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"Die Nachrichten berichten vom Kobernaußerwald-Mörder, der sich durch unsere Wälder treibt. Sie sollten hier besser nicht allein unterwegs sein." Was ein Erholungsurlaub in ländlicher Idylle hätte sein sollen, endet für die Radiojournalistin Marietta Dorn alles andere als entspannt. Erst ist da eine Leiche auf ihrem Grundstück, und dann steht auch noch das Haus ihrer Großeltern in Flammen ... Marietta kann ihre Neugierde nicht im Zaum halten und lässt sich auf den Polizisten Paul Neuländtner und die Entlarvung des Täters ein. Ihre Recherchen führen sie in die Vergangenheit des Innviertels, zu einem Adelsmann und ins Herz der oberösterreichischen Jägerschaft. Doch hätte sie längst ihren Nachhauseweg antreten sollen? Die Antwort liegt am Ende des Weges.
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Seitenzahl: 191
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden und keinesfalls als Abbild der in Mettmach lebenden Menschen zu verstehen. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind zufällig und unbeabsichtigt. Ebenso spiegeln die aus der Perspektive der Protagonisten geäußerten Aussagen weder reale Verhältnisse noch die persönliche Meinung der Autorin wider.
1 Der Wald
2 »Sie haben’s gut, Sie können ins Kaffeehaus gehen.«
3 Feuer im Abendrot
4 Das Gästezimmer
5 Die Druidin und der Schuss
6 Betrunken am Steuer
7 Die Hochzeit
8 Stricke und Seile
9 Die Probe
10 Ein toter Hase
11 Aftershave und Pfeifenrauch
12 Das Geheimnis
13 Der Herzhang
14 Das Begräbnis
15 Der Hubertushof
16 Die Reise nach Rust an den Neusiedlersee
17 Das Ohr
18 Der nächtliche Besuch
19 Die Abmachung
20 Die Grabung
21 Gedankengänge
22 Der Schlossherr
23 Cognac aus Verzweiflung
24 Das Vollmondrennen
25 Verschwunden
26 Die Vernehmung
27 Gänse und Gemüse
28 Das Vermächtnis
29 Entführt
30 Die Suche
31 Wasser und Kekse
32 Die Detektivin
33 Die Kabelbinder
34 Die Fährte
35 Freiheit
36 Das Geständnis
»Was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinem Freunde nicht.«
(Arthur Schopenhauer)
Erstaunlich, wie schnell das Leben eines Menschen ausgelöscht werden kann. Es reicht ein einziger Schlag, ein Schuss oder ein schwaches Herz, das durch Fremdeinwirkung zum Stillstand gebracht wird. Man sagt, nahezu jeder Mensch wäre dazu imstande, einem anderen das Leben zu nehmen. In den meisten Fällen kennt der Täter das Opfer. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis der letzte Tropfen fällt und sich die Augen des anderen für immer schließen.
Da lag er nun und begrüßte den Tod, der langsam an ihn herantrat. An einem Baum, den er seit Kindestagen kannte, an einem Platz, den er gänzlich verehrte. Wie gewohnt trug er seine dunkelgrüne Jagdkleidung, obwohl er nur nach dem lackierten Edelstahlwaschbecken an der Vorderseite seiner Waldhütte hatte sehen wollen. Leider. Sonst hätte er sein Gewehr dabeigehabt. Doch hätte ihm das etwas gebracht?
Ludwig Hintermaier war ein kräftig gebauter Mann, und doch wollte ihm das Schicksal keine Chance geben. Er ließ den Blick zu den Baumkronen schweifen. Augenblicklich überkam ihn Schwindel, und der aufkommende Schmerz, der ihm durch die Gedärme fuhr, ließ ihn in sich zusammensacken. Er konnte kaum noch den Himmel sehen, den wolkenlosen blauen Himmel über dem Kobernaußerwald. In ein paar Stunden sollte ein heftiges Gewitter über das Innviertel ziehen und der Spätsommer dem Herbst alle Ehre erweisen.
Hinter ihm begann es zu rascheln. Langsam bewegte er seine Arme und krallte die Finger in den feuchten kalten Waldboden, um sein Haupt nach hinten zu strecken. Hintermaier schaffte es, den Kopf zu drehen, doch sah im dämmrigen Abendlicht nur den nass glänzenden Schleier auf seinem Handrücken, durchzogen von roten Blutfäden. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann ihm das letzte Mal Blut aus der Nase geronnen war.
