Homecoming - Helena Hunting - E-Book

Homecoming E-Book

Helena Hunting

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Beschreibung

Sie mussten erst nach Hause kommen, um die große Liebe zu finden ...

Dillion Stitch hatte eigentlich nicht vor, so schnell in die kleine Stadt Pearl Lake zurückzukehren, in der sie aufgewachsen ist. Doch als ihre Familie Hilfe braucht, erklärt sie sich bereit, zu helfen. In ihrer Heimat angekommen, muss sie allerdings feststellen, dass sich auch in Pearl Lake einige Dinge verändert haben. Allen voran, der neue - und zugegeben attraktive - Nachbar Donovan "Van” Firestone, der in das Cottage seiner Großmutter gezogen ist. Leider ist die erste Begegnung zwischen Dillion und Van alles andere als der romantische Beginn einer Sommer Romanze, doch lange können die beiden das Knistern nicht leugnen, das sie jedes Mal spüren, wenn sie sich in dem kleinen Ort über den Weg laufen ...

"HOMECOMING ist eine bezaubernde, humorvolle, sexy, geheimnisvolle - einfach wundervolle Small-Town-Romance. Ich habe die Geschichte geliebt!" BJ's Book Blog

Band 1 der PEARL-LAKE-Dilogie

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1

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Epilog

Die Autorin

Die Romane von Helena Hunting bei LYX

Impressum

HELENA HUNTING

Homecoming

Roman

Ins Deutsche übertragen von Michaela Link

Zu diesem Buch

Sie mussten erst nach Hause kommen, um die große Liebe zu finden …

Dillion Stitch hatte eigentlich nicht vor, so schnell in die kleine Stadt Pearl Lake zurückzukehren, in der sie aufgewachsen ist. Doch als ihre Familie Hilfe braucht, erklärt sie sich bereit, zu helfen. In ihrer Heimat angekommen, muss sie allerdings feststellen, dass sich auch in Pearl Lake einige Dinge verändert haben. Allen voran der neue – und zugegeben attraktive – Nachbar Donovan »Van« Firestone, der in das Cottage seiner Großmutter gezogen ist. Leider ist die erste Begegnung zwischen Dillion und Van alles andere als der leidenschaftliche Beginn einer Sommerromanze, doch lange können die beiden das Knistern nicht leugnen, das sie jedes Mal spüren, wenn sie sich in dem kleinen Ort über den Weg laufen …

Dieses Buch ist für dich, Grandma Nell

1

AUSGEBREMST

Dillion

Ich schiebe eine weitere leere Dose in den Müllsack. Unter meinem Bett liegen noch so viele, dass ich froh sein kann, wenn sie alle hineinpassen. Mein Ex-Freund hat früher mitten in der Nacht Diätlimonade getrunken, weil er den Geschmack von Wasser nicht mochte, sich aber keine weiteren Füllungen für seine Zähne leisten konnte – als wäre Diätlimonade besser als das normale Zeug.

Das war eine seltsame Angewohnheit, um die ich mich jetzt nicht mehr kümmern muss, weil er nicht länger hier wohnt. Und in zwei Tagen werde ich das auch nicht mehr tun. Wir sind nicht im Streit auseinandergegangen – es war eine einvernehmliche Trennung. Und sie bekümmert mich auch weniger als die Tatsache, dass die Firma, für die ich in den letzten Jahren gearbeitet habe, zugemacht hat und ich jetzt arbeitslos bin. Das ist wahrscheinlich ein ziemlich deutliches Zeichen dafür, dass die Beziehung nicht für die Ewigkeit bestimmt war. Trotzdem ist es blöd, keinen Job, keinen Freund und in zwei Tagen auch keine Wohnung mehr zu haben.

Die vielen Getränkedosen habe ich bei dem bisher erfolglosen Versuch gefunden, meinen Koffer unter dem Bett hervorzuholen, wo er seit über zwei Jahren lagert. Und dieser Fund hat mir zu zwei Erkenntnissen verholfen: Die Frau, die alle zwei Wochen unsere Wohnung geputzt hat, hat nie unter das Bett geschaut, und ich werde meinen Koffer höchstwahrscheinlich gar nicht mehr haben wollen, wenn ich ihn erst einmal hervorgekramt habe.

Als mein Telefon klingelt, lege ich die Mission »Koffer bergen und Müll entsorgen« auf Eis. Ich erwäge, den Anruf zu ignorieren. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich mit jemandem sprechen will, vor allem, weil ich das Putzen und Packen bis zur letzten Minute aufgeschoben habe.

Als es zum dritten Mal klingelt, nehme ich den Anruf seufzend entgegen. Es ist nur mein Vater. Ich warte darauf, dass eine latente Enttäuschung oder Traurigkeit darüber aufkommt, dass es nicht Jason ist, mein Ex, aber ich empfinde nichts dergleichen. Jason hat seine Entscheidung getroffen, als er den Job in seiner Heimatstadt in Connecticut angenommen hat, und ich habe meine getroffen mit dem Beschluss, ihm nicht zu folgen.

»Hey, Dad, was gibt’s?«

»Hey, Kleine. Geht es dir gut?«

Er weiß, dass mein Leben in letzter Zeit etwas holprig war. Die Tatsache, dass ich mir eine neue Wohnung suchen muss, habe ich bisher unerwähnt gelassen, weil ich das Gefühl habe, dass meine Trennung von Jason und der Verlust meines Jobs schon Grund genug für ihn sind, sich Sorgen um mich zu machen. Mein Vater glaubt immer noch, dass ich ihn in ein paar Tagen besuchen komme, was eigentlich der Plan war, bis sich herausgestellt hat, dass die Wohnung, in die ich einziehen wollte, von Bettwanzen befallen ist.

»Es geht mir gut. Ist bei dir alles in Ordnung? Normalerweise rufst du mich nicht um« – ich schaue auf die Uhr auf dem Nachttisch – »zehn Uhr morgens an einem Donnerstag an.«

»Äh, na ja, Billy hatte einen Unfall.«

Mein Herz schlägt mir plötzlich bis zum Hals. Mein jüngerer Bruder war noch nie besonders gut darin, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten. »Geht es ihm gut?«

Mein Vater versucht, mich zu beruhigen. »Er ist ein bisschen angeschlagen, aber das wird schon wieder.«

Wenn Dad sagt, dass es Billy gut gehe, muss das nicht unbedingt stimmen. Mein Vater hatte schon immer die Gabe, Situationen herunterzuspielen. Er lässt es so aussehen, als seien die Dinge weniger schlimm, als sie es wirklich sind. So wie vor zwei Jahren, als er und mein Onkel mit dem Baugeschäft der Familie ums Überleben kämpften und uns anderen verheimlichten, dass sie kurz vor dem Bankrott standen. Ich erfuhr erst davon, als sie schon längst wieder auf dem richtigen Weg waren und keine roten Zahlen mehr schrieben.

Auf meine Frage, warum er mir nichts davon gesagt hatte, bekam ich die Antwort, er hätte befürchtet, ich würde mich verpflichtet fühlen, nach Hause zu kommen und in der Firma zu helfen. Zu der Zeit waren Jason und ich gerade in eine hübsche Einzimmerwohnung im Wicker Park gezogen. Ich weiß wirklich nicht, was ich getan hätte, wenn er es mir gesagt hätte, und ich bin dankbar, dass ich es nicht herausfinden musste.

»Was für ein Unfall war das denn? Bitte sag mir, dass es nicht bei der Arbeit passiert ist. Und was genau bedeutet ›ein bisschen angeschlagen‹?« Ich stelle mein Telefon auf Lautsprecher, werfe es auf mein ungemachtes Bett und nehme einen Stapel gefalteter Kleidungsstücke in die Hand, bevor ich sie durchforste, um sicherzugehen, dass sie nicht von meinem Haufen »häufig getragene Kleidung« stammen. Die kommen in meinen Koffer, wenn ich ihn unter dem Bett hervorgeholt und für brauchbar erachtet habe. Ich treffe den Entschluss, dass ich in den nächsten Tagen nichts von dem Stapel tragen werde, also werfe ich alles in eine Kiste mit der Aufschrift »Kleidung«.

Ich muss mich irgendwie beschäftigen, damit ich nicht in Stressmodus verfalle.

»Er war nicht bei der Arbeit, er hatte einen Autounfall. Außerdem war er allein unterwegs und es war niemand anderer beteiligt, aber er hat sich ein Sprunggelenk gebrochen und den Lkw zu Schrott gefahren.« Die Worte meines Vaters klingen abgehackt, fast einstudiert.

Billy arbeitet mit meinem Vater und meinem Onkel zusammen. Sie führen das einzige Bau- und Lohnunternehmen in der Stadt und kümmern sich das ganze Jahr über um alle anfallenden Arbeiten, vom Schneeräumen im Winter über die Rasenpflege im Sommer bis hin zu Renovierungsprojekten und dem Bau von Gerüsten. In den letzten Jahren haben sie vermehrt einige Aufgaben an Subunternehmer vergeben, weil die reichen Städter am Nordufer des Sees sie immer häufiger beauftragen, ihre Villen noch größer zu machen, als sie es ohnehin schon sind.

