Hör auf zu brennen - Matthias Krause - E-Book

Hör auf zu brennen E-Book

Matthias Krause

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Beschreibung

Für den hoch verschuldeten Schriftsteller und Lebemann Frank Freibrodt ist Zahltag. Er braucht dringend einen neuen Bestseller, um seine Haut zu retten. Seine Gläubiger kennen keine Gnade. Als ein heruntergekommener Fremder in seine Wohnung eindringt, wird er endgültig von dem beißenden Gestank seiner dunklen Vergangenheit eingeholt. Denn auch der unheimliche Einbrecher will eine alte Rechnung mit ihm begleichen. Der Schriftsteller hatte in seinem ersten Buch den tragischen Tod seiner Schulkollegin verarbeitet und der Öffentlichkeit ein düsteres Geheimnis preisgegeben. Schon damals hatte sich Frank damit ihre streng religiöse Familie und eine Gruppierung aus Fanatikern zum Feind gemacht. Auch sein neurotischer Besucher will ihn dafür brennen sehen. Dabei zieht er den Schriftsteller immer tiefer in eine Spirale aus Wahnsinn und Gewalt. Schon bald muss Frank nicht nur um sein eigenes Leben fürchten. Ein Thriller über die Folgen psychischer Gewalt bis zur Eskalation. TRIGGERWARNUNG: Neben aktuellen Themen enthält dieses Buch teilweise auch folgende Inhalte und Stilmittel: - Gewaltdarstellungen (Physisch und Psychisch) - Sexuelle Handlungen - Monologe - Blähungen

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Hör auf zu brennen

HÖR AUF ZU BRENNENKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29HÖR AUF ZU GÄREN12Leseprobe HÖR AUF ZU FRESSENLeseprobe HÖR AUF ZU RÖCHELNÜber den AutorImpressum

HÖR AUF ZU BRENNEN

Kapitel 1

20.Oktober 2018

Frank war froh, dass er nicht nackt war. Eigentlich lief er gerne entblößt durch seine Wohnung. Er fühlte sich dann mit seinem Körper im Einklang und sexy. Doch eine Vorahnung hatte ihn davon abgehalten.

Als er gerade dabei war, seinen Kaktus zu gießen, sah er einen Mann unten im Hof stehen, der zu seinem Fenster hinauf starrte. Ihn anstarrte. Die Haltung des Mannes war angespannt, als wollte er zum Sprung ansetzen. Es war zwar erst Vorabend, aber schon dunkel. Doch Frank schien deutlich die toten Augen zu sehen, mit denen der bärtige Mann zu ihm aufsah. Sie waren tot und auch wieder nicht. Denn in dem leeren Blick lag zugleich eine bedrohliche Intensität. Frank konnte die abstruse Mischung nicht genau beschreiben, aber sie war unheimlich. Doch Frank beruhigte sich schnell wieder. Er wohnte schließlich im zweiten Stock. Der Mann konnte sich unmöglich zu ihm hinaufhangeln. So sportlich sah der Typ nicht aus. Sicher war das nur ein neidischer Penner, der mich irgendwann ausrauben will, dachte er und zeigte dem Mann den Mittelfinger. Dieser antwortete mit einer anderen Geste. Langsam fuhr er mit dem Zeigefinger über seine Kehle. Frank wurde wütend. Er stürmte in die Küche und bewaffnete sich mit einer Blätterteigpastete. Er riss das Fenster auf und warf sie auf den Mann.

»Hier hast du etwas zum Essen. Mit Liebe gemacht, du Penner!«

Er verfehlte ihn jedoch und der Mann starrte ihn weiter ungerührt an.

»Was glotzt du so? Du musst dich nicht bedanken! Guten Hunger!«

Der Mann wandte sich ab und ging. Doch Frank reichte das nicht.

»Geh arbeiten, du Arschloch!«, brüllte er ihm noch nach. Er überlegte, dem Mann noch etwas nachzurufen. Doch dann beschloss er, sich selbst an die Pasteten heranzuwagen.

Er brach sich ein Stück ab und erschauderte. Sie waren mittlerweile warm und glitschig und Frank hatte immer weniger Motivation, sich eine von ihnen einzuverleiben.

Er schob es noch auf und versuchte fluchend, das sperrige Fenster wieder zu schließen. Nach einigen akrobatischen Einlagen und Flüchen brachte er es schließlich hinter sich.

Er stärkte sich mit einem Bissen von der Pastete und schmeckte gleich, dass sie von vorgestern war. Frank kaute langsam und lustlos. Auf der Jubiläumsfeier waren die Dinger noch ganz köstlich gewesen. Deswegen hatte er in einem günstigen Augenblick die Gunst der Stunde genutzt, um ein paar der Pasteten heimlich mit einer Serviette einzupacken. Jedoch hatte er vergessen, sie in den Kühlschrank zu stellen. Das schmeckte er nun deutlich heraus. Zusätzlich stellte er sich vor, wie die Pasteten von den Gästen mit ihren schmierigen Fingern betatscht worden waren. Kein appetitanregender Gedanke für Frank.

Er dachte an Bärbel, die Sekretärin von Herrn Kunz und ihr großes Bläschen an der Lippe. Wer weiß, was die alles mit ihren Wurstfingern auf die Pasteten geschmiert hat, fragte sich Frank und spielte mit dem Gedanken die Dinger in den Müll zu kloppen.

Eine war ja schon aus dem Fenster geflogen. Aber das war ja schließlich für einen guten Zweck gewesen.

Doch dann kam dieses stechende Gefühl in seiner Brust. Er wusste nicht warum. Schließlich warf doch jeder mal Essen weg. Aber dann sah er Lisas enttäuschten Gesichtsausdruck. Meine Verlobte hat mich wohl zu sehr erzogen, stellte er verbittert fest.

Na ja, dann musste er die Teile halt seiner Nachbarin andrehen. Pia. Sie würde ihn ja bald besuchen kommen. Darauf freute sich Frank schon. Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass er durch sie die Pasteten endlich loswerden konnte. Sie wurde nur langsam etwas zu anhänglich.

Auf der einen Seite genoss er es, auf der anderen Seite war er ja immer noch verlobt. Noch. Wer weiß, wie lange das Drama noch gut gehen konnte? Er wusste es jedenfalls nicht. Vielleicht sollte er doch noch eine Pastete essen? Lisa zuliebe.

Er biss zaghaft ein weiteres Stück ab. Es schmeckte nach Bärbel. Er hatte zwar keine Ahnung, wie die Sekretärin schmeckte, aber so stellte er es sich vor. Frank verzog das Gesicht und seine Lippen begannen zu jucken. Die werde ich mir wohl heute Abend eincremen müssen, dachte er und bemerkte, wie Magensäure hochstieg.

Hatte er es sich nur eingebildet oder war Herr Kunz unfreundlicher zu ihm gewesen? Er wurde das Gefühl nicht los, dass sein Verleger ihm auf der Feier bewusst aus dem Weg gegangen war. Er musste sogar wie ein Anfänger um einen Termin betteln. Aber so war Herr Kunz nun mal. Das war einfach seine Art. Das durfte Frank nicht persönlich nehmen. Schließlich hatte er ihm ja auch einiges zu verdanken. Dessen war sich Frank durchaus bewusst. Wegen seines neuen Buches musste er sich doch keine Gedanken machen. Das war wasserdicht. Sein Verleger hätte es ihm bestimmt noch bestätigt. Nur war er halt auch ein viel beschäftigter Mann. Es war immerhin die Feier seines Verlages gewesen.