»Wer ist da?«, rief er schwach. Keine Antwort. »Hilfe! So hilft mir doch jemand!«, seine Stimme war heiser, ließ Kraft vermissen, und ein Stich in die Brust brachte ihn zum Schweigen. Zusehends begann sein Herz zu rasen, Hitze stieg in ihm hoch und er sank weiter in sich zusammen.
Das wird ein Reh gewesen sein, dachte er hoffnungsvoll, merkte jedoch, wie ihm das Atmen immer schwerer fiel.
Erneut ein Murren, nur wenige Meter von ihm. »Wer ist da?«, erhob er sich ein letztes Mal.
Die Wolken am Himmel verdichteten sich weiter, und ein herbstlicher Vorgeschmack nahte unaufhaltsam. Wickerl, wie man ihn auch nannte, bewegte langsam seine Hand und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Blut staute sich in seinen Schläfen. Er war sich nicht sicher – war es die Wut oder Angst, die sich in ihm auftat? Wie war es nur dazu gekommen? Und wer schlich da hinter ihm durch die Sträucher, verdammt noch mal!? Das Rauschen in seinen Ohren wurde stärker. Abermals ein Geräusch, und es schien, als würde das Knistern des Waldes den Jäger gnadenlos verspotten. Doch ob es sich nun um einen Jagdkollegen oder um ein Reh handelte … Es sollte ihm gleichgültig werden. Er konnte sich ohnehin nicht wehren.
Schließlich war es ein Hase, der aus dem Gebüsch gehoppelt kam. Er spitzte die langen Löffel himmelwärts und setzte sich brettlbreit vor das knallrote Gesicht des mitgenommenen Mannes, der vor Schreck den Kopf einzog. Ludwig war aufgelöst, aber gleichzeitig erleichtert. »Dass ich hier im Jagleck mal verrecke … mit einem Hasen als letztem Wegbegleiter … Wer hätte das gedacht …?«, murmelte er.
Der Feldhase ließ sich davon nicht einschüchtern und wandte den Kopf aufgeweckt in alle Richtungen.
»Weißt, Menschen sind schon komplizierte Wesen. Des musst du dir doch auch denken?«, hauchte er weiter. »Für alles brauchen wir irgendwas … Zum Schlafen ein Bett, zum Essen Geschirr … und ein Wohlstandsbäuchlein sowieso.«
Das Tier neigte den Kopf und starrte den Mann mit fragend braunen Augen an.
»Und was brauchst du? Gar nichts. Vier gesunde Beine, dein Fell und sonst gar nichts.«
Erneut überkam ihn eine Hitzewelle und trübte seine Sinne. Er kniff die Augen zusammen. Der Hase sah plötzlich so lieblich aus, als hätte ihn jemand gezeichnet. Wie eine Comicfigur, die aus einer Zeitschrift entsprungen war. Hintermaier halluzinierte, und der ansteigende Druck in seinem Kopf trübte langsam sein Bewusstsein. Noch einmal blickte er hoch zu den Blättern der Bäume, die sich in goldene Federn im Sonnenlicht des Spätsommers verwandelt hatten. Mit einem Schlag fühlte er sich frei, leicht, als hätte er an Gewicht verloren.
»Du musst mir nicht antworten. Ich hab auch keine Antwort darauf. Aber eins weiß ich: Ich find noch heraus, wer mir das angetan hat. Und diese Person verfolg ich bis in den Tod. Das schwör ich bei Go…«
Ein Schuss beendete seinen Satz. Ludwig Hintermaier schloss die Augen, und ein heftiger Donner leitete das vorhergesagte Gewitter im Innviertel ein.
