Honig, Blut und Traubeneis - Sandra M. Gotthalmseder - E-Book

Honig, Blut und Traubeneis E-Book

Sandra M. Gotthalmseder

3,0

Beschreibung

Die Leiche einer jungen Frau erschüttert die Stadt Graz: Der Regen am Tatort hat sämtliches forensisches Beweismaterial mit sich genommen und lässt die Polizei im Dunkeln tappen. Der Alptraum jeder Frau wird wahr: Draußen auf den Straßen treibt ein Kapitalverbrecher sein Unwesen: Du kommst abends nach Hause, bist allein und ein paar Kleinigkeiten scheinen verändert zu sein. Durch die Versetzung aus der Abteilung für Drogendelikte tritt die unerfahrene Kriminalbeamtin Johanna Main ins Ermittlungsteam. Und noch ehe sie es begreift, verwandelt sich auch ihr eigenes Leben zu einem Teil des Spieles eines Psychopathen, geleitet von der Musik aus dem Jahr 1969...

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Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

1

Ihr Magen zog sich zusammen und begann heftig zu knurren.

»Na …? Bist du nun endlich fertig?«, raunte eine tiefe Stimme hinter ihr.

Erschrocken drehte sie ihren Kopf, um zu sehen, wer sie das gefragt hatte. Doch an der Tankstelle war niemand zu sehen. Es war bereits 22:15 Uhr und das Licht der Zapfsäule erleuchtete nur ihren Umkreis von zwei Metern.

Ihr linker Schuh drückte seit einer halben Ewigkeit und der Kaffee in der kleinen Halterung neben dem Handschuhfach war längst vertrocknet. Gleichzeitig merkte sie die Vorboten starker Kopfschmerzen, die wie ein Gewitter hinter ihre Augäpfel zogen.

Nur noch schnell zahlen, dann ist dieser furchtbare Tag so gut wie vorbei …

Das laute Klicken der Abschaltautomatik meldete ihr, dass der Tank voll war. Sie hängte das Zapfventil zurück in die Säule, las den zu zahlenden Betrag von der Anzeige ab und begann in ihrer Handtasche nach ihrer Geldbörse zu kramen.

»Ach, komm schon …«, murmelte sie vor sich hin.

»Suchst du etwas, hübsches Kind?«, erklang die unbekannte Stimme wieder und versetzte ihr einen Stich in die Brust.

Angespannt strich ihr Blick über das rote Autodach ihres Audi A5 Cabrios.

»Du musst dich nicht fürchten! Ich hab nur deinen Reifendruck kontrolliert«, sprach die tiefe Stimme.

Jetzt sah sie einen kleinen, etwas übergewichtigen Mann hinter ihrem Auto hervorkommen. Auf seinem gelben Anzug stand in schwarzen Buchstaben »Jet Tankstelle«.

»Ach, Sie waren das, haben Sie mich erschreckt!«, mehr brachte sie nicht heraus. Der Stich in ihrer Brust hatte einen kleinen Schweißausbruch ausgelöst und ihr Herz schlug nun plötzlich doppelt so schnell. Nervös verlagerte sie ihr Gewicht von einem auf den anderen Stöckel ihrer High Heels und grinste den Mann irritiert an. Eine Schweißperle rollte ihren Nacken hinunter und kam im Bund ihres neuen Rockes zum Stehen. Es war Juli 2019 und die warmen Sommernächte schienen kein Ende zu nehmen.

»Und auf diesen High Heels fährst du durch die Stadt?«, fragte der Mann und ließ seinen Blick langsam ihre Beine hochgleiten.

»Ja … ist eine lange Geschichte. Kann ich bei Ihnen zahlen?«, antwortete sie nun genervt und strich sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr. Sie hasste es, wenn ein Mann sie von oben bis unten anstarrte und dann auch noch respektlose Kommentare von sich gab.

Mit einem Wink marschierte der Mann in den Shop an der Tankstelle und Monja stöckelte ihm hinterher. Der Signalton einer WhatsApp-Nachricht unterbrach ihre eiligen Schritte. Erschöpft strich sie sich durch ihr schwarzes langes Haar und drehte ihre blauen Augen nach oben. Die Nachricht konnte um diese Zeit nur von einer Person stammen.

Hastig schob sie dem merkwürdigen Tankstellenangestellten das Geld über die Theke und stöckelte, so schnell sie konnte, zurück zu ihrem Wagen. Sie spürte, wie seine Blicke sie verfolgten, und konnte gar nicht schnell genug die Autotür öffnen. Wieder ertönte der Signalton einer Nachricht in ihrer Handtasche.

Das Leben imitiert die Kunst, die das Leben imitiert, sinnierte sie in Gedanken. Was für ein blöder Text …

Als Theaterschauspielerin trug sie tausend fremde Texte in ihrem Kopf herum. Sie stieg ins Auto, öffnete das Fenster auf ihrer Seite ein Stück und begann, die Nachrichten auf ihrem Handy zu lesen.

Wo bist du, Monja?

Kannst du kommen?

Wir müssen reden …

Sie stieß einen tiefen Atemzug aus und warf einen Blick in den Rückspiegel. Seufzend holte sie ein Taschentuch aus ihrem Handschuhfach und versuchte, den roten Lippenstift etwas abzuwischen. War es eine gute Idee, jetzt noch zu ihm zu fahren? Es hatte doch ohnehin keine Zukunft …

Normalerweise schaffte sie es, jeden Abend spätestens um 22:00 Uhr zu Hause zu sein. Nur heute hatte sie sich mit dem Produzenten verplaudert, von dem sie sich endlich eine Filmrolle erhoffte. In der einen Hand das Taschentuch, in der anderen ihr Handy mit der roségoldenen Hülle, begann sie Nachrichten zu tippen, die sie gleich wieder löschte.

Es ist bereits 22:15.

… GELÖSCHT …

Über was willst du jetzt reden??

… GELÖSCHT …

Ich schlaf schon.

… GELÖSCHT …

Sie hielt plötzlich die Luft an.

Was war das?

Ihre großen blauen Augen starrten durch den Fensterspalt. Nur das Licht der Eingangstür am Tankstellenshop, der bereits geschlossen hatte, war noch zu sehen. Sie meinte einen Schatten gesehen zu haben. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf ihre Nachrichten, begann hastig zu tippen und schloss das Fenster.

Halbe Stunde.

Ob es die richtige Entscheidung war, wusste sie nicht.

Wieso steh ich eigentlich immer noch an dieser Tankstelle rum?

Sogleich startete sie ihr Cabrio. Ihr Blick streifte noch einmal über die vom Scheinwerferlicht verzerrten Zapfsäulen und ein kalter Schauer lief über ihren Rücken. Doch so schnell wie dieser gekommen war, schüttelte sie ihn auch wieder ab und das Gefühl des Beobachtetseins verschwand in der Nacht.

2

Der warme Sommernachtswind strich durch die Äste der drei Tannen, die sich am Spielbergweg vor den neu gebauten Wohnblöcken aufbäumten. Ein Zweig der Eiche am Nachbargebäude tänzelte die Hauswand auf und ab. Nur das Rascheln der Sträucher im Innenhof war zu hören und in der Ferne eine Autotür, die ins Schloss fiel. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern.

Die Müdigkeit verstrich, das Adrenalin schärfte seine Sinne von Neuem. Seine Atemzüge befeuchteten die Fensterscheibe, durch die er aufgeregt in die Nacht starrte. Auf diesen Moment freute er sich jeden Tag. Diese paar Minuten am Abend waren es, die ihm seit ein paar Wochen wieder Freude in sein totes Leben gebracht hatten. Hastig fuhr er sich durchs Haar und versuchte ruhig zu bleiben. Sie durfte ihn auf keinen Fall bemerken, wenn sie durch den Innenhof in ihre Wohnung stöckelte.

Wo bist du bloß, Mony …?

22:45 Uhr. Mit jeder Minute wuchs seine Aufregung, der Schweiß glitt ihm aus den Poren und seine Hose spannte. Doch er wartete vergebens.