Eigentlich wollte Frank sich ins Ledersofa schmeißen und einen Film konsumieren, da bekam er auf einmal eine bessere Idee. Er würde sich erst einmal einen schönen Merlot gönnen und sich damit den vermeintlichen Geschmack von Bärbel ausspülen. Frank konnte die Desinfektion kaum noch erwarten. Euphorisch ging er ins Bad und klatschte sich eine beträchtliche Menge Gel in die Haare. Dann schlüpfte er in seine Lederjacke und wollte sich gerade ein paar Sneakers anziehen, als sein Handy klingelte. Die Nummer war unterdrückt und Frank zögerte. Dann fiel ihm wieder Igor ein und er beschloss, den Anruf anzunehmen. Den Mann wollte er nicht verärgern.

»Frank Freibrodt? Guten Tag?«

»Falsch. Guten Abend«, schnarrte eine belegte Stimme. Dann kam erst mal nichts. Es war eine männliche Stimme. Doch es war eindeutig nicht Igor oder einer seiner Laufburschen.

Frank verlor nach einer Weile die Geduld. »Ja, Sie sind ja ganz schlau. Es ist jetzt Abend. Zufrieden? Was wollen Sie, bitte?«

Es folgten tiefe Atemzüge. Es klang, als würde der Mann am anderen Ende jeden Moment das Zeitliche segnen.

»Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie einen Arzt?«, fragte Frank etwas besorgt.

Wieder ein tiefes geräuschvolles Atmen. Es klang nun wie ein leises Knurren. Frank war sich mittlerweile sicher, dass der Mann Hilfe brauchte. Allerdings keine physische.

Er dachte, diese Anrufe wären mittlerweile Geschichte. Doch nach fünf Jahren war es nun wieder so weit. Nur war es diesmal ein Mann. Sonst hatte ihn immer eine hysterische Frauenstimme am Telefon bedroht. Aber Frank wollte nicht auflegen. Sie sollten ruhig wissen, dass er keine Angst mehr hatte. Er begann die Atemgeräusche des Mannes nachzuäffen. Eine Weile atmeten beide um die Wette. Schließlich wurde Frank das Ganze zu blöd. »Finden Sie nicht, dass Sie sich ganz schön behindert anhören?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung antwortete mit einem langen Stöhnen.

»Du bist ja gar nicht nackt«, sagte er und klang auf einmal sehr weich dabei. Fast schon zärtlich. Frank zitterte vor Wut und Ekel.

»Schade. So schade. Ich konnte sonst immer deine Wampe wabbeln sehen. Hast ja schon richtige Brüste bekommen«, flötete die Stimme. Frank erschauderte. War das etwa der Mann aus dem Hof?

»Ich bin vergeben, du Schwein.«

»Ja, ich weiß.« Ein dreckiges Lachen folgte.

Frank schluckte. Der Mann wusste eine Menge.

»Woher haben Sie meine Nummer, Mann!«.

»Die kann ich auswendig«, sagte der Mann und stieß einen weiteren tiefen Atemzug aus.

Frank verfluchte sich innerlich. Das kam nur dadurch, dass er seine Nummer immer wieder bei jedem neuen Anbieter mitgenommen hatte. Der Mann schien ihn gut zu kennen. Er schien in seiner Vergangenheit eine Rolle gespielt zu haben. Außerdem konnte er seine Nummer auswendig. Das grenzte an Besessenheit.

»Du sagst ja gar nichts, Frank. Geht es dir nicht gut?«, hauchte die Stimme.

»Es geht so.«

»Mir geht es sehr gut.«

»Ach ja. Wie schön. Warum denn?«, fragte Frank süßlich.

»Weil es dir bald sehr schlecht gehen wird.« Wieder ein dreckiges Lachen.

Frank äffte es nach.

»Jetzt habe ich aber Angst. Du kannst mir gar nichts.«

»Doch, Hängebauchschwein. Ich werde dich brennen lassen«, zischte die Stimme. Nun schwang aufrichtiger Hass mit. »Bald wirst du keine Mädchen mehr schänden können. Du perverses Stück Dreck!«

»Pass auf, was du sagst!«, schrie Frank und konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, jemals so etwas getan zu haben. Klar, er hatte nicht immer seine Finger bei sich lassen können. Besonders wenn er betrunken war. Aber dieser Vorwurf schien für ihn weit hergeholt zu sein. Er hatte das Gefühl, dass er irgendwas übersah. Das er irgendein Ereignis verdrängt hatte. Manchmal hatte er ja auch nach einem Trinkgelage einen Filmriss gehabt. Doch so die Kontrolle zu verlieren, etwas derart Widerwärtiges getan zu haben, das konnte er sich einfach nicht vorstellen. »Du wirst brennen«, knurrte die Stimme.

»Ja, ja. Ist klar. Schon kapiert. Bist ja auch ein ganz Mutiger. Kannst mir das ja nicht mal ins Gesicht sagen.«

»Wir werden uns bald sehen. Ich werde dich besuchen kommen. Du wirst genauso wie das arme Mädchen leiden. Ich werde dich verbrennen und schänden.«

Frank lachte auf. »Ach so … ja ... das klingt ja aufregend. Genau in der Reihenfolge?«

»Du solltest nicht lachen. Ich habe schon mal jemanden getötet.«

Nun bekam Frank etwas Angst. Der Mann schien das ehrlich gemeint zu haben.

»Was meinst du damit?«, erkundigte er sich mit dünner Stimme.

»Der Herr liebt alle, die ihn lieben. Dich liebt er nicht.«

»Hör mal gut zu. Ich ...«

Frank wurde von einem röhrenden Geräusch unterbrochen. Es klang wie ein tierischer Aufschrei. Frank fragte sich ob der Mann erfolgreich einen Bären imitiert oder ihm tatsächlich gerade ins Ohr gerülpst hat.

»Jetzt ist aber gut. Jetzt hör mal ...«

Doch dann registrierte Frank, dass der Mann aufgelegt hatte.

Danach bemerkte er, dass auch Lisa wohl zur selben Zeit versucht hat, ihn zu erreichen. Frank war nicht nur von dem Anruf des Unbekannten verstört. Schockiert bemerkte er die Erleichterung darüber, dass der Fremde seine Verlobte aus der Leitung geschmissen hatte.

Er dachte ernsthaft über die Zukunft ihrer Beziehung nach, während er sich ein weiteres Stück der abgelaufenen Pastete in den Mund steckte.

Kapitel 2 

Fünfzehn Jahre vorher    29.April 2003     

Die Sonne war dabei unterzugehen und färbte den Himmel rosa. Es war sehr warm, aber ein kühler Wind ließ nicht zu, dass mir zu warm wurde.

