Hör auf zu stinken - Matthias Krause - E-Book

Hör auf zu stinken E-Book

Matthias Krause

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Beschreibung

LESEN SIE DIESES BUCH NICHT IN UNGELÜFTETEN RÄUMEN HÖR AUF ZU BRENNEN Für den hoch verschuldeten Schriftsteller und Lebemann Frank Freibrodt ist Zahltag. Seine Gläubiger kennen keine Gnade. Als ein heruntergekommener Fremder in seine Wohnung eindringt, wird er endgültig von dem beißenden Gestank seiner Vergangenheit eingeholt. Der Schriftsteller hatte in seinem ersten Buch den tragischen Tod seiner Schulkollegin verarbeitet und der Öffentlichkeit ein düsteres Geheimnis preisgegeben. Schon damals hatte sich Frank damit ihre streng religiöse Familie zum Feind gemacht. Nun will ihn sein neurotischer Besucher dafür brennen sehen. HÖR AUF ZU RÖCHELN Während der Corona-Pandemie rettet der Supermarktmitarbeiter Lorenz die schöne Pia vor zwei brutalen Angreifern. Lorenz verliebt sich in die einflussreiche Influencerin und begibt sich mit ihr in eine leidenschaftliche Beziehung. Erst als Pia ihm wegen seiner Schnarcherei ein Kissen ins Gesicht drückt, fragt er sich, ob sie wirklich die Richtige für ihn ist. Dennoch bleibt er mit ihr zusammen, denn Lorenz hat ein düsteres Geheimnis. Eine schwere Schuld, durch die er seine Heimatstadt Cuxhaven vor Jahren fluchtartig verlassen hat. Lorenz benutzt Pia, um sich für seine Tat selbst zu bestrafen. Als er sich jedoch neu verliebt, will er die Beziehung zu ihr aufgeben. Doch Pia lässt das nicht zu. Für sie ist Lorenz ein Geschenk. Ein Spielzeug, das die Influencerin nicht kampflos aufgeben will. Schon bald wird Lorenz wieder mit dem Tod konfrontiert. HÖR AUF ZU FRESSEN Ein diabolischer Schauspieler besucht seine Opfer, um ihr Innenleben zu studieren. Währenddessen sucht Per verzweifelt nach seiner Ex-Freundin Lene. Auf der Suche nach ihr macht er die Bekanntschaft mit einer neuen Fleischsorte, die unheilvoll nach Verwesung riecht und steigt immer tiefer in die Hölle hinab. Seine unterdrückte Wut wird immer größer. Sein Hunger auf Fleisch wächst. Am Ende steht er dem sadistischen Schauspieler Justin gegenüber, der eine todsichere Methode entwickelt hat, sich seine Rollen einzuverleiben. HÖR AUF ZU GÄREN Die Familie Bäcker fällt bei der Aufführung vom Krippenspiel einem heimtückischen Anschlag zum Opfer. Verzweifelt wollen die Akteure und ihr Regisseur den Bioterroristen aufspüren. Dabei kommt ein düsteres Familiengeheimnis ans Licht. TRIGGERWARNUNG: Neben aktuellen Themen enthält dieses Buch teilweise auch folgende Inhalte und Stilmittel: - Gewaltdarstellungen (Physisch und Psychisch) - Sexuelle Handlungen - Blähungen

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INHALT:

HÖR AUF ZU GÄREN

HÖR AUF ZU BRENNEN

HÖR AUF ZU RÖCHELN

HÖR AUF ZU FRESSEN

1

Der Schnee an diesem Heiligabend war ausgeblieben.

Nur eine zarte Schicht aus hauchdünnem Frost überzog den Acker vor dem Gutshof. Dieser lag mitten im Herzen von Niedersachsen und war von einem dunklen Wald umgeben.

Ein Nebelschleier lag über den Feldern und es wehte ein eisiger Wind. Der Wind war stark und heulte, als würde er ein großes Unheil verkünden. Doch er konnte nicht den Gestank verwehen, der auf dem Gutshof herrschte. Den Gestank von dunklen Familiengeheimnissen,

Täuschung und Verrat. Den Gestank von Verwesung. Dieser Tag sollte einiges im Leben einer Familie für immer verändern. Eine Tragödie bahnte sich an. Nichts sollte mehr so sein, wie es vorher war. Intrigen und eine düstere Wahrheit sollten ans Licht kommen.

Doch zunächst einmal atmeten alle Mitglieder aus der Familie Bäcker erleichtert auf. Sie hatten wie jedes Jahr ein Krippenspiel in der Scheune vom Gutshof Bäcker aufgeführt, um Opa Reinhold, der mit Krippenspielen aufgewachsen war, eine Freude zu bereiten.

Sein älterer Sohn Benno, der handwerklich äußerst geschickt war, hatte sich um die Podeste gekümmert und sein jüngerer Sohn Arnold, nicht minder handwerklich talentiert, die Krippe gebaut.

Die Ehefrauen waren für die Kostüme zuständig und die Kinder legten das Stroh aus.

Dieses Jahr sollte die Aufführung nahezu perfekt werden. In den letzten Jahren wurde meistens mittendrin abgebrochen, weil irgendeiner aus der Familie einen

Hänger hatte oder generell aus seiner Rolle ausgestiegen war. Auch dieses Jahr ging es sehr holprig los. Aber dann waren Opa Reinhold gegen Ende des Spiels die Tränen gekommen. So berührt hatte die Familie ihn noch nie gesehen. So sollte die Familie Bäcker eigentlich zufrieden sein. Doch der Schein kann trügen.

Es gab zwei kleine Zwischenfälle, die, wie sich später herausstellte, mit einem großen Fall zusammenhingen.

Um genauer zu sein, mit einer äußerst schändlichen Tat.

Oma Gertrude hatte den Opa mitten in der Aufführung mit sichtbarer Panik in den Augen ein paar Plätze nach hinten bugsiert und Arnold, der für die Regie und als Souffleur eingeteilt war, kam während des Spiels nicht weniger panisch auf die Bühne gerannt und hatte etwas an der Krippe zurechtgerückt. Diese kleinen Details

sollten sich noch zu einem unheilvollen großen Komplott verdichten. Opa und Oma waren nach dem Krippenspiel schon mal ins Haus gegangen und Arnold konnte es sich nicht verkneifen, Kritik an der Aufführung zu üben.

Nun standen die Akteure in einer Reihe aufgereiht in der kühlen Scheune, die nur notdürftig mit ein paar mobilen Heizkörpern ausgestattet war, während Arnold wie ein General vor ihnen auf und ab schritt, bevor er nach einer großzügigen Schweigeminute seine Kritik äußerte.

»Das war viel besser, als ich erwartet hatte. Ihr habt super gespielt, euch gegenseitig zugehört und ihr habt wunderbar gesungen. Ihr standet nicht so steif und unmotiviert herum, wie die letzten Jahre. Ihr wart präsent und lebendig. Die Gänge stimmten auch

einigermaßen und bis auf Gert an manchen Stellen, hatte jeder seinen Text drauf.«

Die Familie jubelte euphorisch und alle redeten wild durcheinander. Arnold gebot dem mit einer Geste Einhalt.

»Trotzdem war die Aufführung eine Katastrophe. Absolut furchtbar, schrecklich, ganz schlimm.«

Alle erstarrten.

»Äh ... hä ... was? Wie jetzt? Warum?«, fragte Arnolds Sohn Gert.

Sein Vater schluckte. Diese unangenehme Wahrheit, mit der er seine Familie konfrontieren musste, war nicht leicht zu verdauen.

Er musste mit jedem einzelnen Wort kämpfen, bevor er es in den Raum stellen konnte.

»Einer von euch hat etwas getan, was ...«

Arnold stockte. Er wagte es kaum, die verhängnisvollen Worte auszusprechen.

Benno warf die Hände in Luft. »Was? Was ist denn jetzt schon wieder los? Du und dein ewiger Perfektionismus. Immer hast du was zu nörgeln. Es soll uns doch noch Spaß machen dürfen.«

Arnold schüttelte den Kopf. Sein Bruder nickte bestätigt, was zu seinem Schafskostüm gut zu passen schien.

»Aber wenn es unbedingt sein muss, kannst du uns jetzt

auch mal endlich sagen, was du eigentlich von uns willst. Halte deinen Monolog. Kritisier uns, wenn es dir so eine

große Freude bereitet. Was passt dir denn nicht? Sag schon. Ich weiß, du hörst dich selbst so gerne reden. Aber fass dich bitte kurz. Mein Glühwein wird kalt.«

Arnold sah seinen Bruder mit großen Augen an. Eine beklemmende Stille trat ein.

»Spuck es aus, bevor wir uns hier alle noch den Arsch abfrieren!«, forderte Benno ungeduldig und in seiner Stimme lag ein beunruhigendes Knurren.

Bevor der Wolf weiter aus dem Schafspelz schlüpfen konnte, stellte sich Arnolds Frau schnell zwischen die beiden Brüder. Auch die anderen Familienmitglieder verfolgten gebannt das Schauspiel. Sie wussten alle, wie schnell die Streitereien der beiden eskalieren konnten.

»Was ist los, Schatz?«, fragte Linda eindringlich ihren Mann.

Doch Arnold brachte es nicht über sich.

Er war bleich im Gesicht. Jeder sah ihm mittlerweile an, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Jeder merkte, dass etwas Bedrohliches in der Luft lag. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll ...« Sein Sohn stöhnte.

»Nun spuck es schon aus. So viele Hänger hat dein Sohn ja auch nicht gerissen«, stichelte Benno.

Doch Arnold winkte ab. Ein leichtes Lächeln trat in sein blasses Gesicht.