»Diese Schlampe!«, fluchte er vor sich hin und riss den Vorhang ein Stück weiter auf. Sein Herz schlug schneller und Zorn ließ seine Vorfreude verblassen.

23:00 Uhr. So lange hatte er noch nie warten müssen, um sie endlich zu sehen.

»Na warte! Das wird ein Nachspiel haben!«, zischte er wütend.

Er eilte in die Küche, riss alle Schranktüren auf und knallte sie gleich wieder zu. Dann öffnete er erneut den ersten Wandschrank, überlegte kurz, griff nach den blauen Tellern seiner Mutter und schmetterte einen nach dem anderen mit aller Kraft gegen die grauen Fliesen an den Wänden. Wütend warf er einen Blick zum Fenster und starrte wieder raus in die Dunkelheit.

In diesem Moment streifte ein Scheinwerferpaar über den Innenhof und eine Katze jaulte in der Ferne. Schnell eilte er ins Wohnzimmer und rückte aufgeregt den Fenstervorhang vor sein verschwitztes Gesicht. Es war ein Taxi.

»Wo hast du denn deinen Wagen, Mony? Jaa … komm schon, öffne die Autotür«, flüsterte er. Seine Augen weiteten sich und Schweißperlen kullerten ihm den Nacken hinunter.

Die Hintertür des schwarzen Mercedes-Taxis öffnete sich und ein paar dunkle Stiefel mit hohen Absätzen kamen zum Vorschein. Eine Frau mit einem langen schwarzen Mantel stieg aus dem Auto. Sie war groß und schlank. An ihrem rechten Unterarm baumelte eine schwarze Lederhandtasche und ihre Schritte waren hastig. Ein großer dunkler Hut verdeckte ihr Gesicht und der Mann am Fenster konnte nicht genau erkennen, ob sie es war. Mony, wie er sie seit drei Wochen und zwei Tagen nannte.

Plötzlich blieb die Frau stehen und begann in ihrer Handtasche zu wühlen. Ein Schlüssel fiel klirrend auf den Asphalt des Innenhofes und die große schlanke Frau bückte sich. Er stieß zischend den Atem aus und beobachtete wie versteinert jede ihrer Bewegungen.

»Das ist sie nicht … sie bewegt sich anders …«, flüsterte er vor sich hin und war sich im selben Moment sicher. Die gutgekleidete Frau richtete sich wieder auf und zum Vorschein kam ein blonder Pferdeschwanz, welcher sich zuvor unter ihrem beigen Schal versteckt hatte.

Eisiger Zorn durchbrach die Anspannung seines Körpers und ließ ihn beinahe den grünen Vorhang seines Wohnzimmerfensters entzweien. Fluchend kehrte er zurück in die Küche und riss die Kühlschranktür auf. Sein Blick streifte über Käse, Schinken, Eier und Gemüse. Schnell entschied er sich für die Bierflasche im Seitenfach, obwohl er Weintrinker war. Doch die letzte Flasche Rotwein hatte er bereits am Vortag geleert, um seine Seelenschmerzen zu betäuben.

Mit einem Bier in der linken und der Fernbedienung für die Musikanlage in der rechten Hand, ließ er sich wütend in seinen neuen Ohrensessel fallen, schloss die Augen und drückte auf PLAY. Weiter … weiter … nächster Song … weiter … Alkohol benebelte seine Gedanken, konnte jedoch den Ärger, der in ihm flutete, nur teilweise stoppen. Eine Melodie aus dem Jahr 1969 tönte aus den Lautsprechern, seine Pupillen weiteten sich. Hastig bewegte er seinen muskulösen Körper aus dem Sessel und ging zurück zum Fenster. Seine Hand umklammerte die Bierflasche und er presste seine Finger gegen das Glas, so fest er konnte. Suchend blickte er auf den dunklen Innenhof und begann dann leise zu singen: »Honey … Ah sugar, sugar … You are my candy girl … and you got me wanting you …«

3

Monja klopfte ihre Zahnbürste gegen den Waschbeckenrand und ließ sie wieder in ihrer Handtasche verschwinden.

»Eine junge Frau? Die Arme … Wo war der Überfall noch mal?«, fragte sie und eilte in die Küche, wo eine Tasse Kaffee auf sie wartete.

»In der Nähe der Tankstelle. Du weißt schon, die an der Kreuzung vor der Bäckerei, an der wir … sorry … an der ich immer mein Brot hole«, antwortete Leon aus dem Schlafzimmer.

»An der Jet-Tankstelle? Das … das gibt’s doch nicht!« Monja spürte, wie sie blass wurde.

»Ja, doch, … das gibt es. Schalt mal das Radio ein, in 15 Minuten kommen die 08:00-Uhr-Nachrichten.«

Monja nahm den letzten Schluck des Kaffees aus der Tasse und ging ins Schlafzimmer.

»Schreckliche Geschichte«, meinte Leon und schüttelte den Kopf. Er stand mit nacktem Oberkörper vor dem Bett und schloss gerade den Gürtel seiner Hose. Leon war ein schöner Mann, blond, 1,80 groß, mit leicht gebräuntem Gesicht. Der Dreitagebart, den er fast immer trug, stand ihm ausgezeichnet.

Monja hatte ihn vor etwa fünf Jahren bei einem ihrer ersten Auftritte im Schauspielhaus kennengelernt. Bald darauf zogen sie zusammen, bereisten ferne Länder und brachten sich jedes Mal ein Souvenir mit nach Hause. Die Magnete an Monjas Kühlschrank waren die letzten Überreste ihrer gemeinsamen Epoche, die nach drei fulminanten Jahren abrupt endete.

Ihre Beziehung war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, was an Leons krankhafter Eifersucht lag. Eines Tages packte sie Hals über Kopf ihre Sachen und zog aus der gemeinsamen Wohnung aus. Sie hatte keine Lust mehr, nach jeder Veranstaltung ewige Diskussionen über ihr »unangemessenes Verhalten«, wie er es nannte, zu führen. Leon hatte inzwischen eingesehen, dass er zur Übertreibung neigte, leider aber zu spät.

Erst seit ein paar Wochen bahnte sich wieder etwas zwischen den beiden an, doch Monja entglitt ihm immer wieder wie ein nasser Fisch. Sie war drauf und dran, sich eine Karriere als Schauspielerin aufzubauen, und interessierte sich zu diesem Zeitpunkt nur mäßig für eine feste Beziehung.

»Bitte, pass auf dich auf!«, sagte Leon mit ernstem Blick. »Du bist nicht selten spät am Abend allein unterwegs, nach deinen Theaterproben …«

»Ja, ja, mach ich. Aber erzähl doch mehr, was ist mit der Frau, die überfallen wurde? Sie ist doch nicht verletzt?«

»Verletzt ist sie auch, ja …«, es war ihm sichtlich unangenehm, darüber zu sprechen. »Schalt das Radio ein, in ein paar Minuten kommen die Nachrichten.«

»Ach Leon, bitte …«

Er seufzte. »Na schön. Die Frau hatte Fesselspuren an Händen und Füßen. Willst du noch mehr wissen?« Leon war deutlich anzumerken, dass ihm der Überfall sehr nahe ging.

»Ja, komm jetzt, Leon, erzähl! Ich höre es sowieso gleich im Radio«, drängelte sie.

»Es ist schwer zu glauben, dass so etwas Grausames nur zwei Straßen weiter passiert ist«, murmelte er.

»Ist sie tot?«

»Ja«, antwortete Leon. »Die Frau wurde allem Anschein nach gefesselt und vergewaltigt. Anschließend steckte der Täter ihr einen Zapfhahn in den Mund, ließ sie mit Benzin volllaufen und …«, seine Stimme brach, er schüttelte den Kopf. »Ich kann gar nicht weiterreden …«

»Und so wurde sie hinter der Tankstelle gefunden?« Monja spürte, wie sich Übelkeit in ihrem Magen ausbreitete.