Ich lasse mich auf mein Bett fallen und fummle rastlos an einem Paar Socken herum. »Wie schlimm ist der Bruch?«

»Der Arzt sagt, der Gips muss sechs bis acht Wochen dran bleiben.«

Acht Wochen scheinen mir eine lange Zeit zu sein. Dabei ist erst Mitte Juni. Das ist die arbeitsreichste Zeit des Jahres für sie. »Ist es am rechten oder linken Fuß?«

»Am linken.«

Ich atme erleichtert auf. »Er kann also noch fahren.«

»Na ja, nicht wirklich.« Ich spüre förmlich, wie mein Vater am anderen Ende der Leitung im Raum auf und ab tigert. Das ist eine Angewohnheit, die wir gemeinsam haben.

»Was meinst du mit ›nicht wirklich‹?«

»Sein Führerschein ist eingezogen worden.« Mein Vater seufzt. »Er hat den Lkw um den Briefkasten der McAlisters gewickelt, weil er betrunken war. Also wird er wegen Trunkenheit am Steuer angeklagt.«

»Ach du meine Güte. Was zum Teufel hat er sich dabei gedacht?« Es ist eine rein rhetorische Frage. Ich kann mir schon denken, was passiert ist. Er ist mit seinen Freunden ausgegangen, hat sich nicht im Griff gehabt und ist betrunken nach Hause gefahren. Aber er hat es nicht bis zu unserer Einfahrt geschafft, ohne irgendetwas zu rammen. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert ist – obwohl wir beim letzten Mal nicht beweisen konnten, dass er betrunken war, denn wir fanden seinen Wagen erst am nächsten Morgen zwischen zwei Bäumen im Graben. Zum Glück hatte er niemanden verletzt – aber das macht es nicht besser.

»Anscheinend hat er überhaupt nichts gedacht. Ich glaube, er hat nicht mal gemerkt, wie betrunken er war. Nachdem er den Briefkasten der McAlisters gerammt hatte, hat er versucht, den Rest des Weges nach Hause zu Fuß zu gehen, aber zu guter Letzt ist er im Graben eingeschlafen. Die McAlisters haben ihn am Morgen gefunden, als sie mit dem alten Rufus Gassi gehen wollten.«

Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht. Den Tratsch darüber kann ich nur erahnen. Zwischen dem Haus der McAlisters und unserem stehen etwa fünfzehn andere Häuser. Wir kennen die Familie schon unser ganzes Leben. Billy war in der Highschool eine kurze Zeit mit ihrer jüngsten Tochter zusammen, und mein Vater hat vor ein paar Jahren ihre Garage gebaut.

Bei uns weiß jeder alles über jeden. So ist das Leben in einer Kleinstadt: All die neugierigen Klatschbasen haben ihre Ohren am Boden und lechzen wie geifernde Hunde nach dem neuesten Tratsch. Und jetzt ist meine Familie ihre Hauptzielscheibe.

»Für wie lange ist sein Führerschein gesperrt?«

»Wahrscheinlich für ein Jahr, aber Bernie hat gesagt, dass er es vielleicht auf sechs Monate verkürzen kann.« Bernie Sawyer ist der Anwalt der Stadt. Er wohnt in einem riesigen Haus, das im Grunde die Grenze zwischen den Sommerhäusern und den dauerhaft bewohnten Häusern am See bildet. Er und mein Vater sind seit Kindertagen gute Freunde.

»Das ist immer noch eine lange Zeit. Selbst wenn er seinen Gips loswird, muss ihn jemand herumkutschieren. Nur gut, dass keine Schneesaison ist, oder?« Meine Heimatstadt Pearl Lake liegt in einem Schneegürtel; wir haben lange Winter und endlos viel weißen Pulverschnee zu bewältigen. Das ist toll zum Rodeln, Schlittschuhlaufen und Skifahren, aber nicht so toll zum Autofahren.

»Es wäre besser, wenn wir nicht gerade mitten in einem großen Renovierungsprojekt stecken würden.«

»Aber ihr habt doch noch Aaron, oder?« Billy ist vielleicht nicht in der Lage, die schweren Arbeiten auf der Baustelle zu erledigen, aber zu ihrer Truppe gehört auch Aaron Saunders, der in etwa so alt ist wie mein Bruder. Aaron kümmert sich hauptsächlich um die Klempner- und Elektroarbeiten, kann jedoch auch für Billy einspringen.

»Ja, allerdings macht er schon genug Überstunden. Es sieht so aus, als müsste ich die nächsten Monate wieder auf unseren Baustellen mit anfassen.«

Das lässt mich aufhorchen. »Wer übernimmt dann den Papierkram, wenn du wieder vor Ort bist? Bitte sag nicht, dass Mom das machen soll.«

»Ich weiß nicht, ob ich eine Wahl habe.« Er kichert, aber es ist ein freudloser Laut.

»Es muss noch eine andere Möglichkeit geben, Dad.« Vor einigen Jahren hatte mein Vater die tolle Idee, meine Mutter für die Buchhaltung einzustellen. Aber es lief nicht gut, und ich musste über die Weihnachtsfeiertage alles wieder in Ordnung bringen, damit es bei der Steuererklärung nicht zu einem totalen Chaos kam. Danach musste er jemanden einstellen, der ihm half, weil er nicht allein mit allen Bereichen des Unternehmens jonglieren konnte.

»Es gibt niemanden, es sei denn, du willst für ein paar Monate wieder zu Hause wohnen, statt nur für ein paar Tage zu Besuch zu kommen.«

Ich lache, doch es ist ein tonloses Lachen. Ich liebe meine Familie, aber ich habe mir ein Bein ausgerissen, um ein Stipendium für ein College in Chicago zu bekommen. Weit weg von Pearl Lake und all den Dingen, die es nicht zu bieten hat, wie Anonymität und Abwechslung.

Ich habe vier Jahre damit verbracht, meinen Bachelor in Betriebswirtschaftslehre zu machen. Ich hatte zwei Jobs, habe alle Prüfungen mit Bravour bestanden und gleich nach dem College einen gut bezahlten Job gefunden. Eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, es geschafft zu haben. Ich hatte Pearl Lake hinter mir gelassen und mir meinen Traum von einem Leben in Chicago erfüllt, das zu Hause alle »die Stadt« nennen, als sei es die einzige Stadt auf der Welt. Für mich war es das auch. Doch jetzt bin ich arbeitslos und werde in zwei Tagen auch noch obdachlos sein.

Für mich bedeutet die Rückkehr nach Hause, dass ich gescheitert bin. Mein Versagen bedeutet, dass ich mich all den Menschen stellen muss, die ich daheim zurückgelassen habe und denen ich in den letzten zehn Jahren bewusst aus dem Weg gegangen bin. Es bedeutet, dorthin zurückzukehren, wo jeder alles über jeden weiß. Aber ich habe in Chicago definitiv keine Bleibe und könnte mir nicht mal ein Airbnb-Zimmer leisten.

Meine Antwort lässt wohl zu lange auf sich warten, denn mein Dad bricht das Schweigen. »Hast du einen neuen Job in der Stadt ergattert?«

»Nein, ich habe noch nichts Passendes gefunden.« Ich habe mich auf eine Reihe von Stellen beworben, aber keine davon ist das, was ich wirklich machen will – und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht einmal selbst, was das sein soll. Ich habe mich immer nur darauf konzentriert, irgendeinen Job zu finden, um weiter in der Stadt leben zu können. Nur habe ich mir nie die Frage gestellt, was ich eigentlich langfristig beruflich machen will. Und jetzt, da ich in der Lage bin, mir einen neuen Job zu suchen, den ich liebe, bin ich etwas ratlos.

»Was genau müsste ich für dich tun, wenn ich mich bereit erklären würde, eine Weile zu bleiben?«

»Das Gleiche wie beim letzten Mal. Du hilfst bei der Buchhaltung, nimmst Kundenanrufe entgegen, organisierst Lieferungen und knüpfst Kontakte zu den anderen Unternehmen in der Stadt. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber ich könnte deine Hilfe wirklich gebrauchen, Darlin’. Nur für ein paar Monate, bis Billy wieder auf den Beinen ist.« Meine Familie und meine Freunde haben die Angewohnheit, meinen Namen so auszusprechen, dass er sich wie Darlin’ und nicht wie Dillion anhört.

Ich schaue mich in meinem halb leer geräumten Schlafzimmer um und überlege, was von meinem Leben hier noch übrig ist. Ich habe keinen Job und keinen festen Freund. Alle Leute, mit denen ich zusammengearbeitet habe, mussten entweder einen anderen Job annehmen, oder sie waren Teil eines Paares, sodass ich jetzt das fünfte Rad am Wagen bin. Sicher, ab und zu bekomme ich eine SMS oder eine Einladung auf ein paar Drinks, aber von ehemals gemeinsamen Freunden, nicht solchen, bei denen ich mich nach der Trennung von Jason melden würde.

