer Geste, dass er nicht mehr anschlagen muss­­te, und entfernte sich von Thomas und seiner Partnerin.

„Was glaubst du, erwartet uns da drinnen?“, fragte Sarah ihren Kollegen. Ihre Stimme war nicht mehr als ein leises Flüs­tern.

„Keine Ahnung!“, lautete die lakonische Antwort.

„Meinst du, wir finden dort tatsächlich Spuren, die auf die Anwesenheit des Mädchens hindeuten?“

Thomas wandte sich ihr zu und rümpfte die Nase.

„Ich habe mehrere Ideen, wie es da drin aussehen könnte, und keine davon gefällt mir sonderlich.“

Kapitel IV

Professor Doktor Schwarz, Leiter der Rechtsmedizin an der Uni Freiburg, sah mit hoffnungsvollen Augen auf die junge Ärztin, die aus dem Behandlungszimmer kam, sich kurz umsah und dann auf ihn zuschritt.

„Physisch gesehen geht es der Patientin bis auf die leichten Erfrierungen und eine mittelschwere Unterkühlung gut“, be­gann sie ohne Umschweife. „Sie weist bis auf die eindeutigen Fesselspuren an Hand- und Fußgelenken keinerlei äußere Verletzungen auf, hat guten Pupillenreflex, Greifreflex, re­agiert auf Ansprache mit Drehung des Kopfes. Sie ist gefügig bezüglich meiner Anweisungen, ich meine, sie tut, was ich ihr zeige. Aber sie spricht nicht! Es ist ein mittelschwerer Zu­stand von Lethargie. Sie reagiert nicht auf Fragen, die eine Antwort oder Geste wie Nicken oder Kopfschütteln erfor­dern. Wenn ich sie bitte, den Arm zu heben, tut sie nichts, bis ich ihr den Arm führe. Das lässt sie aber bereitwillig zu.“

Schwarz runzelte die Stirn. Diese Art, auf ein Trauma zu re­agieren, kam, neben einer in unterschiedlichen Ausprä­gun­gen auftretenden Lethargie, gelegentlich vor.

„Nicht ungewöhnlich“, sagte er. „Wir wissen zwar nicht, was ihr widerfahren ist, aber die Kollegen vor Ort vermuten, dass es etwas Schreckliches gewesen sein muss. Sie haben die Kleidung ja ebenfalls gesehen. Nichtsdestotrotz müssen wir so schnell wie möglich mit der Beweissicherung anfangen. Ich habe leider derzeit keine medizinische Mitarbeiterin. Wür­den Sie mich unterstützen?“

„Natürlich! Aber gestatten Sie mir eine Frage. Sie erinnern sich nicht an mich?“

Der Rechtsmediziner musterte die Ärztin einen Moment eindringlich.

„Ja, Sie kommen mir irgendwie bekannt vor“, gab er von sich. „Sie saßen sicher während des Studiums in einem mei­ner Kurse zum Thema Rechtsmedizin?“

Die Frau lachte.

„Ja, das auch. Außerdem haben Sie mich mündlich geprüft. Vier Jahre ist das her, damals wog ich satte 20 Kilo mehr, hatte noch kurzes Haar und war blond.“

Jetzt klickte es bei Schwarz.

„Saskia Fichter!“, brach es aus ihm heraus. „ich erinnere mich! Ich gab Ihnen damals eine Eins.“

Die Ärztin wiegte den Kopf ein wenig hin und her.

„Eine Eins minus“, korrigierte sie und lächelte. „Und dass ich nicht mehr Fichter heiße, sondern Wiese, hat es Ihnen ne­ben den Haaren sicher nicht leichter gemacht.“

Der Rechtsmediziner nickte zustimmend.

„Ja, das stimmt. Brünett steht Ihnen aber gut! Nun, dann sind Sie ja geradezu prädestiniert, die Beweise abzunehmen. Eine Frage vorweg: Haben Sie das Mädchen schon gynä­ko­logisch untersucht?“

Dr. Wiese nickte.