Pauline und ich hatten Gras gepflückt und ein paar Pferde durch den Zaun gefüttert. Anschließend gingen wir eine ganze Weile über einen Feldweg spazieren und ließen uns nun auf einer Wiese unter einer Eiche nieder. Der Schatten ihrer großen Krone sorgte für noch mehr Kühlung. Ich betrachtete meine Freundin. Mir fiel auf, wie ähnlich wir uns sahen. Von wegen Gegensätze ziehen sich an. Wir beide haben mandelförmige blaue Augen. Nur ihr Gesicht war um einiges runder als meins, welches eher herzförmig war. Sie hatte fast schon die Kopfform eines Apfels. Ich liebe es, wenn sie verlegen ist. Wenn ihre runden Bäckchen rot wurden. Deswegen ärgerte ich sie auch manchmal ganz gerne. Dann stellte sich die Färbung schnell ein. Aber noch mehr liebe ich ihr Lächeln und ihre schönen Grübchen. Nur davon war gerade keine Spur mehr da. Eine Furche lag auf Paulines Stirn. Ich betrachtete sie weiter. Meine Freundin schien wieder über irgendwas zu grübeln. Es lag wie eine dunkle Wolke über uns. Die unbekümmerte Fröhlichkeit, die sie noch bei den Pferden gehabt hatte, war verschwunden. Aber vielleicht zog mich gerade das an. Genauso wie ihre blühende Lebensfreude mein Herz verzauberte, war es vielleicht auch diese geheimnisvolle Aura an ihr, die mich anzog. Sie strahlte auch etwas Düsteres aus. Eine tiefe Sehnsucht zog mich wie ein Magnet zu Pauline, etwas anderes in mir warnte mich vor ihr. Wie eine Vorahnung, dass diese ganze Geschichte nicht gut ausgehen würde. Ich spürte, dass sie ein dunkles Geheimnis mit sich trug, und wusste selbst nicht, ob ich es überhaupt wissen wollte. Nicht, dass es mich nicht interessieren würde. Aber konnte ich es überhaupt ertragen? Ich hielt das Schweigen nicht mehr aus.

»Alles gut?«

»Ja, ja«, sagte sie in Gedanken.

»Bist du sicher? Irgendwas ist doch los.«

Keine Antwort.

»Hast du heute Abend schon was vor?«, fragte ich dann.

»Ich muss meiner Mutter helfen.«

»Ich brauch auch deine Hilfe. Wir schreiben in zwei Tagen diese Klausur in Englisch und ich habe wirklich gar keinen Plan. Ich stehe sowieso schon auf der Kippe.«

Pauline seufzte. »Ach Gerald. Das sind wir doch schon letztens durchgegangen.«

»Ja, ich weiß. Ich ... ich kriege es einfach nicht in meinen Schädel. Die Grammatik und so«, stöhnte ich. Ich brauchte tatsächlich Hilfe. Aber ich wollte auch einfach, dass sie bei mir war.

Sie sagte nichts.

»Ja, ich verstehe. Ist schon klar«, sagte ich resigniert. »Vielleicht bin ich auch einfach nur dumm.«

»Nein das bist du nicht. Warum sagst du denn so was?«, Pauline sah mich streng an. Unter dem Baum wurde es noch kühler. »Ist es Ok, wenn wir es morgen Nachmittag durchgehen?«, fragte sie dann. »Ich denke, dann wirst du auch noch genug vorbereitet sein. Ich glaube, du stresst dich einfach zu sehr.«

Auf den Unterarmen von Pauline bildete sich eine Gänsehaut. Ich strich sanft darüber.

»Du hast große Hände«, sagte Pauline.

»Ach ja?«

»Ja. Vielleicht bist du noch in der Wachstumsphase?«

»Das glaube ich eher nicht.« Ich legte meinen Arm um ihre Schultern.

»Das war nicht böse gemeint«, sagte Pauline. »Ich mag deine Hände, auch wenn sie im Vergleich zum Rest von dir riesig sind.«

Etwas pikiert nahm ich meine Hand wieder weg.

»Ist das so?«

»Jetzt sei bitte nicht sauer.«

»Ich bin nicht sauer«, sagte ich und studierte die weiten Felder vor uns. Dann sah ich zum Himmel. Mir gefiel das Farbenspiel. »Schöne Aussicht.«

»Gerald?«

»Ja.«

»Glaubst du an die Hölle?«, fragte mich Pauline plötzlich.

Ich fing laut an zu lachen. »Willst du mich verarschen?

»Hör auf so dumm zu lachen! Das ist nicht witzig!«, rief sie wütend.

Mein Lachen ebbte ab. So erlebte ich sie selten. Ich wurde ernst.

»Kommt drauf an, welche Hölle du meinst.«

»Ich glaube nicht, dass es mehrere gibt.« Sie schmiegte ihren Kopf an meine Schulter.

»Na ja, ich denke, jeder lebt doch auch so in seiner eigenen Hölle. Sagen wir mal mehr oder weniger.« Ich pflückte ihr einen Grashalm aus dem Haar.

»Hast du eine eigene Hölle?« Sie zupfte Gras vom Boden und warf es in die Luft.

Ich fragte mich, ob sie wollte, dass ich ihr weiterhin Halme aus den Haaren zog.

»Manchmal bestimmt. Aber das ist nicht die Regel. Ich glaube allerdings, dass manche Menschen quasi die ganze Zeit in der Hölle leben. Na ja, jeder andere Moment ist dann für sie vielleicht viel schöner als für uns. Weil wir es selbstverständlich nehmen.«

»Ach ja?«

»Ja, wenn du die Nachrichten schaust und die ganzen Kriege siehst oder Hungersnöte. Oder irgendwelche Leute mit Krankheiten oder so.«

»Da ist wohl was dran. Ja, ich meine aber nicht diese Hölle.« Sie riss nun ganze Wurzeln heraus.

»Du glaubst doch nicht wirklich jetzt ans ewige Fegefeuer, oder?« Es entstand eine Pause, dann nickte sie.

»Ernsthaft jetzt?« Ich sah sie an. Pauline konzentrierte sich hingegen weiter auf das Gras unter ihr.

»Mir erzählen sie dauernd etwas davon. Sie kontrollieren mich die ganze Zeit.«

Ich ahnte, von wem sie sprach. Ich stellte keine Fragen mehr. In solchen Momenten war es das Beste zuzuhören und sie weiter reden zu lassen.

»In ihren Augen kann ich gar nicht mehr aufhören zu brennen. Ich mache alles falsch. Meine Gedanken sind Gift. Alles, was ich tue, ist schlecht. Ich kann machen, was ich will.«

»Ich schätze mal, dass dein Vater dir diesen Bullshit erzählt«, vermutete ich.

Sie nickte verhalten.

»Ich möchte deine Eltern echt mal kennenlernen.«

»Das ist jetzt wirklich kein guter Zeitpunkt, Gerald«, sagte sie etwas säuerlich.

Ich startete einen neuen Versuch, sie aus ihren düsteren Gedanken zu befreien.

»Warum denn nicht. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Ich bring auch ein Geschenk mit«, schlug ich vor.

Pauline verdrehte die Augen. »Hör mal auf jetzt.«

»Ich schenke ihm eine Peitsche, dann kann er sich selbst damit kasteien. Wird sich bestimmt freuen.«

Pauline lachte endlich wieder. Doch es klang bitter. »Kasteien. Da hast du wohl ein neues Wort gelernt, was? Ne, lass mal. Sich selbst wird der bestimmt nicht damit schlagen. Er macht ja keine Fehler. Dafür bin ich zuständig.«

»Du machst gar nichts falsch, Pauline. Du bist einer der liebsten Menschen, der mir je begegnet ist. Du bist cool, voll lieb, fleißig und hilfsbereit. Was ist daran bitte falsch? Du tust mir gut. Du tust jedem gut. Bei dir ist es so, ich weiß nicht, aber ... Du bringst den Leuten Glück, glaube ich. Du machst sie glücklich. Du hellst ihr Leben auf. Du hellst mein Leben auf. Ich habe dich bis jetzt noch nie wirklich gemein erlebt. Und selbst wenn, wäre das nur menschlich. Das sind wir ja alle mal. Wir haben auch alle mal giftige Gedanken. Ich ...« Ich wollte ihr sagen, dass ich sie liebe. Aber obwohl es so war, entschied ich mich dagegen. Warum, wusste ich selbst nicht und ärgerte mich darüber.