Ich habe noch Kontakt zu einigen Freundinnen aus dem College, aber die meiste Zeit habe ich doch damit verbracht, zu studieren und weiterzukommen. Mir ist klar geworden, dass ich die Stadt zwar liebe, aber dass ich mir ein Leben in einer Seifenblase aufgebaut habe, ein Leben, das hauptsächlich aus meinem Freund und meinem Job bestand, und dass mir jetzt, da ich beides verloren habe, nicht mehr viel bleibt, woran ich mich festhalten kann.

Außerdem ist es eine große Sache, dass mein Vater um Hilfe bittet. Wir haben uns immer gut verstanden, und ich weiß, wie viel Arbeit das Projektmanagement mit sich bringen kann, vor allem in einem so kleinen Unternehmen. Ich möchte nicht, dass mein Vater in die gleiche Lage gerät wie vor zwei Jahren – nicht, wenn ich es verhindern kann. Selbst wenn ich dafür die Stadt hinter mir lassen muss.

»Okay, Dad, ich komme nach Hause.«

2

KLEINSTADTSORGEN

Dillion

Zwei Tage später sitze ich am Steuer eines gemieteten Umzugswagens und transportiere meine Habseligkeiten zurück in die Stadt, in der ich aufgewachsen bin und von der ich mir geschworen habe, nie wieder dort zu leben. Natürlich, mache ich mir bewusst, ist dies nur eine Übergangslösung – ich werde nur so lange bleiben, wie meine Familie meine Hilfe braucht, und dann werde ich in die »Stadt« zurückkehren. Jetzt habe ich Zeit für die Jobsuche, ohne den Druck, einen x-beliebigen Job annehmen zu müssen, weil ich keine andere Wahl habe. Zumindest rede ich mir das ein.

Ich komme an dem alten, verwitterten Schild am Ortseingang von Pearl Lake vorbei.

Deine Träume sind nur eine Bootsfahrt entfernt steht in eleganter Schreibschrift darunter, und ein kleines, verwelktes Blumenbeet, umgibt den Fuß des Schildes. Der Sommer hat gerade erst begonnen und schon müssen wir mit diesen fiesen Hitzewellen fertigwerden. Das Gras hat einen Farbton angenommen, den man normalerweise als »Augustgold« bezeichnet, wenn alles trocken, braun und brüchig ist. Offensichtlich brauchen wir bald eine ordentliche Menge Regen, sonst wird es am Strand keine Lagerfeuer geben. Die Bäume an den Rändern der asphaltierten Straße sind üppig und grün und kraftvoll. Vereinzelte Hauseinfahrten durchbrechen die Baumreihen, dahinter verstecken sich verschlafene kleine Häuser im Landhausstil. Es ist das komplette Gegenteil von Chicago, und bei jedem meiner Besuche hier kann ich es kaum erwarten, danach wieder in den Trubel der Stadt zurückzukehren.

Ich biege in die Hauptstraße ein, die zur Stadt führt, und schalte einen Gang zurück, um den steilen Hügel hinaufzufahren. Oben angekommen, werde ich langsamer und lasse mir einen Moment Zeit, um den Blick auf den See zu genießen. Das wunderschöne, klare, tiefblaue Wasser ist von üppigen Laubbäumen und immergrünen Tannen umgeben. Auf der rechten Seite erheben sich die imposanten Häuser am Seeufer über die Landschaft. Ihre Existenz erinnert mich an all die Dinge, die mir als Teenager so erstrebenswert erschienen. Ich wollte auf der anderen Seite des Sees leben und all die Dinge haben, die sie hatten.

Über künstliche Sandstrände gelangt man ins Wasser; an den Docks sind Bootshäuser und teure Wasserfahrzeuge befestigt; Wassertrampoline und Schwimmmatten treiben auf der Oberfläche. Jetskis und Schnellboote ziehen ihre Bahnen durch den See, aus der Ferne betrachtet nur so klein wie Spielzeug. Für die Menschen auf dieser Seite des Sees ist ihre Zeit hier kein normaler Alltag, sondern eher eine Flucht vor ihrem sonst so hektischen Leben. In meiner Jugend habe ich sie darum beneidet, dass sie Pearl Lake verlassen konnten.

Die linke Seite ist weit weniger opulent. Ein Strandabschnitt mit dunklerem Sand und dicht wachsenden Bäumen füllt eine Ecke aus, der Rest ist von Bäumen umgeben und mit kleinen, schmalen Anlegestellen und im Wasser auf und ab hüpfenden Booten gesprenkelt. Und genau zwischen den beiden Welten steht Bernies Haus, auf der Grenze zwischen den Reichen und den einheimischen Normalbürgern, wie sich die Stadtbewohner selbst nennen.

Mit einem tiefen Atemzug fahre ich den steilen Abhang hinunter und biege nach links in die Innenstadt ab, um meine Mutter auf dem Heimweg aufzulesen. Ich habe die Fahrt so geplant, dass ich genau dann ankomme, wenn ihre Schicht endet.

Ich biege in die Main Street ein und fahre an den Geschäften vorbei, die von den wohlhabenderen Mitgliedern der Gemeinde frequentiert werden: hochpreisige Möbelgeschäfte und ein Verleih für Wasserspielzeug; ein paar nette Restaurants, die Stadtbewohnern gehören; Indulgence, der überteuerte Eis- und Schokoladenladen, dem ich insgeheim schon immer gern einen Besuch abgestattet hätte. Aber ich konnte mich nie dazu durchringen, weil ich damit Corbin’s Mini-Markt, den Laden eines der Freunde meines Vaters, um seine Einnahmen gebracht hätte.

Schließlich fahre ich auf den städtischen Parkplatz und stelle mein Ungetüm von Umzugswagen in einer der Lücken am Rand ab. Sobald ich die Tür öffne und auf den schlecht gepflasterten Bürgersteig springe, schlägt mir die schwüle Juniluft entgegen.

Einige Jugendliche von der reichen Seite des Sees haben sich an den uralten Picknicktisch neben dem ebenso uralten Imbisswagen gesetzt. Der Wagen ist derselbe, in dem ich mir in ihrem Alter etwas dazuverdient habe. Das war wahrscheinlich einer meiner meist geliebten und meist gehassten Jobs. In jenem Sommer habe ich ständig nach abgestandenen Pommes gerochen. Aber es war ein Job und Geld für mein Bankkonto. Außerdem war es auch der letzte Sommer, den ich in Pearl Lake verbracht habe.

Ein junges Mädchen mit langem blonden Haar, das zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden ist, lehnt sich aus dem Fenster, während einer der Sommerjungs sie mit seinem perfekten Lächeln und geraden Zähnen anstrahlt. Erinnerungen kommen an die Oberfläche, manche schön, manche weniger schön.

Diese Sommerjungs waren immer so perfekt. Sie waren anspruchsvoll und privilegiert, sie wussten, dass sie mehr hatten als wir und besser dran waren als wir – wir, die wir in einer Kleinstadt aufwuchsen, isoliert und abgeschottet. Und in gewisser Weise kaufte ich ihnen das ab. Ihr arrogantes Auftreten ließ meine Freundinnen in Verzückung geraten. Die einheimischen Jungs zogen den Kopf ein oder blähten ihre Brust auf und sahen auf ihre reichen Altersgenossen herab, weil sie mehr Geld hatten und nie dafür arbeiten mussten. Im Gegensatz zu den Kids aus Pearl Lake, deren Eltern die örtlichen Läden betrieben und die Leute versorgten, die für ein paar Wochen oder Monate im Jahr hierherkamen und dann alles wieder zurückließen.

Wir waren Diener der Wohlhabenden. Was uns betraf, so lebten wir außerhalb der Schneekugel ihres Anspruchsdenkens. Wir waren nah genug dran, um die Schneekugel zu schütteln, das Chaos zu beobachten, das wir anrichteten, und dann diese schöne, heile Welt wieder beiseitezulegen, damit sie bis zur nächsten Saison Staub ansammeln konnte.

Ich gehe am Imbisswagen vorbei und überquere die Straße in Richtung Tom’s Diner, wo meine Mutter arbeitet, seit ich denken kann. Als Teenager habe ich sie immer von der Arbeit abgeholt. Aber niemals mein Bruder, weil er nicht sehr zuverlässig war und die Hälfte der Zeit keine Fahrerlaubnis hatte. Anscheinend hat sich nicht viel geändert.

Ich wappne mich innerlich, während ich durch die Milchglasscheibe spähe und die Leute betrachte, die an den Tischen sitzen. Die Kundschaft des Diners setzt sich hauptsächlich aus älteren Stadtbewohnern oder den Sommer-Teens von der reichen Seite des Sees zusammen. Die Jugendlichen aus Pearl Lake halten sich dort nur selten auf. Sie bevorzugen den Imbisswagen, weil es dort für wenig Geld etwas zu essen gibt und ihnen die lästige Aufsicht durch Erwachsene und Eltern erspart bleibt.

Ich öffne die Tür und die Klingel über mir bimmelt leise. Einige Köpfe drehen sich zu mir, als ich in den klimatisierten Imbiss trete und die Tür hinter mir zufallen lasse. Ein Manöver, bei dem mir ein Hauch von heißer, feuchter Luft folgt. Ein Schauer überläuft mich, als der kühle Luftstrom, der aus dem Lüftungsschacht über meinem Kopf kommt, die Hitze auffrisst und absorbiert.