»Ja. Aber nur ihr aufgeschlitzter Körper. Nach ihrem Kopf wird noch gesucht …«

»Oh Gott!«, sie hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. »Das ist ja fürchterlich! Um wie viel Uhr ist es passiert?«

»Gegen Mitternacht.«

Monja schluckte. Sie hatte Leon nicht erzählt, dass sie gestern Abend, bevor sie zu ihm kam, noch unterwegs gewesen war. Und nicht nur das. Sie hatte sich bis 22:15 Uhr genau an dieser Tankstelle aufgehalten. Sie wollte nicht, dass Leon von dem langen Gespräch mit dem Filmproduzenten erfuhr. Schließlich durfte sie nicht riskieren, dass er plötzlich auf der Arbeit aufkreuzte und ihr eine Szene machte. Obwohl sie nicht fest zusammen waren, wäre es ihm zuzutrauen. Wenn er wüsste, dass sie die Nachricht an ihn gestern Abend genau an dieser Tankstelle geschrieben hatte, würde Leon nicht nur aus Eifersucht, sondern auch aus Sorge um sie platzen. Das konnte sie im Moment wirklich nicht gebrauchen. Keines von beidem.

»Ich habe noch nie von so einem furchtbaren Verbrechen in dieser Stadt gehört. Es ist grauenvoll. Ich mag das Radio gar nicht anmachen.«

»Monja, pass gut auf dich auf, hörst du?«, sagte Leon wieder.

»Ja, klar«, entgegnete sie in beiläufigem Ton, um ihre Unsicherheit zu überspielen. »Draußen scheint die Sonne und wir bekommen heute wieder über 30 Grad. Tagsüber kann mir sowieso nicht viel passieren.«

Sie umarmte Leon und küsste ihn auf die Wange. »Danke für den Wein gestern und die Übernachtung. Wir hören uns.«

»Mach’s gut.«

Monja zog schnell ihre Weste über und verschwand im Stiegenhaus des Mehrparteienwohnblocks. Mit einem unguten Gefühl im Magen blickte Leon ihr hinterher, dann schloss er die Wohnungstür.

Schnell sprang Monja in ihr Cabrio und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Die Uhr zeigte 07:59 und sie drückte den Knopf, der das Dach des Wagens hinter den Rücksitzen verschwinden ließ. Augenblicklich drang das Zwitschern der Vögel an ihr Ohr und ein leichter Wind zog durch ihre dunklen Haare.

Wie an jedem Morgen unter der Woche trug Monja ihre blau gefärbten Kontaktlinsen. Sie spürte das gewohnte Kratzen an ihren Augen und blinzelte.

Jetzt noch schnell einen Kaugummi gegen den Kaffeegeschmack.

Sie tauschte ihre High Heels gegen Birkenstocksandalen und machte das Radio an.

»Es ist Dienstag, der 23. Juli, 08:00 Uhr. Heute Morgen wurde eine Frauenleiche hinter der Jet-Tankstelle in der Straßganger Straße gefunden. Nach Polizeiangaben handelt es sich bei dem Opfer um eine ca. 20-jährige Frau. Da der Kopf der Leiche fehlt, konnte sie noch nicht identifiziert werden. Die Grazer Polizei ruft alle Frauen im näheren Umkreis zu erhöhter Vorsicht auf …«

Reflexartig drückte Monja auf einen Knopf in der schwarzen Armatur und das Dach des Cabrios fuhr wieder heraus. Noch bevor es sich ganz geschlossen hatte, betätigte sie die Zentralverriegelung und mit einem Klick zogen sich alle vier Türknöpfe nach unten. Monja hielt für einen Moment die Luft an.

»Das Wetter wird heute wieder sonnig und heiß. Kleine Quellwolken können sich im Laufe des Nachmittags vor allem im Westen des Landes ausbreiten. Im Großen und Ganzen erwarten uns wieder über 30 Grad, so wie auch in den kommenden Tagen.«

Hastig schaltete Monja das Radio ab. Das komische Gefühl, von irgendjemandem beobachtet zu werden, war wieder da. So wie gestern Abend an der Tankstelle. Dieser kleine dicke Typ hatte sich mehr als merkwürdig verhalten. Geradezu unheimlich, wie er sie angestarrt hatte … Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie daran dachte. Die Tankstelle würde sie erst einmal meiden, soviel war sicher.

Der Innenraum des Cabrios hatte sich schnell aufgeheizt, immerhin hatte es draußen bereits 25 Grad. Monja startete ihren Wagen und fuhr los.

4

Sein Blick wanderte unruhig auf dem Hof zwischen den Wohnblöcken umher. Immer wieder atmete er tief durch, aber es beruhigte ihn nicht.

Es war 11:00 Uhr vormittags. Um diese Zeit hielt sich Monja Mahon wochentags nie in ihrer Wohnung auf. Das wusste er. Er beobachtete sie seit drei Wochen, und wann immer er konnte, folgte er ihr im Auto zu den Theaterproben. Dass sie gestern nicht nach Hause gekommen war, ärgerte ihn immer noch.

Er wandte sich vom Fenster ab und ging langsam in seinem Wohnzimmer auf und ab. Seine Aufregung stieg mit jeder Minute und sein Mund fühlte sich so trocken an, als hätte er auf einem Wattebausch herumgekaut.

Hastig riss er die Schreibtischlade auf. Er konnte nicht anders. Es war wie ein Zwang. Wie in Trance. Und obwohl er erst jetzt hätte nervös werden müssen, kehrte nun endlich wieder Ruhe in ihm ein.

Seit Anfang des Monats war er der neue Hausmeister des Wohnblockes und seit heute besaß er den Zentralschlüssel für alle Wohnungen. Er musste sich orientieren können in seinem Revier. Musste wissen, wo er sich verstecken konnte, ohne dass sie es bemerken würde.

Langsam schloss er die Schublade wieder und steckte den Schlüssel in seine Hosentasche.

Vor Monjas Wohnungstür hielt er kurz inne. Sein Magen zog sich zusammen. Er hatte in der Aufregung vergessen, etwas zu essen. Sachte drehte er den Schlüssel im Schloss und zog, als er die Wohnung betrat, als Erstes tief die Luft ein. Endlich konnte er sie riechen. Sein Blick strich über die Fotogalerie im Vorraum.

Hübsch, Mony und ihre Freundinnen …

Auf dem Küchentisch lagen Briefe, an der Decke über der Spüle hatte sich ein Wasserfleck gebildet.

Das kann bald Schimmel geben, Mony … und mit Schimmelsporen ist nicht zu spaßen.

Er hatte einen ausgeprägten Sauberkeitsfimmel und ekelte sich schnell vor möglichen Bakterien, Sporen oder Pilzen. Jeden Tag putzte er seine Wohnung mit einem Hygienereiniger und schüttete alkoholisches Desinfektionsmittel, welches er sich aus der Apotheke besorgte, über die Fliesen.

Sein Blick wanderte vom Wasserfleck zum Kühlschrank. An der Tür prangten unzählige Kühlschrankmagnete aus unterschiedlichen Ländern.

Ach wie süß … Die Schlampe hat jede Menge Reisesouvenirs an ihrem Kühlschrank kleben …

Seine Augen schweiften über die billigen Vorhänge zu einer silbernen Vase, die mit getrockneten weißen Rosen auf dem Küchentisch stand. Er drehte sich im Kreis und schlich dann weiter ins Schlafzimmer.

Langsam öffnete er ihren Kleiderschrank und begann, darin zu wühlen. Er holte einen ihrer BHs heraus, hielt ihn hoch und flüsterte: »Bald wirst du deine Wäsche für mich tragen …«

Hastig drehte er den Kopf nach allen Seiten, um sich jede Nische und jedes mögliche Versteck bildlich einzuprägen. Dann ging er weiter ins Wohnzimmer und betrachtete die Bilder an den Wänden. Im Innenhof knallte eine Autotür. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und griff sich anschließend in die Hose.

Nur noch zehn Stunden … dann ist es endlich so weit.

Ganz leise und auf Zehenspitzen bewegte er sich ins Bad, um sich gründlich die Hände zu waschen. Der gesamte Badewannenrand stand voll mit angerissenen Flaschen aus dem Drogeriemarkt. Er öffnete ein Duschgel und ein Haarshampoo nach dem anderen, um daran zu riechen.