„Ja, und zwar ohne Befund. Ich meine, keinerlei Anzeichen eines sexuellen Missbrauchs. Das Hymen ist intakt, sie ist de­finitiv noch Jungfrau.“

„Gott sei Dank!“, entfuhr es Schwarz. „Wenigstens ist ihr das erspart geblieben. Einen Moment bitte.“

Er griff nach seinem Handy, das stummgeschaltet in seiner Kitteltasche vibrierte.

„Ja, Mustafa?“, meldete er sich und lauschte dem Gegen­über.

„Haben Sie Bierman schon Bescheid gegeben?“, hakte er nach.

Das Gespräch war kurz. Als Schwarz aufgelegt hatte, sah er mit ernster Miene zu Dr. Wiese hinüber.

„Das war ein Mitarbeiter des kriminaltechnischen Labors, dem schon eine Blutprobe gebracht wurde. Er ist schnell und gut, und er hat herausgefunden, dass es sich bei dem Blut auf der Kleidung des Mädchens und auf dem Messer, das es bei sich trug, eindeutig um menschliches Blut handelt! Ich wage mir gar nicht auszumalen, was die Kleine hat ansehen müs­sen!“

„Schrecklich!“, pflichtete Dr. Wiese bei. „Wollen wir los­le­gen?“

Sie schritt voran und führte den Rechtswissenschaftler zu dem Behandlungsraum, aus dem sie kurz zuvor gekommen war. In dem einzigen Bett lag mit aufgerichtetem Oberkörper das etwa vierzehn Jahre alte Mädchen unter einer Schicht war­mer Decken, und ein Bedienmodul, das am Bett hing, zeig­­­te an, dass auch eine Heizdecke in Betrieb war. Außer ei­ner Fingermanschette, welche die Sauerstoffsättigung und den Puls auf einen Monitor übertrug, war die Patientin an keine weiteren Geräte angeschlossen. Die Schwester, die ne­ben der Jugendlichen auf der Bettkannte saß und ihr die freie Hand hielt, sah auf, als die beiden Ärzte eintraten. Auch das Mädchen hob den Kopf und wandte sich der Tür zu, ihr Blick aber war leer und ausdruckslos und sie zeigte keinerlei Mi­mik.

„Da bin ich wieder“, flötete Dr. Wiese in fröhlichem Tonfall, um die Situation gar nicht erst bedrückend oder beängs­ti­gend werden zu lassen.

„Und wie ich dir gesagt habe, habe ich dir einen netten Herrn mitgebracht, der sich deine Arme, Hände und Füße anschauen möchte. Hab keine Angst, du brauchst dich nicht aus­zuziehen!“

Ob das Mädchen die an sie gerichtete Erklärung verstand, war in keiner Weise festzustellen. Kaum waren die Worte der Ärz­tin verklungen, sah sie wieder mittig auf die Bettdecke vor sich, ohne dass eine Regung auf dem Gesicht zu erken­nen gewesen wäre. Sie zuckte nicht einmal zurück, als die Ärztin vorsichtig ihren rechten Arm von der Bettkante auf­nahm und ihrem Kollegen das Handgelenk zeigte, an dem sich blauunterlaufene Einschnürungen abzeichneten. Sogar das Muster eines sehr groben, dicken Stricks oder Seils war zu erkennen. Schwarz winkte seine Kollegin in eine Ecke des Raumes und besprach sich mit ihr in gedämpfter Lautstärke.

„Hatten die Sanis die Hände in Plastiktüten gepackt?“, frag­te Schwarz hoffnungsvoll.

Mit einem belustigten und gespielter Empörung durch­setz­ten Blick sah Wiese den Rechtsmediziner an.

„Ihnen merkt man aber auch an, dass Sie sonst nur an Lei­chen arbeiten“, gab sie zurück. „Selbstverständlich nicht, schließ­lich muss­te die junge Frau erst mal stabilisiert wer­den.“

Schwarz zuckte die Schultern.