2 »SIE HABEN’S GUT, SIE KÖNNEN INS KAFFEEHAUS GEHEN.«
(Kaiser Franz Joseph)
Wien, 23. September, 13. Bezirk. Ich trat durch die Tür ins Innere des Cafés, nahm den Geruch der renovierten Holzverkleidung wahr und ließ den Blick durch das Lokal schweifen. Neben den schweren roten Vorhängen, beschienen vom schwachen Licht des Kristalllüsters, thronte die Kuchenvitrine auf vergoldeten Sockeln. Ein leichter Nebelschleier umrahmte die Hermesvilla und hatte die Statue im Garten bis auf das Piedestal verschlungen. Ich erblickte meine beiden Kolleginnen Lisa und Ruth im milchigen Licht, das durch das Fenster auf ihre Kaffeetassen fiel. Wir hatten uns beim Radiosender Six kennengelernt. Nach meiner Jobzusage als Journalistin war mir Lisa nach nur wenigen Tagen mit einem Dutzend Kabel unter dem Arm über den Weg gelaufen. Ein harter Kampf um den Platz hinter dem Mikrofon begann. Als Radiojournalistin stand nicht die formale Ausbildung im Vordergrund, sondern die Praxisbereitschaft. Das Recherchieren, das niemand bezahlte. Die meisten verließen die Branche nach drei bis vier Jahren wieder. Zumindest die meisten Frauen. Six war kein Radiofunk, bei dem ein Musikteppich den nächsten jagte, obwohl es ein kommerzieller Sender war. Das gefiel mir, und ich blieb.
Meine erste Livesendung war – bis zu diesem Tag – das wohl größte Abenteuer meines Lebens, und ich fragte mich, wie sich wohl die erste weibliche Sportreporterin in der Männerumkleide gefühlt hatte. Ich war nicht nur die einzige Frau vor Ort, sondern darüber hinaus zehn Jahre jünger als alle anderen. Bis ich auf Lisa traf. Es dauerte nicht lange, und Ruth, welche ihr Büro gleich nebenan hatte, leistete uns Gesellschaft. Sie war es, die uns im Namen des Senders beim Wien-Marathon angemeldet hatte, für den wir an diesem Samstag trainieren wollten. Wie an jedem Morgen hatte ich auch an diesem die obligatorische Runde mit meinem Labradormischling bereits hinter mir. Man gab ihm den Namen Sky, nachdem er bei seiner Geburt unmittelbar für tot erklärt worden war. Mit einem stolzen Alter von elf Jahren war er immer noch fit, wohingegen ich mit meinen dreiundvierzig Jahren und achtundfünfzig Kilo Mühe hatte, die Sporteinheiten zu absolvieren.
Die unumgängliche Tasse Kaffee galt mittlerweile als Brauch, unser Training einzuleiten, und ich setzte mich zu ihnen. An diesem Tag sollte unsere Strecke durch das Naturschutzgebiet hinauf zur Warte und wieder zurück zum »Schloss der Träume«, wie Kaiserin Sissi es einst genannt hatte, führen. Ich war erleichtert, nach dem kurzen Schwatz wieder in die kühle Morgenluft zu treten. Eine innere Unruhe hatte mich ergriffen, und ich suchte nach Ablenkung. Immer wieder tauchten Bilder meiner Vergangenheit vor mir auf, und zahlreiche Überstunden ließen mich sehnlichst auf die Zusage einer dreiwöchigen Sendepause – sprich: Urlaub – warten.
Das Hirschgestemm lag längst hinter uns, und wir erblickten eine Wildschweinfamilie, die sich durch die Bäume zwanzig Meter vor uns zwängte. Unter den Habsburgern noch als Jagdrevier genutzt, galt dieses Gebiet nun als Lebensraum für Hirsche und Wildschweine. Sosehr ich den Ort der Ruhe und Entspannung liebte, an diesem Tag verfluchte ich jedes Eck dieser Stadt. Meine Kolleginnen waren in ein Gespräch vertieft, dem ich nicht folgen konnte. Ich war viel zu sehr in meine eigenen Gedanken versunken, schweifte immer wieder ab, bis mich das Klingeln meines Handys anhalten ließ und ich keuchend ranging.
»Marietta, wir treffen uns an der Warte!«, rief Ruth, und sie rannten weiter.
Ich nickte nur, während ich versuchte, flach zu atmen, um dem Gemurmle meines Chefs am anderen Ende der Leitung zu folgen.
»Auch wenn ich Ihre Berichte lieber gestern als morgen auf dem Tisch hätte, das Interview mit Richard Newton kann auch im Oktober stattfinden. Genießen Sie Ihren Urlaub, Frau Dorn.«
Dankend legte ich auf und fragte mich, ob Mag. Grendl nun doch das schlechte Gewissen ereilt hatte.