»Darlin’!«, ruft meine Mutter von ihrem Platz hinter dem Tresen.

Sie wischt sich die Hände an der Schürze ab und schlüpft an einer anderen Bedienung vorbei, die gerade eine Bestellung in die Computerkasse eintippt. Die Kasse muss ein Upgrade seit meinem letzten Besuch hier sein. Das Mädchen am Computer dreht sich zur Tür um und ihren Gesichtszügen ist Erschrecken abzulesen, als ihr Blick über mich hinweggleitet. Sie kommt mir irgendwie bekannt vor und ich brauche einige Sekunden, um zu begreifen, dass es sich um Claire handelt, die jüngste Schwester einer meiner Freundinnen von der Highschool. Aber nachdem ich in die Stadt gezogen war, haben wir uns aus den Augen verloren. Was mich betrifft, habe ich so getan, als existiere sie nicht, was es umso schwieriger für mich macht, wieder hier zu sein.

Am Tresen erspähe ich bekannte Gesichter, Stadtbewohner, die regelmäßig im Diner essen. Einige erscheinen zum Frühstück und gehen erst wieder, wenn die Schicht meiner Mutter am Nachmittag endet. Die Gäste trinken Kaffee und benutzen den Diner wie ihr eigenes Wohnzimmer, nicht wie ein richtiges Lokal.

»Meine Kleine ist wieder zu Hause!« Meine Mutter schlingt ihre Arme um meinen Hals, und ich stolpere einen Schritt nach vorn. Sie ist einige Zentimeter kleiner als ich, und ich trage auch noch Stöckelschuhe – zugegebenermaßen nicht die beste Wahl, um einen Umzugswagen zu fahren, aber alte Gewohnheiten lassen sich anscheinend nur schwer ablegen. Die Schuhe sind auch eine kleine Rebellion, ein Zeichen dafür, dass ich nicht an einen Ort zurückkehren will, den ich eigentlich nur in den Ferien zu besuchen geplant hatte.

Abgesehen davon, dass ich etliche Zentimeter größer bin als meine Mutter, bin ich praktisch eine Kopie von ihr. Wir haben das gleiche lockige, blonde Haar, blassgrüne Augen, eine Stupsnase und volle Lippen. Darüber hinaus haben wir beide einen hyperaktiven Stoffwechsel, was bedeutet, dass es für uns praktisch unmöglich ist, zuzunehmen.

Sie ergreift meine Hand und zieht mich zum Tresen, an dem in Reih und Glied rote, vinylbezogene Hocker stehen, und klopft auf einen freien Platz. »Setz dich. Ich kassiere nur noch schnell ab. Kann ich dir etwas anbieten? Eine Tasse Kaffee? Wie wär’s mit einem Stück Kuchen? Die Fetterlys haben eine Ladung ihrer Erdbeer-Rhabarber-Puddingtörtchen vorbeigebracht. Du weißt schon, die mit den Streuseln. Wie wär’s mit einem Stückchen davon?«

So gern ich auch Nein sagen würde, weil ich lieber von hier verschwinden möchte, weg von all den bekannten Gesichtern und dem unvermeidlichen Klatsch und Tratsch, aber der Kuchen der Fetterlys ist der beste im ganzen Land und wird jedes Jahr auf der Herbstmesse mit einem Preis ausgezeichnet. Außerdem ist mir irgendwie nach Frustfressen zumute.

»Vielleicht könntest du mir ein Stück einpacken? Ich habe auf dem Weg hierher zu Mittag gegessen.« Das ist keine komplette Lüge. Ich habe auf der Fahrt aus der Stadt eine ganze Tüte Studentenfutter gegessen. Aber in Wahrheit möchte ich einfach nicht in Gespräche mit Leuten verwickelt werden, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Und erst recht möchte ich nicht über die Sache mit meinem Bruder reden oder Fragen bezüglich meiner eigenen Situation beantworten müssen.

»Klar, natürlich. Also nur einen Kaffee.« Meine Mutter schlüpft hinter den Tresen und stellt schnell einen Becher vor den Hocker, den einzigen, der noch nicht besetzt ist. Dann schenkt sie mir frischen, dampfenden Kaffee ein, während ich mich neben Rudy Dunn niederlasse, dem zufällig auch der Imbisswagen auf der anderen Straßenseite gehört. Oder zumindest hat der Wagen früher ihm gehört.

Meine Mutter schenkt ihm Kaffee nach und kassiert dann bei einem anderen Gast. »Na, wenn das nicht die kleine Dillion Stitch ist! Du bist erwachsen geworden, hm?«

»Sieht so aus. Betreiben Sie immer noch den Imbisswagen?«

»Klar. Meine Nichte arbeitet seit diesem Sommer dort. Sie lockt die ganzen Jungs vom anderen Seeufer hierher. Genauso wie in dem Sommer, als du für mich den Laden geschmissen hast. Ich muss natürlich ein Auge darauf haben. Aber ich kann nicht sagen, dass es schlecht fürs Geschäft wäre, wenn du verstehst, was ich meine? Sie ist eben hübscher anzusehen als ich alter Knacker.« Als er grinst, sehe ich, dass ihm hinter den Mundwinkeln, die von Lachfältchen umrahmt sind, einige Zähne fehlen.

Ich erwidere das Lächeln. Ich weiß noch genau, wie es war, als die Jungs im Sommer mit ihren auffälligen Autos oder ihren neuen Geländewagen aufgetaucht sind.

Sie haben immer in der Nähe des Picknicktisches herumgehangen, ihr makelloses Lächeln gezeigt und schamlos geflirtet. Und immer haben sie versucht, die Mädchen aus der Gegend abzuschleppen, als sei das für sie eine Art Spiel. Aber wenn sie auf unserer Seite des Sees aufgetaucht sind, um mit uns Partys zu feiern, waren sie an der Reihe, zu lernen, welchen Platz sie in dieser Stadt hatten.

Einmal habe ich einen Sommerjungen am Strand geküsst, um es meinem Freund heimzuzahlen, der sich nie entscheiden konnte, ob wir nun eine Beziehung hatten oder nicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte er gerade beschlossen, dass wir eine Pause brauchen.

Es war die Art von Kuss, in den man versinken kann, zumindest bis jemand eine Bemerkung über »Abschaum aus der Gosse« gemacht hat. Das ist nicht gut angekommen. Damals hat es den Städtern nicht gefallen, wenn einer der Sommerjungs die einheimischen Kids ausnutzte oder, was noch schlimmer war, seine abschätzige Meinung über uns kundtat. Es gab immer mal wieder Schlägereien, und den Einheimischen waren gebrochene Nasen oder Narben egal. Ich bin an jenem Tag vom Strand verschwunden, sobald die ersten Fäuste flogen, weil ich mich nicht einer solchen Peinlichkeit oder Demütigung aussetzen wollte. Ich bin mir nicht sicher, wie viel sich in den Jahren meiner Abwesenheit verändert hat, wenn ich mir so anschaue, wer bei dem Imbisswagen gesessen hat, als ich daran vorbeigekommen bin.

Rudy und ich plaudern ein wenig – hauptsächlich erkundige ich mich nach seiner Familie, seinem Boot und den Fischen, die er in dieser Saison gefangen hat, um ein Gespräch über Billy und mich zu vermeiden.

Nach zwei Minuten kommt Claire mit dem Kaffee vorbei und schenkt mir ein steifes Lächeln. »Darf ich dir nachschenken, Dillion?«

Ich bedecke mit einer Hand den oberen Rand meiner Tasse. »Das reicht mir, danke. Wie geht es dir denn so?« Heftige Schuldgefühle suchen mich plötzlich heim. All diese Menschen, mit denen ich meine Kindheit verbracht habe, habe ich zurückgelassen wie eine Schlange ihre abgestreifte Haut. Erfüllt von dem verzweifelten Wunsch, dem Leben in der Kleinstadt zu entkommen.

»Mir geht’s gut.« Claire streckt ihre linke Hand aus und spreizt die Finger: Ein kleiner Diamant glitzert im Sonnenlicht. »Ich habe mich letzten Monat mit Tommy Westover verlobt. Wir werden nächsten Sommer im Garten meiner Eltern heiraten.«

»Oh wow! Herzlichen Glückwunsch! Das ist ja wunderbar.« Ich erinnere mich an Tommy Westover. Er hat ein Jahr nach mir seinen Abschluss gemacht und in der Schulmannschaft Football gespielt. Außerdem hat er zwei ältere Brüder.

»Danke.« Ihr Lächeln ist jetzt weicher. »Er leitet den Baumarkt. Den konnte er übernehmen, weil Harry als Rentner nur noch in Teilzeit arbeiten wollte. Wenn wir verheiratet sind, mache ich dort vielleicht die Buchhaltung oder so.« Die Glocke der Durchreiche klingelt, und Claire wirft einen Blick über ihre Schulter. »Jedenfalls war es schön, dich zu sehen, Dillion. Vielleicht laufen wir uns ja mal wieder über den Weg, wenn du eine Weile in der Stadt bleibst.«

Ich schlucke mein Unbehagen herunter und lächle. »Auf jeden Fall.«

Sie nickt, wendet sich der Durchreiche zu und balanciert mehrere Teller gleichzeitig auf ihrem Unterarm, um nur einen Gang machen zu müssen.