„Machen Sie bitte trotzdem einen Abstrich rund um das Gelenk und sehen Sie sich die Schürfmale unter der Lupe an. Vielleicht lässt sich ja doch noch ein Faserstück finden. Die Fingernägel?“

Die beiden Mediziner traten wieder ans Bett und Dr. Wiese nahm die Hand des Mädchens behutsam, ja fast zärtlich, und hob die Fingerspitzen ins Licht. Es waren im­mer noch Reste von dem Blut zu erkennen, das wohl nur not­dürftig wegge­wischt worden war.

„Nichts zu sehen, ich nehme natürlich trotzdem Proben“, sagte die Ärztin und begann, das Gelenk mit einer Lupe ab­zusuchen. Schwarz sah ihr interessiert zu, wie sie im An­schluss ge­schickt ein steriles Tuch nahm, um das Hand­ge­lenk fuhr und es in eine Beweismitteltüte gleiten ließ.

„Meinen Sie nicht, bei den Mengen an Sanguis ist eine Tat­ort­zuordnung auch ohne weitere forensische Spuren eindeu­tig?“, fragte sie, während sie mit dem Fuß des Mädchens auf die gleiche Weise verfuhr. Um das Mädchen nicht zu ver­schrecken nutzte sie bewusst den medizinischen Fach­aus­druck für Blut.

„Sicher“, bestätigte Schwarz. „Aber meist gilt es, ver­schie­dene andere Dinge ebenfalls forensisch in Verbindung zu brin­­gen. DNA von Drittpersonen, die Eigentümerschaft be­ziehungsweise den Lagerort des Seils, vielleicht sogar die Einzigartigkeit eines Knotens. Deswegen machen Sie auch bitte Makroaufnahmen jeder einzelnen Druckstelle. Eine ent­sprechende Kamera habe ich dabei. Stopp!“

Wiese hielt inne.

„Hatten die Sanis einen Zugang am Fuß der Patientin ge­legt? Oder Sie hier in der Klinik?“

Die Angesprochene schüttelte den Kopf.

„Ich sehe, was Sie meinen“, kam sie Schwarz zuvor und deu­tete auf einen Punkt am Spann des Fußes, um den sich ein blau­er Fleck gebildet hatte.

„Als sie eingeliefert wurde, waren ihre Gliedmaßen noch kälteinduziert zyanotisch, da ist mir das nicht aufgefallen.“

Sie beäugte die kleine Wunde mit der Lupe.

„Ja, das wird ein Zugang gewesen sein. Mit einer sehr dün­nen Kanüle.“

„Machen Sie ein Foto!“, ordnete Schwarz an. „Wird bei dem Tox-Screening auch auf BTM getestet?“

Wiese hob den Kopf.

„Sie glauben, dass sie über diesen Zugang anästhesiert wur­de? Wäre denkbar. Und ja, auch diese Werte habe ich ange­fordert.“

„Sehr gut!“, kommentierte der Rechtmediziner und reichte seiner Kollegin die digitale Spiegelreflexkamera. Bevor diese den Apparat entgegennahm, warf sie einen prüfenden Blick auf die kleine Patientin. Das Mädchen schien von nichts, was um es herum vorging, Kenntnis zu nehmen. Selbst dass die Krankenschwester auf dem linken Bettrand fürsorglich durch seine Haare strich und ihm beruhigend zuflüsterte, lag offen­bar außerhalb seiner Wahrnehmung. Erst als der Ringblitz, der sich vorne auf dem Objektiv befand, das erste Mal das Behandlungszimmer erleuchtete, zeigte die junge Patientin eine sehr massive Reaktion: Sie schlug so plötzlich beide Arme über dem Ge­sicht zusammen und zog die Knie ruckartig bis ans Kinn, dass sie heftig mit der über sie ge­beugten Dr. Wiese zusam­menstieß. Die Kamera, hinter deren Sucher sich das Gesicht der Ärztin befand, schlug ihr hart ins Gesicht und die Ge­troffene taumelte zwei Schritte zurück, in der einen Hand die Canon, die andere Hand auf die rechte Augenbraue gepresst. Alle im Raum waren schwer er­schrocken und der erste Blick von Schwarz und der Kran­kenschwester galt der jungen Pa­tientin, die jetzt bewegungs- und tonlos im Bett saß und die Arme weiter vor dem Gesicht verschränkt hielt. Da sie keine Anzeichen einer weiteren Dekompensation hatte, legte die Schwester wieder ihre Hand auf die Stirn des Mädchens und Dr. Schwarz wandte sich seiner Kollegin zu. Dr. Wiese hatte die Kamera inzwi­schen abgelegt und fing mit der frei ge­wordenen Hand ei­nige Blutstropfen auf, die sich ihren Weg zwischen den Fingern hindurch gebahnt hatten.

