Sündenlohn - Andre Rober - E-Book

Sündenlohn E-Book

Andre Rober

0,0

Beschreibung

"Sündenlohn" ist das lang erwartete Prequel zu dem Politthriller "Sturmernte" mit der Ermittlerin Sarah Hansen, die ihren letzten Fall im Norden Deutschlands zu lösen hat, bevor sie nach Freiburg im Breisgau versetzt wird. Begleiten Sie Sarah und ihre Kollegen auf der Jagd nach einem psychopathischen Serienkiller.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 551

Veröffentlichungsjahr: 2016

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andre Rober

Sündenlohn

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Impressum neobooks

1

Im Watt beim Tetenbüller Sielzug wird eine Leiche an­ge­­schwemmt. War es ein unvorsichtiger Wattwanderer, o­der hat es Inge Westerhus mit einem Mordfall zu tun? Noch am Fundort wird der Husumer Ermittlerin klar, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelt. Die Spuren am Leichnam der jungen Frau lassen bei der Kriminalhauptkommissarin alle Alarmglocken schrillen! Obwohl es der erste Fall dieser Art ist, liegt die Vermutung nahe, dass sie es mit einem bruta­len Serienmörder zu tun hat. Bei der Lösung des Falls bittet sie ihre Kollegin Sarah Hansen aus Flensburg um Hilfe. Nur gemeinsam haben sie vielleicht eine Chance, den Täter zur Stre­cke zu bringen.

Andre Rober, geboren 1970 in Freiburg im Breisgau, stu­dierte Volkswirtschaftslehre und arbeitete nach dem Ab­schluss mehrere Jahre für Banken im In- und Ausland. Mit der Absicht, sich beruflich zu verändern, machte er eine Aus­bildung zum Business-Coach und arbeitete parallel an seinem literarischen Erstlingswerk „Sturmernte“. "Sünden­lohn" ist das lang erwartete Prequel zu dem Politthriller mit der Ermittlerin Sarah Hansen, die ihren letzten Fall im Nor­den Deutschlands zu lösen hat, bevor sie nach Freiburg im Breisgau versetzt wird.

Andre Rober

Sündenlohn

Thriller

Ungekürzte Taschenbuchausgabe

1. Auflage März 2017

© Andre Rober, Merzhausen

Umschlaggestaltung: Andre Rober

Umschlagabbildung: Andre Rober

Satz: Andre Rober

Gesetzt aus der Palatino

Papier: Munken Print Cream

Druck: Online Druck.biz

Printed in Germany

ISBN: 978-3-947252-01-5

„Denn der Lohn der Sünde ist der Tod“

(Römer 6, 23)

Vorsichtig, fast bedächtig, schob sich die kleine Strand­krabbe vorwärts, um nicht die Aufmerksamkeit einer der Möwen oder Austernfischer auf sich zu lenken, die sich bereits eingefunden hatten. Stück für Stück näherte sie sich langsam ihrem Ziel, schwenkte ihre kleinen Stielaugen wach­sam, ständig bereit, sich durch einen kurzen Sprint vor einem Angriff aus der Luft in Sicherheit zu bringen. Doch die großen Vögel beachteten sie überhaupt nicht, sondern pickten in aller Ruhe nach den zahllosen Würmern und Schnecken, über die die kleine Krabbe schon hinweg­ge­kro­ch­en war. Sie hatte ein bestimmtes Ziel. Obschon sie zum er­­sten Mal in ihrem bisherigen Leben solch ein riesiges Fest­mahl vorgefunden hatte und die Fress­konkurrenz wahr­­haft groß war, steuerte sie zielstrebig über den wie­chen Unter­grund auf eine bestimmte Stelle zu. Dort ange­kommen begann sie sofort, sich über die Delikatesse herzu­machen, die trotz des verlockenden Duftes bisher von dem Gewürm und den Möwen verschont geblieben war. Dass sich der Untergrund sachte mit den leichten Wellen hin- und herbe­wegte, störte sie nicht. Wenn eine etwas größere Woge ihren Standort überspülte, krallte sie sich kurz fest, dann setzte sie ihr Werk fort. Mit beiden Scheren hieb sie gierig in ihr Mahl und hielt nicht eher inne, bis sie den letzten Rest des Festschmauses verspeist hatte, und an dessen Stelle eine dunkle, leere Höhle verblieb.

Gedankenversunken stecktePetra Klausmann das schmut­­zige Taschentuch in den Beutel mit Baby­utensilien. Seit vier Tagen war Luca nun schon erkältet, und sie musste ihm alle paar Minuten die laufende Nase abwischen. Trotz­dem ließ sie es sich nicht nehmen, an diesem schönen Früh­lingstag einen kleinen Morgen­spaziergang zu unter­neh­men. Schließlich war es ja nicht kalt, und sie hatte ihren Sohn ausreichend einge­packt, um ihn in seinem Kinder­wa­gen mit auf den Deich zu nehmen und gemütlich am Meer entlangzuschlendern. Sie packte die Hallo-Kitty-Tasche, die sie von ihrer Schwester zur Geburt von Luca bekommen hatte, wieder in das Netz am Kinder­wagen und setzte sich erneut in Bewegung. Die ver­bleibenden einhundert Meter bis zur Sielanlage legte sie zu­rück, ohne noch einmal anhal­ten und Luca die Nase putzen zu müssen. Dort stellte sie ihren Sohn mit Blick auf das Meer in den Schatten des Siel­werkes und setzte sich auf die graue Stein­mauer daneben, um gemütlich angelehnt auf das auflaufende Wasser zu blicken. Sie genoss den leichten Wind, der ihre schwarzen Locken durchfuhr und beobachtete freudig das Spiel zweier Austernfischer und eine Schar Möwen, die sich laut kräch­zend um etwas zu Fressen stritten. Sie folgte ihrem Flug und entdeckte etwa 50 Meter entfernt weitere Möwen auf einem länglichen, etwa ein bis zwei Meter großen Gegen­stand, der sich im flachen Wasser leicht bewegte.

Oh Nein!, dachte sie, nicht schon wieder eine Robbe. Wie schon einige Jahre zuvor waren im Frühjahr vermehrt tote Robben angespült worden, die einer zyklisch auftretenden Virus­in­fektion zum Opfer gefallen waren. Die Anwohner wurden auf­gerufen, die Funde unverzüglich zu melden, da­mit die Kadaver möglichst schnell fortgeräumt und unter­sucht werden konnten. Sie selbst hatte dieses Jahr schon zwei tote Tiere gemeldet, und jedes Mal tat es ihr in der See­le weh, wenn sie solch ein nied­liches Wesen tot, halb ange­fressen und zum Teil verfault vor den Füßen liegen hatte. Sie seufzte tief, ließ sich von der Mauer herab und schob Luca, so nah es möglich war, zu der Stelle, wo sich die Möwen mittlerweile heftige Kämpfe lieferten. Dann dreh­te sie den Kinderwagen mit dem Rücken zur Sonne, griff in die Tasche ihrer Windjacke und holte ihr Handy heraus. Die Nummer von der Schutzstation Wattenmeer hatte sie in ihren Kon­takten gespeichert. Leider, dachte sie mit einem Anflug von Traurigkeit. Sie ging die paar Meter zu dem mit Fasern und Seetang umwickelten, unförmigen Kadaver, um sich zu ver­gewissern, dass es sich dabei tatsächlich um eine Robbe han­delte. Die ersten Zweifel kamen ihr, als sie nur noch wenige Schritte entfernt war. Skeptisch trat sie etwas näher, ungeachtet dessen, dass sie knöcheltief im Wasser stand. Dann kam eine kleine Welle und drehte den Kopf des Kadavers in ihre Rich­tung. Unvermittelt starrte sie in ein entsetzlich zugerichtetes menschliches Gesicht, aus dessen leeren Augenhöhlen eine drekckige, ölige Brühe rann. Petras Schrei erstickte im Keim, und reflexartig fing sie ihr Handy auf, das ihr im Augenblick des Schocks aus den Fingern geglitten war.

Der Anruf erreichte Inge Westerhus während der Mon­tag­mor­genbesprechung. Seit zwei Wochen halfen sie und ihr Team, so gut es ging, bei den anderen Dezernaten aus, sofern diese überhaupt Arbeit übrig hatten. Den letzten Fall, einen wegen der Lebensversicherung als Unfall ge­tarnten Suizid, hatten sie abgeschlossen, die Berichte und Dokumentationen lagen beim Staatsanwalt. Seither war nichts in ihrem Zuständ­igkeitsbereich passiert. Eine Knei­penschlägerei hier, ein Über­fall mit einem Taschenmesser dort…, nichts wirklich Heraus­forderndes. Inge Westerhus konnte sich nicht daran erinnern, wann oder ob dies in ihrer siebenundzwanzigjährigen Karriere als Polizistin zuletzt der Fall gewesen war. Auch wenn die Abteilung Gewaltver­brechen in Husum nicht unbedingt chron­isch überbe­schäf­tigt war, so ruhig war es ihrer Meinung nach lange nicht gewesen. Gerade hatten sie in der Besprechung fest­ges­tellt, dass niemand mehr Überstunden hatte, die er hätte abbau­en können, als das Telefon des Besprechungsraumes klein­gel­te. Der Beamte der Dienstbereitschaft setzte sie davon in Kenntnis, dass in der Nähe des Sielwerks am Wasserspei­cher eine im Wasser treibende Leiche gefunden worden war. Ob es sich dabei um ein Unfallopfer, einen Freitod oder ein Gewalt­verbrechen handelte, sei wohl nicht ohne weiteres zu bestim­men.