Zum Glück ist meine Mutter mit dem Kassieren fertig, sodass wir uns aus dem Staub machen können, bevor ich wieder über meine Vergangenheit stolpere. Ich folge ihr durch die Tür, und als wir zum Umzugswagen kommen, wird mir plötzlich klar, dass ich kein Auto mehr haben werde, wenn ich ihn zurückbringe. Ich bin es inzwischen gewohnt, in einer Stadt zu leben, wo ich kein eigenes Auto brauche. Hoffentlich hat mein Vater ein Fahrzeug, das ich benutzen kann.

»Wie war die Fahrt? Nicht zu viel Verkehr?« Mom streicht ihren Rock glatt und schlägt die Beine übereinander. Dann verschränkt sie die Hände auf dem Schoß, vermutlich, um zu verhindern, dass sie zappelig wird. Meine Beziehung zu meiner Mutter war nie besonders einfach. Ich liebe sie, und sie ist eine tolle Mutter, aber meine Lebensziele und ihre sind nicht die gleichen. Sie war noch nie in Chicago und lebt glücklich in ihrer kleinen Seifenblase, in der sich niemals etwas ändert. Wir kommen gut miteinander aus, aber sie versteht nicht, dass ich mehr will. Sie liebt das einfache Leben, und ich liebe die Stadt.

»Sobald ich aus der Stadt raus war, ist alles wie geschmiert gelaufen. Wie sieht es denn hier aus? Und wie geht es Billy?«

»Oh, du kennst ja deinen Bruder; ihm geht es gut. Es ist ja niemand verletzt worden.«

Ich schaue sie kurz an. »Er ist betrunken Auto gefahren, Mom.«

»Es war zwei Uhr nachts. Die Einzigen, die er in Gefahr gebracht hat, waren ein Reh und er selbst.«

»Er ist gegen den Briefkasten der McAlisters gefahren! Was wäre passiert, wenn es ihr Haus gewesen wäre?« Typisch für meine Mutter, einen Unfall unter Alkoholeinfluss zur Bagatelle herunterzuspielen.

Meine Mom lacht spöttisch. »Ihr Haus steht gute fünfzehn Meter von der Straße entfernt; er hätte auf dem Weg dorthin eine Menge Bäume umfahren müssen, um das zu schaffen. Wie auch immer, er hat seine Lektion gelernt. Es wird nicht wieder vorkommen, vor allem, weil er die nächsten Monate nicht fahren darf.«

»Dad sagte, Bernie würde versuchen, das Strafmaß von einem Jahr auf sechs Monate zu verkürzen.«

»So ist es. Und er wird mit deinem Dad zur Arbeit fahren können, bis das alles geklärt ist. Aber genug davon.« Meine Mom tut das, was sie am besten kann, wenn es um meinen Bruder geht. Die Devise heißt: leugnen, ausweichen und das Thema wechseln. »Hat Claire dir erzählt, dass sie den jüngsten Sohn der Westovers heiraten wird? Er ist so ein netter junger Mann. Und sie feiern die Hochzeit im Garten der Bells. Zumindest ist das der Plan. Es soll Spanferkel geben. Ist das nicht schön?«

Ich lasse das Thema mit Billy erst einmal ruhen. Ich werde ihn noch früh genug zu Gesicht bekommen und hoffentlich erzählt mir mein Dad dann die ganze Geschichte. »Das klingt toll, Mom.«

»Es tut mir leid, dass aus der Sache mit Jackson nichts geworden ist. Schade, dass wir ihn nie kennenlernen durften.«

»Er heißt Jason, und wir hatten einfach unterschiedliche Lebenspläne, das ist alles.« Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht auszusprechen, was ich eigentlich sagen will, nämlich dass sie ihn hätten kennenlernen können, wenn sie uns nur ein einziges Mal in Chicago besucht hätten. Ich habe ihn nie mit nach Hause gebracht, weil … nun ja, in unserem kleinen Haus mit drei Schlafzimmern gab es keinen Platz für ihn, und über die Feiertage ist er immer zu seiner Familie gefahren. Wenigstens haben sich seine Eltern die Mühe gemacht, uns ein paarmal in der Stadt zu besuchen.

»Mmm.« Meine Mutter nickt und streicht weiter über den Rock. »Ehrlich, ich habe schon fast erwartet, dass ihr euch verlobt. Aber irgendwann wirst du schon den Richtigen finden.« Sie tätschelt meinen Arm und schenkt mir ein kleines Lächeln.

»Da bin ich mir sicher.« Aber wer auch immer er ist, ich bezweifle, dass ich ihn in Pearl Lake finden werde.

Wir fahren an vertrauten Einfahrten vorbei, die mit Blechbriefkästen gesäumt sind; manche sind hübsch verziert, andere sehen aus, als würden sie gleich herunterfallen. In unserer Einfahrt steht ein Briefkasten, der wie ein Puppenhaus aussieht. Meine Mutter streicht ihn jedes Jahr neu an. In diesem Jahr ist er ein hübsches, weißes Haus mit einem roten Dach und Blumenkästen an jedem Fenster.

Ich biege in die von Bäumen gesäumte, geschotterte Einfahrt ein und halte vor dem alten, heruntergekommenen Haus, das eher wie ein für diese Seite des Sees typisches Cottage aussieht. Mein Vater hat ständig irgendein Projekt, eine Renovierung, die er in seiner Freizeit in Angriff nehmen will, von der er zugegebenermaßen noch nie viel hatte. Das Gerüst um das Haus herum verrät, dass er die Ziegel des Schornsteins neu verfugen will. Die Holzverkleidung ist auf der rechten Seite frisch gebeizt worden, aber auf der linken Seite ist sie immer noch unbehandelt und verblasst. Ich finde es gleichermaßen schön und scheußlich.

»Dein Vater hat in der Garage Platz für deine Sachen geschaffen und wird dir beim Ausladen helfen, wenn er heute Abend nach Hause kommt. Du willst den Umzugswagen sicher zurückgeben, damit du nicht die ganzen Mietgebühren zahlen musst.« Meine Mutter steigt aus, und ihre Tennisschuhe knirschen auf dem Kies.

Ich selbst steige deutlich vorsichtiger aus, denn meine hohen Absätze sind für das Leben in der Kleinstadt und auf dem Land sehr unpraktisch. Ich muss mich wohl damit abfinden, dass ich meine Schuhe mit dem Großteil meiner Sachen einlagern werde. Außerdem muss ich erst noch verkraften, wieder bei meinen Eltern zu wohnen. Mit achtundzwanzig.

»Dein Vater hat im Frühjahr die Küche renoviert! Ich kann es kaum erwarten, sie dir zu zeigen!« Sie bedeutet mir, ihr zu folgen. Ich stecke die Schlüssel in meine Handtasche und mache mir nicht die Mühe, den Wagen abzuschließen. Hier beklaut niemand seine Nachbarn.

Ich folge meiner Mutter ins Haus. Der Eingangsbereich ist klein, mit einem Schrank auf der linken Seite und einer kleinen Bank auf der rechten. Dahinter liegt die Küche.

»Und?« Sie lächelt strahlend und mit offensichtlicher Aufregung. »Was denkst du? Sieht es nicht toll aus? Natürlich ist nicht alles neu, aber sie haben ein Haus im Norden renoviert – du weißt schon, wo die reichen Leute wohnen.« Sie wedelt mit der Hand in der Luft, als sei die Erklärung albern. »Jedenfalls hat der Besitzer gesagt, dein Vater dürfe alles mitnehmen, was er will. Kannst du dir das vorstellen? Die Küche war praktisch nagelneu!«

Die Schränke sehen tatsächlich aus, als wären sie erst ein paar Jahre alt – weiße, schlichte Shaker-Möbel. Es ist auf jeden Fall eine große Verbesserung gegenüber der Küche aus den neunziger Jahren, mit der ich aufgewachsen bin. Die hochmoderne Kücheneinrichtung ist wunderschön, aber sie unterstreicht auch, wie veraltet der Rest des Hauses ist. Trotzdem kann ich verstehen, warum meine Mutter davon so begeistert ist. »Das ist toll, Mom!«

Im Esszimmer neben der Küche stehen ein Tisch im Stil der achtziger Jahre und Holzstühle mit geometrischem Muster – ein Design, das durch die Serie Stranger Things wieder populär geworden ist. Dahinter befindet sich das Wohnzimmer, in dem mein Bruder auf dem schwarzen Ledersofa liegt, das an einigen Stellen so abgenutzt ist, dass der Holzrahmen durchscheint.

Er beansprucht die ganze Couch für sich, und sein gegipstes Bein, das er mit einem Kissen abstützt, baumelt etwa fünfzehn Zentimeter über den Rand, weil er einfach zu groß für das Sofa ist. Im Augenblick sieht er sich gerade eine Folge von Garage Wars an und gönnt sich dabei ein Bier. Auf dem Couchtisch neben ihm liegen die Fernbedienung und eine Flasche mit verschreibungspflichtigen Tabletten.