„Oh, da haben Sie wohl eine Platzwunde über dem Auge“, stellte Schwarz in aller Ruhe fest. „Haben Sie was zum Nä­hen da?“

„Da drüben, zweite Schublade links.“

Auch Dr. Wiese schien die Folge des Zwischenfalls recht prag­­matisch zu sehen und machte keinerlei Anstalten, zu flu­­­chen oder zu jammern.

„Können Sie denn mit so feinem Garn noch umgehen?“, frag­­te sie lächelnd, auf das grobe Paketgarn anspielend, mit dem der Rechtsmediziner nach Abschluss einer Obduktion die Leichname wieder zuzunähen pflegte.

„Sie werden staunen!“, kokettierte er, desinfizierte sich die Hände und nahm das Nähbesteck. „Setzen Sie sich mal da auf den Hocker und legen Sie den Kopf in den Nacken. Ja ge­nau so.“

Er zog etwas sterilen Verbandsmull aus dem Spender an der Wand.

„Betäubungsmittel?“, fragte er und reichte der Verletzten den Mull, um das Blut etwas abzutupfen.

„Wie viele Stiche werden es denn?“, entgegnete sie.

Schwarz blickte auf die Wunde, die seine Kollegin geschickt mit Daumen und Zeigefinger zusammendrückte.

„So zwei bis drei, denke ich.“

„Dann legen Sie los.“

Schwarz sah noch einmal zu dem Mädchen, das sich zurück in eine liegende Position begeben hatte und abermals in Apa­thie gefallen war. Nachdem die Kranken­schwester ihm durch ein aufmunterndes Nicken versichert hatte, dass sie die Situation kontrollierte, setzte er die Nadel an.

„Ich denke“, begann er, um Dr. Wiese abzulenken, „dass un­sere Patientin, während sie traumatisiert wurde, unter an­de­rem Blitzlicht ausgesetzt wurde. Sei es ein Gewitter, ein Stro­boskop oder das Blitzlicht eines Fotoapparates gewesen. Nicht auszudenken, was abgelichtet wurde!“

Dr. Wiese war so sehr bei der Sache, dass sie den ersten Stich nicht wahrnahm.

„Ja, schrecklich! Ich werde für die nächsten Aufnahmen den Blitz abschalten und die ISO nach oben drehen. Die Fotos werden trotzdem sehr gut.“

„Das sehe ich auch so“, pflichtete Schwarz bei. „Wer weiß, was wir bei dem armen Kind mit dem Flashlight auslösen, beziehungsweise ob sie uns nicht komplett durchdreht.“

Er zog den Faden ein weiteres Mal durch. Diesmal zuckte seine Patientin leicht zusammen.

„Keine Sorge, mit drei komme ich aus“, beruhigte er sie und beeilte sich, die Arbeit zum Abschluss zu bringen.

„So, das war`s. Brauchen Sie ein Päuschen?“

„Nein, sagte Dr. Wiese bestimmt. „Lassen Sie uns weiter­machen, damit die Kleine ihre Ruhe bekommt.“

Sprach es, stand auf und nahm sich den Fotoapparat vom Sideboard.