OK dachte Inge Westerhus, dann also das volle Programm: Kriminaltechnik, Leichenbeschau und natürlich auch Ermittler aus dem Team. Sie überlegte schon, wen sie zum Tetenbüller Sielzug schicken sollte, entschied dann aber, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Nicht, dass sie tatsächlich einen Kriminalfall hinter dem Leichenfund vermutete. Sie ging eher davon aus, dass ein einsamer Wattwanderer wieder unvorsichtig gewesen war, und die Umstände re­lativ schnell geklärt werden würden. Aber da ihre Schwie­ger­mutter diese Woche, und so Gott wollte, auch nur diese Woche, zu Besuch war, brauchte sie wenigstens keine Not­lü­ge aufzutischen, wenn sie wegen eines aktuellen Fal­les länger im Büro bleiben musste. Ein Blick auf die Uhr mach­te ihr die Hoffnung zwar zunichte, schließlich war es erst kurz nach halb zehn. Dennoch, entschloss sie rasch, würde der Leichenfund ihr als Vorwand dienen, nicht zum Abend­essen zu erscheinen. Also winkte sie noch während des Ge­sprächs ihrem Assistenten Arved Munz und deutete ener­gisch auf das Telefon in ihrer Hand. Arved, der wie die an­deren schon aufgestanden war, sah sie mit gehobenen Au­genbrauen fragend an.

»Arbeit«, flüsterte Inge Westerhus, die eine Hand auf dem Mi­kro des Schnurlostelefons, und so wartete er geduldig, wäh­rend seine Chefin das Gespräch weiterführte. Bernd Hagen, die spär­lichen Unterlagen peinlichst genau sortiert unter dem Arm, und Feit Müller mit dem obligatorischen Schokoriegel in der Hand und braunen Spuren um die Lippen, waren ob des wilden Winkens ihrer Vorgesetzten zunächst auch stehen­geblieben. Ihnen bedeutete Inge Wes­ter­hus jedoch mit einem zielge­rich­teten Kopfschütteln, dass sie gehen durften. Sie glaubte nicht, dass sie noch je­manden am Fundort brauchen würde.

Als Arved Munzden silbergrauen Opel Astra Caravan mit et­was zu scharf dosiertem Bremsen auf dem Schotter gerade noch vor der Polizeiabsperrung zum Stehen brachte, war am Siel­werk die Hölle los. Der Fundort war zwar weit­räumig abges­perrt, und alle paar Meter wachte ein uni­formierter Beamter da­rüber, dass die Bannmeile auch respektiert wurde, aber außer­halb des gelben Bandes tum­melten sich jede Menge Menschen. Die Landwirte, Hand­wer­ker und Servicemitarbeiter diverser ansässiger Firmen, die aus beruflichen Gründen die Abkürzung am Damm entlang nahmen, machten jedoch nur einen ver­schwindend geringen Teil der Menschenmenge aus, die sich hier ver­sammelt hatte. Die überwiegende Mehrheit, und Inge Westerhus verspürte sofort Abscheu und Unverständnis, waren Touristen und Bewohner der nahegelegenen Cam­ping­plätze und Ferienunterkünfte. Junge Pärchen mit Kin­derwagen oder Hunden, drahtig wirkende Jogger, Familien mit kleinen Kin­dern, die Schaufeln und Eimerchen noch in der Hand, Rad­fahrer mit ihren bei Scotty`s Bikeverleih gemie­teten Rädern, oder übergewichtige Halb-Senioren mit Nordic Walking Ambitionen - nahezu aus jeder Alters- und sozialen Gruppe fand sich zumindest ein Repräsentant, um der Sensation jenseits der von der Polizei gezogenen und mit­unter heftig verteidigten Linie beizuwohnen oder gar ein Foto zu machen. Noch in Gedanken gelangte Westerhus zu den Beamten, die unermüdlich auf die Menge einredeten und sie zum Weitergehen aufforderten. Sie hob zur Begrü­ßung die Augenbrauen, worauf einer der Uni­formierten einen Schritt zu Seite trat und ihr Zugang gewährte. So wie sie sich in gebückter Haltung unter der Absperrung hin­durch­geschoben hatte, sorgte ihr Kollege dafür, dass den lüster­nen Gaffern der Zutritt wieder verwehrt blieb.

Inge Westerhus bedeutete Arved Munz, schon einmal zu der Stelle im seichten Wasser vorzugehen, wo einige Be­amte weiße Folien gespannt hielten, um den Blick auf den Leichnam abzu­schirmen. Sie selbst hatte es sich in ihrer lang­jährigen Dienstzeit zur Gewohnheit gemacht, erst ein­mal ihren Blick über die komplette Szenerie eines Tat- oder Fundortes schwei­fen zu las­sen, bevor sie sich den Details widmete oder anfing, Fragen zu stellen. Auch wenn in diesem Fall mit Sicherheit davon auszu­gehen war, dass es sich nicht um einen Tatort handelte, sondern die Leiche mit der auflaufenden Flut angespült worden war und mitunter etliche Kilometer von hier ihren Tod gefunden hatte, nahm sie sich die Zeit. Doch es gab in der Tat nichts, was ihre ge­stei­gerte Aufmerksamkeit erregte. Also folgte sie nach eini­gen Minuten ihrem Kollegen und schlüpfte durch die Lücke in der weißen Folie, die ihr ein uniformierter Kollege bereit­willig öffnete. Auch hier besah sich Westerhus erst einmal das komplette Bild: der nasse Sand, einige Tangreste, und inmitten eines kleinen Priels des wieder abfließenden Was­sers ein unför­miger Klumpen von der Größe eines mensch­lichen Körpers. Davor kniete ihre Hausärztin Alice Peters, die, da Husum nicht über eine eigene Gerichtsmedizin ver­fügte, für die erste Lei­chenbeschau zuständig war. Die durch zahlreiche Kurse und Weiterbildungen für die Zu­sam­men­arbeit mit der Polizei qualifizierte Medizinerin war mit Gummistiefeln und einer Anglerhose ausgerüstet und kauerte neben dem Leichnam. In ihrem Rücken standen auf einer hastig über zwei Klapp­schemeln ausgebreiteten Folie zwei geöffnete Aluminiumkoffer mit den Utensilien der Ärztin. Sie war gerade dabei, über die Arm­enden der Lei­che kleine Plastiktüten zu stülpen und mit Gummiringen zu fixieren. An den Füßen hatte sie diesen Transportschutz be­reits angebracht. Inge Westerhus wusste, was das zu bedeu­ten hatte.

»Also kein natürlicher Tod. Jetzt schon sicher?«, fragte sie, ohne Alice Peters lange zu begrüßen. Da sie erst gestern ge­mein­sam zu Mittag gegessen hatten, befand sie diese Flos­kel im Moment für überflüssig. Ohne sich umzudrehen nick­te die An­ges­prochene.

»Ja, jetzt schon sicher! Schau dir das mal an.«

Sie winkte die Polizistin näher zu der Leiche. Inge Wester­hus trat heran. Dass der Körper schon mehrere Tage im Wasser ge­le­gen haben musste, war auch ihr sofort klar. Die Reste der Kleidung waren schon stark verschmutzt und gräu­lich. Um den Körper herum hatten sich dicke Büschel Seegras und Tang in irgendetwas verfangen, das ein Seil sein konnte. Die Haut der nackten Arme und Beine hatte ebenfalls eine gräuliche Farbe an­genommen und war an einigen Stellen schon sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Das typische Aussehen einer Wasser­leiche eben, kein schö­ner Anblick. Der einsetzende Geruch nach Verwesung sprach ebenfalls für eine längere Liegezeit. Teile des Kör­pers mussten schon eine ganze Weile der Luft und der Son­ne ausgesetzt gewesen sein.

»Eine Frau!«, entfuhr es Inge Westerhus.

»Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?«

Peters schüttelte den Kopf.

»Nein. Aber sie ist, wie ich schon sagte, keines natürlichen Todes gestorben, soviel ist sicher.«

»Du meinst das Seil?«, fragte Inge Westerhus.

»Das und Folgendes.«

Sie hob einen Arm der Toten an. Trotz der beginnenden Ver­w­esung und den Spuren, die wohl Seevögel und anderes Getier an dem Leichnam hinterlassen hatten, war um das Handgelenk eine breite, tief violette Verfärbung zu erkennen. Eindeutig Spuren einer groben und länger an­dau­ernden Fesselung.

Inge Westerhus verzog das Gesicht.

»Was hat man dir nur angetan?«, entfuhr es ihr kopf­schüt­telnd.

»Du findest das schon schlimm? Dann pass mal auf.«

Peters drehte den Kopf so, dass Inge Westerhus die Reste des Gesichts sehen konnte. Sofort zog es der Polizistin eis­kalt durch alle Glieder. Auch wenn die Augäpfel nicht mehr vorhanden waren und auch erste Teile der Lippen offen­sichtlich den gier­igen Würmern, Schnecken und Vögeln zum Mahl gedient hat­ten, konnte sie genau erkennen, was die Pathologin meinte: Vor den Augen und dem Mund war etwas, das aussah wie ein klei­nes Gitter, das dort platziert worden war. Doch auf den zweiten Blick erkannte sie, dass die Stäbchen, wie sie zuerst annahm, nicht parallel sondern in leichtem Zickzack verliefen. Es wurde ihr schlagartig klar, dass der Peiniger der Frau mit einem bes­on­ders dicken Garn Augen und Mund zugenäht haben musste!

Sie schlug die Hand vor den Mund.

»Oh, mein Gott!«, sagte sie leise und beobachtete dann wort­los, wie Alice Peters auch an der linken Hand des Opfers die Plastiktüte sicherte.

Nur unbewusst nahm sie die zwei Mitarbeiter des Bestat­tungsinstitutes wahr, die drei Meter neben der Leiche den grau­en Epoxydharz­sarg in den nassen Sand stellten, einen festen Lei­chen­sack entfalteten und schweigend auf das Signal war­teten, aktiv zu werden.

»Willst du nochmal alles begutachten, oder können wir sie wegschaffen?«

»Was?«

Inge Westerhus hatte Alice Peters wohl gehört, aber irgend­wie war ihr die Bedeutung der an sie gerichteten Worte entgangen.