Das Tischchen am Aussichtsturm war bereits voll, als ich nach fünfzehn Minuten völlig verschwitzt ankam.
»Schien wichtig gewesen zu sein?«, fragte Lisa, die ihre Dehnübungen an einer der Bänke machte.
»Es war der Chef«, schnaubte ich überhitzt.
»Was wollte der denn von dir – heute?« Ruth zog an ihrem T-Shirt und wischte sich aufgebracht den Schweiß von der Stirn.
»Ich kann dir sagen, worum es ging. Marie bekommt ihre drei Wochen Urlaub, nicht wahr?« Lisa liebte es, Privates von Beruflichem zu trennen, wenn es um meinen Vornamen ging.
Ich sah sie überrascht an. »Woher weißt du das?«
»Ganz ehrlich? Ich hab ihn gebeten, dir endlich freizugeben. Schau dich doch mal an.«
»Ach, dir hab ich das zu verdanken?« Musternd ließ ich meinen Blick über ihr Gesicht streichen.
Schuldbewusst trat sie näher an mich. »Ich hoffe, das ist okay?«
Nun grinste ich, setzte mich auf einen der Steine neben ihr und winkte ab. »Der Zeitpunkt könnte nicht besser sein.«
Aufmerksam mischte sich Ruth zu uns. »Hast du schon etwas vor? Oder ist die Frage verfrüht?«
Grinsend griff ich nach dem Taschentuch in meiner Seitentasche und blickte zu ihr hoch. »Als ich den Wald gesehen habe, kam mir tatsächlich eine Idee. Das Haus meiner Großeltern … Es wird höchste Zeit, es mal wieder zu besuchen, die Fenster zu öffnen. Ihr wisst schon. Das Übliche.«
»Du willst, anstatt in einen Flieger zu steigen, in diese Waldhütte fahren?«
»Ich hab einen Hund, schon vergessen? Außerdem ist mir danach. Nach Wald und Ruhe. Ich muss ohnehin nachsehen«, kurz überlegte ich, »ob sich wieder Siebenschläfer eingenistet haben.«
»Wie bitte? Siebenschläfer? Du willst losfahren, um nach diesen Schädlingen zu sehen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!« Lisa schnitt eine Grimasse. Sie war in Wien geboren, aufgewachsen und ein wirklicher Stadtmensch. Schon wenn ein Käfer an ihr hochkrabbelte, war ihr das zu viel Natur.
»Nur für drei Tage.« Ich musste lachen.
»Hast du denn keine Angst, allein in dieser Hütte zu übernachten?«
»Sky ist doch bei mir.«
»Der ist zahm wie ein Kätzchen.« Nun begann sich Lisa ernsthaft Sorgen zu machen, wie ihrem veränderten Mienenspiel anzusehen war.
»Ich kenne die Gegend, seit ich fünf bin. Es ist wirklich schön dort. Sehr idyllisch. Alles okay.«
»Wehe, wir bekommen nicht jeden Tag eine Nachricht von dir«, beharrte Ruth mit hochgezwirbeltem Haar.
»Glaubts mir, hier in Wien lebts ihr gefährlicher.«
Die Straßen waren voll. Ich fuhr entlang der linken Wienzeile und blickte in den Rückspiegel. Wie in einem Bildband von Wiens architektonischer Geschichte tummelten sich Touristen zwischen Schönbrunn und dem Naschmarkt. Samstags war immer viel los, und ich versuchte so schnell wie möglich dem Wirbel zu entfliehen. »The place to enjoy«, hatte mein Großonkel den Touristen aus England und Amerika immer versucht nahezulegen, als er gelegentlich als Reiseführer in diesem Trubel gearbeitet hatte.
Es gab Cafés, Bars und eine Oper, alle entstanden zwischen den Epochen des Historismus und der Secession. Ich war noch kurz am Naschmarkt gewesen, um mich mit meiner Cousine Miriam und ihrem Mann zu treffen. Wir aßen kurz im Dill und verabschiedeten uns später im Café Sava voneinander. Meine Taschen waren voll mit Gemüse und Obst, und ich war viel zu spät dran, als ich mich schließlich auf den Weg machen wollte.