„Reinschleichen oder stürmen?“, flüsterte Sarah, als sie mit Thomas an der Tür angekommen war und sie rechts und links davon Position bezogen hatten. Sie hielt die Pistole mit beiden Händen knapp über der rechten Schulter nach oben gerichtet und wartete, was ihr Partner entscheiden wür­­de. Thomas sprach leise in das Mikrofon am Ohrhörer­kabel.

„Wie sieht die Rückseite aus? Gibt es da noch einen Ein­gang?“

Unter leichtem Rauschen kam die Antwort des Kollegen.

„Hier ist eine weitere Tür, die auf eine Art Veranda führt. In diesem Raum brennt ein sehr schwaches Licht, wie wir es schon von der anderen Seite aus gesehen haben. Ansonsten ist nichts zu erkennen. Keinerlei Regung.“

„Okay, dann sichern Sie die Rückseite, wir gehen rein. Be­hut­sam und leise, um deine Frage zu beantworten.“ Er blick­te auf die Türklinke und sah Sarah an, die daraufhin mit der linken Hand vorsichtig zu dem verrosteten Stück Eisen griff, es hinunterdrückte und die Tür langsam nach außen öffnete. Thomas ging in die Knie und wagte einen schnellen Blick in das Zimmer dahinter. Dann einen weiteren, etwas längeren, und schließlich schob er seinen Oberkörper nach vorne, um sich den schwach erleuchteten Raum genauer anzu­sehen.

„Leer!“, informierte er mit gedämpfter Stimme. „Rechter Hand sehe ich einen Ofen, in dem noch schwach ein Feuer brennt. Mittig steht ein Küchentisch mit fünf Stühlen darum. An den Wänden befinden einfache Holzschränke. Linker Hand ist eine geschlossene Tür, die zum nächsten Raum führt.“

Er richtete sich auf, behielt die erwähnte Tür über das Visier seiner Waffe im Auge und betrat den Raum. Sarah folgte ihm und hielt ihre Pistole ebenfalls in Richtung des weiteren Zu­gangs zu dem Zimmer, während sie die Eingangstür mit der Linken vorsichtig hinter sich schloss. Wie aus der Beschrei­bung ihres Kollegen herauszuhören gewesen war, handelte es sich bei dem Raum um eine Art Wohnküche, das mit alten, nicht zueinander passenden Möbeln ausgestattet war, die gespenstische, flackernde Schatten an die Wände warfen. Sie sah zu dem Ofen, in dessen nur knapp über dem Boden liegenden Heizklappe ein einzelner Scheit die Reste seines brennfähigen Materials den spärlichen Flammen opferte. Sa­rah wurde bewusst, dass wegen der tiefen Position des Feu­ers die Schatten der Stühle und des Tisches so groß und be­droh­lich über die Wände zitterten und die unheimliche Stim­mung im wahrsten Sinne des Wortes befeuerten. Tho­mas vor ihr hatte inzwischen seine Taschenlampe ein­geschaltet und leuchtete, den Lichtstrahl stark abgeschirmt, auf den Boden. Er deutete mit seiner Heckler&Koch nach unten. Dort waren zwei, drei Blutstropfen zu sehen, ein Stückchen weiter konn­te Sarah den roten Teilabdruck eines kleinen menschlichen Fußes erkennen. Das Mädchen war bei seiner Flucht durch diesen Raum gekommen und zu­vor in Blut getreten! Es gab also keinen Zweifel mehr, dass sie hier richtig waren! Ein Schauer überkam Sarah, würden sie doch möglicher­weise in wenigen Augenblicken entdecken, was dem Kind wider­fahren war oder welche Umstände dazu geführt hatten, dass es halbnackt und blutverschmiert auf der Straße aufgetaucht war.