»Ob wir sie einpacken können, oder ob du noch etwas brauchst?«, wiederholte die Ärztin.

Inge Westerhus sah sich noch einmal um.

»Ist alles fotografiert?«, fragte sie.

»Arved hat schon alles dokumentiert, noch bevor ich ange­fangen habe«, nickte Peters.

»OK, dann könnt ihr sie einpacken.«

Sie sah schweigend zu, wie die beiden in dunkle Anzüge ge­­klei­deten Männer den Leichensack neben den toten Kör­per leg­ten, sich feste Gummihandschuhe überstreiften und die Frau vor­sichtig in das dicke Plastik packten, nicht ohne die Liege­stelle noch einmal genau abzusuchen, um gege­ben­enfalls ver­wert­bares Material der Spurensicherung zu übergeben. Erst als der Reißverschluss zugezogen, das schwe­re Bündel in den Sarg gelegt und dieser von den bei­den Männern davongetragen wor­den war, wandte sich Inge Westerhus um und hielt nach Arved Munz Ausschau. Ihr Kollege war mittlerweile damit beschäf­tigt, eine sichtlich erschüttert wirkende junge Frau mit Kind und Buggy zu befragen und hatte ihr gegenüber eine sehr verständige Miene aufgesetzt. Sie war schon im Begriff hinü­ber­zugehen, als ihre Aufmerksamkeit von einer lautstark ge­führten Dis­kussion auf sich gezogen wurde. Einige Meter vom Fahr­weg entfernt war einer der Uniformierten damit bes­chäftigt, einen etwa fünfzig Jahre alten Mann unter dessen heftigem Protest wieder aus dem abgesperrten Bereich zu bugsieren. Dabei fielen lautstark Worte wie Pressefreiheit oder Recht auf Information. Inge Westerhus schüttelte den Kopf, ob­wohl innerlich leicht belustigt, und bedeutete Arved Munz durch eine Geste, schon einmal zum Auto zu gehen. Sie selbst steuerte das streitende Duo an, das die Absperrung wieder er­reicht hatte, und rief just in dem Moment, in dem sich der hart­näckige Eindringling zum wiederholten Male losge­rissen hatte, laut:

»Klaus! Lass gut sein!«

Einmal noch stieß der angesprochene Beamte den Stören­fried, der gleich zwei Spiegelreflex­kameras um den Hals hängen hatte, zurück, trat dann von ihm weg und hob seine Hand zum Gruß kurz an die Mütze.

»Moin, Frau Hauptkommissarin!«, nuschelte er und behielt den jetzt stillstehenden Mann weiter im Auge.

»Er war schon fast bis an den Fundort herangekommen und hat wie wild drauflosgeknipst. Er…«

»Schon gut, Klaus, ich übernehme hier! Danke einst­weilen.«

Sie stellte sich vor den Mann, der ihren Blicken immer wie­der auswich, und stemmte die Hände streng in die Hüfte. Warum Arndt Aasman den uniformierten Kollegen nie Folge leistete, vor ihr aber einen ziemlichen Respekt zu haben schien, fragte sie sich, seit der leicht retardierte Endvierziger zum ersten Mal bei einem ihrer Tatorte aufge­taucht war und mit dem Presse­ausweis des Lokalblattes herumgewedelt hatte. Arndt Aasman war im Alter von sieb­zehn zum Waisen geworden und hatte mit einund­zwanzig das Erbe, ein kleines Häuschen und eine nicht unbeträchtliche Summe an Bargeld, ausgezahlt bekom­men. Er war, damals schon stark zurückgeblieben und verhal­tens­­auffällig, seither zu einer kleinen Lokalberühmtheit gewor­den. Den Presseausweis hatte der arbeitslose Mann eher aus Mitleid bekommen, und seither fuhr er mit seiner Schwalbe und seinen Kameras um den Hals durch die Gegend und foto­grafierte alles, was in irgendeiner Art für ihn interessant war. Und tatsächlich war alle zwei bis drei Wochen eine seiner Auf­nahmen in der Zeitung zu sehen.

»Herr Aasman, Herr Aasmann! Sie wissen doch, dass Sie das nicht dürfen! Wie oft habe ich Ihnen das gesagt?«

»Ein paarmal«, antwortete Arndt Aasmann fast schon klein­laut und mit der Miene eines ertappten Kindes.

Er schaute ziellos umher, mied ihre Augen und blieb schließ­­lich mit seinem Blick an seinen Fußspitzen hängen.

»Also, was tun Sie jetzt?«

»Ich bleibe hinter der Absperrung und warte bis zur Pres­se­­konferenz.«

Der Satz war genaugenommen eine wörtliche Wieder­holung ihrer Anweisung vom allerersten Zusammentreffen und klang fast wie auswendig gelernt. Seinen Blick hob er nicht.

»Sehr gut! Ich verspreche, Ihnen als Erstes mitzutei­len, wenn es etwas für die Presse gibt.«

Arndt Aasman nickte schnell mit leicht angezogenen Schul­tern und stellte sich brav hinter die Absperrung. Er würde, solange sie vor Ort war, keinerlei Ärger mehr ma­chen.

Inge Westerhus drehte sich um und musste abermals den Kopf schütteln. Ob es Mitleid, Sympathie oder auch Sorge war, die sie für ihn empfand, konnte sie nicht sagen. Tat­sache aber war, dass er zum festen Bestandteil von Husum gehörte und irgend­wie auch aus ihrem dienstlichen Alltag nicht mehr wegzu­denken war.

Nachdenklich setzte sich Inge Westerhus auf ihren Büro­stuhl und legte die spärlichen Notizen der vorange­gan­genen Be­sprech­ung mit dem Oberstaatsanwalt vor sich auf den Schreibtisch.

Kein LKA!, gingen ihr die Worte von Heinrich Quedlin durch den Kopf. Als sie äußerte, die junge, noch nicht iden­tifizierte Frau könne entweder einem grausamen Ritual­mord zum Opfer gefallen oder aber das erste oder zumin­dest das einzig bisher gefundene Opfer eines psychisch gestörten Täters mit Potential für weitere Taten sein, war Quedlin zunächst nervös und verun­sichert dagesessen. Es schien, als wolle er etwas derart Schreck­liches in seinem Zuständigkeits­bereich nicht wahrha­ben. Als er dann die be­hutsam vorgetragene Theorie, die auch Alice Peters in Be­tracht gezogen hatte, immer mehr hinterfragt hatte und dabei untypischerweise sogar fast aggressiv wurde, war Inge Westerhus klar, wie er über die Ermittlungen in diese Richtung dachte: Der Fall sollte bis auf Weiteres durch die Kräfte vor Ort bearbeitet werden. Zum einen seien ihm die Rückschlüsse zu voreilig und lediglich durch das Tatbild eines einzelnen Opfers begründet. Und außerdem sei die Haupt­kommissarin schließlich in der forensischen Psycho­logie geschult. Er hatte natürlich Recht: Sie hatte entspre­chende Kurse und Weiterbildungen im Bereich des Pro­filing gemacht, aber sie war die Einzige hier in Husum, die über diese eigent­lich als rudimentär zu bezeichnende Aus­bildung verfügte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie bisher in ihrem Wirkungsbereich noch nicht die Gelegenheit hatte, irgend­welche praktische Erfahrung zu sammeln. Immerhin hatte Quedlin ihr zugestanden, sich Unterstützung zu suchen, soweit dadurch nicht unnötig Staub aufgewirbelt wurde.

Jemand, mit dem ich meine Theorien besprechen kann, murmelte sie halblaut und durchforstete ihr Gedächtnis nach einer Person, die nicht aus der Medizin oder Psychologie kam, sondern einen polizeilichen Hintergrund hatte.

Jemand, der bei der Erstellung von Täterprofilen, geschult war. Jemand, mit dem sie ohne Rücksicht auf ihre Schwei­ge­pflicht ihre Gedanken teilen konnte. Jemand der wie sie davon ange­trieben wurde, die Wahrheit zu ergründen und den Täter auch zu verstehen. Und der nicht beim LKA ar­beitete. Ihr dämmerte etwas. Ein geradezu leidenschaft­liches Gespräch mit einer Kolle­gin kam ihr in den Sinn. Bei den letzten beiden Seminaren war sie dabei gewesen.

Wie hieß sie noch?

Eine junge Kollegin, noch in der Ausbildung, war tief in der Materie verankert. Obwohl auch Teilnehmerin, disku­tierte sie unglaublich gut mit den Seminarleitern und stellte ihre Ansätze nach mühevoller Gruppenarbeit auch immer coram publico vor.

Sie war aus Kiel!

Westerhus erinnerte sich an den vorletzten Abend: Eine kleine Gruppe hatte noch bis spät in die Nacht hinein einen auf­sehenerregenden Fall des FBI diskutiert. Ihre teils provokativen Annahmen, teils bestechend scharfsinnigen Analysen hatten schon tagsüber ihre Ausbilder beeindruckt und einige Seminar­teilnehmer desavouiert. Im Hotel hatte sich die zum Teil hitzige Diskussion fortgesetzt. Vor ihrem inneren Auge sah Westerhus die schlanke junge Frau mit dem blonden Pferdeschwanz und den großen blauen Au­gen, die bei so einem jungen Menschen ruhig etwas fröh­lich­er hätten dreinblicken dürfen.

Diese hübsche junge Frau… Sabine, Susanne…Sarah!

Es war ihr wieder eingefallen!

Sarah Hansen!