Die Fahrt nach Oberösterreich besänftigte mich mit jedem Kilometer, der mich aus der Stadt führte. Die Häuser wurden niedriger und waren in eine immer grünere Landschaft gebettet. Mit meinem Hund im Kofferraum und einer Flasche Rotwein zwischen den Äpfeln auf der Rückbank war ich nun auf dem Weg nach Jagleck am Kobernaußerwald. Das Navi lotste mich Richtung St. Pölten und über Amstetten nach Ansfelden, wo ich kurz anhielt, um Sky rauszulassen. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als ich endlich das ersehnte Ortsschild, neben einer vom Blitz getroffenen Eiche am Weg, erblickte.
Wie sollte es auch anders sein?
Der Baum war auf einen der Güterwege gestürzt und zwang mich anzuhalten. Müde öffnete ich die Tür meines Wagens und versank sogleich im Schlamm unter meinen Sohlen.
Erster Pessimismus regte sich nach diesem langen Tag in mir, und ich nahm einen Atemzug, um den Duft der Erde und Bäume aufzunehmen. Ein kühler Herbstwind fegte über das Land, und eine Krähe erhob sich von einem der moosbedeckten Steine, als ich versuchte über den verwucherten Weg zu kommen.
Mittlerweile waren vier Jahre vergangen, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Mein Bruder und ich teilten uns die Arbeit zur Erhaltung des Hauses, meine Mutter verwahrte die Schlüssel. Wir waren als Kinder oft hier zu Besuch bei den Großeltern gewesen, doch mittlerweile fiel es mir schwer, den Dialekt dieser Gegend zu decodieren. Opa Gustav und Oma Herta hatten sich ein Bauernsacherl in der Nähe gegönnt und uns nach ihrem Tod das kleine Haus am Waldrand hinterlassen, das ich nun endlich sichtete. Rasch eilte ich zurück zum Wagen und versuchte umständlich auf dem matschigen Güterweg zu wenden, um mein Ziel schließlich zu erreichen.
Modrig-abgestandener Geruch durchzog meine Erwartungen, als ich die Eingangstür öffnete und vom Gegenteil überrascht wurde. Die Gegebenheiten irritierten mich nur wenig, und ich eilte, um nach dem Thermometer zu sehen. Fünfzig Quadratmeter waren zwar nicht wenig, verteilten sich aber auf ein Zimmer und einen Lagerraum. Ein kleines weinrotes Sofa stand gegenüber dem Bett und kontrastierte mit den rot gemusterten Vorhängen aus Baumwolle. Die niedrige Holzdecke und die alte Bauernküche hatten es gemeinsam mit der Truhe im Eck geschafft, eine heimelige Atmosphäre zu schaffen. So gut es mir gefiel, es war bereits kurz vor 20:00 Uhr, und ich ärgerte mich, die Reise nicht erst am nächsten Morgen angetreten zu haben.
»Na komm, wir gehen noch irgendwo was essen«, forderte ich meinen Hund auf.
Irgendwo …, überlegte ich.
Ich zog das Handy aus meiner Fleecejacke und schaute auf das Display. Der Empfang ließ zu wünschen übrig. Wie hieß das noch mal? Stelzen, nein, Schlag … Ich trat vor die Tür, um besseres Netz zu bekommen. »Da haben wir’s ja. 4923 Schlag 170. Das Zirmstüberl. Perfekt.«
Der Weg zum Lokal führte uns zurück auf die Straße und endete am Güterweg Jagleck–Warmanstadl, der mich direkt nach Schlag führte, wo die grellen Lichter der Parkplatzscheinwerfer uns den Weg wiesen. Jede Menge Autos standen in der Laternengarage der Gaststätte und waren ins Blaue des Abendlichts getaucht.
»Sieht nach einem vollen Haus aus.«
Ich öffnete den Kofferraum und bat Sky rauszuspringen. Meine Gedanken schweiften zurück zum Gemüsehändler am Naschmarkt, als zwei offensichtlich betrunkene Männer durch die Wirtshaustür traten. Der eine mit rotem, der andere mit dunklem Haar. Die Tür fiel zu, und ich legte meinen Hund an die Leine.
»Wer ist zu so einer Tat fähig, Franz? Kennst du irgendjemanden, der in der Lage wäre, einem Menschen mit einem Kopfschuss das Leben zu nehmen?«, hörte ich einen der beiden Männer.