Überall diese langen schwarzen Haare auf den weißen Fließen …

Der Drang nach Sauberkeit stieg in ihm auf. Er zog eine Plastiktüte aus seiner Hosentasche und begann hastig, die Haare am Boden einzusammeln. Noch einmal schweifte sein Blick über die Flaschen. Nach kurzem Zögern entschied er sich für das Duschgel mit der blauen Aufschrift »Ocean Breeze« und das Haarshampoo mit Rosenduft. Es dauerte keine drei Sekunden, bis die Flaschen in seiner Tüte verschwunden waren.

Nun musste er raus aus dem Bad. Es war zu gefährlich, in diesem gefliesten Raum ohne Fenster länger als zehn Minuten zu bleiben. Gestresst durchwühlte er noch schnell ihre Post, schob sich einen der Briefe ein und verschwand zurück in seine Wohnung.

Der Hausmeister hatte ein nettes Versteck zwischen Kleiderschrank und Wand in ihrem Schlafzimmer gefunden. Er war sich sicher, dass Monja nicht vor 20:00 Uhr zu Hause sein würde. In der letzten Woche war es sogar oft deutlich später geworden. So blieb ihm noch genug Zeit, um sich herauszuputzen. Außerdem musste er sich ausruhen. Eine lange Nacht mit Monja stand ihm bevor.

5

Monja drückte ihren Oberkörper gegen die Autotür, die sich keinen Millimeter bewegte. Seit ein paar Tagen klemmte das Türschloss ihres Cabrios immer wieder. Es war auch heute 22:00 Uhr geworden und sie konnte sie es kaum erwarten, endlich unter der Dusche zu stehen.

In den heißen Sommermonaten ließen die Darsteller die warmen Abende bei einem leichten Sommerspritzer ausklingen und scherzten nebenbei über mögliche Änderungen der Theaterkleider oder des Bühnenbildes. Monja spielte in ihrem aktuellen Stück eine junge Frau, welche ihren Mann im Krieg verloren hatte. Sie fühlte sich in dieser traurigen Rolle gar nicht wohl. Wie gerne hätte sie in einem lustigen Theaterstück mitgespielt, in dem sie nicht ständig eine triste Miene aufsetzen musste. Doch die Abende nach den langen Proben konnten so einiges wiedergutmachen. Und dann war da noch dieser Filmproduzent, der vor ein paar Tagen bei ihnen im Theater aufgekreuzt war, um nach neuen Talenten zu suchen. Das gestrige Gespräch mit ihm war vielversprechend gewesen und Monja hatte nach vielen Jahren endlich das Gefühl, ihrem Traum ein Stück näher zu kommen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als vom Theater in die Filmbranche zu wechseln.

Jetzt musste sie es nur noch schaffen, die Autotür zu öffnen, um zurück in ihre Wohnung zu kommen. Sie stemmte sich mit aller Kraft dagegen und blickte dabei hinaus auf den nur spärlich erhellten Parkplatz. Das schreckliche Ereignis an der Tankstelle kam ihr wieder in den Sinn. Obwohl die Polizei beinahe an jeder Straßenecke in Graz stand, trug sie schon den ganzen Tag eine starke Unruhe in sich. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, doch jetzt spürte sie wieder das ungute Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden.

Endlich sprang die Autotür auf und Monja trat hinaus in die Nacht. Mit dem Autoschlüssel in ihrer rechten und der Handtasche in der linken Hand eilte sie über den Innenhof. In der Wohnung angekommen, zog sie sofort die Schuhe aus, riss den Kühlschrank auf und schob sich gleich ein paar Scheiben ihres Lieblingsschinkens in den Mund. Sie überlegte kurz, ob es nicht drei Briefe waren, die heute Morgen auf dem Küchentisch gelegen hatten, schob den Gedanken aber schnell wieder beiseite. Die Müdigkeit war zu groß, um darüber zu grübeln.

Die Schurwolle des Teppichs kratze an ihren bloßen Füßen mit den milchig lackierten Nägeln und sie spürte, wie eine Entzugswelle ihren Körper erfasste. Es war keine drei Wochen her, als sie den Versuch gestartet hatte, ihre Nikotinsucht zu bändigen. 30…29…28…27…26…25… Langsam zählte sie von 30 rückwärts, huschte ins Bad und legte ihre Kleidung ab.

Das Wasser aus dem Duschkopf hatte nur 18 Grad und prallte auf ihren Körper wie tausend Nadelstiche. Endlich löste sich der Schweiß der letzten Stunden von ihrer zarten Haut.

Sie trocknete ihren Körper, streifte sich ihr Spitzennachthemd über und setzte sich in ihr riesiges Boxspringbett. Mit der rechten Hand drückte sie den letzten Rest aus der Handcremetube in ihre leicht gerötete linke Handfläche. Es schien, als würde sich bald eine Blase über ihren Handknöchelchen bilden. Ihr erstes CrossFit-Training in den letzten Tagen hatte Spuren hinterlassen. Ich wechsle lieber wieder ins Fitnessstudio …

Genervt von der Hitze, blickte sie zum geschlossenen Fenster und merkte erst in diesem Moment, dass irgendetwas in ihrem Schlafzimmer sonderbar roch. Als hätte hier jemand eine Packung billiger Chinaware geöffnet. Kopfschüttelnd stand sie auf, kippte das Fenster und blieb kurz vor dem Kleiderschank stehen. Was konnte das sein? Sie zog mehrmals die Luft durch die Nase. Es war eine Mischung aus Gummi und Latex und einem weiteren fremden Geruch, den sie nicht zuordnen konnte.

Müde ließ sie sich in ihr Bett fallen und löschte das Licht.

… Folgt der Wache, die euch zu Radovid führt. Die Karte zur Überkreuzung des Flusses kostet nur 50 Kronen …

Textteile ihrer Theaterrolle schwirrten durch ihren Kopf. Draußen vor dem Fenster wehte ein leichter Wind, der endlich kühlere Luft ins Schlafzimmer jagte.

6

Er spürte die Feuchtigkeit in seinem Rücken und unter den Achseln. Es war ohnehin heiß in seinem Versteck, aber in dem Moment, als er merkte, dass sie eingeschlafen war, kam sein Körper in Wallung. Langsam griff er nach dem Messer an seinem Hosengürtel und fühlte, wie die Energie wie ein Stromstoß durch seine Adern floss.

Endlich war er gekommen. Der Augenblick, auf den er so lange gewartet hatte. Endlich durfte er Monja berühren, sie küssen und noch mehr. Vielleicht würden ihr seine Spielchen ja sogar gefallen und …

Er hielt den Atem an. Irgendein Geräusch aus der Küche machte ihn noch nervöser, als er ohnehin schon war.

Das muss der Vorhang am gekippten Fenster sein … Nicht noch ein gekipptes Fenster! Ach … diese Schlampe … Dann muss ich dir wohl das Maul stopfen…

Er hatte sich besonders schmal machen müssen, um zwischen der Wand und dem Kleiderschrank Platz zu finden. Mit eingezogenem Bauch hatte er sich in die Nische gezwängt, nachdem er eine Packung Latexhandschuhe vorausgeschoben hatte. Darauf hatte er drei Gläser Honig abgestellt. Zwei Fläschchen mit Staubzucker und Schlagobers, viele, viele weiße Bandagen, ein Skalpell, ein Einmalrasierer und Desinfektionsmittel lagen daneben.

Auf seinem Kopf trug er eine hochgerollte Sturmhaube. Nicht, weil er fürchtete, Monja könnte ihn erkennen. Nein. Das war eher nebensächlich. Er war sich sicher, wie der Abend ausgehen würde. Trotzdem war es nötig, denn er wollte kein Haar und auch keine weiteren Spuren in der Wohnung hinterlassen. Es würde ohnehin nicht lange dauern und Monja würde vor Schmerzen in Ohnmacht fallen. Da war er sich sicher.