Sarah Hansen saß im Garten des Café Sostenuto und starr­te argwöhnisch auf ihr Handy. Eigentlich hätte sie ihre Mutter schon am Vormittag anrufen müssen. Sie hatte den heutigen Tag freigenommen, und Waldburg Hansen hatte das dummer­weise mitbekommen. Selbstverständlich, Sarah spürte die Un­ge­duld ihrer Mutter auch über die Distanz, wurde eine Kon­takt­aufnahme in irgendeiner Form von ihr erwartet. Den Vormittag über war es Sarah gelungen, das schlechte Gewissen, welches jahrzehntelange Konditio­nierung stets erfolgreich aus dem Dunkel heraufbeschwor, erfolgreich zu verdrängen. Doch jetzt, da die vielen Tele­fonate, Internetrecherchen und Formu­lare, die sie erledigt und bearbeitet hatte, keine Ablenkung mehr boten, drängte sich das ungute Gefühl wieder subtil in den Vordergrund. Sie schüttelte kurz den Kopf.

Nein Mama, dachte sie, jetzt genieße ich erst ein Stück Kuchen und meinen Kaffee.

Die Kellnerin, die in der Tür zu den Gasträumen erschien und leicht humpelnd ein Tablett die Stufen zum Garten her­unter­­balancierte, lenkte Sarahs Aufmerksamkeit weg vom Telefon. Auf dem Tablett befand sich, das konnte Sarah auch von hier aus erkennen, eine große Latte Macchiato. Wie schon drei Male zuvor wünschte sie sich inständig, dass es diesmal ihre sei. Erst als die Kellnerin mit ihrem of­fensichtlichen Hüftleiden zwei Tische umrundet hatte und sich zielstrebig auf dem Weg zu Sarahs Platz befand, konnte sie sich sicher sein: endlich!

»Der Apfelkuchen kommt auch gleich. Ohne Sahne, rich­tig?« Sie bekam die Latte direkt vor sich hingestellt.

»Nein, es war Zwetschgenkuchen und mit Sahne!«

Auf ein Bitte verzichtete sie, da die Frage bereits mehrfach gestellt worden war, immer ohne Sahne, nur mit verschie­denen Sorten Kuchen, die das Sostenuto offensichtlich auch im Ange­bot hatte. Die Kellnerin nickte wild, deutete auf ihren Kopf und winkte im Weggehen ab. Sarah blickte ihr kurz nach, senkte dann den Kopf und sog den Duft des Kaffees ein. Mit geschlos­senen Augen atmete sie einige Male tief durch.

Meine Zeit!

Ganz beiläufig bekam sie eine kurze Konversation am Ne­ben­­tisch mit. Erst wenige Minuten zuvor hatte dort eine alte Dame in Begleitung einer Mittfünfzigerin Platz genommen. Dem Al­ters­unterschied und dem Umgang nach handelte es sich um Mutter und Tochter. Die etwa neunzigjährige Frau blickte inter­essiert zu Sarahs Tisch. Dann wandte sie sich an ihre Tochter und meinte.

»Ich will meinen Kaffee auch mit zwei Strohhalmen. So wie die da drüben.«

Mit der einen Hand zerrte die Dame ihre Tochter am Är­mel, mit der anderen zeigte sie auf Sarahs Getränk.

»Das ist eine Latte Macchiato«, entgegnete die Angespro­chene in aller Ruhe, »und natürlich bekommst du eine, wenn du das möchtest.«

»Nein«, insistierte die Alte. »Ich will einen Kaffee! Aber auch mit Strohhalm! Sorg bitte dafür, dass ich das be­kom­me.«

Sarah Hansen musste schmunzeln, als sich ihre Blicke mit denen der jüngeren Frau trafen. Sie bekam noch mit, wie der Kellnerin mit Verweis auf ihre Latte so ein Kaffee wie der dort drüben in Auftrag gegeben wurde, dann widmete sie sich wie­der ihrem eigenen Glas. Doch bevor sie an dem Strohhalm nippen konnte, begann ihr Handy zu vibrieren und sich lang­sam in Richtung der Tischkante vorzuar­beiten.

Nein Mutter, nicht jetzt dachte sie und war kurz davor, den Anruf einfach wegzudrücken. Doch die Nummer im Dis­play war nicht die ihrer Mutter, sondern kam eindeutig aus der Polizeidirektion Flensburg. Das Dezernat für Kapital­verbrechen konnte Sarah noch aus der Nummer heraus­lesen, die Durch­wahlen jedoch wurden einheitlich mit „0“ weitergegeben.

Ihr freier Tag! Aber dann musste es wohl wichtig sein. Sie seufzte, fing das Handy geschickt neben der Tischkante auf und nahm das Gespräch entgegen.

Als das Mädchen an der Ampel stehen blieb und sich ver­stohlen nach rechts und links umblickte, um mög­licherweise doch noch schnell bei Rot die Fahrbahn zu kreu­zen, konnte er das erste Mal ihr Gesicht sehen. Sein Atem ging schneller. Auch spürte er, wie sein Puls sich merklich beschleunigte.

Sie war es! Sie musste es einfach sein! Sofort senkte er den Blick und drehte sich weg, hin zu dem Schaufenster, an dem er ge­rade vorbeigegangen war. Sie durfte ihn nicht sehen! Seit sie ihm wegen ihrer schlanken Beine und Arme und den kurzen braunen Haaren aufgefallen war, hatte er sie nur von hinten ge­sehen. Vor ungefähr fünfzehn Minuten war das gewesen, und von diesem Moment an war er ihr nachgegangen. Durch die komplette Fußgängerzoneblieb er in ihrer Nähe und konnte den Blick nicht von ihrem Rücken lassen, von den Haaren, die mit ihrem Schritt leicht wogten, von der leicht gebräunten Haut ihrer Arme. Es war ihm leicht gefallen, mit den Touristen zu verschmelzen und ihr so unentdeckt zu folgen. Erst als sie den Innenstadt­bereich verlassen hatte und weniger Menschen zu Fuß unterwegs waren, musste er etwas mehr Abstand wahren, um nicht aufzufallen. Ohne sich ganz umzudrehen schielte er in ihre Richtung. Sie hatte sich mit einer Hand an den Ampelmast gestützt und einen Fuß auf die Zehen gestellt. Das angewin­kelte Knie bewegte sie ungeduldig hin und her. Er starrte auf das weiße T-Shirt, unter dem sich leicht ihre kleinen Brüste abzeichneten, auf die schmale Röh­renjeans, die einen eher kna­ben­haften Po erkennen ließ und etwa zwanzig Zentimeter über ihren Fesseln endete, auf die rot gepunkteten Ballerinas, die sie barfuß zu tragen schien. Noch während er ihren Körper, ihre Bewegungen studierte, begann es. Sein Kopf fing an, leicht hin- und herzuzucken, sein Kiefer begann, sich zu verkrampfen, und seine Knie drohten ihm wegzuknicken. Sofort wandte er sein Gesicht ab, kniff die Augen gewaltsam zu und widerstand dem Drang, die Arme zu heben und sich die Ohren zuzuhalten. Er atmete nun so schnell, dass es einem Hecheln gleichkam. Vor seinem inneren Auge sah er nur bunte Muster, psy­chedelische Bilder wabernder, bewegender Formen. Doch bevor er das Gleich­gewicht verlor, machte er einen ersten tiefen Atemzug. Es folgte ein zweiter. Und noch ein dritter. Nach wenigen Se­kunden hatte er sich wieder unter Kon­trolle, seine Beine stützten ihn, sein Kiefer entkrampfte, und er konnte die Augen wieder öffnen. Ängstlich sah er sich um. Niemand schien den kurzen Anfall bemerkt zu haben. Dann blickte er - fast schon panisch - in ihre Richtung. Die Ampel war grün geworden, und sie hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Bis er aus seiner Starre herauskam und ihr schnellen Schrittes hinterherstürzen konnte, hatte sie bereits die Straße scchon überquert.

Ich darf sie nicht aus den Augen verlieren!

Als sie beherzt zu einem Bus spurtete, der unmittelbar nach­­dem sie sich über das Trittbrett geschwungen hatte, die Türen schloss und losfuhr, ergriff ihn blanke Angst! Er warf alle Vor­sicht über Bord und rannte aus voller Kraft hinter dem Bus her.

Nein, das darf nicht sein!

Doch er besann sich, wurde langsamer und blieb stehen. Er kniff die Augen zusammen und sah angestrengt dem klei­ner werdenden Bus hinterher. Linie Drei. Er atmete einige Male tief durch und lächelte. Dann drehte er sich um und kehrte gemächlichen Schrittes zur Haltestelle zurück, um den Fahr­plan genau zu studieren.

Ungeduldig lauschte Inge Westerhus dem Tuten in der Lei­tung. Das Gespräch mit dem Dezernatsleiter der Polizei­direktion in Flensburg, wo die junge Kollegin derzeit ar­beitete, war so unerwartet positiv verlaufen, dass sie es jetzt kaum erwarten konnte, mit Sarah Hansen persönlich zu sprechen. Sie hatte sich im Vorfeld große Sorgen gemacht, ob und wie es ihr überhaupt gelingen konnte, die junge Kollegin zu dem Fall hier auf dem Lande hinzuzuziehen. Doch was ihr Peter Haberstroh mitteilte, hatte sie augen­blicklich in eine bessere Stimmung versetzt. Offensichtlich strebte Frau Hansen derzeit ziemlich hartnäckig eine Versetzung in den Süden der Republik an, und da dem Antrag höchst­wahrscheinlich relativ kurzfristig statt­gege­ben werden sollte, war es für Haberstroh leichter gewesen, Sarah Hansen von ihren Aufgaben in Flensburg freizu­stellen und sie den Ermittlungen in Husum zuzuweisen. Frau Hansens Einverständnis vorausgesetzt, man wolle ihr, da sie ihre letzten Wochen vor sich hatte, keine vermeid­baren Unannehm­lichkeiten bereiten. Also hatte Inge Wes­terhus den Rückruf brav abgewartet und nun, spät am A­bend, da sie das OK seitens der Dienststelle und Frau Han­sens Handynummer übermittelt bekommen hatte, gleich zum Hörer gegriffen.