In den Schatten zurückgetreten, konnte ich nur noch ihre Umrisse im Glasfenster des Gasthauses erkennen, die darauf hindeuteten, dass sie neben das Gebüsch getreten waren. Sie begannen zu pinkeln, wie ich es hörte.
»Das war nicht nur ein Unfall mit Täterflucht. Da bin ich mir sicher«, nuschelte der andere. »Zurzeit liegt die Leiche beim Bestatter und wartet auf einen Platz in der Gerichtsmedizin in Linz. Ich bin gespannt, was da noch alles sichergestellt wird. Dem hat ja sogar ein Ohr gefehlt«, säuselte er weiter.
»Wenn da noch mehr rauskommt …, ich sag’s dir, Franz, meine Frau dreht durch. Die traut sich ohnehin schon nicht mehr aus dem Haus.«
»Bin ich froh, dass ich keine hab.«
Habe ich richtig gehört? Hier wurde jemand ermordet?
»Was ist eigentlich mit der, mit der du letztens aus warst?«
»Ich bin nicht besonders gut darauf zu sprechen.« Ich hörte einen Hosenschlitz und sah den Rothaarigen zurück ins Scheinwerferlicht treten. Sein Begleiter, Leopold, folgte ihm, und ich konnte den ausgewachsenen Wanst erkennen, den er vor sich trug. Zusammengefasst hätte ein Bild der beiden, mit ihrem zerzausten Haar und den zerfransten Jeans, das Wort Feierlaune im Duden illustrieren können. Dem Gespräch zufolge wurde mir nun jedenfalls klar, warum sie ihr Geschäft mitsamt den Spindelsträuchern auf ihren Köpfen lieber vor die Tür getragen hatten.
Mehr als fassungslos beobachtete ich einen Ford, der auf sie zurollte.
»Apropos Frauen, schau, wer da kommt, Leopold. Dem Neuländtner seine Mutter mit ihren beiden Cousinen – die über alles im Dorf informiert sind.«
Drei Frauen stiegen aus dem Wagen und erfüllten den Parkplatz mit lautem Gelächter, bis sie grüßend im Wirtshauseingang verschwanden. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass ich schon bald gezwungen sein würde, eine der Berüchtigten besser kennenzulernen, und ich konzentrierte mich wieder auf das Genuschel der Männer.
»Ist der Neuländtner Paul eigentlich an dem Fall beteiligt?«
Leopold musste auf seine Antwort warten, da sogleich ein weiteres Motorengeräusch sie unterbrach, bis mit quietschenden Reifen ein Polizeiwagen auf sie zuraste und abrupt eine Bremsung hinlegte.
»Wenn man vom Teufel spricht.« Franz legte seine Stirn in Falten und trat einen Schritt zurück.
Ein junger Mann stieg aus dem Wagen und ließ entnervt die Tür zufallen.
»Servus, Paul. Noch im Dienst?« Der Korpulente hingegen klang erfreut.
»Nein, mich hat ’s Umziehen nicht gefreut«, folgte als trockene Antwort.
Ach, das geht auch?
Der Zustrom zur Gaststätte schien unaufhörlich, und ich versuchte Sky geräuschlos näher an mich zu ziehen. Eine leicht bekleidete Frau auf einem türkisfarbenen Fahrrad und orangen Keilabsätzen strampelte an uns vorbei, hinweg über die Parkplatzmarkierung, zielgerichtet auf den Wirtshauseingang zu, bis sie den Uniformierten erblickte.
»Paul? Was machst du denn hier?«
Dieser jedoch schien nur wenig interessiert zu sein und wand sich ab.
Augenblicklich sprang die Frau vom Fahrrad.
»Ich hab über eine Stunde auf dich gewartet!?«
Nun hatte das Gewissen den Paul doch ereilt, und er drehte sich langsam zu ihr um.
»Larissa … , mir ist ein Dienst dazwischengekommen. Entschuldige, bitte.“ Als er ihren Namen nannte, bemerkte ich, wie er sich veränderte. Seine Herzlichkeit verpuffte. Ich spürte außerdem, dass schon bald noch etwas geschehen würde, weshalb ich einen weiteren Moment verharrte.
Ohne auf seine Entschuldigung zu reagieren, stürmte die Brünette ins Gasthaus, und ich folgte weiter der Unterhaltung der Männer, in welcher es um Verkehrskontrollen, anstehende Feiern und Frauen ging, bis der Polizist schlussendlich nach mir zu fragen begann.