»Mein Sohn war ganz hervorragend. Und die paar Hänger. Darum geht es auch gar nicht.«

Arnolds Lächeln fror ein. Es sah unheimlich aus.

»Jemand hat etwas während der Aufführung getan, was

er nicht hätte tun sollen. Und derjenige ist jetzt unter uns und tut es womöglich wieder und gerade versucht er, ganz unschuldig auszusehen.«

Er starrte nun wieder seinen Bruder an.

»Was glotzt du mich so an? Wovon redest du eigentlich?«, brummte Benno und klang dabei zunehmend aggressiver.

Arnold blickte auf den Boden, als würde er das Stroh zählen wollen.

»Ich weiß nicht, ob ich das sagen kann. Ob ich überhaupt

noch jemandem von euch trauen kann. Es ist so krank. So heimtückisch. So widerwärtig.«

Linda schlug nach ihm.

»Was ist denn los?«

Arnold riss die Arme in die Luft.

»Merkt ihr denn gar nichts? Etwas stinkt hier ganz

gewaltig. Etwas ist faul. Es liegt der Gestank von Tod und Verderben in der Luft. Aber ich werde es herausfinden.

Meine Spürnase hat bereits Witterung aufgenommen.

Jemand treibt hier ein böses Spiel und wird bald einiges erklären müssen.«

Seiner Schwägerin Renate, die den Herodes gegeben hatte, platzte der Kragen.

»Meine Güte, Arnold! Jetzt sag endlich, was passiert ist!« Arnold presste die Worte so mühsam heraus, als würde ihn jedes Einzelne davon quälen.

»Einer von euch hat gebläht. Während der Aufführung. Ohne jegliche Skrupel und ohne Rücksicht auf Verluste.

Es hat die ganze Zeit gestunken. So dermaßen gestunken, dass Oma Opa in Sicherheit bringen musste.

Ein zutiefst feiger Anschlag. Deswegen bin ich auch zwischendurch auf die Bühne gekommen und habe so getan, als würde ich die Krippe richten. Ich wollte wissen, wer zu dieser dreisten Tat fähig ist und weitere Anschläge verhindern. Und jetzt will ich wissen, wer das getan hat. Na los, redet! Gesteht endlich! Wer ist der Täter? Oder die Täterin? Wer war es?«

Er blickte erwartungsvoll in die Runde. »Du vielleicht, Julius? Für einen Joseph warst du ganz schön nervös gewesen.«

Er fixierte seinen hageren Neffen. Bennos ältester Sohn. Dieser erwiderte den Blick.

»Na ja. Ich habe mich halt sehr in die Rolle hineingesteigert. Meine Frau bekommt schließlich ein Kind vom Heiligen Geist. Das erlebt man ja nicht alle Tage.«

Arnold nickte skeptisch.

»Und du Maria? Du hast die ganze Zeit so ein schmerzverzerrtes Gesicht gezogen. Als würdest du irgendetwas unterdrücken wollen, was du wohl nicht unterdrücken konntest. Vielleicht dachtest du, es wäre an der Zeit sich zu erleichtern.«

Er fixierte seine Frau Linda.

»Na ja, der lange Weg hatte mich als Maria ganz schön mitgenommen, dann die Geburt. Was dachtest du denn?«, fragte sie trotzig zurück.

Wie ein Tiger im Käfig lief Arnold auf und ab. Seine Nasenflügel flatterten. Nun nahm er Witterung auf. Wie

ein Spürhund würde er nun die Fährte aufnehmen und die Spur dieses feigen Täters verfolgen. Denn die Uhr tickte bereits. Der Attentäter war mitten unter ihnen. Hier in der Scheune. Er hatte nicht mehr viel Zeit, das wusste Arnold. Er musste diese Biowaffe entschärfen, bevor es zu spät war. Er musste den Terroristen enttarnen, bevor dieser noch weitere Munition absondern konnte. Arnold war sich sicher, dass der skrupellose Verbrecher wieder zuschlagen würde. Es gab reichlich Ziele und

Gelegenheiten für weitere heimtückische Anschläge. Am besten noch im Wohnzimmer bei Kerzenschein. Das wird eine Bescherung geben, dachte Arnold und eiskaltes Entsetzen stieg in ihm auf. Sein Herz schlug mittlerweile in rasender Geschwindigkeit. Ihm wurde fast schon schwindelig von dem Adrenalinstoß in seinem Körper. Er konnte die tiefe Schuld direkt vor sich riechen. Er war

ganz nah dran. Das spürte Arnold. Der würzige Hauch des Todes war nicht weit von ihm entfernt. Nur wer war jetzt der Täter? Oder war es eine Täterin? Oder waren es sogar mehrere?

Arnold beschlich eine düstere Vorahnung. Ein grausamer Verdacht keimte in ihm auf. Doch er wollte den Gedanken nicht wahrhaben.

»Na ja, das Christkind kann es ja wohl nicht gewesen sein. Wurde ja von einer Puppe dargestellt. Dann frage ich mal anders. Wer hatte ein Motiv?« Er strich sich mit der Hand übers Kinn und grübelte.

»Gute Frage«, sagte sein Sohn und seufzte genervt.

Rita, die den Engel gespielt hatte und auch Arnolds Tochter war, reagierte empört. »Sag mal, wer sollte denn dafür ein Motiv haben. Das macht doch niemand freiwillig. Ist doch voll peinlich.«

Arnold tigerte weiter auf und ab und sah dann seinen Bruder Benno an. »Du warst auch erstaunlich sprunghaft auf der Bühne als Schaf gewesen. Was sollte das denn bitte darstellen. Magengewitter, oder was?«

Benno stöhnte. »Es hat mich im Schritt gekniffen. Musste meine Buchse richten. Soll ich noch weiter ins Detail gehen?« Arnold winkte ab und sah seinen Sohn Gert an. »Du hast

als Balthasar ganz schön viel Text ausgelassen. Vielleicht warst du ja durch etwas abgelenkt gewesen? Vielleicht hattest du unter Weihrauch etwas falsch verstanden?« Aber Gert knickte nicht ein. »Ich musste auf die Toilette. Durfte ja vorher nicht mehr gehen.«

Arnold lachte laut auf. »Na das passt doch. Ich würde sagen, der Fall ist gelöst. Du bekommst drei Wochen Hausarrest, mein Junge.«

Er klatschte triumphierend in die Hände. Doch sein Sohn war noch nicht fertig. »Ich habe nicht gesagt, dass ich groß musste. Ich gehe außerdem davon aus, dass es Melchior und Kaspar mitgekriegt hätten. Die standen ja beide direkt hinter mir.«

Arnold zuckte mit den Schultern, musterte seine zwei Nichten, welche die übrigen Könige dargestellt hatten, und sah sich dann seine drei weiteren Neffen an, welche als Hirten aufgetreten waren. »Ja, die Hirten standen auch dicht hintereinander. Ich soll euch jetzt wohl alle von dieser schändlichen Tat ausschließen, was? Aber was heißt das schon? Könnt ihr ja gemeinsam ausgeheckt haben. Kinder und ihre Streiche.«

Er steckte die Hände in seine Hosentaschen. Dann ließ er

den Blick über die ganze Truppe schweifen und schnalzte mit der Zunge.

»Ihr seid alle sehr, sehr verdächtig.«

Benno machte einen Schritt auf ihn zu. »Ach ja? Und was ist mit dir, du Meisterdetektiv? Du Spürnase? Warum bist du mittendrin auf die Bühne gerannt und hast da so albern an der Krippe herumgefummelt? Sah auch ziemlich verdächtig aus, nicht wahr?«

Arnold sah seinen Bruder missbilligend an.

»Du bist so undankbar, Benno. So ignorant. Hast du mal wieder nicht zugehört? Ich habe euch das doch schon erklärt. Ich wollte weitere Anschläge verhindern. Ich wollte den Terroristen aufhalten. Ich wollte euch beschützen. Kapiert?«

Benno legte skeptisch den Kopf schief. Auch diese Bewegung schien gut mit seinem Kostüm zu harmonieren.

»Ich habe dir ganz genau zugehört. Aber ich glaube dir einfach nicht. Wenn da so eine stinkende Wolke ist, dann läuft man da doch nicht freiwillig hinein und sieht nach dem Rechten. Tu mal nicht so, als wärst du hier der große Märtyrer. Von wegen, du wolltest wissen, woher das kommt. Das kannst du mir nicht erzählen. Sag die Wahrheit. Gestehe einfach. Du wolltest nur deine Duftnote auf der Bühne verteilen, um von dir abzulenken, weil du keinen Ärger mit Mama wolltest. Und dann wolltest du uns diese Tat in die Schuhe schieben. Einfach nur skrupellos.«

Auch Renate zeigte anklagend auf ihren Schwager. Das Herodeskostüm verstärkte ihre Geste. »Ich habe es auch gerochen, Arnold. Ich erinnere mich genau. Die Tat trägt deine Handschrift. Weißt du noch, als du bei uns an Ostern zu Besuch warst? Als ich Hackbraten für dich gemacht habe und du als Dankeschön dafür die ganze Bude vollgebläht hast? Es ist deine Duftmarke. Du warst das.«

»Ja, genau! Jetzt weiß ich es auch wieder. Du hast recht, Mama. Es passt alles genau zusammen!«, rief nun auch ihr Sohn Julius.

»Deshalb bist du also auf die Bühne gerannt?«, fragte Gert seinen Vater ungläubig. »Nur deswegen hatte ich den Hänger.«

Arnold, dessen Haltung vor Kurzem noch stolz und richtend war, sackte wie ein schlecht gebackener Kuchen in sich zusammen.