Thomas hatte sich inzwischen der rückwärtigen Tür ge­nä­hert. Er bedeutete Sarah, auch herzukommen und erneut gin­­­­gen sie rechts und links davon in Stellung. Thomas zog sein Smartphone aus der Tasche, schaltete auf Ka­me­ra und hielt es an den Türrahmen. Sarah war klar, dass er diese Vorsichtsmaßnahme ergriff, weil sich diesmal seine Silhou­ette vor dem mäßig beleuchteten Raum deutlich ab­zeich­nen und somit ein leichteres Ziel sein würde. Dem auf­mun­ternden Nicken folgend legte sie die Hand an die Klin­ke und zog das Blatt nur einen spaltbreit auf, so dass Thomas das Handy durch die entstandene Öffnung schieben konnte. Der LED-Blitz fiel unter der Tür durch, als er den Auslöser betätigte, und sofort zog er das Telefon wieder aus dem Schlitz. Er betrachtete die Aufnahme und hielt sie nach ei­nigen Sekunden Sarah hin. Zu sehen war eine Art Wohn­zim­mer, doch Couches und Sessel waren an eine Wand ge­scho­ben, einen kniehohen Tisch hatte man ebenfalls an den Rand des Zimmers gestellt. Stattdessen befand sich in der Mitte des Raums ein schwerer, wuchtiger Tisch, der Sarah unwei­gerlich an einen Altar erinnerte. Viel mehr konnte man auf dem dunklen Bild nicht erkennen, doch es schien sicher ge­nug zu sein, den Raum zu betreten. Dieser Meinung war wohl auch Thomas, der sich aufrichtete, die Tür öffnete und innen neben dem Rahmen nach einem Licht­­schalter tastete. Der Art, wie er nach wenigen Sekunden den Arm verdrehte, und das mit dem Aufflackern des Lichts ertönende Klacken zeigten Sarah, dass er fündig geworden war und es sich bei dem elektrischen Bauteil um ein solches handeln musste, wie sie es aus dem Keller ihres Elternhauses kannte: einen Dreh­schalter, der mit erheblichem mechani­schen Wider­stand zu betätigen war und laut in der nächsten Position einrastete. Das Licht indes, das jetzt durch die ge­öff­nete Tür fiel, ver­diente diesen Namen kaum. Funzelig er­hell­te es die Szenerie, und als Sarah hinter Thomas in den Raum trat, war es immer noch nicht leicht, die Details des Horror­kabinetts zu erken­nen, in dem sie sich befanden. Zu­erst blie­ben die Blicke an dem altarähnlichen Tisch haften, in dessen vier Ecken me­tallene Ösen schweren Ketten als Anker dien­ten. An deren Enden befanden sich gürtelähnliche Schnal­len aus Leder, deren Zweck eindeutig die Fixierung von Hand- und Fuß­gelenken sein musste. Die Schlaufen sa­hen neu aus und der Gedanke, dass sie noch nicht allzu oft in Gebrauch ge­wesen sein konnten, dämpften die schreck­lichen Vorstel­lun­gen, die Sarah mit dem Anblick verband. Doch die zen­trale Opfer­stelle, denn danach sah die massive Platte aus, war bei Weitem nicht das einzige schreckener­regende Acces­soire. An den Wänden hingen Jagdtrophäen, bei denen der Prä­parator sich augenscheinlich viel Mühe gegeben hatte, einen aggressiven, bösen Gesichtsausdruck zu konser­vieren. So säumten Dachse mit gefletschten Zähnen, Füchse mit hoch­gezogenen Lefzen, Marder mit kampfbereiten Kie­fern und Wildschweine mit entblößten Hauern die Wän­de. Selbst die schwarze Krähe, die auf einem Rundholz saß, stellte einen eigentümlich mensch­lichen, hasserfüllten Ge­sichts­aus­druck zur Schau. Lediglich ein Chamäleon, das als Exot defi­nitiv nicht in die Sammlung der sonst heimischen Fauna pass­te, sah recht friedlich aus. Auf einem Highboard neben der Tür dienten mehrere Totenschädel als Kerzen­halter, ein weißes Huhn war dazwischen an die Wand gena­gelt und der Bauch­raum geöffnet worden, so dass die In­nereien in eine aus Silber anmutende Schale hingen. Der Ge­ruch des Ensem­bles bestätigte dessen Echtheit, während den Totenschädeln an­zu­sehen war, dass sie eher in China herge­stellt denn einem Grab entnommen worden waren. Als sich Sarah der Wand zuwandte, durch deren offenstehende Tür sie den Raum be­treten hatten, sah sie ein gigantisches Pen­tagramm, in dem keltische Runen in verschiedenen Far­ben wohl Schreckliches offenbarten. In dem Bild eines ge­hörn­ten Ziegenkopfes er­kannte Sarah die Darstellung von Baphomet, dem Götzen­bild, dem den Templerprozessen zu­folge die Ritter des Or­dens angeblich huldigten. Auf einem Eckregal ragte eine Hüh­nerpfote aus einem Messingtiegel und die Spritzer von geronnenem Blut, die auf einer kruden Zeich­nung eines Ge­sichtes zu sehen waren, ließen keinen Zweifel an dem Inhalt des Gefäßes.