»Sarah Hansen?«

Das Gespräch dauerte nur wenige Minuten. Erfreut stellte Inge Westerhus fest, dass ihre Kollegin während der Jahre nichts von ihrem Elan eingebüßt hatte. Schon nach weni­gen Details, die Inge Westerhus ihr zu dem Fall nannte, war Sarah Hansen Feuer und Flamme und hatte ihr Kommen für den übernächsten Abend zugesagt. Westerhus` Ange­bot, für die Zeit der Ermittlungen bei ihr im reetgedeckten Haus im Püttenweg direkt hinter dem Deich zu wohnen, hatte sie auch dan­kend angenommen.

Als nächstes rief Inge Westerhus ihren Mann an, um ihm und ihren beiden Kindern Marie-Claire und Lars mit­zu­teilen, dass eine junge Kollegin auf unbestimmte Zeit bei ihnen einziehen werde. Sie verband mit dieser aufrichtig als Hilfe für Sarah Hansen gedachten Aktion auch die Hoffnung, die neuen Um­stände würden dem Besuch ihrer Schwiegermutter ein vor­zeitiges Ende bescheren. Zwingend war das nicht, Zimmer gab es in dem Haus mehr als genug. Trotzdem würde eine fremde Person im intimen Umfeld möglicherweise Isolde Westerhus` Gefüge derart erschüt­tern, dass sie es vorzog, sich dem zu ent­ziehen. Und wenn sich Peters Mutter durch Frau Hansens bloße Anwesenheit oder subtile Andeutungen nicht zur Abreise be­wegen las­sen sollte, würde Inge beim ersten Abendessen das Ge­spräch auf den Fall lenken: Ihr Mann Peter wäre interessiert und engagiert dabei, und ihre Schwiegermutter war so zart besaitet, dass ihr ein Verbleib am Tisch, besser noch im Haus, unmöglich sein würde. Vorteil Inge Westerhus, dachte die passionierte Tennisspielerin verschmitzt. Sie erwog sogar, zur Not Alice Peters zu einem weiteren Abendessen einzuladen, mit ihrer ungebremsten Art ein Übriges zu ihrem perfiden Plan beisteuern würde.

Flexible Response am Familienkriegs­schauplatz, fuhr es Inge Wes­terhus unter einem weiteren Lächeln durch den Kopf. Zum Schluss schrieb sie noch eine Mail an die IT-Abteilung, die Kollegen mögen doch bitte im Laufe des morgigen Tages auf der gegenüberliegenden Seite ihres Schreib­tisches einen der alten PCs installieren, einen Zugang zum lokalen Netz ein­richten und ein Telefon aufbauen. Die Mail schickte sie Arved Munz, Feit Müller und Bernd Hagen in Kopie, damit sie gleich morgen Vormittag zumindest formal vom Eintreffen der jungen Kollegin unterrichtet waren. Sie selbst würde ihren Arbeitstag mit Alice Peters in der Gerichts­medizin in Kiel beginnen, um sich von Professor Doktor Herrmann über die Ergebnisse der Obduktion genauestens unterrichten zu lassen. Sie blickte auf die Uhr: Viertel nach acht! Das war nicht spät genug, um ihrer Schwiegermutter nach deren allabendlichen Averna nicht mehr über den Weg zu laufen, aber zumindest würde sie ihr Abend­essen in der Gesellschaft ihres pflichtbewussten Sohnes und der ihrer beiden Enkel, so sie sich denn rechtzeitig zuhause einge­funden hatten, bereits zu sich genommen haben. Inge Wester­hus fuhr ihren PC runter, packte ihre Tasche und verließ ohne Eile das Polizeirevier.

»Von dir hört man ja gar nichts mehr!«

Sarah musste alle Beherrschung aufbringen, nicht gleich auf dem Absatz kehrtzumachen, sondern lächelnd ihre Mut­ter in den Arm zu nehmen und ihr rechts und links ein flüchtiges Küsschen auf die Wange zu drücken. Ein verär­gertes Ver­drehen der Augen ließ sie sich jedoch nicht neh­men, es war je­doch nur für sie selbst gedacht, achtete sie doch peinlich genau darauf, dass es Waldburg Hansen nicht mitbekam. Da sie die­sen Satz immer vor einer Begrü­ßung entgegengeschleudert bekam, egal ob sie drei Wochen auf Fortbildung gewesen war, oder sie noch am Vortag telefoniert hatten, war Sarah ziemlich abgestumpft. Auch wenn der beleidigte Tonfall über die letzten Jahre fordern­der, härter geworden war, konnte sie immer bes­ser mit dem Opferspiel ihrer Mutter umgehen. Sie hatte ver­schie­dene Strategien ausprobiert. Anfangs war sie noch in die Recht­fertigung verfallen, später hatte sie angriffslustig den Ball zurückgegeben, dann versucht, verständnisvoll auf ihre Mutter einzugehen. Mit der Zeit hatte sich ziemlich klar heraus­kristal­lisiert, dass die wirkungsvollste Maßnahme schlicht war, solch unterschwellige Angriffe komplett zu ignorieren.

»Hallo Mama, gut siehst du aus! Du warst beim Friseur, richtig?«

Heute war Waldburg Hansen hartnäckiger. Sie sah auf die Uhr.

»Jetzt ist es schon nach acht, den ganzen Tag habe ich mich gefragt, wann du dich wohl melden wirst!«

Und, um Sarah wirklich aus der Reserve zu locken, setzte sie noch „wo du doch den ganzen Tag Zeit hattest“, hinzu.

Gerade noch konnte Sarah das: Ja, aber ich hatte furchtbar viel zu tun hinunterschlucken, das sie wieder in die Defensive ge­drängt hätte und konterte statt dessen in lockerem Ton mit einem

„Aber jetzt bin ich ja da!“

Innerlich war sie aber keinesfalls so selbstsicher wie es ihre unermüdlich eingeübten Antwortsätze vermuten ließen.

»Ich habe dir einiges zu erzählen.«

Ihre Mutter musterte sie argwöhnisch. Ihr prüfender Blick war von einer solchen Intensität, dass Sarah schon wieder drohte, in ihre alten Verhaltensmuster zu verfallen. Sie hielt dem aber stand und schaffte es sogar, das aufgesetzte Lä­cheln weiter glaubhaft zur Schau zu stellen. Allerdings merk­te sie, wie ihr innerlich schlagartig heiß wurde, eine Schweißperle im Nacken den Weg unter ihre Bluse fand und langsam den Rücken hin­unter­rann. Sie nutzte den Moment, um hinter sich zu greifen und aus dem auf dem Bo­den abgestellten Einkaufskorb den in Papier einge­schlagenen Blumenstrauß zu nehmen und ihn ihrer Mutter zu überreichen.

»Für dich«, sagte sie nur und hatte einige Sekunden ge­wonnen, in denen ihre Mutter ihre Aufmerksamkeit auf das Gebinde richtete. Das reichte, um einmal tief durchzuatmen und sich innerlich wieder Stütze zu verschaffen.

»Danke, aber das wäre doch nicht nötig gewesen.«

Sarah verabscheute solche Floskeln, fehlte ihnen doch jeg­liche Wärme und Authentizität.

»Aber Mama, natürlich bringe ich dir Blumen mit, ich weiß doch, wie sehr du Papageientulpen liebst.«

Waldburg Hansen erwiderte nichts, sondern steuerte durch die monumentale Halle in Richtung der Küche, die einem noblen Res­taurant alle Ehre gemacht hätte. Sarah folgte ihr und fühlte sich wie immer von den schweren Teppichen, dem dunklen Mo­biliar und den hohen Decken fast erschla­gen. Die üppige Ausstattung mit Ölgemälden in barocken, goldenen Holz­rahmen, die Lüster an der Decke und die beiden brusthohen Vasen, die die Doppelflügeltür zum Wohnraum flankierten, all das drückte auf ihr Gemüt. Auch in der Küche, die von einem zentralen gusseisernen Herd mit gigantischer Abzugshaube dominiert wurde, besserte sich ihre Stimmung nicht. Auch wenn die Kochinsel seit sie denken konnte nicht mehr in Betrieb war, und ihre Mutter mittlerweile sogar auf Induktion kochte, war die zwei­hundert Jahre alte Küchenausstattung des Herren­hauses praktisch unverändert geblieben und hatte den Charme eines Burgverlieses. Innerlich schüttelte sich Sarah. Wie sie trotz dieser Umgebung ihre Liebe zum Kochen entwickeln konnte, war ihr stets ein Rätsel geblieben. Trotzdem be­zeich­­nete sie sich als leidenschaftliche und – so viel Stolz durfte sein – als exzellente Köchin. Ihre Menüs und Krea­tionen wurden, so selten sie dazu kam, Freunde zu aufwän­dig vorbereiteten Fest­essen einzuladen, stets in den Himmel gelobt. Und die Aner­kennung tat ihr jedes Mal gut.

Sarah beobachtete ihre Mutter, wie sie schweigend jeden ein­zelnen Stängel der Tulpen penibel anschnitt und den Strauß in einer mit Jagdmotiven verzierten Zinnvase mit Henkel neu arrangierte. Als das recht grotesk wirkende En­semble ihren An­sprüchen zu genügen schien, drückte sie es Sarah in die Hand.

»Wollen wir in den Wintergarten gehen? Dort ist es um die­se Zeit am schönsten.»

Sarah nickte und ließ ihrer Mutter den Vortritt, die for­schen Schrittes die Küche auf dem Weg zum Speise­zimmer verließ.