Jetzt trat Rita in Gestalt des Engels hervor. »Mit deinem lächerlichen Auftritt hättest du fast unser durchaus gelungenes Krippenspiel zerstört. Nur um ein eiskaltes

Ablenkungsmanöver zu starten. Um Oma auf eine falsche Fährte zu locken.«

Arnold fing an zu schwitzen. Gleichzeitig war ihm kalt. So kalt. Er war von seinem eigenen Potenzial zutiefst erschüttert. Seine düstere Vorahnung hatte sich nun

bestätigt. Er war für alles verantwortlich. Ganz alleine. Er konnte es nicht glauben. Es war unvorstellbar, aber es schien wahr zu sein.

Maria alias Linda stemmte die Hände in die Hüfte. »Du solltest dich was schämen. Na los, gestehe schon. Dann wird es dir besser gehen. Erleichtere dich!«

Benno ging dazwischen. »Nein! Um Himmelswillen! Reiz ihn nicht. Bitte! Nicht schon wieder!«

Gert erhob sein königliches Haupt. »Dafür bekommst du jetzt Hausarrest.« Er nickte zufrieden.

»Bist du verrückt, Gert. Im Gegenteil. In diesem Zustand will ich ihn nicht die ganze Zeit im Haus haben!«, fuhr Linda ihren Sohn an. Dann wandte sie sich wieder ihrem Mann zu. »Und heute am Heilig Abend, kannst du von draußen aus ins Fenster gucken. Mal sehen, was du von unserer Bescherung mitkriegst. Wir wollen ja nicht, dass du uns da drüben noch die ganze Bude voll furzt. Man kann hier in der Scheune ja schon kaum mehr atmen.«

Arnold hob schützend die Arme vor sein Gesicht, als wäre

er von einem gleißenden Licht geblendet worden oder als wollte er sich vor dem wütenden Mob schützen. »Das könnt ihr nicht machen, Leute. Draußen ist es so kalt!«,

wimmerte er.

»Ha! Wusste ich es doch. Das ist wie ein Geständnis!«, schnaubte seine Frau.

»Hört auf!« Die Stimme zerteilte wie ein Schuss die dicke Luft.

Oma Gertrude stand auf einmal im Tor zur Scheune und zeigte mit anklagendem Finger auf die ganze Familie, als würde sie jeden einzelnen von ihnen verfluchen wollen. »Lasst meinen Sohn in Ruhe. Ihr wollt Arnold gerne zum Sündenbock machen für eure Taten? Wagt es ja nicht! Nicht mit mir. Du als Bruder solltest ihm beistehen, Benno. Außerdem hast du von einer Wolke geredet. Das ist bei Arnold nicht möglich. Er kann es nicht alleine gewesen sein. Ich sollte es ja wohl am besten wissen als eure Mutter. Mich kannst du nicht an der Nase herum führen. Ich habe eure Windeln gewechselt und mir eure Pupsereien schon damals und bis heute um die Nase wehen lassen müssen. Ich habe mich schon gewundert, warum ihr dieses Jahr so gut miteinander gespielt habt. So konzentriert. Ihr habt euch gegenseitig so zugehört und beachtet. Ihr wart auf einmal so präsent. So beweglich. Ihr habt eure Gänge so motiviert gespielt.

Habt so schnell eure Positionen gewechselt. Alles so lebendig. Das war sehr eindrucksvoll. Habe ich in den letzten Jahren nichts von gesehen. Und als dann auch noch der beißende Gestank dazu kam, wusste ich, dass jeder von euch einfach nur eine Gelegenheit gesucht hat einen Furz zu lassen, um es dann den anderen in die Schuhe schieben zu können. Als dann einer damit angefangen hat, dachte der Nächste, er darf auch. Jeder hat in seiner Unwissenheit dem anderen ein Alibi gegeben. Ihr wart alle daran beteiligt. Jeder Einzelne von euch. Das ist also der Dank dafür, dass ich gestern Abend so lange am Herd gestanden, Linseneintopf für euch gekocht und Zwiebelkuchen für euch gebacken habe.«

Fast schon synchron sackten alle Köpfe nach unten. Aber Oma Gertrude war noch lange nicht fertig. »Schämt euch.

Nicht nur, dass ich meinen Mann aus der Schusslinie schleifen musste. Ihr seid noch nicht mal in der Lage ehrlich zu euren Pupsereien zu stehen. So habe ich euch nicht erzogen.« Sie schüttelte resigniert den Kopf. Benno im Schafskostüm ergriff zögerlich das Wort. »Hat Vater überhaupt geweint, weil es so emotional war, oder wegen der Blähungen.«

Gertrude zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, mein Sohn. Die Luft war so beißend. Ich weiß es nicht.«

Da erhob sich Arnold wieder. »Doch, du weißt es sehr wohl, Mutter. Du hast selber gesagt, dass ich diese Wolke nicht alleine verursachen konnte. Aber sie wütete nicht nur vor mir, wo die anderen standen. Ich habe sie auch neben mir wahrgenommen. Wo ihr gesessen hattet.

Kurz bevor ihr den Platz gewechselt habt.«

Bennos Schafskopf schoss nach oben. »Ist das wahr, Mutter?«

Ein Blitz hätte nicht passender einschlagen können.

Jetzt senkte Oma Gertrude den Kopf. »Ja, es ist wahr. Ich habe auch gebläht und Reinhold sowieso. Der merkt das schon gar nicht mehr. Bei dem geht das schon seit Jahren so. Um ehrlich zu sein, seit der Hochzeitsnacht.«

Stille.

Allgemeines Entsetzen. Arnold zeigte sich mitfühlend. »Mutter, wie hast du das all die Jahre ausgehalten.«

Sie lachte resigniert. »Man gewöhnt sich nach 50 Jahren Ehe an einiges, mein Junge. Nach einiger Zeit kann man sich gar nicht mehr riechen, doch eines Tages gewöhnt man sich daran, man stumpft einfach ab und irgendwann riecht man so was wie das hier schon gar nicht mehr. Übrigens war er wirklich sehr berührt gewesen.

Deswegen habe ich mich mit ihm weggesetzt. Ich wollte eure wunderbare Aufführung nicht kaputtmachen. Und jetzt gehen wir alle schön ins warme Haus, trinken einen Fencheltee und danach gibt es Bescherung. Reinhold freut sich schon auf euch.«

Das tat dann die Familie. Und es wurde ein besinnliches Weihnachtsfest.

Mit Duftkerzen.

2

Während Familie Bäcker ihr Weihnachtsfest feierte, saß Justin nur ein paar wenige Kilometer entfernt bei seiner Tante am Esstisch.

Genau wie sein jüngerer Cousin Jonathan hätte er gerne beim Krippenspiel mitgewirkt.

Auf einem Feld, welches beide Gutshöfe voneinander trennte, war er am Nachmittag Benno Bäcker begegnet.

Als er den fröhlichen Familienvater im Schafskostüm vor sich erblickt hatte, war es Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Sofort waren die beiden charismatischen Männer ins Gespräch gekommen und nur schweren Herzens konnte Justin die Einladung ablehnen, ebenfalls als Schaf bei der Aufführung mitzuwirken.

Nun saß er bei Tante Sonja und ihrem Mann Götz am Tisch und vor ihm lag der Flügel einer halb verbrannten Gans.

Auch seine Freundin Lisa schien nicht so begeistert von dem Mahl zu sein. Nur ein paar Kartoffeln und eine Portion Rotkohl lagen auf ihrem Teller.

Tante Sonja sah ihren Neffen gequält an.

»Tut mir leid. Das war so dumm von mir.«

Justin wusste, was sie meinte. Tante Sonja sprach nicht von der verbrannten Gans. Sondern von dem Geruch und dem Qualm, der nun in der Küche herrschte.

Sie wollte keine alten Wunden bei ihm aufreißen. Justins Eltern waren vor ein paar Jahren bei einem Feuer umgekommen.

Er war dabei gewesen.

Tante Sonja ahnte nicht, dass Justin diesen brennenden Geruch liebte.

Er lächelte sie wehmütig an.

»Alles gut. Mach dir bitte keine Sorgen, Tante Sonja. Ich habe das alles mittlerweile gut verarbeitet.«

Ihr Mann Götz schien nicht so viel von ihrem Feingefühl zu besitzen.

»Ich nicht. Warum musste Hartmut dabei noch das ganze Haus abfackeln? Bis zu seinem Tod hat er nicht teilen wollen.« Er sah Justin vorwurfsvoll an.

»Götz!«, rief Tante Sonja und schielte dabei verstohlen auf ihr gut gefülltes Weinglas.

»Wie können Sie so etwas sagen? Sie reden hier mit seinem Sohn!«, empörte sich Justins Freundin Lisa. Sonja und Götz waren leer ausgegangen.

Denn Hartmut war Alleinerbe vom Hof in Neuruppin gewesen. Das unbebaute Grundstück ging an Justin. Das Herrenhaus und der Rest sollten laut Testament aufgeteilt werden.

Götz besaß nur einen sehr kleinen Hof und hatte sich wohl erhofft, dass etwas für ihn und seine Frau zurückbleiben würde.

Doch auch diese Illusion wurde ihm genommen. Tatsächlich hatte das Feuer bis auf einen Stall nichts vom Gutshof übrig gelassen.

Das Herrenhaus und die große Scheune lagen in Trümmern.

Auch von der Versicherung kam nicht viel.

Offiziell war Hartmut mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen.

Nur Justin wusste es besser. Sonja blickte ihre Gäste erwartungsvoll an.

»Wollt ihr denn gar nichts essen? Ich habe die meisten verbrannten Stellen rausgeschnitten.«

Götz stöhnte.

»Wir essen nicht gerne weißes Fleisch«, sagte Justin geduldig. Er hatte es seiner Tante schon so oft gesagt. Aber das war halb so wild.

Er würde schon bald sein Essen bekommen.