Langsam drückte er seinen Körper Stück für Stück aus seinem Versteck. Seine rechte Hand ruhte auf dem kleinen Messer an seinem Hosenbund. In der Linken hielt er ein Säckchen, das mit Isolierband, einer Gummipeitsche, vier alten Krawatten sowie Taschentüchern aus Stoff gefüllt war. Die anderen Sachen blieben vorerst im Versteck. Jetzt musste er es nur noch schaffen, wenigstens das Fenster im Schlafzimmer zu schließen, damit ihre Schreie nicht über den gesamten Hof hallten.

Das schwache Licht der Straßenlaternen erhellte das Schlafzimmer ein wenig. Er schlich ans Fenster, umfasste den Griff mit der Hand und warf einen letzten Blick hinaus. Draußen ruhten die Dächer von Graz. Ein wuchtiger abgebrochener Ast lag wie eine Leiche im Innenhof.

Wie passend … Er hätte dich warnen können, Mony, doch jetzt ist es zu spät …

Er schloss das Fenster und zog sich langsam die Sturmhaube übers Gesicht. Dann schlich er Zentimeter für Zentimeter rüber an die Bettseite, auf der Monja lag. Er durfte auf keinen Fall in der Dunkelheit über ihre herumliegenden Kleider stolpern.

Monja rührte sich nicht. Ihr Gesicht lag im Lichtstrahl der Laternen und glänzte von der Hitze im Schlafzimmer. Wie schön sie schlief … Doch sie war Schauspielerin. Was, wenn sie nur so tut, als würde sie schlafen?

Er ging einen Moment in sich und sammelte seine Kraft. Dann war es so weit. Blitzschnell fasste er sie am Kinn und stopfte ihr mit den Stofftaschentüchern den Mund. Monja riss die Augen auf und begann zu zappeln, aber er drehte sie so schnell auf den Bauch, dass sie keine Chance hatte.

»Hallo Mony … ich freu mich, dich endlich persönlich kennenlernen zu dürfen!«, säuselte er, während er ihre Arme und Beine ans Bett fesselte.

»Hör auf zu zappeln, es wird dir nichts bringen …«, redete er auf sie ein, packte sie an den Haaren und drückte ihren Kopf in das blau gestreifte Kopfpolster. Mit dem Messer in der anderen Hand schnitt er ihr Nachthemd in zwei Stücke.

Als Monja endlich aufgehört hatte, sich zu wehren, packte er seine Peitsche aus und ließ sie auf ihren nackten Körper niedersausen. Nach ein paar ordentlichen Schlägen war sie bereits ohnmächtig. Und obwohl sie immer wieder kurz wach wurde, bekam sie, zu ihrem Glück, nicht mehr viel von den nächsten Stunden mit …

7

Zufrieden streifte er die Latexhandschuhe ab und marschierte stolz ins Bad. Seit einer Ewigkeit musste er auf die Toilette, doch dazu war erst jetzt Zeit. Jetzt, wo er Monjas Puls endgültig nicht mehr spüren konnte. Immerhin war die Nacht noch nicht vorbei und in der zweiten Hälfte seines Spieles durfte Monja auf keinen Fall mehr am Leben sein.

Sorgfältig packte er seine gebrauchten Handschuhe in den mitgebrachten Stoffbeutel und zog sich sofort ein neues Paar an. Er hatte bereits die Honiggläser, den Staubzucker und das Schlagobers aus dem Versteck geholt und in die Küche gebracht. Die unzähligen Bandagen lagen ausgebreitet am Küchenboden und sein Messer war längst gereinigt und desinfiziert. Da er gut gebaut war, war es kein Problem für ihn, die junge Frau auf die Bandagen am Küchenboden zu legen. Schnell zog er seinen USB-Stick aus seiner Hose und steckte ihn in Monjas Anlage, bevor er mit der Reinigung der Leiche begann.

Der Halbmond warf gleißendes Licht durchs Fenster und die Schatten der Äste im Hof bewegten sich auf dem Küchentisch langsam von links nach rechts. Er wischte sich ein letztes Mal den Schweiß von der Stirn und hielt ein paar Sekunden inne. Die Musik aus der Anlage ließ Energie durch seinen Körper strömen. Sie war schon immer ein wichtiger Impuls in seinem Leben gewesen.

Er säuberte Monja bis in die Ohrenmuscheln. Wie geplant, band er ihre langen schwarzen Haare zu einem Zopf, um sie abzuschneiden.

Nahezu jeder Radiosender hatte heute über den Fund der Frauenleiche an der Tankstelle berichtet. Auch er hatte die Nachrichten gehört. Jede Stunde. Er wusste genau, was und wie er es tun musste.

»Don’t go around tonight … Well, it’s bound to take your life … There’s a bad moon on the rise …«, säuselte er mit bester Laune im Takt der Musik vor sich hin. Langsam zog er seinen Einmalrasierer aus der Stofftasche, zögerte kurz und begann behutsam mit der Rasur der restlichen Haare. Dabei war seine größte Angst, sich selbst zu schneiden.

Du schönes, schönes Mädchen … gleich bist du entstellt.

Er steckte ihre Haare zu den anderen Andenken in die Tasche und öffnete das erste Honigglas. Ein Löffel aus Monjas Schublade unter dem Abwaschbecken der Küche erleichterte sein Vorhaben. Monja lag nackt, mit kahlgeschorenem Kopf, auf den ausgebreiteten Bandagen am Küchenboden. Ihr Oberkörper war von unzähligen Spuren der Peitschenschläge und einem Blutfleck auf der Brust gezeichnet.

Der erste Löffel ist für mich … der zweite für dich …

Vorsichtig begann er ihren Körper mit Blütenhonig einzuschmieren. Er hatte ihn extra beim Imker auf dem Bauernmarkt geholt. Wollte beste Qualität für sein Mädchen. Zwischendurch kostete er selbst von der süßen, klebrigen Masse. Es störte ihn nicht, dass sich der Geschmack des Honigs auf seiner Zunge mit Monjas Blut vermischte. Er liebte das Aroma. Immer wieder zischte er dabei den Text des Songs, der im Hintergrund lief. Die Musik war es, die ihn endgültig in Ekstase versetzte und ihn nach dem Skalpell greifen ließ.

Jetzt nur noch etwas Zucker und Schlagobers, und fertig ist mein Candy Girl … Endlich fühlte er die Entspannung, nach der er sich so gesehnt hatte.

»Oh pour a little sugar on it honey … pour a little sugar on it baby … I’m gonna make your life so sweet …«

Leidenschaft mag die Bande unserer Zuneigung anspannen, aber zerreißen darf sie sie nicht. Die mystischen Klänge der Erinnerung werden ertönen, wenn – und das ist sicher – die besseren Engel unserer Natur sie wieder berühren.

Abraham Lincoln (1809–1865)

8

24. Juli 2019. Jonna schob ihre Kaffeetasse mit der Aufschrift »So sieht unsere neue Kriminalbeamtin aus« zur Seite und öffnete das Intranet der Polizei Graz auf ihrem Computer. Der Geruch von Mikrowellenessen stieg ihr in die Nase. Ihr Büro lag gleich neben der Personalküche und alle halbe Stunde fand ein neuer Duft, von Kaffee über Tütensuppen bis hin zu Popcorn, den Weg zu ihrem Schreibtisch. Als sie ihr Passwort eintippen wollte, erschien eine Aufforderung auf dem Bildschirm.

Bitte ändern Sie Ihr Passwort: Altes Passwort: Neues Passwort: Wiederholung neues Passwort:

Genervt strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ein neues Passwort … ein neues Passwort … und eine Zahlenkombination …

Das Klingeln des Apparates auf ihrem Tisch unterbrach ihre Gedanken.

»Jonna Main am Telefon«, meldete sie sich kurz, da sie am Klingelton erkannte, dass es ein interner Anruf war.