2

Da war sie!Also hatte sich das Warten gelohnt! Er hatte nicht damit gerechnet, sie heute, wo er sie doch am Vor­mittag ge­sehen hatte, noch einmal an der Bushaltestelle anzutreffen. Aber offensichtlich war sie am Mittag zurück in die Stadt ge­kommen und befand sich - es war mittler­weile dunkel - wieder auf dem Nachhause­weg. Sie hatte die­selben Kleider an wie vor einigen Stunden und wieder beobachtete er genau, wie sie sich bewegte, die unbeküm­merte, fast kindliche Art, wie sie ihre Arme schlenkerte. Wie sie ihre Schritte wie im Tanz setzte und sie ausgelassen und, ohne auf die anderen Leute zu achten, den Kopf zu dem Rhythmus aus ihren Ohrhörern hin- und her­bewegte und dabei stumm den Liedtext mit den Lippen mitsang. So nah war er ihr heute Morgen nicht gekommen. Er selbst saß auf einem der verzinkten Stühle der überdachten Bushalte­stelle, wo in Kürze ein Bus der Linie drei ankommen und die hier wartenden Menschen auf dem Weg nach Hause mitnehmen würde. Sie kam über die Straße direkt auf ihn zu, und wieder folgte er ihr mit seinem Blick aufs Genau­este. Aus einer unverfänglichen Kopfhaltung schielte er zu ihr, immer darauf gefasst, dass sich ihre Blicke treffen könn­ten und er dann schnell woanders hinsehen musste. Doch sie war so ver­tieft in ihre Musik und ihre Gedanken, dass diese Gefahr nicht bestand. Jetzt erreichte sie die Bushalte­stelle, schaute auf ihre Armbanduhr und blickte sich um. Ob­wohl etwa acht Leute ebenfalls auf den Bus warteten, war der Sitz zu seiner Rechten nicht belegt. Ob sie sich dort hinsetzen würde? Innerlich spannte er sich an und hoffte, dass sie die paar Schritte in seine Richtung machen würde, um sich neben ihm niederzulassen. Dann wäre sie in Be­rührweite. Nicht, dass er es gewagt hätte, sie in irgendeiner Form anzufassen, auch eine scheinbar zufällige Berührung wollte er auf keinen Fall riskieren. Aber für ihn bedeutete die physische Nähe eine ungeheure Intimität, fast, als wür­den sich ihre Auren überlagern. Er würde den Luftzug spü­ren, den sie beim Hinsetzen verursachte, er würde hören, wie beim Umdrehen ihre Schuhsohlen leise über die Beton­platten scheuerten, vielleicht würde er sogar ihren Kör­per­geruch oder ihr Parfüm riechen können. Doch es kam an­ders. Sie lief zwar noch ein paar Schritte auf ihn zu, lehnte sich jedoch an die Stahlstrebe des Haltehäuschens und stell­te, wie am Morgen an der Ampel, einen Fuß auf die Ze­hen­spitzen und wiegte mit dem Bein im Takt der für ihn und die anderen Menschen unhörbaren Musik.

Er starrte vor sich auf den Boden. Seine Augen so weit nach rechts zu verdrehen konnte zu leicht von den Umstehenden ge­­sehen werden. Außerdem, die Erfahrung hatte er schon mehr­­fach gemacht, erhöhte die extreme Augenstellung einen der, Gott sei Dank, selten gewordenen Krampfanfälle. Also beob­ach­tete er zwischen seinen Schuhen, wie sich ein paar Ameisen fleißig an einem für sie gigantischen Stück­chen Brot zu schaffen machten, Stück für Stück abtrennten und mit ihrer Last zwischen den Fugen der Betonplatten verschwanden. Obwohl sie nur in der Lage waren, verhält­nis­mä­ßig kleine Bröckchen aufs Mal wegzutransportieren, war, als nach wenigen Minuten die Motorbremse des ein­treffenden Busses zu hören war, fast das gesamte Stück Brot im Erdboden verschwunden.

Er hob den Kopf.

Linie drei.

Sie machte sich bereit einzusteigen. Folglich erhob auch er sich bemüht lässig, ließ den meisten der Mitwartenden den Vortritt und stieg dann durch die hintere Tür in den Bus ein. Er wandte sich nach links in der Hoffnung, dort noch einen Platz vorzu­finden, denn nur, wenn er hinter der letzten Tür saß, konnte er, ohne sich verdächtig zu verhal­ten, überwachen, wo sie aus­stieg. Er hatte Glück. In der letzten Reihe, wo sich normaler­weise immer ein Haufen Jugendlicher lautstark breitmachte, saß niemand. Also wähl­te er den Platz links außen, so konnte er alle drei Türen bestens einsehen. Als auch der letzte Fahrgast Platz genom­men hatte – der Bus war nur gut zu einem Drittel gefüllt – versuchte er, sie zu erspähen. Er ließ den Blick schwei­fen und fand sie relativ zügig. Sie saß direkt hinter der mitt­leren Tür mit dem Rücken zu ihm und bewegte immer noch ihren Kopf im Takt.

»Was wolltest du mir denn jetzt so Wichtiges erzählen? Hast du dich doch dazu entschlossen, etwas zu tun, was deiner Intelligenz und deiner Erziehung mehr entspricht, als eine klei­ne Beamtin bei der Polizei?«

Der Augenblick war gekommen, wo Sarah Hansen ihrer Mut­­ter reinen Wein einschenken musste. Ob sie wollte oder nicht, durch diese Konfrontation mussten sie beide durch. Bevor sie ansetzen konnte, ihrer Mutter von der bevorste­henden Ver­set­zung zu berichten, brachte ihr Gegenüber die immer wieder und wieder aufs Neue geführte Diskussion über Sarahs Beruf auf den Tisch.

»Wie oft habe ich dir gesagt, dass solch ein Beruf nicht gut für dich ist! Seine Zeit mit Halunken, Schlägern, Mördern und Pros­ti­tuierten zu verbringen, ist nichts für eine junge Frau aus so gutem Hause, wie du eine bist.« Waldburg Han­sen stellte den gut gefüllten Schwenker mit Armagnac auf das Beistell­tischchen neben ihrem Fauteuil und beugte sich mit über­triebener Gestik nach vorne.

»Für ein Studium der Wirtschaftswissenschaften ist es noch nicht zu spät! Du weißt, ich habe immer noch Kontakte in höch­ste Kreise. Es wäre kein Problem, dich in einer heraus­ragenden Position in einem namhaften Unternehmen unter­zu­bringen!«

Noch vor wenigen Jahren hätte sich Sarah zu diesem Zeit­punkt den Beistand ihres zu damals schon verstorbenen Vaters ge­wünscht. So wie damals musste sie hier aber allei­ne bestehen und die langwierige Therapie, mit der sie ihre Mutter-Tochter-Beziehung zuerst analysiert und dann auf­gearbeitet hatte, gab ihr jetzt den nötigen Rückhalt.

»Mama, das hatten wir doch schon so oft. Du weißt doch, dass BWL oder VWL nun mal nichts für mich ist. Ich…«

»Nein, Kind, du weißt einfach nicht, was gut für dich ist und was nicht! Und ihren Kindern das beizubringen, dafür sind Eltern ja nun mal da!«

Sie hob kurz den Zeigefinger, lehnte sich dann wieder zu­rück und nahm einen ausgiebigen Schluck von dem Ar­magnac.

»Dein Vater hätte auch gewollt, dass du etwas Ordentliches machst. Ein richtiges Studium, das zu einem anständigen Beruf führt. Polizistin! Was für einen Ruf haben denn Frauen, die als Polizistinnen arbeiten?«

Dass ihre Mutter am heutigen Abend nicht in die Rolle der sor­gen­vollen, vor Angst um ihre Tochter leidge­quälten Mut­ter schlüpfen würde, hatte Sarah schon bei der Begrü­ßung ge­merkt. Heute war also die strenge, um Ansehen und Ruf bemühte Waldburg Hansen ihr Gegner in der Diskussion und so, wie sie ihren letzten Satz betont hatte, würde auch die du-beschmutzt-das-Ansehen-deines-Vaters-Karte rücksichtslos ausge­spielt werden. In welcher Rolle sich ihre Mutter am Ende der Dis­kus­sion befinden würde, war sich Sarah noch nicht sicher, aber eines war klar: Beide würden verletzt sein, sie würden sich wieder ein Stück, wahrscheinlich ein sehr großes Stück, von­einander ent­fernen. Ob es zum Bruch kommen würde, ver­mochte Sarah zu diesem Zeitpunkt nicht zu sagen, aber sie war ent­schlos­sen, auch das zu riskieren.

»So? Mama, erkläre mir bitte mal, welchen Ruf Polizist­innen, so wie ich eine bin, denn haben.«

Natürlich hätte sie gleich auf den Punkt kommen können, ihre Mutter mit ihrer Entscheidung konfrontieren und dann, ab­hängig von ihrer Reaktion, darüber diskutieren oder einfach aufstehen und das Haus verlassen können. Aber sie fühlte sich von der gereizten Art Waldburg Han­sens so provoziert, dass sie – und so stark war sie im Mo­ment – ruhig auch ein wenig gegen­provozieren konnte.

»Nun, das… das… das weißt du doch!«, schnaubte ihre Mutter zurück. »Jeder weiß das!«

»Ich nicht«, entgegnete Sarah unschuldig und schwieg be­harr­lich.

Erstaunlicherweise ließ ihre Mutter das Thema Ruf und An­­sehen schnell fallen und versuchte es auf einem anderen Kanal.

»Ein junger Mensch mit deinen Fähigkeiten, mit deiner Bil­dung muss einfach etwas aus sich machen. Stell dir vor, was du als Ökonom in einer Bank alles bewegen könntest. Du vergeudest dein Potenzial.«

Die Antwort Aber ich tu das nicht mit übermäßigem Alkohol­genuss schluckte Sarah schon im Ansatz hinunter. Die Wun­de war zu groß, um sie wieder aufzureißen. Aber sie blieb angriffslustig.