»Danke. Leider sehen das nicht alle so.«

»Du meinst deine Eltern oder was?«

»Ja. Besonders mein Vater nicht. Für den bin ich das ganze Gegenteil von dem, was du erzählt hast.«

»Na ja. Er hat vielleicht Angst, dass du auf den dunklen Pfad wechselst oder was weiß ich denn«, sagte ich. »Sorry, dass ich das so sage. Aber was seinen Glauben angeht, ist er, wenn ich mir das Ganze so anhöre, wohl etwas hängen geblieben.«

»Was ist, wenn er recht hat?«

»Dann sind wir wohl alle am Arsch. Aber ich denke nicht, dass er recht hat.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein.« Jetzt sah sie mich an. Fast schon herausfordernd.

»Was weiß ich denn, Pauline. Wie soll ich mir da sicher sein. Ich kann mir das halt nicht vorstellen.«

»Du bist ja auch nicht gerade gläubig, würde ich mal behaupten.«

»Wie kommst du darauf? Nur weil ich nicht an einen strafenden Gott glaube und nicht alles wörtlich nehme, was in der Bibel steht? Wir sind doch alle mit unseren Lastern erschaffen worden. Warum sollte man uns dafür auch noch bestrafen?«

Sie nickte und schien etwas beruhigter zu sein. »Wie auch immer. Ob du recht hast oder nicht. So redet kein dummer Mensch, Gerald. Also sag nicht noch mal, dass du dumm bist. Lass uns weitergehen.«

Wir gingen weiter über den Feldweg. Ein paar Bäume und ein Wall trennten den Weg von den Feldern. Dann kamen wir an einer Kuhweide vorbei. Die Kühe betrachteten uns scheinbar gelangweilt. Ich zog ein paar Grimassen und hampelte vor ihnen herum, um sie aufzuscheuchen. Als das nicht klappte, versuchte ich eine Kuh zu imitieren. Keins von den Tieren reagierte.

»Du bist manchmal noch ein richtiges Kind, echt«, sagte Pauline kopfschüttelnd.

Ich reagierte nicht darauf und kickte gedankenverloren einen Stein weg. »Ich glaube schon an was«, sagte ich. »Ich denke, was die Menschen draus machen ist eher das Problem. Die missionieren andere, obwohl die es gar nicht wollen. Sie führen Kriege und behaupten, es wäre im Namen Gottes. Sie stellen sich über andere und tun so, als wären sie fehlerfrei. Oder sie verüben terroristische Anschläge. Ob nun die Bibel, der Koran oder sonst was. Die Leute sollten das nicht alles so wörtlich nehmen, sondern eher zwischen den Zeilen lesen.«

»Du lässt ja nicht so viel Gutes an den Religionen.«

»Doch. Es kommen ja auch gute Sachen dabei rum. Viele helfen auch anderen. Kümmern sich um die Armen oder bilden eine Gemeinschaft. Einige machen das ja auch sehr gut. Kann man eigentlich über fast jede Religion sagen.«

»Mensch Gerald, du klingst so erwachsen«, sagte Pauline nun um einiges fröhlicher. »Das kennt man ja sonst gar nicht.«

»Tja, du musst mich halt erst mal richtig kennenlernen«, scherzte ich. Plötzlich verfing ich mich mit meinem Fuß in einer Vertiefung und knickte um. Ich wedelte mit den Armen nach Halt, griff einen Strauch. Doch ich rutschte ab und fiel der Länge nach hin. Ich fluchte.

»Alles Okay?«, fragte Pauline sorgenvoll und reichte mir die Hand.

Ich nahm sie und Pauline zog mich mit erstaunlicher Kraft und Geschwindigkeit hoch. Ein stechender Schmerz fuhr durch meinen Fußknöchel.

»Mist!«, schimpfte ich.

Plötzlich brach Pauline in tränendes Lachen aus.

»Falsch. Scheiße!«, lachte sie und mir wurde bewusst, dass ich beim Aufstehen in einen riesigen Haufen Hundekot getreten war. »Warum lassen die Penner denn all ihre Hunde hier hinscheißen?«, schimpfte ich.

»Hallo! Das ist ein Feldweg«, sagte Pauline immer noch lachend. Aber mir gefiel es. Ich liebte ihr Lachen, das war mir lieber als ihre düsteren Gedanken. Da würde ich sogar durch ein ganzes Meer aus Hundekot waten, wenn es sie glücklich machte.

Trotzdem traf mich jetzt auch ein beunruhigender Gedanke. Ich war genau nach dem Gespräch gestürzt, hatte mir dabei wohl den Fuß verstaucht und war auch noch in Hundekacke getreten. Vielleicht war das ein Zeichen? Vielleicht habe ich etwas Falsches gesagt? Vielleicht war das eine Warnung oder eine Bestrafung?

Ihr ganzes Gerede färbt schon auf mich ab, dachte ich und verdrängte den Gedanken. Ich nahm ihre Hand, die wie immer warm war. Unsere Finger verflochten sich ineinander. Jetzt lächelte sie mich an. Dieses Lächeln, in dem so viel drin lag. So viel Lebensfreude und Liebe. Mein Herz machte einen Sprung.

»Ich ... Äh ... muss dir was sagen«, begann sie und drückte meine Hand, dass es mir schon fast wehtat.

»Ja?«, fragte ich.

»Ich liebe dich«, sagte sie dann.

»Ich liebe dich auch«, sagte ich. Mist, jetzt hat sie es zuerst gesagt, dachte ich dann.

»Und da wäre noch was. Ich bin ..«, begann Pauline, doch plötzlich fuhr ihre Hand zurück, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen.

An einer Buche vor uns lehnte lässig ein Mann und beobachtete uns. Ich schätzte ihn auf Ende dreißig. Er war groß und hager und trug einen Hut. »Hallöchen«, sagte er grinsend und stieß sich vom Baum ab.

»Hallo Korben«, sagte Pauline und ihre Augen leuchteten eigenartig.

Das gefiel mir nicht. Auch das schiefe Lächeln, das Korben ihr zuwarf, gefiel mir gar nicht.

»Feiern wir eine kleine Party?«, fragte der Mann.

»Wir gehen spazieren«, antwortete Pauline.

Der Mann starrte auf meinen Fuß. »Ich habe dich hinken sehen. Ist alles in Ordnung?«

Ich schnaufte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bin umgeknickt. Es ist halb so wild.«

»Hast du schon überprüft, ob der Fuß geschwollen ist?«

»Ne, ne. Alles gut. Hab ihn wohl ein bisschen überdehnt.«

»Nicht, dass wir einen Arzt rufen müssen«, rief Korben. Ich war mir sicher, einen spöttischen Unterton heraus gehört zu haben.

Ich winkte ab. »Alles cool.«

»Cool«, wiederholte Korben und deutete auf ein Waldstück hinter ihm. »Da drüben gibt es einen Hof. Dort gibt es Apfelbäume. Die schmecken köstlich. Sehr süß. Habt ihr schon einen gepflückt?«

Pauline und ich schüttelten synchron den Kopf.

»Ist es nicht schön hier draußen. Herrlich. Wie Pauline ja weiß, bin ich hier eine Zeit lang aufgewachsen, bevor meine Eltern mit mir wieder nach Amerika gezogen sind«, sagte der Mann und ich bemerkte einen dezenten Akzent, den ich auch als amerikanisch einstufte. Auch sein Name kam mir irgendwie bekannt vor.