„Meine Güte!“, entfuhr es Sarah und ihre Blicke trafen sich mit denen Thomas`, der die widerlichen Artefakte ebenfalls eindringlich musterte.

„Haben wir es möglicherweise mit einer Sekte zu tun? Oder mit schwar­zer Magie?“, fragte sie ihren Partner, der mit den Schultern zuckte, aber nicht auf ihre Frage einging. Also sah sie sich weiter um. Erst jetzt wurde ihr gewahr, dass der schwere Hochlehner, der sich dem riesigen Highboard ge­gen­über an der Wand befand, auf einem Sockel stand, und ihn wie einen Thron erscheinen ließ. Hätte man alles, was sich in diesem Raum befand, in einer großen Halle mit Ge­schick ange­ord­net, hätte das Ergebnis, so gruselig es auch sein mochte, et­was Erhabenes ausgestrahlt. So wie der Saal des Eisernen Throns aus der Fantasy Serie, die sie so gerne an­­sah. Hier aber, auf engem Raum zusammengepfercht, er­weck­­­­ten die Gegen­stände den Eindruck eines Provi­so­ri­ums, bei dem ein Not­behelf die Erfordernisse eines Be­ses­senen befriedigen muss­te. Als sie sich umdrehte, ent­deckte sie auf dem High­board neben einem Blatt Taro-Karten eine nicht hierher passen zu wollende Fernbedienung für ein TV-Gerät oder ei­nen DVD-Player. Obschon sie das dazu­ge­hörige Gerät hinter den Türen des Highboards vermutete und auch die Sicht­­achse zwischen dem Thron und dem Mö­bel erkannte, wider­stand sie der Versuchung, sie zu öffnen und wandte ihre Auf­merk­samkeit wieder ihrem Partner zu. Thomas wies mit seinem Kopf auf die rückwär­tige Seite des Raumes.

Sarah nickte und bewegte sich umsichtig in Richtung der Tür, die zum hinteren Teil der Hütte führen musste. Doch be­vor sie diese erreichte, stockte ihr der Atem! Hinter dem massiven Highboard ragten zwei Beine reglos in den Raum. Der Größe der Schuhe und der Dicke der Unterschenkel nach gehörten sie zu einem Mann, der hinter dem Möbelstück an dessen Seitenwand lehnen musste!

„Thomas!“, flüsterte sie scharf und näherte sich dem Bein­paar mit vorgehaltener Waffe. Ihr Partner kam hinzu, sah so­fort, was Sarahs Aufmerksamkeit erregt hatte, und nahm sei­ne Dienstpistole ebenfalls in Anschlag.