»Da bewege ich doch lediglich Unsummen von Geld, mei­nen Hintern nicht vom Bürostuhl und das Ganze nur zum Vorteil der Bank. Abends könnte ich wahrscheinlich nicht mehr guten Gewissens in den Spiegel schauen.«

»Jaja, du willst mit Menschen zu tun haben und bist wohl ge­rad­ezu versessen auf die, die auf die schiefe Bahn geraten sind.«

Waldburg Hansens Tonfall war so abwertend, dass Sarah Hansen innerlich getroffen war. Doch ihre Mutter war noch nicht fertig.

»Wenn das dein innigster Wunsch ist, dann wäre ein Jura­studium die richtige Wahl. Als Anwältin in der Kanzlei von Dr. Klöbner zum Beispiel. Oder meinetwegen auch bei der Staats­anwaltschaft. Kind, mach etwas aus deinen Talenten!«

Bevor Sarah ihre Erziehung, die Reit- und Ballettstunden, die Segelausbildung, überhaupt alles, was in sie investiert wor­den war, zum x-ten Male vorgehalten wurde, hob sie ziemlich ener­gisch die Hand und sagte mit leicht erhobener Stimme:

»Mama, ich bin Polizistin und das werde ich in absehbarer Zeit auch nicht ändern. Und genau darüber möchte ich mit dir heute Abend sprechen: Ich werde in etwa drei Wochen versetzt, und zwar sehr weit weg.«

Nun war es raus. Und an der selbstmitleidsvollen Miene, die ihre Mutter unmittelbar nach dem zuerst kurz scho­ckier­ten und dann verärgerten Blick aufsetzte, erkannte Sarah, für welche Rolle sich ihre Mutter entschieden hatte.

Während der ganzen Fahrt hatte er sie nicht aus den Augen gelassen. Er war konzentriert darauf, wo sich der Bus gerade be­fand, darauf, wie die Gegebenheiten an der nächsten Halte­stelle waren, darauf, ob die Menschen um ihn herum sein ge­steigertes Interesse an ihr vielleicht bemerken könnten. Zu kon­zentriert, um sich den Fantasien hinzugeben, die er sonst ü­blich­erweise aussann. Fantasien, in denen er sich ihr unbemerkt näherte, ihr zärtlich den Nacken streichelte oder im Vorbei­gehen mit seiner Hand die ihre streifte. Fantasien, in denen er den Mut aufbrachte, sich an den Vierersitz zu ihr zu setzen, ihr ins Gesicht zu lächeln und es zu genießen, wenn sich ihre Knie während der Fahrt sacht berührten und ihn in jedes Mal Ströme von Glücksgefühlen durch­fluteten.

Jetzt aber nahm er sich selbst kaum wahr. Außer dem leich­ten Druck im Kopf, den er immer verspürte, wenn er kör­perlich oder geistig angestrengt war, fühlte er nur Leere.

In diesem Moment nahm sie die Hand vom Schoß, erhob sich halb vom Sitz und beugte sich weit nach vorne. Sein Atem be­schleunigte sich minimal, als sie den schlanken Arm mit der leicht gebräunten Haut, die er so gerne berüh­ren, streicheln wollte, anhob und mit der kleinen, grazilen Hand zu dem Haltewunsch-Knopf griff und mit ihren langen Fingern dreimal in schneller Folge darauf drückte. Dann sank sie wieder zurück in den Sitz, schüttelte kurz den Kopf in beide Richtungen und strich sich das kurze brau­ne Haar wieder hinter die Ohren.

Er löste seinen Blick von ihr, sah auf die Anzeige der kom­menden Haltestelle und begann, sich die Landschaft, die vor­aus lag, aufs Genaueste einzuprägen, so gut dies im Dunkeln möglich war. Als der Bus schließlich mehr oder weniger auf freier Strecke zum Stehen kam, war sie die Ein­zige, die aufstand, sich um die Haltestütze schwang und den Bus ver­ließ. Noch ehe sich das Fahrzeug wieder in Be­wegung setzte, war sie hinter dem Heck herumgegangen und stand jetzt, nur durch die Fensterscheibe und die Rücken­lehne von ihm getrennt, keinen halben Meter hinter ihm. Sie blickte kurz nach links und rechts, lief dann schnel­len Schrittes über die halb­dunkle Straße und steuerte einen unbeleuchteten Feldweg an, der im rechten Winkel abzwei­gte und sich im Schwarz der Nacht verlor. Erst in etwa zwei Kilometern konnte er die Lichter von einem Haus erkennen. Entspannt lehnte er sich zurück und stieg erst an der End­station aus.

»Was bedeutet das, weit weg?«, fragte Sarahs Mutter in leicht weinerlichem Ton. »Du bist doch schon weit weg. Flens­burg! Musstest ja unbedingt fort von Kiel.«

»Mama, ich rede nicht von einer Stunde Fahrt.« Die Dis­kussion vor eineinhalb Jahren war ihr noch gut im Gedächt­nis. Das vorwurfsvolle Gesicht, das ihre Mutter damals ge­macht hatte, als klar wurde, Sarah würde keinesfalls jeden Morgen und jeden Abend eine Stunde Fahrt auf sich nehmen, war auch jetzt wieder zu erkennen. Dennoch: Die Entscheidung, auszuziehen und sich direkt an der däni­schen Grenze eine Bleibe zu suchen, also die größtmögliche Entfernung zwischen sich und ihre Mutter zu legen, hatte sie zu keiner Sekunde bereut.

»Es ist richtig weit weg. Ich werde nicht spontan zu einem Abendessen bei dir vorbeischauen können. Selbst ein Wo­chen­­en­dbesuch wird schon auf­wändig.«

Mit leerem Blick sah Waldburg Hansen ihr in die Augen.

»Aber Kind, das geht doch nicht! Wie kannst du mich nur alleine hierlassen? Du bist doch alles, was ich habe!«

Die typische Reaktion ihrer geradezu verabscheuungs­wür­dig egozentrischen Mutter. Wie sehr hätte sich Sarah ge­wünscht, dass sie nachgefragt hätte, wo sie denn hinginge, was es für eine Stelle sei, welche Aufgaben und Herausfor­derungen sie erwarteten… nein, Waldburg Hansen dachte wie immer nur an sich und an ihr Leid, das mit dem Weg­zug – wohin auch immer – über sie hereinzubrechen drohte. Obwohl Sarah dieses Ver­halten schon, seitdem sie denken konnte, gewohnt war, traf es sie. Trotzdem gelang es ihr, ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten und ihrer Mutter nicht aus tiefster Seele: Wieso? Du hast doch immer noch deinen Scheißalkohol, ins Gesicht zu schreien. Sie schloss kurz die Augen, atmete tief ein und entschied sich für die ratio­nale Taktik.

»Mama, das stimmt doch nicht. Du hast den Yachtclub, deine Bridgerunde, die Empfänge bei Freunden und nicht zuletzt den Kulturverein, alles respektable Menschen, mit denen du häufig und intensiv Kontakt hast. Außerdem liebst du das Haus und den Garten über alles. Dein Glück ist doch nicht davon ab­hängig, dass ich in Reichweite lebe.«

Waldburg Hansen verdrückte ein paar Tränen, von denen Sarah sich nicht sicher war, ob sie wieder Produkt des the­atralischen Moments waren oder wirklich infolge bebender Emotionen in die Augen ihrer Mutter traten. Da Sarah ein bestim­mtes Thema unbedingt vermeiden wollte, be­schwich­­tigte sie ihre Mutter weiter.

»Außerdem, Mama, gibt es ja Telefon! Erinnerst du dich, was die Peeks immerzu erzählen? Seit ihre Tochter nach Australien ausgewandert ist, ist ihre Beziehung noch viel enger als zuvor! Sie telefonieren drei bis vier Mal pro Wo­che. Das tun wir nicht, und ich bin nur fünfundneunzig Ki­lo­meter entfernt und nicht sechzehn­tausend!«

Doch Sarah sah ihrer Mutter an, dass sie nicht zuhörte, son­dern sich sukzessive nach innen wandte. Sie starrte mit lee­ren Augen an ihr vorbei und schüttelte in kleinen, ruck­haften Bewegungen den Kopf. Dabei verfiel sie in eine Stoß­atmung, und das fast schluch­zende Geräusch, das beim Aus­pres­sen der Luft ent­stand, hätte einen Unwissenden zu ehrlichem Mitleid, wenn nicht gar ernster Sorge gebracht. Sarah hingegen kannte dieses Verhalten seit jüngster Kind­heit. Ihre Mutter hatte es immer dann eingesetzt, wenn sie gewahr wurde, dass Worte alleine nicht erfolgreich ihren Willen durchzusetzen vermochten. Dass sie als Kind auf die so übermittelten Botschaften ihrer Mutter immer erwar­tungs­gemäß reagiert hatte, verwunderte Sarah nicht im Ge­ring­sten. Dass allerdings auch ihr Vater angesichts eines sol­chen, zugegebenermaßen perfekt inszenierten Schmie­ren­stücks sofort in den Fürsorglichkeitsmodus schaltete und in der Regel alles tat, um seine Frau zu beruhigen, das ent­zog sich Sarahs Verständnis. Immerhin verzichtete Wald­burg Hansen im Moment noch darauf, ihre Hand auf die Brust zu legen und über Schmerzen zu klagen, wo doch ihr Blutdruck so hoch und die Folgen für das Herz nicht ab­zuschätzen waren! Sarah ent­schied, erst einmal abzu­warten, ob sich ihre Mutter nicht auf einer verbalen Ebene an sie wenden würde und die Diskussion wie unter Er­wachsenen weitergeführt werden konnte. Doch als nach einigen Minu­ten herzerweichendem Schluchzen vermehrt Tränen in die Augen ihrer Mutter traten, wusste Sarah, was nun kommen würde. Das Thema, das Waldburg Hansen sicher gleich anschneiden würde, war das Einzige, mit dem auch sie zu­tiefst getroffen werden konnte! Und so sehr sie sich ge­wünscht hatte, es am heutigen Abend nicht mit in die Dis­kus­sion einzubeziehen, war sie sich sicher, dass sich ihre Mutter genau dort hinein­steigerte, um mit emotionaler Authentizität ihren letz­ten Trumpf ausspielen zu können.