»Ja, wir waren spazieren. Das Wetter genießen«, schwärmte Pauline.

»So, so. Das Wetter genießen«, wiederholte Korben und das schräge Grinsen unter seiner Adlernase wurde breiter.

Paulines Bäckchen nahmen einen rötlichen Farbton an. Nun sah sie für mich wieder wie ein süßer Apfel aus.

»Ja, ist schon cool hier draußen. Da hängt man gerne ab, nicht wahr.«

Er zwinkerte mir zu. Dann trat er auf mich zu und streckte die Hand aus. »Ich bin Korben. Korben Applegate. Wie heißt du?«.

»Gerald.« Wir schüttelten die Hände. Es fühlte sich an, als hätte ich einen Aal gefangen.

»Freut mich. Freut mich sehr. Der Sommer kommt endlich wieder. Pauline, bist du dieses Jahr auch wieder mit dabei?«, fragte Korben meine Freundin und musterte sie eindringlich von oben bis unten. Dabei stand er immer noch sehr dicht vor mir.

»Ja, ich freue mich schon riesig«, rief sie.

»Wo ist sie denn dabei?«, fragte ich, denn ich wollte nicht außen vor bleiben. Außerdem war ich eifersüchtig auf diesen Mann. Obwohl er eigentlich für Pauline viel zu alt sein sollte. Meiner Meinung nach.

»Es ist ein Freizeitcamp«, antwortete Korben. »Wir zelten, grillen und sitzen am Lagerfeuer. Führen Gespräche übers Leben und so. Coole Sachen halt. Wir machen aber auch Konzerte. Sehr coole Bands. Sehr coole Leute. Da wird was los sein. Kannst gerne mitkommen, wenn du willst.«

Ich fragte mich, warum Korben so oft das Wort Cool  einbauen musste. Das klang aus seinem Mund etwas merkwürdig, aber ich war nicht abgeneigt. Auch wenn mich das Gefühl beschlich, dass Korben irgendwas im Schilde führte. Der Mann hatte so ein merkwürdig verkniffenes Lächeln. Fast schon verbissen.

Er erinnerte mich an eine bestimmte Art von Greifvogel mit seinen buschigen Augenbrauen und der schnabelähnlichen Nase. Jedoch gehörte Korben eindeutig zu den Menschen, die etwas ausstrahlten. Er schien mit seiner Präsenz überall in der Luft zu sein. Im Guten wie im Schlechten. Ich kannte solche Menschen. Sie konnten irgendetwas daher reden, ganz egal welcher Inhalt, und die Leute hingen an ihren Lippen. Das machte sie so faszinierend und gleichzeitig so gefährlich. Und was er sagte, hörte sich alles gar nicht so übel an. Jetzt wusste ich auch wieder, woher ich den Namen kannte. Herr Eber, der Pastor dieser Gemeinde, hatte ihn in den Mund genommen. Nicht gerade im freundlichen Sinne. Er hatte ihn als PR Prediger bezeichnet, der nun auch in Brandenburg wütete, um seinen Schäfchen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Korben war eine führende Persönlichkeit einer freikirchlichen Bewegung. Ich wusste den Namen der Gemeinde nicht mehr. Alles wäre bei ihm wie ein riesiger Werbespot, hatte Herr Eber geschimpft. Zudem bezeichnete er Korbens Anhänger als eine Art Sekte, die nur aus radikalen Evangelikalen und extremen Spinnern bestehen würde. Damals fragte ich mich noch, ob der Pastor vielleicht etwas neidisch auf seinen Konkurrenten gewesen war. Ich mochte Herrn Eber, bei dem ich konfirmiert worden war. Er war ein milder Pastor, der über niemanden urteilte, ohne sich auch selber dabei zu reflektieren. Im Konfirmandenunterricht hatte er gerne mit einem Augenzwinkern einen Schwank aus seiner Jugend zum besten gegeben, was oft sehr unterhaltsam gewesen war. Ein generell sehr toleranter und auch humorvoller Prediger war Herr Eber. Allerdings war er auch etwas lahm und kopflastig in seiner Rhetorik. Fast schon einschläfernd in seinen Predigten. Dieser Mann hier, auch wenn ich ihn etwas seltsam fand, schien hingegen Pep zu haben und ich mochte Zeltlager, Konzerte und Lagerfeuer.

»Wir wollten doch mal gemeinsam zelten gehen«, sagte ich zu Pauline.

Auf einmal zog Korben eine gequälte Miene. »Sorry, Kumpel. Aber bei uns zelten Mädchen und Jungen natürlich getrennt.«

»Okay«, sagte ich gedehnt.

Was soll das denn bitte? Ich dachte, ich hätte mich verhört. Na ja, dann musste ich mich halt irgendwie in ihr Zelt schleichen.

Korben schien meine Gedanken gelesen zu haben. »Ja, ich weiß. Ich war ja auch mal jung und wollte die ganzen süßen Äpfel pflücken. Die Gelegenheiten sind so verlockend. All die süßen Versuchungen. Die Mädchen und die Knaben.«.

Ein Speicheltropfen traf meine Stirn. Aber mich störte weniger Korbens feuchte Aussprache, als die Art wie er sprach. Auf einmal mutierte er von cool zu jemandem aus dem Mittelalter. Die Blicke die Korben dabei über uns beide warf, gefielen mir auch nicht. Wie Briefmarken, die geleckt werden sollten.

»Und die verlockenden Einfahrten, die wir überall sehen«, sagte Korben und schmatzte. Dabei ließ er wieder den Blick über Paulines Körper schweifen. Ich dachte, ich höre und sehe nicht richtig. »Aber das sind alles Einbahnstraßen«, fuhr Korben seinen Monolog mit weicher Stimme fort. Sein Ton war dabei so süßlich, dass ich das Gefühl bekam, jemand würde mir den Kragen hochziehen und kalte Bratensoße über meinen Nacken kippen. »Und irgendwann ist es zum Wenden zu spät. Dann geht es nur noch abwärts.« Korben schmatzte wieder.

Ich spürte die Soße meinen Rücken herunterlaufen.

»Wir werden uns schon benehmen. Keine Sorge«, versuchte ich ruhig zu sagen.

Doch der Mann ignorierte mich einfach und wandte sich direkt an meine Freundin.

»Oh Pauline. Du wirst uns doch nicht schon wieder Ärger machen?«

Sie zuckte zusammen und studierte ausgiebig den Feldweg unter ihren Füßen.

»Pauline ist ein herzensguter Mensch und sie macht keinen Ärger«, sagte ich.

»Na ja. Ich würde mal behaupten, dass ich etwas mehr Lebenserfahrung habe als du, mein junger Freund.« Korben lächelte dünn. »Aber es ist noch nicht zu spät. Der Herr liebt alle, die ihn lieben!«, donnerte der Amerikaner auf einmal laut, als würde er auf einer großen Bühne im Scheinwerferlicht stehen. »Kommt einfach bei mir vorbei. Dann können wir über alles reden«, bot Korben uns an und benetzte mit der Zunge seine Lippen.

Damit du ihr weiter so einen Mist einreden kannst, du mieses Arschloch, dachte ich und spielte mit dem Gedanken dem Prediger einen gelben Klumpen vor die Füße zu rotzen. »Wir danken für die Einladung und denken darüber nach«, sagte ich stattdessen Pauline zu Liebe, die scheinbar zu diesem Mann aufsah. Warum auch immer.