»Wir haben den Kopf der Leiche. Wollen Sie wissen, wo er war?«, verkündete ihr eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Tom, sind Sie es?«, fragte sie irritiert. »Natürlich will ich wissen, wo der Kopf war! Wo sind Sie? Sind Sie noch am Fundort?«

»Oh, entschuldigen Sie, Tschonna. Ja, hier spricht Tom Schwarz von der Spurensicherung. Und ja, ich bin noch am Fundort. Sie sollten sich das ansehen …«

»Da mir der Fall zugeordnet wurde, muss ich mir das wohl ansehen«, antwortete sie und rollte gedanklich die Augen. »Geben Sie mir die Adresse, ich komme sofort.«

Vor zwei Monaten war sie in die Abteilung für Gewaltdelikte versetzt worden, weil eine der leitenden Beamtinnen der Drogenabteilung wohl ein Problem mit ihrem vorlauten Mundwerk hatte. Man empfahl ihr einen Abteilungswechsel und verkaufte ihr das Ganze als eine notwendige Erfahrung, die zum Karriereaufstieg unumgänglich wäre …

Hätte ich doch meinen Mund gehalten, hatte sie seitdem mehr als einmal gedacht.

Nun saß sie zwischen halb ausgeräumten Umzugskartons in einem stickigen Büro, umgeben von Gerüchen, die mehr als gewöhnungsbedürftig waren, und durfte jetzt auch noch einen abgetrennten Leichenkopf besichtigen.

»Sie müssen nicht ins Auto steigen. Kommen Sie einfach zur Jet-Tankstelle rüber, ich hole Sie ab. Ist nicht weit von der Tanke entfernt«, sagte Tom und hörte sich jetzt noch aufgeregter an als vor ein paar Momenten. Schwarz war zwar ein alter Hase in seinem Geschäft, aber ebenso neu in der hiesigen Kriminalabteilung wie Jonna. Es war sein erster Mord, den er in Graz untersuchte. Schwarz war Kriminaltechniker und somit fester Bestandteil jeder Spurenanalyse.

Gestern haben wir den Körper gefunden und heute den Kopf … beides nicht weit von hier …

»Der Täter will uns wohl provozieren, denken Sie nicht?«, sagte Jonna nachdenklich. »Die Leiche der jungen Frau lag nur ein paar Meter vom Landeskriminalamt entfernt.«

»Was haben Sie gesagt? Ich konnte Sie nicht verstehen! Der Verkehr ist sehr laut hier!«

»Ach, vergessen Sie’s! Ich komm runter!«

Jonna nahm den letzten Schluck aus ihrer Kaffeetasse, welche sie am ersten Tag von ihren neuen Abteilungskollegen bekommen hatte, und schnallte ihren Waffengurt um. Lange Hosen waren Pflicht im Landeskriminalamt Steiermark und allein der Blick aus ihrem klimatisierten Büro ließ ihr den Schweiß aus den Poren treten. Obwohl es erst 11:00 Uhr war, zeigte das Thermometer bereits 33 Grad.

Sie krempelte sich die Ärmel ihrer weißen Bluse hoch, zog noch einmal an ihrem ausgefransten Haargummi und warf einen letzten Blick in den kleinen Spiegel, der über dem Waschbecken hing.

Jonna verschwendete nur sehr wenige Gedanken an ihr Aussehen. Ihr dünnes, blondes Haar trug sie seit ihrer Kindheit nie länger als bis zur Schulter. Das war die einfachste Lösung, um so schnell wie möglich im Bad fertig zu werden. Trotzdem musste sie einen halbwegs ordentlichen Eindruck machen, wenn sie gleich ihren Abteilungskollegen gegenübertreten würde.

In der Personalküche mahlte die Kaffeemaschine zum 23. Mal an diesem Vormittag die Bohnen aus dem Supermarkt, als Jonna die Tür ihres Büros hinter sich abschloss. An der Haupteingangstür angekommen, zog sie sich schnell ihren schwarzen Blazer über, um nicht mit sichtbarer Waffe über die Straße zu eilen.

»Tschonna! Frau Main!! Hier drüben sind wir!«, rief ihr Tom mit winkenden Händen entgegen.

Die Julihitze prallte mit voller Wucht auf den Asphalt der frisch gestrichenen Straßen und Jonna hielt ihren Atem flach, als sie dem Kriminaltechniker entgegenhetzte. Der Gestank der Straßenmarkierung lag derart bitterlich in der heißen Luft, dass es beinahe unmöglich war, normal zu atmen.

»Kommen Sie, Frau Main, Sie werden Augen machen, was wir entdeckt haben!«, empfing sie Tom Schwarz, der Spurensicherer, in einem weißen Overall. Er schien nun ganz in seinem Element.

»Hallo, Herr Schwarz. Ja, ich kann es kaum erwarten«, antwortete Jonna mit einem ironischen Unterton und schüttelte seine Hand.

»Wir sind heute Morgen das Gelände nochmals mit Spürhunden abgegangen. Kommen Sie mit. Wir müssen rüber zu den Bäumen.«

Mit großen Schritten eilte Tom Schwarz voraus und Jonna folgte ihm.

»Die Spürhunde taten sich etwas schwer, aber Sie werden nicht glauben, wo wir den Kopf schlussendlich entdeckt haben!«

»Jetzt machen Sie es nicht so spannend …«

»Wir hatten fünf weitere Spürhunde angefordert, um jeden Meter im Umkreis der Tankstelle abzusuchen. Einer der Spürhunde, eine junge Schäferhündin, wurde uns sogar vom Bundeskriminalamt Wien zur Verfügung gestellt. Immerhin suchen wir mittlerweile international nach dem Täter und das BKA Wien ist in diesem Fall unsere erste Anlaufstelle. Leider ist noch immer nicht klar, ob der Fundort auch der Tatort ist. Die Kollegen führen momentan noch die Befragungen der Anrainer durch. Aber dazu komme ich später.«

»Bis jetzt haben wir noch nicht eine Spur …«, murmelte Jonna vor sich hin. Von Weitem sah sie bereits die Kollegen der Spurensicherung in ihren weißen Overalls, die unter einem mächtigen Baum ihrer Arbeit nachgingen. Er stand nahe den Wohnblöcken, nur wenige Meter von der Tankstelle entfernt.

»Vor ca. einer Viertelstunde blieb die Hündin Kira am Baum dort vorne stehen, sie erstarrte geradezu. Das war das Zeichen für die Kriminalbeamtin aus Wien. Sie hat mir erzählt, die Hündin habe bis jetzt in über 700 Einsätzen zu 99 Prozent gefunden, wonach sie gesucht hatte. Egal ob es sich um ein Objekt oder eine Person handelte. Die Hunde können sogar das Adrenalin des Täters riechen, heißt es.«

Endlich am Fundort angekommen, schreckte Jonna direkt zurück. Sie hielt sich die rechte Hand vor den Mund und wich einen Schritt zur Seite. Vor ihr lag der kahlgeschorene Kopf einer Frauenleiche, an dem sich die ersten Fliegen erfreuten.

Die Frau musste blond gewesen sein, darauf deuteten ein paar kleine Haarreste am Kopf hin. Die Augenbrauen waren auftätowiert und beinahe das Einzige, das in ihrem Gesicht noch zu erkennen war. Ihre zarte, kreidebleiche Haut war vollgeschmiert mit dem Make-up, das der Regen wegzuspülen versucht hatte. In der Mordnacht hatte es wie in Strömen gegossen.

An der Vorderseite des Halses war ein klarer Schnitt zu sehen, die Rückseite hingegen war zerfetzt. Es sah aus, als hätte der Täter in Ruhe damit begonnen, den Kopf vom Körper zu trennen, dann aber die Hinterseite durch hektische Reißbewegungen entfernt.

»Die Spürhunde hatten es nicht einfach, da der Kopf oben am Baum auf einem Ast steckte«, erklärte Tom Schwarz.

»Was? Dort oben?« Ungläubig schaute Jonna hinauf und ihr Magen zog sich zusammen.

Tom nahm eine Plastiktüte aus seiner Hosentasche und forderte einen seiner Kollegen auf, ihm einen kleinen Spatel zu geben. Konzentriert kniete er sich nieder und steckte den Spatel an den Mundwinkel des Leichenkopfes.

»Was haben Sie gesehen, Tom?«, fragte Jonna, die sich noch nicht an den Anblick des Kopfes gewöhnt hatte. Ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit.