„Vorsicht!“, raunte er halblaut und umrundete Sarah, um ihr Deckung geben zu können. Die Polizistin schob sich lang­sam weiter vor, bis sie den Rest des Mannes sehen konnte, der tatsächlich mit aufgerichtetem Oberkörper halb an der Wand, halb an dem Highboard lehnte. Er saß in einer Lache aus dunklem Blut, seine rechte Hand lag offen im Schoß, sei­ne linke neben dem Oberschenkel auf dem Boden. Beide Hän­de waren blutig und Sarah schlussfolgerte, dass der Un­bekannte sie auf die große Bauchwunde gepresst hatte, die sich unter dem komplett durchtränkten Hemd befinden mus­s­te. Jetzt erkannte Sarah auch Schnitte in den Unter­ar­men. Hals und Gesicht wiesen ebenfalls grässliche, klaf­fende Wunden auf. Der Täter musste mit großer Wut auf sein Op­fer eingestochen haben oder aber, sofort kam Sarah das Mäd­chen wieder in den Sinn, mit panischer Angst ver­sucht ha­ben, sich zu retten. Ohne in die Blutlache zu treten wagte sie sich anzunähern, ging in die Knie und versuchte, an den ge­schlos­senen Augenlidern des Mannes eine Bewegung zu er­kennen, doch es war nicht einmal das geringste Zit­tern zu sehen. Etwas mutiger rutschte sie näher und streckte die linke Hand aus, um möglicherweise einen Puls zu ertasten. Sie be­mühte sich, nicht in das Blut zu fassen, das auch am Hals hin­unterlief, legte die Finger auf die Carotis und hoffte, noch ein Lebens­zeichen feststellen zu können.

Mit einem Mal richtete sich der Körper unter lautem Schrei­en auf! Die blutverschmierte Hand griff nach Sarahs Schulter und das groteske Gesicht näherte sich ihr mit weit aufge­rissenen Augen. Sarah versuchte panisch zu­rückzu­wei­chen, doch der Mann hielt sie mit eisernem Griff! Der laute Schrei ging in ein Gurgeln über. Sekun­denbruchteile darauf schoss ein Schwall Blut aus dem Mund und ergoss sich über Sarahs Jacke und Jeans. Dann würgte und hustete der tödlich Ver­wun­dete und Sarah konnte die Spritzer des warmen Blutes in ihrem Gesicht spüren! Endlich gelang es ihr, sich von dem Mann wegzustoßen. Sie landete unsanft auf dem Boden und war erst jetzt in der Lage, zitternd die Pistole zu heben. Doch trotz des Schreckens und des Ekels realisierte sie, dass keine Gefahr mehr von dem Verletzten ausging. Spasmisch schüt­telte sich sein Körper, ein letztes Röcheln kam über seine Lippen, blutiger Schaum quoll aus dem Mund. Lang­sam kippte er zur Seite. Sarah war sofort klar, dass er in eben diesem Moment den letzten Rest Lebens aus­gehaucht hatte, und sie ließ die Waffe sinken. Sie sah zu Tho­mas, der seine H&K aus dem Anschlag nahm und be­griff, dass er zwar hätte schießen können, aber rechtzeitig er­kannt hatte, dass es sich bei dem vermeintlichen Angriff le­dig­lich um die Reflexe eines unbewaffneten Totgeweihten ge­handelt haben musste. Mit zitternden Händen legte sie die Pistole neben sich, öff­nete die Seitentasche ihrer Winterjacke und brachte eine Packung Papiertaschentücher zum Vor­schein. Diese aufzu­reißen vermochte sie nicht zu bewerk­stelligen, doch Thomas, der seine Pistole weggesteckt hatte, ging neben ihr in die Knie, öffnete die Cellophanhülle, ent­nahm eines der Tücher und wischte Sarah vorsichtig durch das Gesicht. Erst um den Mund, dann um die Augen und schließlich über Nase, Wangen und Stirn. Perplex über das unerwartete Verhalten und dankbar für die Hilfe ihres Part­ners, ließ sie die fast zärtlich anmutende Prozedur über sich ergehen.