»Mach dir keinen Kopf, Tante Sonja«, sagte Justin zu ihr und lächelte.

Sie nickte und nahm einen großzügigen Schluck aus ihrem Weinglas.

Götz sah seinen Sohn an, der auch lustlos auf seinem Teller herumstocherte.

»Was ist mit dir, Sportsfreund?«

Jonathan schüttelte den Kopf.

Götz knallte seine Faust auf den Tisch.

»Solange du unter meinem Dach lebst, frisst du das, was auf den Tisch kommt, klar?«, knurrte er und zündete sich eine Kippe an.

»Ach, Götz.« Sonja seufzte und lächelte ihre Gäste entschuldigend an, bevor sie sich wieder mit ihrem Weinglas beschäftigte.

Doch Justin kannte das schon alles. Hartmut hatte immer rauchend am Esstisch dieselben Sprüche von sich gegeben. Der einzige Unterschied war, dass sein Vater dabei immer noch einen Obstschnaps getrunken hatte. Vor Götz hingegen stand eine halb volle Bierflasche.

»Machen die Bäckers jedes Jahr dieses Krippenspiel?«, fragte Justin seine Tante.

»Ja, leider«, antwortete ihr Mann für sie.

»Ich hätte auch gerne mitgemacht«, murmelte Jonathan. Götz blies ihm eine Rauchwolke ins Gesicht.

»Dann kannst du auch gleich mit Puppen spielen.«, brummte er und das Lächeln seiner Frau wurde noch breiter.

Auch das kannte Justin von seinem Vater.

»Wie läuft denn deine Karriere als Schauspieler?«, fragte Tante Sonja ihren Neffen und strahlte ihn dabei grell an.

»Sehr gut. Ich entwickel mich immer weiter. Mittlerweile unterrichte ich meine eigene Methode«, erzählte Justin stolz.

»Schön«, sagte seine Tante gedehnt. Damit war das Thema aber auch schon für sie beendet.

Jonathan starrte Lisa an, die einen halben Kopf größer war als ihr Freund Justin.

Sie erwiderte neugierig seinen Blick, bis er wieder verlegen auf seinen Teller starrte.

Dann nahm Lisa einen kleinen Happen von dem Rotkohl. Sie gab sich redliche Mühe, nicht ihr Gesicht zu verziehen. Der Kohl schmeckte so säuerlich. Fast schon gegoren.

Tante Sonja bemerkte das sofort.

»Deine Freundin muss mehr essen«, sagte sie zu Justin.

»Sie ist so dünn.«

»Keine Sorge. Ich füttere sie schon.«

Götz grunzte vor lachen.

Doch seine Frau war immer noch besorgt.

»Ich meine das wirklich ernst. Sie muss mehr essen. Du übrigens auch.«

»Ich esse das, was ich selbst gefangen habe«, sagte Justin.

Nun wurde Götz neugierig.

»Du jagst auch?«

»Ich liebe die Jagd«, sagte Justin und grinste verschmitzt.

»Ich hab die Gans selbst erlegt!«, rief Götz stolz. »Ich gehe oft jagen.«

»Cool« , sagte Justin und strahlte. »Ich auch.« Götz musterte ihn. »Das gefällt mir. Können ja mal gemeinsam jagen gehen, wenn du Lust hast.«

Justin sah wieder Benno im Schafspelz vor seinen Augen.

»Gute Idee. Nach dem Essen?«

Götz schüttelte verwirrt den Kopf. »Ne, heute doch nicht mehr. Es wird doch gleich dunkel.«

»Das macht doch nichts.«

»Jungs!«, rief Tante Sonja und verdrehte die Augen. »Wir haben schon genug Fleisch auf dem Tisch.«

Lisa nahm zögerlich noch einen kleinen Happen von dem Kohl.

Jonathan beobachtete sie dabei.

Auf Justin wirkte er dabei feindselig.

Lisa bemerkte das nicht.

Sie kannte nicht die Vorgeschichte der beiden Cousins.

»Es hat sich einiges verändert«, sagte Justin mit kaltem Tonfall zu seinem Cousin, der ihm gegenüber saß.

Götz nickte grimmig, obwohl er gar nicht wusste, was Justin damit meinte.

Sein Cousin hingegen schien ihn genau verstanden zu haben. Betreten blickte er auf seinen Teller.

Justin dachte wieder an Benno Bäcker und an sein Schafskostüm.

Der Mann hatte eine fröhliche Ausstrahlung gehabt. So eine Leichtigkeit.

Justin mochte diese Attribute.

Er wollte davon etwas abhaben.

Er dachte wieder an Bennos Kostüm.

Wie es mit seinem Körper harmoniert hatte.

Nun wurde Justin richtig hungrig.

Sein Magen knurrte.

»Alles in Ordnung?«, fragte seine Tante.

Justin nickte und griff sich den Flügel der Ente.

Wild schlang er das Fleisch hinunter.

Tante Sonja lachte irritiert.

Dann langte Justin nach der restlichen Gans, die auf einem großen Teller in der Mitte des Tisches platziert war.

Er riss ein großes Stück ab und stopfte es sich in den Mund.

»Justin! Was machst du denn da?«, rief Lisa neben ihm.

»Lass mich. Ich will Essen«, sagte er kauend zu ihr. Lisa knuffte ihm in die Seite.

»Du benimmst dich wie ein Schwein!«

»Hör auf zu nerven«, sagte Justin mit vollem Mund. »Ich hab Hunger.«

Götz klatschte sich grölend auf den Oberschenkel.

»So soll es sein!«, rief er. Dann grapschte er auch nach der Gans.

Tante Sonja bekam einen schrillen Lachanfall. Der Rotwein schien zu wirken.

Justin aß gierig mit seinen Händen weiter.

Das Fett klebte an seinen Fingern und triefte von seinen vollen Lippen.

Er dachte an die Familie Bäcker.

Er wollte sie besuchen.

Es war eine Großfamilie.

Viele Menschen.

Er bekam noch mehr Hunger.

Die zähe Gans konnte ihn nicht satt machen.

Bald werde ich richtig essen, dachte er und kaute schneller.

Nun war es an der Zeit, auf die Jagd zu gehen.

HÖR AUF ZU BRENNEN

1

20.Oktober 2018

Frank war froh, dass er nicht nackt war. Eigentlich lief er gerne entblößt durch seine Wohnung. Er fühlte sich dann mit seinem Körper im Einklang und sexy. Doch eine Vorahnung hatte ihn davon abgehalten.

Als er gerade dabei war, seinen Kaktus zu gießen, sah er einen Mann unten im Hof stehen, der zu seinem Fenster hinauf starrte. Ihn anstarrte. Die Haltung des Mannes war angespannt, als wollte er zum Sprung ansetzen. Es war zwar erst Vorabend, aber schon dunkel. Doch Frank schien deutlich die toten Augen zu sehen, mit denen der bärtige Mann zu ihm aufsah. Sie waren tot und auch wieder nicht. Denn in dem leeren Blick lag zugleich eine bedrohliche Intensität. Frank konnte die abstruse Mischung nicht genau beschreiben, aber sie war unheimlich. Doch Frank beruhigte sich schnell wieder. Er wohnte schließlich im zweiten Stock. Der Mann konnte sich unmöglich zu ihm hinaufhangeln. So sportlich sah der Typ nicht aus. Sicher war das nur ein neidischer Penner, der mich irgendwann ausrauben will, dachte er und zeigte dem Mann den Mittelfinger. Dieser antwortete mit einer anderen Geste. Langsam fuhr er mit dem Zeigefinger über seine Kehle. Frank wurde wütend. Er stürmte in die Küche und bewaffnete sich mit einer Blätterteigpastete. Er riss das Fenster auf und warf sie auf den Mann.

»Hier hast du etwas zum Essen. Mit Liebe gemacht, du Penner!«

Er verfehlte ihn jedoch und der Mann starrte ihn weiter ungerührt an.

»Was glotzt du so? Du musst dich nicht bedanken! Guten Hunger!«

Der Mann wandte sich ab und ging. Doch Frank reichte das nicht.

»Geh arbeiten, du Arschloch!«, brüllte er ihm noch nach. Er überlegte, dem Mann noch etwas nachzurufen. Doch dann beschloss er, sich selbst an die Pasteten heranzuwagen.

Er brach sich ein Stück ab und erschauderte. Sie waren mittlerweile warm und glitschig und Frank hatte immer weniger Motivation, sich eine von ihnen einzuverleiben. Er schob es noch auf und versuchte fluchend, das sperrige Fenster wieder zu schließen. Nach einigen akrobatischen Einlagen und Flüchen brachte er es schließlich hinter sich.

Er stärkte sich mit einem Bissen von der Pastete und schmeckte gleich, dass sie von vorgestern war. Frank kaute langsam und lustlos. Auf der Jubiläumsfeier waren die Dinger noch ganz köstlich gewesen. Deswegen hatte er in einem günstigen Augenblick die Gunst der Stunde genutzt, um ein paar der Pasteten heimlich mit einer Serviette einzupacken. Jedoch hatte er vergessen, sie in den Kühlschrank zu stellen. Das schmeckte er nun deutlich heraus. Zusätzlich stellte er sich vor, wie die Pasteten von den Gästen mit ihren schmierigen Fingern betatscht worden waren. Kein appetitanregender Gedanke für Frank.

Er dachte an Bärbel, die Sekretärin von Herrn Kunz und ihr großes Bläschen an der Lippe. Wer weiß, was die alles mit ihren Wurstfingern auf die Pasteten geschmiert hat, fragte sich Frank und spielte mit dem Gedanken die Dinger in den Müll zu kloppen.

Eine war ja schon aus dem Fenster geflogen. Aber das war ja schließlich für einen guten Zweck gewesen.