»Kind«, flüsterte Waldburg Hansen kaum hörbar mit geschlos­senen Augen. »Dass du mich nun auch verlässt! Kannst du über­haupt nachempfinden, wie eine Mutter sich fühlt, die ein Kind, ihre geliebte Tochter, verloren hat? Wenn ihr eigen Fleisch und Blut das Leben hingeben muss­te, und sie keine Möglichkeit hatte, dies zu verhindern?«

Sarah verdrehte die Augen und seufzte ebenfalls, doch sie er­widerte nichts und ließ ihre Mutter weiterreden.

»Das ist der größte, ja der größte Schmerz,« - sie riss ihre Augen weit auf und fixierte Sarah - »den eine Mutter ertra­gen muss. Die härteste Prüfung, die dir im Leben auf­erlegt werden kann.«

Sie schloss die Augen wieder und lehnte sich zurück. Sarah war jetzt auch aufgewühlt, jedoch schaffte sie es immer noch, das Ereignis, auf das ihre Mutter anspielte, rational zu be­werten.

»Und wenn dein Vater nicht auf Geschäftsreise gewesen wäre, und ich nicht diese entsetzliche Migräne gehabt hätte, dann wäre deine Schwester heute noch am Leben.« Die Worte kamen zwar in einem Tonfall von Bedauern über die Lippen ihrer Mutter, doch Sarah wusste um die theatra­lische Begabung ihrer Mutter nur zu gut. Folglich fiel es ihr schwer, an sich zu halten. Die Art, wie sich ihre Mutter die Welt um sich zurechtlegte, widerte sie an. Seit jenem Tag versuchte Waldburg Hansen, die Verantwortung, die sie am Tod von Sarahs Schwester Lena hatte, von sich zu schieben. Der Hinweis auf die Abwesenheit ihres Mannes stand dabei zwar nicht im Vordergrund, wurde aber jedes Mal ange­bracht, wenn dieser schreckliche Tag zur Sprache kam. Maßgeblicher – und in Sarahs Augen um etliches verwerf­licher – war, dass man die Unfähigkeit, Lena zu helfen, die beim Spielen in den Pool gefallen war, keineswegs durch eine schwere Migräne begründen konnte. Auch wenn es Sarah damals nicht bewusst gewesen war – schließlich war sie erst fünf Jahre alt – da sie sich heute noch an kleinste De­tails an jenem Tage erinnern konnte, hatte sie sich später zusam­men­reimen können, dass ihre Mutter damals sturzbe­trunken auf der Chaiselongue im Salon gelegen hatte. Die Zeit, die Sarah damals benötigt hatte, um ihre Mutter an den Pool zu bekom­men, waren möglicherweise die ent­schei­den­den Mi­nuten gewe­sen, die ihrer siebenjährigen Schwester das Leben gekostet hatten. Migräne! Sarah drehte es auch heute noch den Magen um, als ihre Mutter zum wiederholten Mal auf diese Art und Weise versuchte zu entschuldigen, was damals geschehen war. Doch sie hielt sich zurück. Bei einer einzigen Gelegenheit hatte Sarah geglaubt, ihre Mutter mit der Wahrheit konfron­tieren zu müssen. Dass jener Abend mit einem Anruf beim Notarzt und einer aufreibenden Nacht in der Klinik geendet hatte, war ihr immer noch als fast traumatisches Erlebnis in Erinnerung. Und eines hatte sich in ihren Gefühlen gegen­über den Lügen ihrer Mutter ohnehin grundlegend geän­dert: Was lange Zeit Trauer und vor allem Wut bei ihr aus­gelöst hatte, machte heute einem anderen, sehr starken Gefühl Platz: Ver­achtung! Ja, sie ver­achtete ihre Mutter! Für die Lügen, für das, was sie ihr in der Kind­heit angetan hat­te, für die Verletzungen, die sie durch ihre Mut­ter bis zum heutigen Tag erfahren hatte. Und so sehr sie die Erinner­ungen an ihre Schwester im Moment auch schmerzten, spür­te Sarah, dass nun etwas zum Abschluss gekommen war. Und die Freude über die Tatsache, dass sie in we­nigen Wochen einen entscheiden­den Schritt aus dem Leben ihrer Mutter hin­austreten würde, ließ sie sogar ein wenig lächeln.

Es machte ihm nichts aus, durch die Dunkelheit zu laufen. Die Dunkelheit war sein Freund. Wenn er an die schönsten Momen­te in seinem Leben zurückdachte, war es stets dunkel gewesen. Nicht die absolute Dunkelheit, die einen schnell die Orientier­ung verlieren ließ, die einen Schwindel hervorbrachte, in dem man schnell panisch um sich schlug. Nicht um ein Möbelstück, eine Wand oder eine Tür zu er­tas­ten, die einem seine Position verriet. Sondern um sich schlug, um irgendetwas zu ertasten. Irgendetwas, das einem versicherte, dass da tatsächlich um einen herum etwas existierte. Das einem versicherte, dass die Welt, die normal­erweise zu sehen man gewöhnt war, einen noch immer umgab. Das einem versicherte, dass man sich nicht in einer schwarzen Realität befand, die körperlos war, unendlich in Raum und Zeit. Nein, es war die Dunkelheit, in der er sich, wenn sich die Augen den Gegebenheiten angepasst hatten, sehr gut bewegen konnte, sehr gut beobachten, sich zu verstecken vermochte. Die Dunkel­heit, die ihm Sicherheit gab, weil sie sein Freund war, aber jedem anderen Feind. Die er liebte, weil sie ihn bevorzugte. Weil ihn die Erfah­rung gelehrt hatte, dass es allen anderen mit ihr unwohl war, sie ihm aber Schutz und Geborgenheit bot.

Orientierung war für ihn kein Problem, und selbst wenn sich die schmalen Feldwege, die sich schier endlos durch die ebene Landschaft zogen, kreuzten, musste er nicht lange überlegen, welchem davon er folgen sollte. Und so bewegte er sich so zügig vorwärts, wie es manch einer selbst am Tage nicht schaffen würde. Die Stunden, die er von der End­halte­stelle aus unterwegs war, hatte er mit Gedanken ausgefüllt. Gedanken unter­schied­lichster Art. Viele betrafen Erinnerungen, die we­nig­sten die Gegenwart, die meisten die nahe Zukunft. Er wus­ste nun, wo sie den Bus verließ und welche Richtung sie danach einschlug. Er konnte schon morgen… nein! Er verwarf den Gedanken. Erstens würde er noch einige Zeit in die genaue Planung investieren müssen. Zweitens konnte er, da er seit ges­tern wusste, wie er sie auffinden konnte, die Momente, in de­nen er in ihr Leben trat, auch genießen. Die Momente, in de­nen er sie beobachten konnte, ohne dass sie dies auch nur er­ahnte. Ihre Gestik, ihre Bewegungen, ihren zarten Körper, das hüb­sche Gesicht. In denen er ihr so nahe war, dass er ihre Stimme hören und den Duft ihrer Haare riechen konnte. Er würde ihr also die nächsten Tage aus zwei Gründen folgen, wobei das Studieren ihrer Gewohnheiten wie immer zu Anfang lediglich zweit­rangig war. Er erinnerte sich an das erste Mal. Damals war es ihm überhaupt nicht darum ge­gan­gen, heraus­zufinden, in wel­cher Situation er sie zu sich holen konnte. Er wollte nur in ihrer Nähe sein, wie ein unsichtbarer Begleiter an ihrem Leben teil­haben, das Leben in ihr spüren. Das Leben, die Freude, die er selbst eben nicht mehr imstande war, zu em­pfinden. So ging es über ein Jahr, bis er der rein optischen und auditiven Wahr­nehmungen überdrüssig wurde und sich noch mehr Nähe, physische Nähe wünschte. Damals verging wohl ein wie­teres halbes Jahr, bis das Verlangen tatsächlich darin mün­de­te, sich mit der akribischen Planung auseinander­zuset­zen, wie er sie auf Dauer in seiner Nähe haben konnte. Mit der Zeit begann das Verlangen einer physischen Verbun­den­heit immer früher einzusetzen, nichtsdestotrotz ver­setzten ihn die Be­obacht­un­gen, das scheue, unbemerkte Annähern nach wie vor in Glücks­gefühle und waren somit wichtiger Bestandteil seines Tuns und Handelns. Bei der nächsten Weggabelung hielt er einen Mo­ment inne. Er wandte sich gen Osten und glaubte am Horizont einen leichten blauen Schimmer erkennen zu kön­nen. Bis zum Sonnenaufgang war nicht mehr viel Zeit. Selbst wenn er sich mittlerweile auch bei Tageslicht sicher und un­auffällig bewegen konnte, so war er doch froh, dass es nicht mehr weit bis zu dem Parkplatz war, wo er seinen VW-Trans­porter am Nachmittag abgestellt hatte. Nach den ver­blei­ben­den zwanzig Minuten, die er deutlich schnelleren Schrit­­tes weiterlief, war der Himmel tat­sächlich zur Hälfte in ein dunkles, fast ins Lila gehende Blau ge­taucht. Als er den Schlüssel in das Schloss der Fahrerseite steck­te, zögerte er einen Moment. Im Laderaum lag eine Matrat­ze, frisch bezogen, ver­lockend. Er hatte die nächtliche Wanderung genossen, trotzdem war er jetzt müde. Nicht erschöpft, sein

Kör­per war trainiert und er hätte leicht die doppelte Strecke zurücklegen können, aber müde. Er zog den Schlüssel wie­der aus dem Schloss, begab sich an das fensterlose Heck des Transporters und öffnete die Tür. Er zog sie hinter sich zu, verriegelte von innen, ging auf die Knie und rollte sich auf der Matratze ein wie ein Embryo.

Die wärmende Sonne