»Franz. Kennst du die da drüben? Die mit dem Hund?«
»Nein. Ich kenne nicht jede Frau hier.«
Etwas erschrocken versuchte ich die Mutmaßung zu ignorieren und trat aus dem Schatten, um mich ohne weiteres unangebrachtes Verhalten ins Wirtshaus zu begeben.
»Sie sind die Frau, der der Jeep mit dem Wiener Kennzeichen gehört?« Eine tiefe Stimme hinter mir brachte mich jedoch meines Weges, und ich drehte mich zu ihr. Zwei grimmig dreinblickende Jäger waren aus dem Nichts wie nächtliche Gestalten aufgetaucht. Sie wirkten im bizarren Licht der Scheinwerfer derartig Furcht einflößend, dass sogar mein Hund ihnen auswich.
»Gehört Ihnen auch das Haus im Jagleck oben?«, fragte der Größere mit vollem Bart, doch schütterem Haar. Es waren der Jagdleiter Ewald Moser und sein Bruder Rudolf, wie sie sich sogleich vorstellten.
»Ja, wieso?«
Woher …?
»Wir haben schlechte Neuigkeiten für Sie.«
Ich zögerte einen Moment. »Was ist passiert?«
»Der Holzteil Ihrer Hütte steht in Brand. Die Feuerwehr versucht seit etwa einer halben Stunde, die Flammen zu löschen.«
»Wie bitte?«, stammelte ich. Der Gedanke, mein Haus nie mehr unversehrt zu sehen, verursachte mir deutlich Unbehagen, und ich sah mich bereits notgedrungen in meinem Wagen die Nacht zu verbringen.
»Die Polizei ist mittlerweile vor Ort. Am besten, Sie kommen sofort mit uns mit. Und du auch, Neuländtner«, forderte Ewald Moser den Beamten etwas schroffer auf.
»Heute Morgen wurde hinter Ihrem Haus eine männliche Leiche gefunden. Die Nachrichten berichten vom Kobernaußerwald-Mörder, der sich durch unsere Wälder treibt. Sie sollten hier besser nicht allein unterwegs sein …«, zischte mir Leopold abschließend ins Ohr, und ich spürte, wie seine Worte mich erschaudern ließen.
Der schwarze Rauch prangte wie ein Tintenfleck über den Baumkronen im diesigen Blau des Nachthimmels. Das Feuer hatte sich schnell ausgebreitet. Immer neue Rauchherde schlugen zwischen den Bäumen hoch, und der Brandgeruch wurde intensiver. Es knirschte unter den Reifen, als der Asphalt in Schotter überging, dann holperte es kräftig, als ich über eine Wurzel am Wegrand fuhr, um anzuhalten. Das Zirmstüberl längst hinter uns, begegnete ich meinem panischen Blick im Rückspiegel, als ich nach dem Jeep des Jagdleiters Ausschau hielt. Er hatte wohl einen anderen Weg gewählt, und ich zögerte nicht lange, mich allein ins Geschehen zu stürzen.
Ein Flammenmeer breitete sich vor mir aus, als ich über die Wiese eilte. Die gelben Aufnäher der Feuerwehruniformen bildeten einen leuchtenden Kontrast zum Ruin der rußigen Nacht. Ich rannte geradewegs auf das Haus zu, als mich ein Feuerwehrmann am Arm packte und aufhielt. »Halt! Sind Sie die Frau, der das Haus g’hört?«
»Ja, Marietta Dorn ist mein Name.«
»Bleiben S’ bitte hier. Die Polizei wartet bereits auf Sie.«
»Wie konnte das passieren?« Ich spürte, wie Enttäuschung das Entsetzen in mir zu überlagern begann.
»Als wir gegen 21:00 Uhr hier eintrafen, war es leider schon zu spät. Das Haus liegt sehr abgelegen, und der Notruf erreichte unsere Zentrale erst gegen 20:45 Uhr. Ein vorbeifahrender Urlauber hat den Brand gemeldet. Wir können von Glück reden, dass es gestern Abend einen kurzen Schauer gab und das Feuer sich nicht über den gesamten Wald ausgebreitet hat.«
Leopold und Franz taumelten hinter uns vorbei und boten den Einsatzleuten ihre Hilfe an.
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