Doch dieser gab sich damit nicht zufrieden. »Denken, denken, denken!«, versuchte er mich nachzuäffen. »Für das Denken ist es zu spät. Ihr müsst handeln!«

Jetzt sah ihn auch Pauline trotzig an. »Ich habe alles gemacht, was ihr von mir wolltet. Ich habe alles ertragen und ich habe niemandem etwas getan!«, rief sie.

»Oh, das arme Mädchen!«, sagte Korben wieder mit bebender Stimme. »Bist du jetzt hier das Opfer, oder was? Wenn du meinst. Wenn du das unbedingt glauben willst. Rede dir ruhig weiter alles schön. Mach es dir bequem. Alles eine Party, oder? Warum an die Zukunft denken? Deine Eltern leiden jedenfalls jetzt schon unter dir. Dein Vater schämt sich für dich. Ich weiß wirklich nicht, ob er dich noch lieben kann.«

Das traf wie Faustschlag. Pauline fiel zusammen wie ein schlecht gebackener Kuchen. Sie blinzelte eine Träne weg. In mir hingegen stieg der Hass auf. »Warum tun Sie ihr das an? Ist das etwa christlich einem Kind einzureden, dass es in die Hölle kommt? Ihm zu sagen, dass ihre Eltern sie nicht lieben? Pauline ist ein viel besserer Mensch als Sie!«, schrie ich. Ich musste tatsächlich schreien, denn der Mann brach in ein grelles Gelächter aus. »Sie haben doch bestimmt viel mehr verbrochen! Sie benutzen doch nur Ihre Religion, um sich über andere zu erheben und sich an Ihrer Macht aufzugeilen! Sie sind ein Heuchler!« Ich war redlich bemüht, das Lachen des Mannes zu übertönen, aber ich war mir sicher, dass meine Nachricht angekommen war. Jedenfalls hatte Korben vor Lachen schon Tränen in den Augen.

»Du dummer Bengel. Du bist ja noch jünger als sie und willst mir was übers Leben erzählen?«, sagte er und schmunzelte.

Ich fragte mich, woher Korben das mit dem Alter wusste. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die warnende Stimme in meinem Kopf schlug wieder Alarm.

Korben lächelte stolz und reckte die Brust. »Ich habe meinen Frieden mit mir und Gott gemacht. Ich bin mit mir im Reinen. Es hat alles seine Konsequenzen. Im Guten, wie im Schlechten. Aber ich glaube, sie hat ihre Entscheidung schon getroffen. Nicht wahr, Pauline?« Der Mann schmatzte wieder.

Für mich war das wie ein dunkles Märchen. Wir waren auf den Wolf getroffen. Je mehr ich ihn beschimpfte und gegen ihn ankämpfte, desto mehr grub er seine Klauen und Zähne in Pauline und zerfetzte ihren Geist und ihre Seele. Die Lebensfreude, die sie oft ausstrahlte, wenn sie mal keine düsteren Gedanken hatte, war wieder wie weggeblasen. Ich konnte alles sagen. Der Mann beachtete mich kaum, lachte höchstens und ließ alles an ihr ab.

»Ich will doch niemanden wehtun. Ich gebe mir doch Mühe«, sagte sie mit Tränen erstickter Stimme.

»Hört, hört!«, rief Korben und seine Stimme zitterte. »Pauline gibt sich also Mühe! Das ist ja sehr nett von dir, Pauline! Dann ist ja alles in Ordnung! Das ist mal wieder typisch! Unsere Pauline. Arrogant, hochmütig und undankbar.«

»Was willst du von mir?«, fragte sie mit dünner Stimme und schniefte.

»Hör nicht auf ihn! Das ist alles Gift! Du darfst ihn nicht Ernst nehmen. Du bist wunderbar. Ein viel besserer Mensch als er! Lass dir nichts von ihm einreden!«, schrie ich nun Pauline an.

Korben überging mich und setzte mit einem wissenden Lächeln die Zerstörung meiner Freundin fort.

»Vielleicht solltest du endlich damit anfangen, dich mal nicht wie eine Hure zu benehmen«, riet er ihr und sah sie mitleidig an.

Ich wollte aufschreien, doch Pauline kam mir zuvor. Der Trotz war wieder in ihren Augen. »Pass auf, was du sagst! Das stimmt nicht! Ich benehme mich nicht so!«, schrie sie.

»Na ja, wenn du meinst«, sagte Korben plötzlich mit sanfter Stimme. »Denk doch mal an deine Eltern. Sie leiden wegen dir. Deine Mutter ist schon krank. Sieh, wie sie abgenommen hat. Sie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.«

Das war für mich neu. Aber jetzt machte es durchaus Sinn.  Ich muss meiner Mutter helfen.  Und ich war ihr mit meinen Englisch Hausaufgaben gekommen. Ich betete zu Gott, dass es nichts Ernstes war.

»Dann solltet ihr sie mal endlich zum Arzt schicken!«, rief Pauline wütend.

»Zum Arzt!«, Korben lachte, als hätte sie einen besonders guten Witz gerissen. »Sie braucht keinen Arzt. Sie braucht Vergebung und das du ihr eine gute Tochter bist.«

Ich verstand nicht, wovon der Mann redete und was sein Problem war. Wieso hackte er so auf Pauline herum? Wofür bräuchte ihre Mutter Vergebung? Was war hier überhaupt los?

»Ich bin eine gute Tochter!«, schrie Pauline und rannte weg. Die Schultern hochgezogen. Einmal stolperte sie, fiel aber nicht hin. Ich wollte ihr gerade hinterherlaufen. Doch Korbens nächste Bemerkung brachte mich vollkommen aus der Fassung. »Ja, lauf nur. Lauf weg, wie immer! Lauf dem Feuer entgegen! Es leuchtet schon für dich! Du bist eine Enttäuschung für deinen Vater! Du brichst ihm das Herz!«, brüllte er ihr hinterher.

»Hören Sie endlich auf!«, fuhr ich ihn an.

Doch Korben hatte gerade erst angefangen. »Für so was habe ich eine Rippe geopfert«, murmelte er und starrte mit einer angeekelten Grimasse der weglaufenden Pauline nach.

»Halt die Fresse!«, knurrte ich. Ich war mittlerweile auch bereit, meine Freundin mit Gewalt zu verteidigen.

Doch Korben ignorierte mich weiter. Sein Blick auf Pauline hatte sich wieder verändert.

Jetzt starrte er ihr wieder mit dem eindringlichen Blick nach, der mir absolut missfiel. Besonders worauf er bei ihr starrte. »Da stolziert sie davon und wie sie auch jetzt noch frivol mit ihrem Hintern wackelt!«, rief er mir laut zu, als wäre ich auf einmal sein Verbündeter. »So kokett! So falsch! Wie eine billige Nutte!«, schrie Korben weiter, dass es Pauline auf jeden Fall noch hören musste, wenn nicht gleich das ganze Dorf.

Ich hatte genug gehört und stürzte mich auf ihn. »Du Wichser!«

Doch Korben wich mir aus und trat gegen meinen verletzten Fuß. Der stechende Schmerz explodierte in meinem Knöchel. Ich stürzte brüllend zu Boden.

»Tut ganz schön weh, nicht wahr?«, rief Korben mir lächelnd zu, hob seine Hand hoch und richtete sie gegen mich, als würde er einen Fluch auf mich schicken.

»Fick dich!«, presste ich am Boden schmerzverzerrt hervor.

»Du dummer, respektloser Junge. Du wirst noch viel tiefer fallen. Du bist verloren. Dein ganzes Leben wird eine einzige Talfahrt sein«, zischte Korben mir zu. Dann tippte er an seine Hutkrempe und ging mit erhobenem Haupt und federnden Schritten davon, als hätte er gerade eine gute Tat getan. Dabei pfiff er ein Kirchenlied, das mir bekannt vorkam, aber ich wusste nicht mehr, welches es war.