Doch dann kam dieses stechende Gefühl in seiner Brust. Er wusste nicht warum. Schließlich warf doch jeder mal Essen weg. Aber dann sah er Lisas enttäuschten Gesichtsausdruck. Meine Verlobte hat mich wohl zu sehr erzogen, stellte er verbittert fest.

Na ja, dann musste er die Teile halt seiner Nachbarin andrehen. Pia. Sie würde ihn ja bald besuchen kommen. Darauf freute sich Frank schon. Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass er durch sie die Pasteten endlich loswerden konnte. Sie wurde nur langsam etwas zu anhänglich. Auf der einen Seite genoss er es, auf der anderen Seite war er ja immer noch verlobt. Noch. Wer weiß, wie lange das Drama noch gut gehen konnte? Er wusste es jedenfalls nicht. Vielleicht sollte er doch noch eine Pastete essen? Lisa zuliebe.

Er biss zaghaft ein weiteres Stück ab. Es schmeckte nach Bärbel. Er hatte zwar keine Ahnung, wie die Sekretärin schmeckte, aber so stellte er es sich vor. Frank verzog das Gesicht und seine Lippen begannen zu jucken. Die werde ich mir wohl heute Abend eincremen müssen, dachte er und bemerkte, wie Magensäure hochstieg.

Hatte er es sich nur eingebildet oder war Herr Kunz unfreundlicher zu ihm gewesen? Er wurde das Gefühl nicht los, dass sein Verleger ihm auf der Feier bewusst aus dem Weg gegangen war. Er musste sogar wie ein Anfänger um einen Termin betteln. Aber so war Herr Kunz nun mal. Das war einfach seine Art. Das durfte Frank nicht persönlich nehmen. Schließlich hatte er ihm ja auch einiges zu verdanken. Dessen war sich Frank durchaus bewusst. Wegen seines neuen Buches musste er sich doch keine Gedanken machen. Das war wasserdicht. Sein Verleger hätte es ihm bestimmt noch bestätigt. Nur war er halt auch ein viel beschäftigter Mann. Es war immerhin die Feier seines Verlages gewesen.

Eigentlich wollte Frank sich ins Ledersofa schmeißen und einen Film konsumieren, da bekam er auf einmal eine bessere Idee. Er würde sich erst einmal einen schönen Merlot gönnen und sich damit den vermeintlichen Geschmack von Bärbel ausspülen. Frank konnte die Desinfektion kaum noch erwarten. Euphorisch ging er ins Bad und klatschte sich eine beträchtliche Menge Gel in die Haare. Dann schlüpfte er in seine Lederjacke und wollte sich gerade ein paar Sneakers anziehen, als sein Handy klingelte. Die Nummer war unterdrückt und Frank zögerte. Dann fiel ihm wieder Igor ein und er beschloss, den Anruf anzunehmen. Den Mann wollte er nicht verärgern.

»Frank Freibrodt? Guten Tag?«

»Falsch. Guten Abend«, schnarrte eine belegte Stimme. Dann kam erst mal nichts. Es war eine männliche Stimme. Doch es war eindeutig nicht Igor oder einer seiner Laufburschen.

Frank verlor nach einer Weile die Geduld. »Ja, Sie sind ja ganz schlau. Es ist jetzt Abend. Zufrieden? Was wollen Sie, bitte?«

Es folgten tiefe Atemzüge. Es klang, als würde der Mann am anderen Ende jeden Moment das Zeitliche segnen.

»Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie einen Arzt?«, fragte Frank etwas besorgt.

Wieder ein tiefes geräuschvolles Atmen. Es klang nun wie ein leises Knurren. Frank war sich mittlerweile sicher, dass der Mann Hilfe brauchte. Allerdings keine physische.

Er dachte, diese Anrufe wären mittlerweile Geschichte. Doch nach fünf Jahren war es nun wieder so weit. Nur war es diesmal ein Mann. Sonst hatte ihn immer eine hysterische Frauenstimme am Telefon bedroht. Aber Frank wollte nicht auflegen. Sie sollten ruhig wissen, dass er keine Angst mehr hatte. Er begann die Atemgeräusche des Mannes nachzuäffen. Eine Weile atmeten beide um die Wette. Schließlich wurde Frank das Ganze zu blöd. »Finden Sie nicht, dass Sie sich ganz schön behindert anhören?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung antwortete mit einem langen Stöhnen.

»Du bist ja gar nicht nackt«, sagte er und klang auf einmal sehr weich dabei. Fast schon zärtlich. Frank zitterte vor Wut und Ekel.

»Schade. So schade. Ich konnte sonst immer deine Wampe wabbeln sehen. Hast ja schon richtige Brüste bekommen«, flötete die Stimme. Frank erschauderte. War das etwa der Mann aus dem Hof?

»Ich bin vergeben, du Schwein.«

»Ja, ich weiß.« Ein dreckiges Lachen folgte.

Frank schluckte. Der Mann wusste eine Menge.

»Woher haben Sie meine Nummer, Mann!«.

»Die kann ich auswendig«, sagte der Mann und stieß einen weiteren tiefen Atemzug aus.

Frank verfluchte sich innerlich. Das kam nur dadurch, dass er seine Nummer immer wieder bei jedem neuen Anbieter mitgenommen hatte. Der Mann schien ihn gut zu kennen. Er schien in seiner Vergangenheit eine Rolle gespielt zu haben. Außerdem konnte er seine Nummer auswendig. Das grenzte an Besessenheit.

»Du sagst ja gar nichts, Frank. Geht es dir nicht gut?«, hauchte die Stimme.

»Es geht so.«

»Mir geht es sehr gut.«

»Ach ja. Wie schön. Warum denn?«, fragte Frank süßlich.

»Weil es dir bald sehr schlecht gehen wird.« Wieder ein dreckiges Lachen.

Frank äffte es nach.

»Jetzt habe ich aber Angst. Du kannst mir gar nichts.«

»Doch, Hängebauchschwein. Ich werde dich brennen lassen«, zischte die Stimme. Nun schwang aufrichtiger Hass mit. »Bald wirst du keine Mädchen mehr schänden können. Du perverses Stück Dreck!«

»Pass auf, was du sagst!«, schrie Frank und konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, jemals so etwas getan zu haben. Klar, er hatte nicht immer seine Finger bei sich lassen können. Besonders wenn er betrunken war. Aber dieser Vorwurf schien für ihn weit hergeholt zu sein. Er hatte das Gefühl, dass er irgendwas übersah. Das er irgendein Ereignis verdrängt hatte. Manchmal hatte er ja auch nach einem Trinkgelage einen Filmriss gehabt. Doch so die Kontrolle zu verlieren, etwas derart Widerwärtiges getan zu haben, das konnte er sich einfach nicht vorstellen.

»Du wirst brennen«, knurrte die Stimme.

»Ja, ja. Ist klar. Schon kapiert. Bist ja auch ein ganz Mutiger. Kannst mir das ja nicht mal ins Gesicht sagen.«

»Wir werden uns bald sehen. Ich werde dich besuchen kommen. Du wirst genauso wie das arme Mädchen leiden. Ich werde dich verbrennen und schänden.«

Frank lachte auf. »Ach so … ja ... das klingt ja aufregend. Genau in der Reihenfolge?«

»Du solltest nicht lachen. Ich habe schon mal jemanden getötet.«

Nun bekam Frank etwas Angst. Der Mann schien das ehrlich gemeint zu haben.

»Was meinst du damit?«, erkundigte er sich mit dünner Stimme.

»Der Herr liebt alle, die ihn lieben. Dich liebt er nicht.« »Hör mal gut zu. Ich ...«

Frank wurde von einem röhrenden Geräusch unterbrochen. Es klang wie ein tierischer Aufschrei. Frank fragte sich ob der Mann erfolgreich einen Bären imitiert oder ihm tatsächlich gerade ins Ohr gerülpst hat.

»Jetzt ist aber gut. Jetzt hör mal ...«

Doch dann registrierte Frank, dass der Mann aufgelegt hatte.

Danach bemerkte er, dass auch Lisa wohl zur selben Zeit versucht hat, ihn zu erreichen. Frank war nicht nur von dem Anruf des Unbekannten verstört. Schockiert bemerkte er die Erleichterung darüber, dass der Fremde seine

Verlobte aus der Leitung geschmissen hatte. Er dachte ernsthaft über die Zukunft ihrer Beziehung nach, während er sich ein weiteres Stück der abgelaufenen Pastete in den Mund steckte.

2

15 Jahre vorher29.April 2003

Die Sonne war dabei unterzugehen und färbte den Himmel rosa. Es war sehr warm, aber ein kühler Wind ließ nicht zu, dass mir zu warm wurde.

Pauline und ich hatten Gras gepflückt und ein paar Pferde durch den Zaun gefüttert. Anschließend gingen wir eine ganze Weile über einen Feldweg spazieren und ließen uns nun auf einer Wiese unter einer Eiche nieder.

Der Schatten ihrer großen Krone sorgte für noch mehr Kühlung. Ich betrachtete meine Freundin. Mir fiel auf, wie ähnlich wir uns sahen. Von wegen Gegensätze ziehen sich an. Wir beide haben mandelförmige blaue Augen.