Ich verkneife mir einen Kommentar, denn wenn ich versuchen würde, meinen Bruder drei Sekunden nach meinem Eintreffen mit Waffengewalt zu erziehen, würde das nur Probleme verursachen, die ich nicht gebrauchen kann. Vor allem, wenn ich auf absehbare Zeit mit ihm in einem Haus leben muss.

»Billy! Du weißt doch, dass du nicht trinken darfst, wenn du Medikamente nimmst!« Mom lässt ihre Handtasche auf den Küchentisch fallen und zieht die Mundwinkel herunter.

Mein Bruder legt den Kopf in den Nacken, und seine struppigen blonden Haare fallen ihm aus der Stirn. Jetzt bemerke ich auch eine große, dicht verpflasterte Wunde und dunkle Schatten um seine Augen. »Ist schon gut, Ma, es ist nur ein alkoholfreies Bier. Oh, hey, Dillion«, ruft er von der Couch herüber. »Ich habe ganz vergessen, dass du für ein paar Tage herkommen wolltest.«

»Hat Dad es ihm nicht gesagt?« murmle ich und ziehe die Braue hoch.

»Hat Dad mir was nicht gesagt?« Billy mag verantwortungslos sein und schlechte Entscheidungen treffen, aber er hat ein lächerlich gutes Gehör. Selbst wenn der Fernseher läuft und die Tür halb geschlossen ist, kann er die Gespräche anderer belauschen.

»Darlin’ bleibt länger als nur ein paar Tage.«

»Wirklich? Und warum? Hast du Urlaub, den du nehmen musst, oder so?«

»Äh, nein, ich bin hier, um auszuhelfen.« Natürlich haben meine Eltern ihm das nicht erzählt.

Er stützt sich auf einen Arm und verzieht dabei das Gesicht. »Wobei sollst du denn helfen?«

»In der Firma.«

Billy runzelt die Stirn. »Du machst Witze, oder? Du kannst ja nicht mal ein Kantholz heben, ohne dir einen Knöchel zu verstauchen.«

Das ist nicht einmal ansatzweise zutreffend. Ich habe meinem Vater früher ständig geholfen. Habe ich das Schleppen von Kanthölzern geliebt? Nein, aber einen Sommer lang hatte ich tolle Bizepse, bis ich begriffen habe, dass ich als Kellnerin oder hinter der Theke viermal so viel Geld verdienen konnte wie mit dem Bau besagter Bar. »Dad muss das große Renovierungsprojekt auf der anderen Seite des Sees beaufsichtigen, also hat er mich gefragt, ob ich im Büro helfen kann.«

»Wie willst du das hinkriegen, wenn du einen Job in der Stadt hast?«

»Ich habe keinen Job mehr. Zumindest nicht in den nächsten Monaten. Sobald du wieder auf den Beinen bist und deinen Führerschein zurückbekommst, ziehe ich wieder in die Stadt.«

Seine Blick verändert sich, und ein träges Lächeln stiehlt sich in seine Züge. »Hast du dich deshalb draußen am Wohnwagen zu schaffen gemacht, Ma?«

»Wohnwagen?«

Moms Augen leuchten auf und sie klatscht in die Hände. »Ich zeige ihn dir! Ich habe ihn ganz schön aufgemöbelt! Er braucht zwar noch etwas liebevolle Zuwendung, aber ich denke, er wird dir gefallen.« Sie ergreift meinen Arm und zieht mich zurück zur Haustür.

Billy wackelt mit den Augenbrauen und lässt sich wieder auf die Couch fallen, um sich erneut auf Garage Wars zu konzentrieren.

Mom führt mich durch die Seitentür auf die überdachte Terrasse. Früher war sie mal ein Wintergarten, aber jetzt ist sie voller Dinge, die gerade nicht benötigt werden, alten, halb kaputten Stühlen und anderem Kram. »Was sind das alles für Sachen?«

»Ach, du kennst doch deinen Bruder. Der ist immer auf der Suche nach Schätzen. Wenn er wieder auf den Beinen ist, wird er sicher einiges davon in Ordnung bringen können. Er hat eine Reihe von Stühlen, die er neu beziehen lassen will, und einen Tisch, den er neu lackieren will.«

Das Ganze sieht eher wie die Beute eines Müllsammlers aus, und ich bezweifle ernsthaft, dass mein Bruder irgendetwas mit den Sachen vorhat, aber auch das behalte ich für mich, damit meine negative Einstellung nicht auf meine Mutter abfärbt oder sie sich mies fühlt. Ich habe den leisen Verdacht, dass ich vielleicht überreagiere, und ich gebe zu, dass das zum Teil an den gegenwärtigen Umständen liegt und zum Teil an der Tatsache, dass ich wieder hier bin, obwohl ich eigentlich nie mehr zurückkehren wollte. Aber ich beobachte mit Sorge, wie unsere Mutter die Dinge bagatellisiert und wie Billy auf der Couch faulenzt und Bier trinkt, nur Tage nach einem Unfall, den er durch Alkohol am Steuer verursacht hat.

Und jetzt werde ich am Haus vorbei zum Schuppen getrieben, wo der Wohnwagen seit fast zehn Jahren geparkt ist. Er ist für meine Benutzung hergerichtet, und an der Markise, die voller teils geflickter, teils noch nicht geflickter Löcher ist, hängen weiße Lichterketten. Irgendjemand hat rechts von der Tür ein paar Campingstühle aufgestellt.

Äußerlich hat sich der Wohnwagen nicht verändert, seit wir ihn vor etwa zwanzig Jahren gekauft haben, als ich noch ein Kind war. Meine Eltern hatten vor, uns zum Campen mitzunehmen, aber wir haben bereits an einem See gewohnt, und ihre Zeit war immer so knapp bemessen, dass sie nie mehr als ein paar Tage Urlaub machen konnten. Und wenn sie doch einmal eine Woche Zeit hatten, zogen sie es vor, in der Nähe ihres Hauses zu bleiben.

Wenn ich als Teenager meinem nervigen kleinen Bruder entfliehen wollte, habe ich mit meinen Freundinnen Tawny und Allie oft im Wohnwagen geschlafen, manchmal auch mit Sue, je nachdem, ob wir gerade miteinander gesprochen haben oder nicht.

»Ich zeige dir, was ich gemacht habe. Ich hatte nicht viel Zeit, also müssen noch ein paar Dinge erledigt werden.« Sie stupst das Loch in der Fliegengittertür an, bevor sie sie öffnet und mich hereinbittet.

Ich habe wahrscheinlich keinen Fuß mehr hier reingesetzt, seit ich achtzehn war. Mein Highschool-Freund Tucker hat sich manchmal nachts zu uns rübergeschlichen und wir hatten superleisen Sex auf dem Boden, der einzigen Oberfläche im Wohnwagen, die nicht quietschte.

Ich schüttle diese Erinnerung ab, als versuchte ich, ein Bild auf einer magischen Tafel auszulöschen. Es sieht so aus, als hätte sich hier seit meiner Teenagerzeit nur wenig verändert. Alles ist noch genau wie damals, nur älter, abgenutzter und voller Mottenlöcher. Es ist wahrscheinlich nicht allzu abwegig zu vermuten, dass Nagetiere sich hier irgendwann eingenistet haben.

Direkt vor mir steht ein kleiner Tisch mit Bänken auf beiden Seiten, die mit braunem Stoff bezogen sind. Rechts davon befinden sich eine winzige Spüle und eine Kochplatte, darunter der Minikühlschrank. Daneben führt eine Tür zu einem kleinen Badezimmer mit Toilette und Waschbecken – eine Dusche gibt es nicht, also muss ich die im Haus benutzen.

Links befindet sich das Bett zum Herunterklappen. Es ist ein Doppelbett und die Bettdecke ist noch dieselbe, die schon in meinem Zimmer lag, als ich fünfzehn Jahre alt war. Sogar mein Plüschhund Fluffy, der früher weiß war und jetzt von einem verfilzten Grau ist, hockt auf dem Kopfkissen.

»Ich weiß, hier muss noch eine Menge Arbeit reingesteckt werden, aber ich habe schon neue Vorhänge aufgehängt! Gefallen sie dir?« Sie zupft am Ende eines pinkfarbenen Vorhangs mit einem geometrischen Muster, das mir das Gefühl vermittelt, der ganze Wohnwagen stehe in der Morgendämmerung mitten in einem wogenden Meer.

»Sie sind toll, Mom.« Ich gebe mein Bestes, um etwas Begeisterung in meine Antwort zu legen.

»Den Riss in der Plane über dem Bett habe ich mit Klebeband geflickt, bis ich ihn versiegeln kann, aber es war in letzter Zeit trocken und es ist auch kein Regen vorhergesagt, also sollte es für ein paar Tage gehen. Und das Bad funktioniert, dafür habe ich gesorgt. Dein Vater hat das Wasser angeschlossen und alles.« Ihr Lächeln ist erwartungsvoll und angespannt.

Neben der braunen Einrichtung aus den Siebzigern und Achtzigern bieten die Vorhänge keinen schönen Anblick. Aber ich kann sehen, dass meine Mutter sich viel Mühe gegeben hat, um den Wohnwagen für mich herzurichten, und sie hat in der wenigen Zeit, die sie hatte, ihr Bestes gegeben.