Ich blieb eine ganze Weile liegen. Mein Fuß pochte. Ich hatte den Geschmack von Erde im Mund. Diesen Kampf habe ich vorerst verloren. Aber ich würde weiter kämpfen. Für Pauline. Für mich selbst. Jetzt habe ich Blut geleckt. Ich würde mich mit ihrem Vater mal ernsthaft unterhalten müssen. Vielleicht konnte ich zu ihm durchdringen. Falls mir das nicht gelang, würde ich mit Pauline durchbrennen.

Ich kannte jemanden, der nach Berlin ziehen wollte. Ein Freund von mir und Klassenkamerad von Pauline, der ein paar Ortschaften entfernt wohnte, hatte es mir angeboten. Meine Eltern würden meine plötzlich aufkeimende Selbstständigkeit begrüßen. Ich musste nur noch etwas sparen und Pauline überreden. Das wird schon wieder werden. Vergiss das dunkle Gefühl von vorhin, sagte ich mir. Alles wird gut werden.

Kapitel 3                                                                                                                  

20.Oktober 2018

Lisa beneidete das junge Pärchen. Die beiden liefen schon eine ganze Weile Hand in Hand hinter ihr und tollten herum. Diese Zeiten waren bei ihr und Frank vorbei. Sie sahen sich kaum noch. Er nahm ja schon gar nicht mehr ihre Anrufe entgegen. Trotzdem beschloss sie, kurz bei ihm vorbei zu fahren, bevor sie ihren Vater besuchen würde. Es war so, als würde sie zwei verfeindete Parteien hintereinander aufsuchen und sie stand wie immer dazwischen. Lisa hörte hinter sich schmatzende Kussgeräusche. Die beiden schienen noch in der Blüte ihrer Beziehung zu sein, dachte Lisa. Sie passten ja auch gut zusammen mit ihren Jogginghosen.

Sie lief die Treppe der S-Bahnstation Prenzlauer Berg herunter und hörte, wie die S-Bahn hielt. Mist, sie musste ja noch ein Ticket lösen. Lisa hechtete zum Automaten und löste eine Tageskarte. Sie schaffte es gerade noch, das Ticket zu lösen und sich anschließend etwas umständlich durch die schließenden Türen zu quetschen, als die Bahn auch schon anfuhr.

Natürlich war sie überfüllt. Es waren nur noch zwei gegenüberliegende Sitzbänke frei und auf der einen saß auch schon das junge Pärchen. Lisa überlegte, die beiden wegen eines freien Platzes anzusprechen, denn der junge Mann hatte eins seiner Beine ausgestreckt. Das andere war zwischen den Beinen seiner Freundin eingehakt, die es sich auch sehr bequem machte. Sie wollte den beiden ihre Romanze nicht versauen, schließlich musste sie ja nicht viele Stationen fahren.

Lisa bemerkte einen hageren Jugendlichen hinter sich, der ihr vermutlich die ganze Zeit auf den Hintern gaffte. Er trug ein viel zu großes Muskelshirt, hatte schwarze nach hinten gekämmte Haare. Um seinen Hals hing eine ausladende Goldkette, die großzügig seine magere Brust bedeckte. Bis auf die Kette könnte das eine jugendliche Version von Frank sein, dachte Lisa. Sie sah ihm fest in die Augen. Nun sah er verstohlen weg. Dennoch war es Lisa unangenehm.

Der glückliche Liebhaber schien ihre Gedanken gelesen zu haben.

»Entschuldigen Sie. Wir haben nicht aufgepasst. Setzen Sie sich doch.«

Die Frau neben ihm lachte laut auf und nickte Lisa dann einladend zu.

»Bitte. Setzen Sie sich. Wir beißen nicht.«

Lisa setzte sich und der junge Mann zog seine Beine an. Er war blond und hatte braune Augen. Volle Lippen zierten sein weiches Gesicht. Lisa fand ihn attraktiv. Die Frau neben ihm hatte pechschwarze Haare  und große blaue Augen. Sie hatte ebenfalls ein hübsches Gesicht und füllige Lippen. Dennoch wirkte sie auf Lisa etwas älter als ihr Freund. Sie trug bauchfreie Kleidung und war sehr durchtrainiert. Etwas zu extrem für Lisas Geschmack. Sie hatte genauso so breite Arme wie ihr Freund, der wie sie ein ärmelfreies Shirt trug. Dicke Sehnen traten aus ihren Armen hervor. Beide waren tätowiert. Doch die Frau schien schon mehr aus Tattoo als aus Haut zu bestehen. Ihren Tätowierungen nach war sie wohl eher der romantische Typ. Rankende Rosen zierten ihre sehnigen Arme und den entblößten Bauch. Zudem hatte sie sich um den mandelförmigen Nabel ein Herzchen stechen lassen. Lisa fand die Tattoos ziemlich kitschig und auch etwas zu bunt. Dennoch war sie etwas neidisch auf die Chemie, die zwischen den beiden ablief.

Bei Frank und ihr selbst konnte sie davon immer weniger entdecken. Er war ständig weg. Selbst wenn er da war. Sie konnten sich ja kaum noch in die Augen sehen. Und sie selbst war nur noch gereizt in seiner Nähe. Das tat ihr auch oft sehr leid. Sie wollte nicht so zu ihm sein, aber er wollte einfach nicht erwachsen werden. Sie mochte seine Träume, aber er musste auch mal wieder zurück in die Realität finden. Er könnte doch auch lernen, Verantwortung zu übernehmen, ohne dabei seine Unbekümmertheit ganz aufgeben zu müssen. Sie wollte ihn doch nicht verbiegen, aber er musste sich endlich entscheiden auch mit ihr gemeinsam zu leben. Doch Frank schien sich immer mehr dagegen zu entscheiden. Dabei wollte sie ihn nicht verlieren.

Plötzlich tätschelte der blonde Mann ihre Hand.

»Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte er mit sanfter Stimme.

Lisa schrak zurück. Seine Hand lag immer noch auf ihrer. Sie war sehr warm und sie ertappte sich dabei, dass er ihr Trost gab. Der junge Mann schien das jedoch anders zu interpretieren. Er nahm seine Hand weg.

»Entschuldigen Sie. Das war so ein Reflex. Sie sehen so traurig aus.«

Er sah sie dabei mit großen Augen an. Lisa fand seine Augen sehr schön.

»Alles in Ordnung. Danke«, sagte sie knapper, als sie beabsichtigt hatte. Der Mann nickte und wandte sich seiner Freundin zu. Sie fingen wieder an sich zu küssen und Lisa ertappte sich, den beiden neidisch dabei zuzuschauen.