Nur ihr Gesicht war um einiges runder als meins, welches eher herzförmig war. Sie hatte fast schon die Kopfform eines Apfels. Ich liebe es, wenn sie verlegen ist. Wenn ihre runden Bäckchen rot wurden. Deswegen ärgerte ich sie auch manchmal ganz gerne. Dann stellte sich die Färbung schnell ein. Aber noch mehr liebe ich ihr Lächeln und ihre schönen Grübchen. Nur davon war gerade keine Spur mehr da. Eine Furche lag auf Paulines Stirn. Ich betrachtete sie weiter. Meine Freundin schien wieder über irgendwas zu grübeln. Es lag wie eine dunkle Wolke über uns. Die unbekümmerte Fröhlichkeit, die sie noch bei den Pferden gehabt hatte, war verschwunden. Aber vielleicht zog mich gerade das an. Genauso wie ihre blühende Lebensfreude mein Herz verzauberte, war es vielleicht auch diese geheimnisvolle Aura an ihr, die mich anzog. Sie strahlte auch etwas Düsteres aus. Eine tiefe Sehnsucht zog mich wie ein Magnet zu Pauline, etwas anderes in mir warnte mich vor ihr. Wie eine Vorahnung, dass diese ganze Geschichte nicht gut ausgehen würde. Ich spürte, dass sie ein dunkles Geheimnis mit sich trug, und wusste selbst nicht, ob ich es überhaupt wissen wollte.

Nicht, dass es mich nicht interessieren würde. Aber konnte ich es überhaupt ertragen? Ich hielt das Schweigen nicht mehr aus.

»Alles gut?«

»Ja, ja«, sagte sie in Gedanken.

»Bist du sicher? Irgendwas ist doch los.« Keine Antwort.

»Hast du heute Abend schon was vor?«, fragte ich dann.

»Ich muss meiner Mutter helfen.«

»Ich brauch auch deine Hilfe. Wir schreiben in zwei Tagen diese Klausur in Englisch und ich habe wirklich gar keinen Plan. Ich stehe sowieso schon auf der Kippe.«

Pauline seufzte. »Ach Gerald. Das sind wir doch schon letztens durchgegangen.«

»Ja, ich weiß. Ich ... ich kriege es einfach nicht in meinen Schädel. Die Grammatik und so«, stöhnte ich. Ich brauchte tatsächlich Hilfe. Aber ich wollte auch einfach, dass sie bei mir war. Sie sagte nichts.

»Ja, ich verstehe. Ist schon klar«, sagte ich resigniert.

»Vielleicht bin ich auch einfach nur dumm.«

»Nein das bist du nicht. Warum sagst du denn so was?«,

Pauline sah mich streng an. Unter dem Baum wurde es noch kühler. »Ist es Ok, wenn wir es morgen Nachmittag durchgehen?«, fragte sie dann. »Ich denke, dann wirst du auch noch genug vorbereitet sein. Ich glaube, du stresst dich einfach zu sehr.«

Auf den Unterarmen von Pauline bildete sich eine Gänsehaut. Ich strich sanft darüber.

»Du hast große Hände«, sagte Pauline.

»Ach ja?«

»Ja. Vielleicht bist du noch in der Wachstumsphase?«

»Das glaube ich eher nicht.« Ich legte meinen Arm um ihre Schultern.

»Das war nicht böse gemeint«, sagte Pauline. »Ich mag deine Hände, auch wenn sie im Vergleich zum Rest von dir riesig sind.«

Etwas pikiert nahm ich meine Hand wieder weg.

»Ist das so?«

»Jetzt sei bitte nicht sauer.«

»Ich bin nicht sauer«, sagte ich und studierte die weiten Felder vor uns. Dann sah ich zum Himmel. Mir gefiel das Farbenspiel. »Schöne Aussicht.«

»Gerald?«

»Ja.«

»Glaubst du an die Hölle?«, fragte mich Pauline plötzlich.

Ich fing laut an zu lachen. »Willst du mich verarschen?

»Hör auf so dumm zu lachen! Das ist nicht witzig!«, rief sie wütend.

Mein Lachen ebbte ab. So erlebte ich sie selten. Ich wurde ernst.

»Kommt drauf an, welche Hölle du meinst.«

»Ich glaube nicht, dass es mehrere gibt.« Sie schmiegte ihren Kopf an meine Schulter.

»Na ja, ich denke, jeder lebt doch auch so in seiner eigenen Hölle. Sagen wir mal mehr oder weniger.« Ich pflückte ihr einen Grashalm aus dem Haar.

»Hast du eine eigene Hölle?« Sie zupfte Gras vom Boden und warf es in die Luft.

Ich fragte mich, ob sie wollte, dass ich ihr weiterhin Halme aus den Haaren zog.

»Manchmal bestimmt. Aber das ist nicht die Regel. Ich glaube allerdings, dass manche Menschen quasi die ganze Zeit in der Hölle leben. Na ja, jeder andere Moment ist dann für sie vielleicht viel schöner als für uns. Weil wir es selbstverständlich nehmen.«

»Ach ja?«

»Ja, wenn du die Nachrichten schaust und die ganzen Kriege siehst oder Hungersnöte. Oder irgendwelche Leute mit Krankheiten oder so.«

»Da ist wohl was dran. Ja, ich meine aber nicht diese Hölle.« Sie riss nun ganze Wurzeln heraus.

»Du glaubst doch nicht wirklich jetzt ans ewige Fegefeuer, oder?« Es entstand eine Pause, dann nickte sie.

»Ernsthaft jetzt?« Ich sah sie an. Pauline konzentrierte sich hingegen weiter auf das Gras unter ihr.

»Mir erzählen sie dauernd etwas davon. Sie kontrollieren mich die ganze Zeit.«

Ich ahnte, von wem sie sprach. Ich stellte keine Fragen mehr. In solchen Momenten war es das Beste zuzuhören und sie weiter reden zu lassen.

»In ihren Augen kann ich gar nicht mehr aufhören zu brennen. Ich mache alles falsch. Meine Gedanken sind Gift. Alles, was ich tue, ist schlecht. Ich kann machen, was ich will.«

»Ich schätze mal, dass dein Vater dir diesen Bullshit erzählt«, vermutete ich. Sie nickte verhalten.

»Ich möchte deine Eltern echt mal kennenlernen.«

»Das ist jetzt wirklich kein guter Zeitpunkt, Gerald«, sagte sie etwas säuerlich.

Ich startete einen neuen Versuch, sie aus ihren düsteren Gedanken zu befreien.

»Warum denn nicht. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Ich bring auch ein Geschenk mit«, schlug ich vor.

Pauline verdrehte die Augen. »Hör mal auf jetzt.«

»Ich schenke ihm eine Peitsche, dann kann er sich selbst damit kasteien. Wird sich bestimmt freuen.«

Pauline lachte endlich wieder. Doch es klang bitter. »Kasteien. Da hast du wohl ein neues Wort gelernt, was? Ne, lass mal. Sich selbst wird der bestimmt nicht damit schlagen. Er macht ja keine Fehler. Dafür bin ich zuständig.« »Du machst gar nichts falsch, Pauline. Du bist einer der liebsten Menschen, der mir je begegnet ist. Du bist cool, voll lieb, fleißig und hilfsbereit. Was ist daran bitte falsch? Du tust mir gut. Du tust jedem gut. Bei dir ist es so, ich weiß nicht, aber ... Du bringst den Leuten Glück, glaube ich. Du machst sie glücklich. Du hellst ihr Leben auf. Du hellst mein Leben auf. Ich habe dich bis jetzt noch nie wirklich gemein erlebt. Und selbst wenn, wäre das nur menschlich. Das sind wir ja alle mal. Wir haben auch alle mal giftige Gedanken. Ich ...« Ich wollte ihr sagen, dass ich sie liebe. Aber obwohl es so war, entschied

ich mich dagegen. Warum, wusste ich selbst nicht und ärgerte mich darüber.

»Danke. Leider sehen das nicht alle so.«

»Du meinst deine Eltern oder was?«

»Ja. Besonders mein Vater nicht. Für den bin ich das ganze Gegenteil von dem, was du erzählt hast.«

»Na ja. Er hat vielleicht Angst, dass du auf den dunklen Pfad wechselst oder was weiß ich denn«, sagte ich. »Sorry, dass ich das so sage. Aber was seinen Glauben angeht, ist er, wenn ich mir das Ganze so anhöre, wohl etwas hängen geblieben.«

»Was ist, wenn er recht hat?«

»Dann sind wir wohl alle am Arsch. Aber ich denke nicht, dass er recht hat.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein.« Jetzt sah sie mich an. Fast schon herausfordernd.

»Was weiß ich denn, Pauline. Wie soll ich mir da sicher sein. Ich kann mir das halt nicht vorstellen.«

»Du bist ja auch nicht gerade gläubig, würde ich mal behaupten.«

»Wie kommst du darauf? Nur weil ich nicht an einen strafenden Gott glaube und nicht alles wörtlich nehme, was in der Bibel steht? Wir sind doch alle mit unseren Lastern erschaffen worden. Warum sollte man uns dafür auch noch bestrafen?«

Sie nickte und schien etwas beruhigter zu sein. »Wie auch immer. Ob du recht hast oder nicht. So redet kein dummer Mensch, Gerald. Also sag nicht noch mal, dass du dumm bist. Lass uns weitergehen.«

Wir gingen weiter über den Feldweg. Ein paar Bäume und ein Wall trennten den Weg von den Feldern. Dann kamen wir an einer Kuhweide vorbei. Die Kühe betrachteten uns scheinbar gelangweilt. Ich zog ein paar Grimassen und hampelte vor ihnen herum, um sie aufzuscheuchen. Als das nicht klappte, versuchte ich eine Kuh zu imitieren. Keins von den Tieren reagierte.

»Du bist manchmal noch ein richtiges Kind, echt«, sagte Pauline kopfschüttelnd.

Ich reagierte nicht darauf und kickte gedankenverloren einen Stein weg. »Ich glaube schon an was«, sagte ich.