»Ein Stück eines Grashalmes«, antwortete Tom. »Hier ist nirgends Gras, es wird das Gras von der Tankstelle drüben sein.«

»Sie werden recht haben«, stimmte Jonna ihm zu und in ihrem Bauch begann es zu rumoren. »Was halten Sie davon, wenn wir uns in einer Stunde in meinem Büro treffen?«, schlug sie vor, denn fürs Erste hatte sie genug gesehen. »In dieser Hitze hier kann sowieso kein Mensch einen klaren Gedanken fassen.«

»Ist gut, Frau Main. Ich bin in einer Stunde bei Ihnen«, antwortete Schwarz.

Jonna nickte ihm zu und wandte sich zum Gehen.

»Ah, noch was, Frau Main«, Tom stand auf und trat auf sie zu. »Ich weiß, das hier ist nicht leicht für Sie. Mir hat a Vogal gezwitschert, dass Sie nicht freiwillig in diese Abteilung gekommen sind«, sagte er in seinem unverkennbaren Wiener Dialekt.

A Vogal hat es ihm gezwitschert, soso …

»An den Anblick derartiger Leichenstücke muss man sich erst gewöhnen, so etwas sieht man nicht alle Tage«, erklärte er, trat noch einen Schritt näher und flüsterte dann: »Tut mir leid, Frau Main, aber Sie sollten mit den Ermittlungen so schnell wie möglich beginnen. Man hat ein Auge auf Sie geworfen …«

»Alles klar, Tom. Ich stelle den aktuellen Bericht zusammen. Aber ich denke, davor muss ich mich noch schnell übergeben …«

»Machen’s das, Frau Main.« Tom nickte ihr schmunzelnd zu und hob seine Hand zum Abschied.

9

Auf dem Weg zurück zum LKA rumorte es noch immer in ihrem Magen, obwohl sie sich anstrengte, nicht an den Kopf zu denken. Stattdessen stellte sie sich vor, wie der Täter auf sein Opfer gewartet haben könnte. Er musste die junge Frau mit aller Kraft auf den Boden gepresst haben, ihr den Mund zugeklebt oder mit etwas vollgestopft haben. Vermutlich hatte er sie davor mit einem Schlag auf den Kopf niedergestreckt.

Jonna warf ihren Blick von links nach rechts, bevor sie die Straße überquerte. Wieder stieg ihr der Gestank der Straßenmarkierung in die Nase, doch diesmal hatte sie zusätzlich mit Übelkeit zu kämpfen. Die Bilder des Leichenkopfes lagen ihr wie ein Mühlstein im Magen.

Es war ihr erster richtiger Mordfall. Und dann gleich so etwas!

Wahrscheinlich absichtlich … Als Strafe obendrauf …

Jonna wusste, dass es Ermittler im Hintergrund gab, die das Vorankommen in diesem Fall aus der Ferne beobachteten. Schwarz hatte ihr damit nichts Neues gesagt.

Im LKA angekommen, fuhr sie mit dem Lift in den dritten Stock und klopfte an der Tür neben ihrem Büro.

Keine Reaktion.

Wo steckt Mancini nun schon wieder?

Irgendwie war ihr Ermittlerkollege nie auffindbar, wenn sie ihn suchte, zumindest nicht um die Mittagszeit. Die beiden hatten zwar ihre Büros Tür an Tür, doch trafen sie sich meist nur morgens, um sich kurz zu besprechen.

Die Übelkeit hatte sich gelegt, als Jonna endlich in ihrem gekühlten Büro stand und eine Mineralflasche öffnete.

Vöslauer mild. Wie damals im Krankenhaus … Das Wasser erinnerte sie an die Zeit, als sie nach ihrer Maturaprüfung ein kurzes Praktikum im Uniklinikum Graz gemacht hatte, um zu sehen, ob Medizin das Richtige für sie wäre. Es hatte sie schon immer fasziniert, anderen Menschen helfen zu können. Und nun stand sie da … als Kriminalbeamtin, und durfte den abgetrennten Kopf einer misshandelten Frau begutachten. Allein bei dem Gedanken stieg wieder Übelkeit in ihr auf. Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie damals im Jahr 2003, als sie in der Warteschlange zur Polizeiaufnahmeprüfung stand, die richtige Entscheidung getroffen hatte.

… Und wenn man das Ende fühlt, denkt man immer an den Anfang zurück …

Ein heftiges Hämmern an der Tür unterbrach ihr nostalgisches Gedankenspiel.

»Ja, bitte!«, schoss es erschrocken aus ihr heraus.

Mancini öffnete vorsichtig die Bürotür und steckte seinen Kopf in den Türspalt.

»Kommen Sie rein, Marlo. Wir müssen dringend miteinander reden!«, forderte Jonna ihn auf.

»Oh ja, das müssen wir! Ich habe interessante Neuigkeiten im Fall Tankstelle«, entgegnete der Kollege und betrat hastig das Büro. Schwungvoll setzte er sich auf einen der schwarzen Lederstühle, die vor Jonnas Schreibtisch standen.

»Fall Tankstelle? So nennen wir ihn also?«, schmunzelte sie und bot ihm ein Glas Mineralwasser an.

»No grazie. Ich hatte gerade drei Cafés und einen Magenkrampf«, lehnte er entschieden ab.

Marlo hatte braungebrannte Haut, dunkle Augen und dunkles Haar. Er war halber Italiener, und das war weder zu übersehen noch zu überhören. Jonna vermutete, das könnte der Grund sein, weshalb sie ihn am frühen Nachmittag nie auffand. Wahrscheinlich machte er irgendwo still und heimlich Siesta.

»Schießen Sie los, Marlo«, forderte sie ihn auf. »In einer halben Stunde kommt Tom Schwarz, um den Obduktionsbericht und die aktuellen Ergebnisse vorbeizubringen.«

»Ja, ich weiß. Ich hab ihn gerade im Stiegenhaus getroffen. Furchtbar, dieser Frauenkopf … Aber lassen Sie mich erzählen. Wie besprochen, habe ich heute Vormittag die Befragung der Anrainer rund um die Tankstelle fortgesetzt. Dabei machte mich einer der Streifenkollegen auf eine alte Frau aufmerksam. Er meinte, sie würden immer wieder die Kennzeichen der Autos im Halteverbot von ihr zugesteckt bekommen, und sagte mir, in welchem Gebäude sie wohnt.«

»Ich denke, ich weiß, von welcher alten Frau Sie sprechen. Sie hängt den ganzen Tag am Fenster und schaut hinaus. Man kann sie sogar hier von meinem Büro aus sehen. Aber bitte, erzählen Sie weiter.«

»Ja, genau! Das ist sie! Ich kann sie ebenfalls von meinem Fenster aus sehen. Ich hoffe nur, sie kommt nicht auf die Idee, auch noch in unsere Büros zu klotzen. Diese Frau ist total schräg. Oder einfach nur einsam.«

Jonna legte ihren Waffengurt ab, während ihr Kollege fortfuhr: »Sie erzählte mir, dass sie sich jeden Morgen mit einem heißen Kaffee auf ihre alte, morsche Fensterbank setzt, um anschließend nach Straftätern Ausschau zu halten. Sie erfüllt sich damit einen Kindheitstraum. Und jetzt raten Sie mal, was sie immer werden wollte!«

»Polizistin?«

»Ja, genau! Dio Mio …«, Marlo schlug kurz die Hände vor sein Gesicht. »Nun gut. Wir können uns glücklich schätzen, diese Frau in unserer Umgebung zu haben. Sie macht dasselbe nämlich auch abends und manchmal bis in die Nacht hinein.«

Ein Klopfen an der Bürotür unterbrach das Gespräch.

»Ja, bitte! Kommen Sie rein!«, rief Jonna.

Es war der Kriminaltechniker Tom Schwarz. »Entschuldigt, dass ich hier so reinplatze! Ist doch in Ordnung? Ansonsten komme ich später!?«, fragte er gestresst.

»Nein, nein. Bleiben Sie. Wir besprechen gerade den derzeitigen Stand der Ermittlungen. Es trifft sich gut, dass Sie schon hier sind«, antwortete Jonna. »Bitte nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten?«

»Nein, danke. Ich möchte Ihre Unterhaltung nicht stören. Bitte, berichten Sie weiter, Herr Mancini«, forderte Tom ihn auf.