Irgendetwas hatte der Mann, was sie sehr faszinierte. Gar nicht sein weiches Gesicht oder der scheinbar so durchtrainierte Körper. Er erinnerte sie an den Mann, mit dem sie vor Frank zusammen war. Auch er hatte sich immer mehr innerlich von ihr zurückgezogen. Wahrscheinlich hatte er jetzt ein tragisches Ende gefunden. Ihr Ex-Freund schien das sogar bewusst angestrebt zu haben. Falls er überhaupt noch lebte. Nun hatte sie Frank und er tat mittlerweile dasselbe. Sich zurückziehen. Eine Wand aufbauen. Sie schien wohl solche Männer anzuziehen. Deswegen war dieser aufmerksame junge Mann sehr erfrischend für sie. Doch er hatte ja diese aufgepumpte Freundin, mit der sich Lisa lieber nicht anlegen wollte. Außerdem hatte sie trotz allem nicht vor ihren Verlobten zu betrügen, obwohl sie manchmal den Verdacht hegte, dass er es selber mit der Treue nicht so ernst nahm. Es gab da ein paar ungewöhnliche Vorfälle. Aber man redete sich auch gerne das eine oder andere ein. Sie hatte ihn ja auch mal mit ihrem Verdacht konfrontiert. Er hatte ihn nicht bestätigt und ihr dabei tief in die Augen gesehen. Sie sei die Frau seines Lebens, hatte er zu ihr gesagt. Über Lisas Verdacht war er zutiefst bestürzt gewesen. Er hatte ihr aufrichtig geschworen, dass er ihr immer treu bleiben würde, und Lisa wollte ihm glauben. Misstrauen würde einer Beziehung nur schaden.

Ein anderer junger Mann mit Kopfhörern lugte verstohlen zu den Sitzplätzen. Lisa nickte ihm zu und rutschte an die Fensterseite. Nun saß sie der Freundin des Blonden gegenüber. Diese nahm ihre Beine jedoch nicht zurück, sodass Lisa ihre Knie anwinkeln musste. Dabei sah sie Lisa ausdruckslos an. Ihr Freund zog höflich lächelnd seine Beine für den anderen Mann an. Der setzte sich einfach hin, ohne davon Notiz zu nehmen. Irgendein Popsong dröhnte aus seinen Ohrschützern.

Ein kahlköpfiger Mann im Anzug stand neben den Vieren und seufzte. Der junge Mann ließ sich auf den Schoss seiner Freundin fallen und winkte auch den Anzugträger lächelnd heran. Seine ächzende Freundin war davon nicht so begeistert. Lisa auch nicht, denn jetzt hatte sie noch weniger Beinfreiheit. Die Beine des Blonden hingen schon fast über ihr. Dieser bemerkte das sofort.

»Entschuldigen Sie. Da habe ich nicht nachgedacht. Ich kann auch gerne stehen«, sagte er wieder unbeschwert höflich mit seiner jugendlichen Stimme und lächelte verschmitzt.

»Kein Problem. Ich muss ja sowieso nicht mehr lange fahren«, sagte Lisa und genoss auf einmal die Nähe zu ihm.

Vielleicht sollte sie mit Frank einfach eine offene Beziehung führen, dann müsste sie sich nicht immer aufregen und er hätte seine Ruhe, dachte sie.

Eine ältere Frau mit Kopftuch stieg ein. Sie war sehr dünn und hatte zwei Einkaufstüten. Unter der Last schien sie fast zusammenzubrechen. Sofort sprang der kahlköpfige Anzugträger auf und wollte der Frau seinen Platz anbieten.

»Bleib sitzen«, knurrte der blonde junge Mann und jegliche Freundlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden. Sein Lächeln allerdings nicht.

»Aber ..«, begann der Geschäftsmann.

»Setz dich hin. Hier sitzen nur Deutsche«, sagte der Blonde kalt.

»Was soll denn das? Das können Sie ..«, stammelte der große Mann.

»Setz dich hin, du Spast!«, schrie der Blonde auf einmal. Sein hübsches Lächeln war mit einem Schlag zu einer hässlichen Fratze geworden. Der Anzugträger setzte sich schnell wieder hin. Er war fast zwei Meter groß und Lisa fragte sich, warum er sich von dem jungen Burschen so einschüchtern ließ.

Der andere Mann mit den Kopfhörern seufzte und drehte die Musik lauter. Lisa konnte nun jedes Wort eines bekannten Songs aus den Charts mithören. Lisa hatte genug. Sie erhob sich.

»Das gilt auch für dich, Süße«, flötete der junge Mann und seine Augen wanderten wild hin und her.

Lisa war sich sicher, dass er sich irgendwas eingeworfen hatte. Dennoch blieb sie stehen.

»Hören Sie nicht hin. Setzen Sie sich einfach«, sagte sie zu der älteren Frau.

Diese antworte etwas, was Lisa nicht verstand. »Die kann noch nicht mal Deutsch. Für diese vergammelte Oma willst du aufstehen?«

Der junge Mann schien in der Tat fassungslos zu sein. Seine Freundin lachte grell auf. Auch wenn die ältere Dame die Sprache nicht wirklich verstand, schien sie jedoch verstanden zu haben, dass der junge Mann sie nicht mochte. Sie murmelte wieder etwas Unverständliches und schüttelte dabei den Kopf.

»Was? Was willst du? Hast du mich gerade in deiner Sprache beleidigt? Hä? Denkst du etwa, ich checke das nicht, du vertrocknete Hexe?«, rief der junge Mann. Nun erhob er sich und streckte seine muskulöse Brust heraus, als hätte er eine starke Gegnerin vor sich, die er damit beeindrucken musste. Er schlug ihr eine Tüte aus der Hand. Ein paar Orangen und Konservendosen kullerten heraus. Die Frau zuckte ängstlich zurück und fing an zu wimmern.

»Was ist denn los? Jetzt habe ich dir gerade eine Tüte abgenommen. Das ist also der Dank. Immer nur nehmen! Dabei habe ich doch schon ein Herz für Tiere«, rief er lachend.

Der Mann im Anzug hielt die Luft an und blickte betreten zu Boden. Der Mann mit den Kopfhörern hatte seine Musik weiter aufgedreht. Ansonsten war es im überfüllten Wagen totenstill. Hier sitzen so viele Typen, die es mit dem Knirps aufnehmen könnten, dachte Lisa bitter. Sie merkte, wie ohnmächtige Wut in ihr aufstieg.

»Das reicht jetzt. Lassen Sie doch einfach die Frau in Ruhe«, rief Lisa.

Der junge Typ zog eine kindliche Schnute.

»Was denn? Ich helfe ihr doch nur bei den Tüten«, sagte er und trat gegen die andere Tüte der Frau, sodass auch die aus ihrer Hand flog. Schützend hob die ältere Dame die Hände vor ihr Gesicht.

»Was soll das denn jetzt? Gehst du schon in Stellung, Oma? Willst du dich etwas mit mir boxen?« Auch der junge Mann hob seine Hände. Lisa sah, wie die panische Angst im Gesicht der älteren Frau zunahm. Dann sah sie, wie alle anderen Fahrgäste mit ihren Blicken den Boden nach Schmutz absuchten. Sie wusste nicht, was sie wütender machte. Dieses Arschloch, seine lachende Freundin oder die anderen untätigen Fahrgäste, die das alles geschehen ließen. Jedenfalls konnte sie ihre Wut nicht mehr an sich halten.

»Lass sie endlich in Ruhe!«, schrie sie. Der Blonde drehte sich höhnisch grinsend zu ihr um.

»Oh, wie süß. Da hat wohl noch jemand ein Herz für Tierchen. Bist du etwa Veganerin? Was willst du denn machen, Schätzchen?«

Lisa verpasste ihm einen Stoß vor die Brust. Es war, als würde sie gegen eine Wand schlagen.

»Oh. Du gehst ja ganz schön aggressiv ran, Zuckermaus. Macht ja nichts. Komm ruhig näher. Ich stehe auf Blond und nicht auf Burkas«, sagte er und deutete abfällig auf die ältere Frau.

»Das ist keine Burka. Sie trägt ein Kopftuch. Kennst wohl nicht den Unterschied, du dummes Arschloch!«, schrie ihn Lisa an.