»Du hättest dir nicht so viel Umstände machen müssen, Mom.«

»Ich dachte, du brauchst vielleicht einen Rückzugsort, vor allem, weil Billy im Haus festsitzt und auf Krücken geht. Wir haben ihn in dein altes Zimmer verfrachtet, weil es größer als seines ist und er sich dort besser bewegen kann. Ich dachte, du würdest dich in dem engen Raum nicht wohlfühlen, also habe ich das hier für dich vorbereitet. Die Heizung funktioniert ebenfalls, also brauchst du dir keine Sorgen zu machen, dass du frieren musst, falls du noch hier sein solltest, wenn das Wetter umschlägt. Du weißt ja, wie kalt die Nächte gegen Ende August werden können.«

Ich nicke zustimmend und schlucke die Panik herunter, die mich bei der Vorstellung erfüllt, so lange hier zu sein, dass ich die Heizung brauche. Nach dem, was ich inzwischen über Billys Verletzungen weiß, werde ich zumindest den ganzen September noch hier sein. »Es ist perfekt, Mom. Das wird toll.«

»Und du kannst die Dusche im Haus benutzen, wann immer du willst, aber du hast hier deine eigene kleine Wohnung. Ich denke, wenn du in die Stadt zurückkehrst, werde ich den Wohnwagen vielleicht zu meiner Mädchenhöhle machen, falls ich mal eine Pause von den Jungs brauche.« Sie lächelt schelmisch. »Vor allem, wenn dein Dad und dein Onkel sich ein paar Bier genehmigt haben. Das Schnarchen ist zu viel.«

Ich kichere. »Ich erinnere mich.«

Sie umarmt mich erneut. »Die Sache mit Jason tut mir leid. Er schien nett zu sein.«

»Das war er auch, ist er immer noch. Er war nur nicht der Richtige. Es ist besser, das jetzt herauszufinden, denke ich.«

»Alles geschieht aus einem bestimmten Grund, nicht wahr? Wenn diese Firma nicht pleitegegangen wäre, wäre er nicht umgezogen, und du wärst nicht wieder bei uns zu Hause gelandet.« Sie drückt meine Hand. »Ich weiß, dass du dir das alles etwas anders vorgestellt hast, Darlin’, aber du gehörst hierher. Das sagt mir mein Bauchgefühl. Und jetzt lasse ich dich allein, damit du dich etwas einleben kannst.«

Sie geht, und ich sacke in mich zusammen. Meine Mom hat schon immer fest an Dinge wie Schicksal und Karma geglaubt und lässt sich ständig von einer verrückten Frau aus der Nachbarstadt die Tarotkarten legen. Früher hat sie ab und zu unsere Nachbarin Bee mitgenommen. Und einmal haben die beiden mich auch mitgeschleppt. Die Dame hatte mir erklärt, sie könne die Karten für mich nicht lesen, weil ich ihre Energie blockiere, was auch immer das heißen mochte.

Ich erkenne keinen Grund, warum ich wieder hier bin, außer dass Schicksal und Karma sich einen Spaß auf meine Kosten erlauben.

3

HOME SWEET HOME

Dillion

Ich gehe zurück zum Umzugswagen und hole meinen Koffer, damit ich mich einrichten kann, wie Mom es vorgeschlagen hat. Es sollte mich nicht überraschen, dass Billy jetzt mein Schlafzimmer hat. Seines ist winzig und bietet kaum Platz für ein Doppelbett und eine Kommode, während in meinem ein großer Kleiderschrank steht. Das Zimmer gehört mir eigentlich schon seit fast zehn Jahren nicht mehr, seit ich in die Stadt gezogen bin, um dort das College zu besuchen.

Und Mom hat recht, was die Privatsphäre angeht. Die ist im Haus Mangelware. Meine Eltern haben ein Badezimmer für sich allein, aber ich werde eine Dusche mit Billy teilen, also ist der Wohnwagen definitiv eine gute Sache.

Ich schaue in den Kühlschrank, eigentlich mehr um festzustellen, ob er kühl ist. Es überrascht mich, als ich ein Sixpack Bier darin entdecke. Und das Bier ist kalt. Ich befreie eine Dose aus dem Plastikring, öffne sie, führe sie an die Lippen und lege den Kopf in den Nacken.

Nach meinem Umzug nach Chicago habe ich aufgehört, Bier aus Dosen zu trinken. Ich habe mit den meisten Dingen aufgehört, die mich an zu Hause erinnerten, weil ich mich so weit wie möglich vom Kleinstadtleben entfernen wollte. Jetzt lasse ich mich aufs Sofa fallen und seufze. Die Vorhänge sind in dem engen, braunen Raum ganz schön schwer zu handhaben, und ich muss mich recken, um sie zu öffnen, damit ich etwas sehen kann, das sich nicht wie ein schlechter LSD-Trip anfühlt.

Hinter den Bäumen steht Bees Cottage. Mein Herz schmerzt bei seinem Anblick, denn ich vermisse sie. Sie war in meiner Kindheit und Jugend ein wichtiger Teil meines Lebens, und selbst nach meinem Umzug nach Chicago sind wir in Verbindung geblieben. Sie hat mir auf eine Weise beigestanden, die ich nie vergessen werde, und die Tatsache, dass ich nicht zu ihrer Beerdigung kommen konnte, hat mich tief getroffen. Ich war auf einer Konferenz im Ausland, als ich die Nachricht erhielt, und hätte es niemals rechtzeitig zur Beisetzung nach Hause geschafft. Andererseits war es vielleicht besser, dass ich die Beerdigung verpasst hatte, denn wenn ich Bees Familie begegnet wäre, hätte ich wahrscheinlich Dinge gesagt, die ich nicht hätte sagen sollen.

Abgesehen von einem ihrer Enkel habe ich von Bee nicht viel Gutes über ihre Familie gehört, und besonders enttäuscht war sie von ihrem Schwiegersohn. Ich glaube, sie hat ihn für den Tod ihrer Tochter verantwortlich gemacht. Ihre Tochter Adelaide war gestorben, als Bees Enkelkinder noch sehr jung gewesen waren. Sie starb an den Komplikationen einer nicht zwingend erforderlichen Operation, zu der sie sich gedrängt gefühlt hatte. Laut Bee hatte ihre Tochter allergisch auf die Narkose reagiert und einen Herzinfarkt erlitten. Bei ihrem Tod war sie erst in ihren Dreißigern gewesen. Bee nannte es die Verschwendung eines wunderschönen Lebens. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es ist, sein Kind zu verlieren, ganz gleich, wie alt es ist.

Bees Tod hat mich getroffen wie der Verlust eines Familienmitglieds, und ich habe nicht das Gefühl, die Chance gehabt zu haben, richtig um sie zu trauern. Sie ist im Schlaf gestorben – an einem Hirnaneurysma, das sie schnell und schmerzlos getötet hat. Wenigstens hat sie nicht gelitten.

Ich beschließe, das zu tun, wovor ich mich in den letzten sechs Monaten gedrückt habe, nämlich nach Bees Haus zu sehen. Eigentlich hatte ich gehofft, dass ihr Enkel inzwischen endlich seine Prioritäten auf die Reihe gekriegt und das Cottage ausgeräumt hätte.

Mein Vater sieht jede Woche nach dem Haus. Nagetiere lieben verlassene Häuser, die Rohre können verstopfen und die Kläranlage kann ziemliche Komplikationen verursachen, wenn niemand sicherstellt, dass alles richtig funktioniert. Aber da ich weiß, dass Dad sehr beschäftigt war, frage ich mich, in welchem Zustand ich das Cottage vorfinden werde.

Ich erhebe mich von der Couch und sehe etwas aufblitzen. Ich ziehe die Vorhänge weiter auseinander und runzle die Stirn, als ich den Sportwagen bemerke, der in Bees Einfahrt steht. Er sieht teuer aus, wie etwas, das jemand von auswärts fahren würde.

Donovan Firestone, Bees Lieblingsenkel, stammt aus Chicago, das könnte die Lösung des Rätsels sein. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass wir in derselben Stadt leben und er all seine Sommerferien in der Nachbarschaft verbracht hat, wir uns aber nie offiziell kennengelernt haben. Er ist ihr Alleinerbe, und dieses Erbe umfasst auch das Cottage nebenan, dessen Inhalt und das dazugehörige Land. Links von ihrem Haus befindet sich ein riesiges, unbebautes Grundstück, das ebenfalls Bee gehört hat. Seit ihrem Tod stehe ich mit Donovan in Verbindung. Wir haben einige E-Mails ausgetauscht, in denen es um den Nachlass ging, und ich habe nach dem Rechten gesehen, bis er die Zeit hatte, hierherzukommen und es selbst zu tun. Trotz allem, was Bee mir von ihm erzählt hat, scheint er nicht viel besser zu sein als der Rest seiner Familie.