»Ich denke, was die Menschen draus machen ist eher das Problem. Die missionieren andere, obwohl die es gar nicht wollen. Sie führen Kriege und behaupten, es wäre im Namen Gottes. Sie stellen sich über andere und tun so, als wären sie fehlerfrei. Oder sie verüben terroristische Anschläge. Ob nun die Bibel, der Koran oder sonst was. Die Leute sollten das nicht alles so wörtlich nehmen, sondern eher zwischen den Zeilen lesen.«

»Du lässt ja nicht so viel Gutes an den Religionen.«

»Doch. Es kommen ja auch gute Sachen dabei rum. Viele helfen auch anderen. Kümmern sich um die Armen oder bilden eine Gemeinschaft. Einige machen das ja auch sehr gut. Kann man eigentlich über fast jede Religion sagen.«

»Mensch Gerald, du klingst so erwachsen«, sagte Pauline nun um einiges fröhlicher. »Das kennt man ja sonst gar nicht.«

»Tja, du musst mich halt erst mal richtig kennenlernen«, scherzte ich. Plötzlich verfing ich mich mit meinem Fuß in einer Vertiefung und knickte um. Ich wedelte mit den Armen nach Halt, griff einen Strauch. Doch ich rutschte ab und fiel der Länge nach hin. Ich fluchte.

»Alles Okay?«, fragte Pauline sorgenvoll und reichte mir die Hand. Ich nahm sie und Pauline zog mich mit erstaunlicher

Kraft und Geschwindigkeit hoch. Ein stechender Schmerz fuhr durch meinen Fußknöchel.

»Mist!«, schimpfte ich.

Plötzlich brach Pauline in tränendes Lachen aus.

»Falsch. Scheiße!«, lachte sie und mir wurde bewusst, dass ich beim Aufstehen in einen riesigen Haufen Hundekot getreten war. »Warum lassen die Penner denn all ihre Hunde hier hinscheißen?«, schimpfte ich.

»Hallo! Das ist ein Feldweg«, sagte Pauline immer noch lachend. Aber mir gefiel es. Ich liebte ihr Lachen, das war mir lieber als ihre düsteren Gedanken. Da würde ich sogar durch ein ganzes Meer aus Hundekot waten, wenn es sie glücklich machte.

Trotzdem traf mich jetzt auch ein beunruhigender Gedanke. Ich war genau nach dem Gespräch gestürzt, hatte mir dabei wohl den Fuß verstaucht und war auch noch in Hundekacke getreten. Vielleicht war das ein Zeichen?

Vielleicht habe ich etwas Falsches gesagt? Vielleicht war das eine Warnung oder eine Bestrafung?

Ihr ganzes Gerede färbt schon auf mich ab, dachte ich und verdrängte den Gedanken. Ich nahm ihre Hand, die wie immer warm war. Unsere Finger verflochten sich ineinander. Jetzt lächelte sie mich an. Dieses Lächeln, in dem so viel drin lag. So viel Lebensfreude und Liebe.

Mein Herz machte einen Sprung.

»Ich ... Äh ... muss dir was sagen«, begann sie und drückte meine Hand, dass es mir schon fast wehtat.

»Ja?«, fragte ich.

»Ich liebe dich«, sagte sie dann.

»Ich liebe dich auch«, sagte ich. Mist, jetzt hat sie es zuerst gesagt, dachte ich dann.

»Und da wäre noch was. Ich bin ..«, begann Pauline, doch plötzlich fuhr ihre Hand zurück, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen.

An einer Buche vor uns lehnte lässig ein Mann und beobachtete uns. Ich schätzte ihn auf Ende dreißig. Er war groß und hager und trug einen Hut. »Hallöchen«, sagte er grinsend und stieß sich vom Baum ab.

»Hallo Korben«, sagte Pauline und ihre Augen leuchteten eigenartig.

Das gefiel mir nicht. Auch das schiefe Lächeln, das Korben ihr zuwarf, gefiel mir gar nicht.

»Feiern wir eine kleine Party?«, fragte der Mann.

»Wir gehen spazieren«, antwortete Pauline.

Der Mann starrte auf meinen Fuß. »Ich habe dich hinken sehen. Ist alles in Ordnung?«

Ich schnaufte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bin umgeknickt. Es ist halb so wild.«

»Hast du schon überprüft, ob der Fuß geschwollen ist?«

»Ne, ne. Alles gut. Hab ihn wohl ein bisschen überdehnt.«

»Nicht, dass wir einen Arzt rufen müssen«, rief Korben.

Ich war mir sicher, einen spöttischen Unterton heraus gehört zu haben.

Ich winkte ab. »Alles cool.«

»Cool«, wiederholte Korben und deutete auf ein Waldstück hinter ihm. »Da drüben gibt es einen Hof. Dort gibt es Apfelbäume. Die schmecken köstlich. Sehr süß. Habt ihr schon einen gepflückt?«

Pauline und ich schüttelten synchron den Kopf.

»Ist es nicht schön hier draußen. Herrlich. Wie Pauline ja weiß, bin ich hier eine Zeit lang aufgewachsen, bevor meine Eltern mit mir wieder nach Amerika gezogen sind«, sagte der Mann und ich bemerkte einen dezenten Akzent, den ich auch als amerikanisch einstufte. Auch sein Name kam mir irgendwie bekannt vor.

»Ja, wir waren spazieren. Das Wetter genießen«, schwärmte Pauline.

»So, so. Das Wetter genießen«, wiederholte Korben und das schräge Grinsen unter seiner Adlernase wurde breiter.

Paulines Bäckchen nahmen einen rötlichen Farbton an. Nun sah sie für mich wieder wie ein süßer Apfel aus.

»Ja, ist schon cool hier draußen. Da hängt man gerne ab, nicht wahr.«

Er zwinkerte mir zu. Dann trat er auf mich zu und streckte die Hand aus. »Ich bin Korben. Korben Applegate. Wie heißt du?«.

»Gerald.« Wir schüttelten die Hände. Es fühlte sich an, als hätte ich einen Aal gefangen.

»Freut mich. Freut mich sehr. Der Sommer kommt endlich wieder. Pauline, bist du dieses Jahr auch wieder mit dabei?«, fragte Korben meine Freundin und musterte sie eindringlich von oben bis unten. Dabei stand er immer noch sehr dicht vor mir.

»Ja, ich freue mich schon riesig«, rief sie.

»Wo ist sie denn dabei?«, fragte ich, denn ich wollte nicht außen vor bleiben. Außerdem war ich eifersüchtig auf diesen Mann. Obwohl er eigentlich für Pauline viel zu alt sein sollte. Meiner Meinung nach.

»Es ist ein Freizeitcamp«, antwortete Korben. »Wir zelten, grillen und sitzen am Lagerfeuer. Führen Gespräche übers Leben und so. Coole Sachen halt. Wir machen aber auch Konzerte. Sehr coole Bands. Sehr coole Leute. Da wird was los sein. Kannst gerne mitkommen, wenn du willst.«

Ich fragte mich, warum Korben so oft das Wort Cool einbauen musste. Das klang aus seinem Mund etwas merkwürdig, aber ich war nicht abgeneigt. Auch wenn mich das Gefühl beschlich, dass Korben irgendwas im Schilde führte. Der Mann hatte so ein merkwürdig verkniffenes Lächeln. Fast schon verbissen.

Er erinnerte mich an eine bestimmte Art von Greifvogel mit seinen buschigen Augenbrauen und der schnabelähnlichen Nase. Jedoch gehörte Korben eindeutig zu den Menschen, die etwas ausstrahlten. Er schien mit seiner Präsenz überall in der Luft zu sein. Im Guten wie im Schlechten. Ich kannte solche Menschen. Sie konnten irgendetwas daher reden, ganz egal welcher Inhalt, und die Leute hingen an ihren Lippen. Das machte sie so faszinierend und gleichzeitig so gefährlich. Und was er sagte, hörte sich alles gar nicht so übel an. Jetzt wusste ich auch wieder, woher ich den Namen kannte. Herr Eber, der Pastor dieser Gemeinde, hatte ihn in den Mund genommen. Nicht gerade im freundlichen Sinne. Er hatte ihn als PR Prediger bezeichnet, der nun auch in Brandenburg wütete, um seinen Schäfchen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Korben war eine führende Persönlichkeit einer freikirchlichen Bewegung. Ich wusste den Namen der Gemeinde nicht mehr. Alles wäre bei ihm wie ein riesiger Werbespot, hatte Herr Eber geschimpft. Zudem bezeichnete er Korbens Anhänger als eine Art Sekte, die nur aus radikalen Evangelikalen und extremen Spinnern bestehen würde. Damals fragte ich mich noch, ob der Pastor vielleicht etwas neidisch auf seinen Konkurrenten gewesen war. Ich mochte Herrn Eber, bei dem ich konfirmiert worden war. Er war ein milder Pastor, der über niemanden urteilte, ohne sich auch selber dabei zu reflektieren. Im Konfirmandenunterricht hatte er gerne mit einem Augenzwinkern einen Schwank aus seiner Jugend zum besten gegeben, was oft sehr unterhaltsam gewesen war. Ein generell sehr toleranter und auch humorvoller Prediger war Herr Eber. Allerdings war er auch etwas lahm und kopflastig in seiner Rhetorik. Fast schon einschläfernd in seinen Predigten. Dieser Mann hier, auch wenn ich ihn etwas seltsam fand, schien hingegen Pep zu haben und ich mochte Zeltlager, Konzerte und Lagerfeuer.

»Wir wollten doch mal gemeinsam zelten gehen«, sagte ich zu Pauline.

Auf einmal zog Korben eine gequälte Miene. »Sorry, Kumpel. Aber bei uns zelten Mädchen und Jungen natürlich getrennt.«

»Okay«, sagte ich gedehnt.

Was soll das denn bitte? Ich dachte, ich hätte mich verhört. Na ja, dann musste ich mich halt irgendwie in ihr Zelt schleichen.