»Sicher. Also diese Frau, Maria Aich heißt sie übrigens, sie hat in der Mordnacht um ca. 22:45 Uhr einen Schrei gehört. Sie schlich zu ihrem Fenster und spähte hinaus. Doch da war nichts. Nur zwei Männer, die auffällig warm angezogen waren und sich in der Nähe der Tankstelle aufhielten. Sie meinte zu mir, sie hätte doch wegen eines kurzen Schreis und zwei warm gekleideter Männer in einer lauen Sommernacht nicht die Polizei informieren können. Außerdem lagen erste Anzeichen von Regen in der Luft. Da sie aber extra aufgestanden war und mit Stift und Papier bewaffnet am Fenster stand, schrieb die gute alte Dame das Kennzeichen des Pkws auf, aus dem die beiden Männer gestiegen waren.«

»Haben wir die Namen der beiden Männer?«, schoss es aus Jonna heraus.

»Ja, wir haben den Namen des Audi-Besitzers. Er heißt Mario Brenstein, ist 50 und wohnt in der Burgenlandstraße.« Marlo kratzte sich am Hinterkopf.

»Wenigsten ein Anhaltspunkt. Aber bitte, Herr Schwarz, was haben Sie herausgefunden?«, wandte sich Jonna an den Kriminaltechniker.

»Alles, was wir bis jetzt wissen, ist, dass der Tod der jungen Frau um ca. 1:00 Uhr morgens eingetreten sein muss und der Täter die Leiche, bevor er ihr den Kopf abtrennte, mit Benzin volllaufen ließ. Wir konnten deutliche Benzinspuren um den Mund des Opfers nachweisen. Laut Wetteraufzeichnungen hat es genau um 1:30 Uhr zu regnen begonnen. Mit Sicherheit gingen Spuren verloren oder sind vom Wasser zerstört worden. Mögliche Fingerabdrücke, Haare oder Kleidungsfasern wurden, wenn sie denn existiert hatten, von der Leiche gespült. Wir konnten bislang nicht eine Spur vom Täter sicherstellen«, entgegnete ihr Schwarz mit ernster Miene.

»Ja, ich weiß. Ich war gestern den ganzen Tag am Fundort, um die Anrainer zu befragen, und konnte Ihre Spurensuche teilweise verfolgen«, erwiderte Jonna nachdenklich.

Marlo, der in seine Notizen vertieft war, meinte dazu: »Es gibt immer noch keine Vermisstenanzeige.«

»Die Leiche liegt nun in der Gerichtsmedizin. Den Kopf habe ich vorhin auch dort abgeliefert«, berichtete Schwarz. »Sobald das Opfer identifiziert wurde und wir ein Bild der Frau an die Zeitungen geben können, bringt uns das mit Sicherheit ein Stück weiter. Was konnten Sie herausfinden, Frau Main?«

»Ich habe gestern mit sämtlichen Anrainern gesprochen, keiner kann sich an eine junge Frau erinnern. Der Tankstellenwart hatte eine letzte Kundin um ca. 22:00 Uhr. Er beschrieb die Frau als dunkelhaarig, mindestens 1,75 groß, schlank und ausgesprochen hübsch. Die Beschreibung ihrer Kleidung passt nicht zu der, die wir am Tatort gefunden haben. Und wie sich heute herausgestellt hat, ist die Leiche blond. Nun … die Haare waren abrasiert, es kann also durchaus sein, dass sie in den Längen dunkel gefärbt waren. Trotzdem denke ich nicht, dass die Kundin mit dem Opfer identisch ist. Wir werden diese Frau jedenfalls ausfindig machen. Auf dem Überwachungsvideo der Tankstelle ist ihr Autokennzeichen gut erkennbar«, berichtete Jonna und öffnete den kleinen Kühlschrank neben ihrem Schreibtisch.

Der Kriminaltechniker blickte die beiden Beamten an und meinte dann trocken: »Zusammengefasst haben wir kein forensisches Beweismaterial. Nur zwei Männer, die zu warm für die Jahreszeit gekleidet waren, eine Frau, die – von der Haarfarbe bis zur Kleidung – nicht auf die Beschreibung der Leiche passt, und einen Schrei um 22:45 Uhr.«

»Danke für die Zusammenfassung, Herr Schwarz«, sagte Jonna. »Ich schlage vor, wir machen uns an die Arbeit. Wie lange, denken Sie, wird es dauern, bis der Kopf der Leiche untersucht und identifiziert ist?« Jonna nahm einen Schluck von ihrem eisgekühlten Mineralwasser.

»Das kann ich im Moment schwer sagen. Ich denke, bis morgen früh werden Sie mit keinen Ergebnissen rechnen können. Ich werde mich jetzt in mein Labor zurückziehen und ein paar Überstunden schieben«, antwortete der Kriminaltechniker und verabschiedete sich.

10

Der Tag neigte sich dem Ende zu und Jonna konnte endlich die Bürotür hinter sich abschließen. Die Berichterstattung an die Staatsanwaltschaft war erstellt und jede weitere Vorgehensweise angeordnet.

Noch immer war es heiß und stickig draußen. Die Hitze des Asphaltes auf dem Parkplatz vor dem Landeskriminalamt stieg aus allen Löchern. Jonna seufzte. Ihre Mobilbox quoll über von Nachrichten und in ihrem dunkelblauen 1er BMW roch es nach aufgeheizten Ledersitzen. Es war bereits 19:30 Uhr und sie hatte bei dem dichten Verkehr eine Fahrzeit von mindestens 30 Minuten vor sich. Auf den Straßen drängten sich Autos, Fahrräder und Vespas in allen Farben. Immer wieder ertönte das Martinshorn eines Rettungsfahrzeugs, das sich mit Müh und Not durch die Rettungsgassen zwängte. Der Tag konnte nicht besser zu Ende gehen …

Während sie den BMW durch das Verkehrschaos lenkte, versuchte Jonna ihre Gedanken auszuschalten. Doch es gelang ihr nicht. Vor ihrem geistigen Auge tauchten immer wieder die Bilder des Leichenkörpers und des Hauptes der jungen Frau auf. An was sollte sie auch sonst denken, wenn nicht an den Mord? Noch nie gab es in dieser Stadt ein derart brutales Gewaltdelikt.

Sie erinnerte sich an den Fall Friedrich Felzmann, der die Steiermark in Angst und Bange versetzt hatte. Felzmann hatte am 29. Oktober 2017 zwei Personen durch Schüsse aus einem Gewehr getötet und eine weitere schwer verletzt. Nach der Bluttat stellte er seinen Wagen in einem nahegelegenen Waldgebiet ab und flüchtete zu Fuß weiter. Seitdem war er wie vom Erdboden verschluckt.

Bei den ermordeten Personen handelte es sich um die Nachbarn von Felzmann, mit denen er jahrelang im Streit gewesen war. Die Tat hatte die friedliche Atmosphäre der Gemeinde zerstört, Misstrauen und Feindseligkeit griffen in der Bevölkerung um sich.

Die Soko Friedrich kam zu dem Ergebnis, dass Felzmann seine Tat nicht detailliert vorbereitet hatte, es sich vielmehr um eine »eruptive Tat« handelte. Eine Tatsache, die sein spurloses Verschwinden noch rätselhafter machte. Nur eine Feindesliste mit potenziellen Opfern, welche in seinem Haus gefunden worden war, ließ auf einen vagen Plan schließen.

Am 26. Jänner 2018 teilten die Ermittler mit, dass die Soko Friedrich aufgelöst wurde und der Täter nun auf der Liste der »Europe’s Most Wanted Fugitives« stehe, außerdem belege er Platz zwei in der Reihung der »Austrias’s most wanted persons«. Das Landeskriminalamt Steiermark setzte eine Belohnung in Höhe von 5.000 Euro für Hinweise über den Verbleib Felzmanns aus. Vergebens.

Was, wenn dieser Fall auch nicht abgeschlossen werden kann und der Täter nie gefasst wird? Dieser Gedanke versetzte Jonna in Unruhe.