Donovan hat sich nie besonders für den Besitz interessiert, obwohl es schwer ist, so etwas aus dem Tonfall einer E-Mail zu entnehmen. Nach der Testamentseröffnung, bei der sich herausstellte, dass Bee mich als Testamentsvollstreckerin eingesetzt hatte, rief Donovan mich wegen einiger Fragen das Grundstück betreffend an. Er wollte wissen, wie viele Hektar es umfasst, wie viel davon am Wasser liegt, und ob ich ihm den Wert des Ganzen nennen könnte. Das war ein unerwarteter Schlag – ich hatte immer noch an Bees Tod zu knabbern, und ihr geliebter Enkel interessierte sich nur für den Wert des Grundstücks. Anscheinend hatte Bernie, der Bees Testament aufgesetzt hatte, einen ähnlichen Anruf erhalten, nur dass Donovan ihn nach der Aufteilung des Grundstücks gefragt hatte und wie einfach es wäre, es zu parzellieren oder zu bebauen.

Es hatte mich geärgert, dass dieser Mann, der so viele Sommer bei Bee verbracht hatte, so schnell versuchte, Geld aus dem Land zu pressen, indem er es erschließen wollte. Dass ihm das Cottage vielleicht gar nichts bedeutete, anders als Bee und ich geglaubt hatten. Ich mochte zwar nicht viele Berührungspunkte mit Donovan gehabt haben, aber in vielerlei Hinsicht hatte ich trotzdem das Gefühl, ihn zu kennen – wegen der Geschichten, die Bee mir erzählt hatte, und wegen meiner eigenen Beobachtungen aus der Ferne. Er hat Bee immer geholfen und Reparaturen am Cottage vorgenommen, wenn er im Sommer hier war. Nach allem, was ich gesehen und gehört habe, empfand er echte Zuneigung zu seiner Großmutter.

Also ist der Gedanke, dass er versuchen könnte, das Land zu parzellieren oder Bees geliebtes Cottage abzureißen, mehr als frustrierend. Natürlich würde das den Wert des Besitzes in die Höhe treiben. Und das wiederum würde sich auch auf den Wert aller anderen Grundstücke auf dieser Seite des Sees auswirken. Die meisten Menschen würden das für eine gute Sache halten, aber die Einheimischen wollen keine hohen Grundsteuern zahlen, nur weil ein Fremder wie Donovan Flausen im Kopf hat.

Vielleicht ist ihm das inzwischen selbst klar geworden und er hatte es deshalb nicht eilig, hierherzukommen. Das Testament ist noch nicht einmal eröffnet, und in seiner letzten E-Mail hatte er mir mitgeteilt, er rechne nicht damit, dass er vor dem Sommer nach Pearl Lake kommen könne.

Um zu sehen, ob ich recht mit meiner Vermutung habe, wer da Bees Häuschen auskundschaftet, krame ich in meiner Handtasche nach meinem Schlüsselbund, an dem ein Schlüssel zum Haus meiner Eltern und einer von Bees Ersatzschlüsseln hängt. Traurigkeit breitet sich in mir aus, und für einen Moment fällt mir das Atmen schwer. Es ist gut möglich, dass ihr Enkel ihr Haus nicht haben will und es verkauft.

Ich steige aus dem Wohnwagen, schließe die Tür hinter mir und gehe über den schmalen Weg, der unsere Grundstücke miteinander verbindet. Der Pfad ist im Laufe der Jahre zugewachsen, weil er nicht mehr genutzt wird. Die Bäume neigen sich einander zu, und unter ihrem schützenden Blätterdach wachsen kleine Sträucher heran.

Einige Äste peitschen mir ins Gesicht, und ich spucke auf den Boden, als ich durch ein Spinnennetz laufe und fast die verdammte Spinne verschlucke. Als ich mir mit der Hand übers Gesicht wische, stolpere ich über eine Wurzel und lande fast im Dreck.

Kurz darauf stehe ich dann direkt vor Bees Cottage. Ich nehme mir einen Moment Zeit, um tief durchzuatmen und gegen das Engegefühl in meiner Brust anzukämpfen. Ich bin von Natur aus kein sentimentaler Mensch und hänge nicht besonders an Orten oder Dingen. Weil das Leben fließend ist und man nicht gleichzeitig Wurzeln und Flügel haben kann, versuche ich, mich nicht in Gebäude oder Räume zu verlieben.

Doch als ich jetzt das alte, wunderschöne, heruntergekommene Cottage betrachte, kommen eine Million wunderbarer Erinnerungen zurück. Nach meinem Umzug nach Chicago hatte Bee von mir verlangt, dass ich meine Briefe an sie mit der Hand schrieb. Einmal habe ich versucht, ihr einen getippten Brief unterzujubeln, und sie hat ihn zurückgeschickt. Als sie starb, hat sie ein Stück meines Herzens mitgenommen, und ich spüre diese Lücke jetzt mehr denn je. Seit Beginn meines Studiums habe ich sie nur noch einmal im Jahr zu Weihnachten gesehen, sonst nie. Ich wollte mich nicht an diesen Ort gebunden fühlen, also habe ich ihn und sämtliche seiner Bewohner gemieden. Ich habe Distanz geschaffen, obwohl ich eigentlich so viel Zeit wie möglich mit ihr hätte verbringen sollen.

Die Veranda ist in einem ziemlich baufälligen Zustand, und wieder einmal werde ich daran erinnert, dass meine hohen Absätze hier lächerlich unpraktisch sind. Ich werde sie gegen Flip-Flops, flache Schuhe und Laufschuhe eintauschen.

Das Alter des Cottages macht sich langsam doch bemerkbar. Die Fassade könnte einen neuen Anstrich gebrauchen, und einige der Bretter auf der Veranda sind morsch und beginnen zu verfaulen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass darunter wahrscheinlich ein paar Streifenhörnchen leben. In der Ecke stehen zwei Schaukelstühle, dazwischen ein Tisch. Die Staub- und Schmutzschicht darauf macht deutlich, dass sie seit Bees Tod nicht mehr benutzt wurden. Früher haben wir abends oft hier draußen gesessen, Cribbage gespielt und im Sommer ungesüßten Eistee oder im Herbst heiße Schokolade mit Marshmallows und Schlagsahne getrunken.

Ich klopfe an die Haustür und warte, dass mir jemand aufmacht. Nach gut dreißig Sekunden klopfe ich erneut, dann gehe ich zum Fenster und spähe durch einen Spalt zwischen den Vorhängen. Drinnen sieht alles unverändert aus – ein einziges gut organisiertes Durcheinander.

Vielleicht handelt es sich bei dem Besucher überhaupt nicht um ihren Enkel, wie ich dachte. Oder vielleicht hat er einen Bauunternehmer geschickt, der sich das Grundstück ansehen soll. Ich halte es für eine gute Idee, selbst die Tür zu öffnen und nach dem Rechten zu sehen, denn ich weiß, dass es Bee nicht gefallen hätte, wenn ein Fremder in ihrem Haus herumstöbert. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss. Es war schon immer eine widerspenstige Tür, daher hebe ich sie leicht an, rüttle und drehe den Schlüssel nach rechts, bis ich das leise Klicken des Schlosses höre. Die Tür knarrt in den Angeln, als ich sie aufdrücke und in den schwach beleuchteten Raum trete.

Zwanzig Jahre alte Tapeten bedecken den größten Teil der Wände hier und ich brauche immer einen Moment, um mich zu orientieren, da Bees Wohnzimmer jedes Mal ein kleiner Schock ist, zumindest am Anfang. Die Farben sind durch Alter und Sonne verblichen. Die blauen Teekannen sind jetzt fast grau und das Rosa der Pfingstrosen ist zu einem hellen Pfirsichton verblasst. Der ganze Raum ist ein Mischmasch aus sorgfältig ausgewählten Möbeln, die Bee auf dem städtischen Flohmarkt gekauft hat; nichts passt zusammen, nicht einmal die Stühle am Esstisch. Eine Staubschicht bedeckt fast jede Oberfläche und macht den Raum zu einem unberührten Schrein für Bee.

Rechts an der Wand hängen dicht an dicht alte gerahmte Fotos, manche in Schwarz-Weiß, manche in Farbe. Durch die Mitte der Fotowand verläuft eine deutliche Linie, dort wo mittags das Sonnenlicht durch das Fenster hineinfällt, sodass die Bilder auf der oberen Hälfte der Wand verblichen sind.

Ich gehe quer durch den Raum und stelle mich vor die Collage von gerahmten Fotos, bis mein Schatten auf die Bilder fällt. Die meisten zeigen Bees Familie. An einem Bild von Bee mit Donovan bleibt mein Blick hängen. Er hat immer Baseballkappen getragen, die sein halbes Gesicht verbargen, sodass es unmöglich war, ihn genauer zu betrachten.

Dieses Foto habe ich heimlich mit der Kamera meines Handys aufgenommen, als ich im Imbisswagen gearbeitet habe, im Sommer, bevor ich weggegangen bin. Sie hatten gerade Bodendielen für Bees Terrasse abgeholt. Auf dem Foto beabsichtigte Bee, im Kleid auf die Ladefläche des Lastwagens zu klettern, und Donovan versucht, sie daran zu hindern. Das Foto zeigt alles, was Bee ausgemacht hat – und die Liebe zwischen den beiden.