Korben schien meine Gedanken gelesen zu haben. »Ja, ich weiß. Ich war ja auch mal jung und wollte die ganzen süßen Äpfel pflücken. Die Gelegenheiten sind so verlockend. All die süßen Versuchungen. Die Mädchen und die Knaben.«.

Ein Speicheltropfen traf meine Stirn. Aber mich störte weniger Korbens feuchte Aussprache, als die Art wie er sprach. Auf einmal mutierte er von cool zu jemandem aus dem Mittelalter. Die Blicke die Korben dabei über

uns beide warf, gefielen mir auch nicht. Wie Briefmarken, die geleckt werden sollten.

»Und die verlockenden Einfahrten, die wir überall sehen«, sagte Korben und schmatzte. Dabei ließ er wieder den Blick über Paulines Körper schweifen. Ich dachte, ich höre und sehe nicht richtig. »Aber das sind alles Einbahnstraßen«, fuhr Korben seinen Monolog mit weicher Stimme fort. Sein Ton war dabei so süßlich, dass ich das Gefühl bekam, jemand würde mir den Kragen hochziehen und kalte Bratensoße über meinen Nacken kippen. »Und irgendwann ist es zum Wenden zu spät. Dann geht es nur noch abwärts.« Korben schmatzte wieder.

Ich spürte die Soße meinen Rücken herunterlaufen.

»Wir werden uns schon benehmen. Keine Sorge«, versuchte ich ruhig zu sagen.

Doch der Mann ignorierte mich einfach und wandte sich direkt an meine Freundin.

»Oh Pauline. Du wirst uns doch nicht schon wieder Ärger machen?«

Sie zuckte zusammen und studierte ausgiebig den Feldweg unter ihren Füßen.

»Pauline ist ein herzensguter Mensch und sie macht keinen Ärger«, sagte ich.

»Na ja. Ich würde mal behaupten, dass ich etwas mehr Lebenserfahrung habe als du, mein junger Freund.« Korben lächelte dünn. »Aber es ist noch nicht zu spät. Der Herr liebt alle, die ihn lieben!«, donnerte der Amerikaner auf einmal laut, als würde er auf einer großen Bühne im Scheinwerferlicht stehen. »Kommt einfach bei mir vorbei. Dann können wir über alles reden«, bot Korben uns an und benetzte mit der Zunge seine Lippen.

Damit du ihr weiter so einen Mist einreden kannst, du mieses Arschloch, dachte ich und spielte mit dem Gedanken dem Prediger einen gelben Klumpen vor die Füße zu rotzen. »Wir danken für die Einladung und denken darüber nach«, sagte ich stattdessen Pauline zu Liebe, die scheinbar zu diesem Mann aufsah. Warum auch immer. Doch dieser gab sich damit nicht zufrieden. »Denken, denken, denken!«, versuchte er mich nachzuäffen. »Für das Denken ist es zu spät. Ihr müsst handeln!« Jetzt sah ihn auch Pauline trotzig an. »Ich habe alles gemacht, was ihr von mir wolltet. Ich habe alles ertragen und ich habe niemandem etwas getan!«, rief sie.

»Oh, das arme Mädchen!«, sagte Korben wieder mit bebender Stimme. »Bist du jetzt hier das Opfer, oder was? Wenn du meinst. Wenn du das unbedingt glauben willst. Rede dir ruhig weiter alles schön. Mach es dir bequem. Alles eine Party, oder? Warum an die Zukunft denken? Deine Eltern leiden jedenfalls jetzt schon unter dir. Dein Vater schämt sich für dich. Ich weiß wirklich nicht, ob er dich noch lieben kann.«

Das traf wie Faustschlag. Pauline fiel zusammen wie ein schlecht gebackener Kuchen. Sie blinzelte eine Träne weg. In mir hingegen stieg der Hass auf. »Warum tun Sie ihr das an? Ist das etwa christlich einem Kind einzureden, dass es in die Hölle kommt? Ihm zu sagen, dass ihre Eltern sie nicht lieben? Pauline ist ein viel besserer Mensch als Sie!«, schrie ich. Ich musste tatsächlich schreien, denn der Mann brach in ein grelles Gelächter aus. »Sie haben doch bestimmt viel mehr verbrochen! Sie benutzen doch nur Ihre Religion, um sich über andere zu erheben und sich an Ihrer Macht aufzugeilen! Sie sind ein Heuchler!« Ich war redlich bemüht, das Lachen des Mannes zu übertönen, aber ich war mir sicher, dass meine Nachricht angekommen war. Jedenfalls hatte Korben vor Lachen schon Tränen in den Augen.

»Du dummer Bengel. Du bist ja noch jünger als sie und willst mir was übers Leben erzählen?«, sagte er und schmunzelte.

Ich fragte mich, woher Korben das mit dem Alter wusste. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die warnende Stimme in meinem Kopf schlug wieder Alarm.

Korben lächelte stolz und reckte die Brust. »Ich habe meinen Frieden mit mir und Gott gemacht. Ich bin mit mir im Reinen. Es hat alles seine Konsequenzen. Im Guten, wie im Schlechten. Aber ich glaube, sie hat ihre Entscheidung schon getroffen. Nicht wahr, Pauline?« Der Mann schmatzte wieder.

Für mich war das wie ein dunkles Märchen. Wir waren auf den Wolf getroffen. Je mehr ich ihn beschimpfte und gegen ihn ankämpfte, desto mehr grub er seine Klauen und Zähne in Pauline und zerfetzte ihren Geist und ihre Seele. Die Lebensfreude, die sie oft ausstrahlte, wenn sie mal keine düsteren Gedanken hatte, war wieder wie weggeblasen. Ich konnte alles sagen. Der Mann beachtete mich kaum, lachte höchstens und ließ alles an ihr ab.

»Ich will doch niemanden wehtun. Ich gebe mir doch Mühe«, sagte sie mit Tränen erstickter Stimme.

»Hört, hört!«, rief Korben und seine Stimme zitterte.

»Pauline gibt sich also Mühe! Das ist ja sehr nett von dir, Pauline! Dann ist ja alles in Ordnung! Das ist mal wieder typisch! Unsere Pauline. Arrogant, hochmütig und undankbar.«

»Was willst du von mir?«, fragte sie mit dünner Stimme und schniefte.

»Hör nicht auf ihn! Das ist alles Gift! Du darfst ihn nicht Ernst nehmen. Du bist wunderbar. Ein viel besserer Mensch als er! Lass dir nichts von ihm einreden!«, schrie ich nun Pauline an.

Korben überging mich und setzte mit einem wissenden Lächeln die Zerstörung meiner Freundin fort.

»Vielleicht solltest du endlich damit anfangen, dich mal nicht wie eine Hure zu benehmen«, riet er ihr und sah sie mitleidig an.

Ich wollte aufschreien, doch Pauline kam mir zuvor. Der Trotz war wieder in ihren Augen. »Pass auf, was du sagst! Das stimmt nicht! Ich benehme mich nicht so!«, schrie sie.

»Na ja, wenn du meinst«, sagte Korben plötzlich mit sanfter Stimme. »Denk doch mal an deine Eltern. Sie leiden wegen dir. Deine Mutter ist schon krank. Sieh, wie sie abgenommen hat. Sie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.«

Das war für mich neu. Aber jetzt machte es durchaus Sinn. Ich muss meiner Mutter helfen. Und ich war ihr mit meinen Englisch Hausaufgaben gekommen. Ich betete zu Gott, dass es nichts Ernstes war.

»Dann solltet ihr sie mal endlich zum Arzt schicken!«, rief Pauline wütend.

»Zum Arzt!«, Korben lachte, als hätte sie einen besonders guten Witz gerissen. »Sie braucht keinen Arzt. Sie braucht Vergebung und das du ihr eine gute Tochter bist.«

Ich verstand nicht, wovon der Mann redete und was sein Problem war. Wieso hackte er so auf Pauline herum? Wofür bräuchte ihre Mutter Vergebung? Was war hier überhaupt los?

»Ich bin eine gute Tochter!«, schrie Pauline und rannte weg. Die Schultern hochgezogen. Einmal stolperte sie, fiel aber nicht hin. Ich wollte ihr gerade hinterherlaufen.

Doch Korbens nächste Bemerkung brachte mich vollkommen aus der Fassung. »Ja, lauf nur. Lauf weg, wie immer! Lauf dem Feuer entgegen! Es leuchtet schon für dich! Du bist eine Enttäuschung für deinen Vater! Du brichst ihm das Herz!«, brüllte er ihr hinterher.

»Hören Sie endlich auf!«, fuhr ich ihn an.

Doch Korben hatte gerade erst angefangen. »Für so was habe ich eine Rippe geopfert«, murmelte er und starrte mit einer angeekelten Grimasse der weglaufenden Pauline nach.

»Halt die Fresse!«, knurrte ich. Ich war mittlerweile auch bereit, meine Freundin mit Gewalt zu verteidigen.

Doch Korben ignorierte mich weiter. Sein Blick auf Pauline hatte sich wieder verändert.

Jetzt starrte er ihr wieder mit dem eindringlichen Blick nach, der mir absolut missfiel. Besonders worauf er bei ihr starrte. »Da stolziert sie davon und wie sie auch jetzt noch frivol mit ihrem Hintern wackelt!«, rief er mir laut zu, als wäre ich auf einmal sein Verbündeter. »So kokett! So falsch! Wie eine billige Nutte!«, schrie Korben weiter, dass es Pauline auf jeden Fall noch hören musste, wenn nicht gleich das ganze Dorf.

Ich hatte genug gehört und stürzte mich auf ihn. »Du Wichser!«

Doch Korben wich mir aus und trat gegen meinen verletzten Fuß. Der stechende Schmerz explodierte in meinem Knöchel. Ich stürzte brüllend zu Boden.