Hubsi Dax - Benedikt Feiten - E-Book

Hubsi Dax E-Book

Benedikt Feiten

4,8

Beschreibung

Der Gitarrenlehrer Mark lebt mit seiner Frau Ida und der gemeinsamen Tochter Maja ein harmonisches Leben in einem Flow zufriedener Ambitions­losigkeit. Als aber das Haus, in dem er lebt, Luxuswohnungen weichen soll, wächst Trotz in ihm. Um die wenigen verblie­benen umzugsunwilligen Mieter zu vertreiben, denkt sich der Eigentümer immer neue Schikanen aus. Mark entschließt sich, den hausinternen Widerstandsgeist zu wecken und dem Vermieter entgegenzutreten. Der legendäre Hubsi Dax muss helfen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 256

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2016

© by Verlag Voland & Quist GmbH

Korrektorat: Annegret Schenkel

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

E-Book: eScriptum, Berlin

ISBN: 978-3-86391-164-5

www.voland-quist.de

Benedikt Feiten wurde 1982 in Berlin geboren und lebt in München. Er ist mit dem Literaturstipendium der Stadt München ausgezeichnet worden. Nach dem Studium der Amerikanischen Literatur hat er seine Doktorarbeit über Musik in den Filmen von Jim Jarmusch geschrieben und an der Ludwig-Maximilians-Universität unterrichtet. Neben seiner Arbeit als Kulturjournalist und Redakteur ist er Trompeter und Cellist bei der Band »my boys don’t cry«.

Inhalt

123456789101112131415161718192021222324252627Epilog

1

Schon seit drei Stationen erreicht er immer genau dann die Haltestelle, wenn der Bus wieder losfährt. Aber er hat Kampfgeist. Mit hochrotem Kopf rennt er neben dem Bus her. Und das bei der Hitze. Sogar hier im Bus ist es warm, obwohl die Klimaanlage trockene Plastikluft durchbläst und meine Kehle ausdörrt. Ich ziehe an meinem T-Shirt und fächere ein bisschen Luft darunter. Im Spiegel vorne sehe ich das Gesicht des Busfahrers. Riesige, silbern verblendete Sonnenbrille, doppelt gespiegelt die Straße. Mein Blick wandert zwischen ihm und dem Typen draußen hin und her. Die Augen des Busfahrers sind starr geradeaus gerichtet, na ja, soweit man das hinter der Brille beurteilen kann. Zumindest ist die Richtung fixiert, der Nacken unbewegt. Er scheint den Kerl gar nicht wahrzunehmen. Der holt noch mal alles aus sich raus. Verbissener Sprint, tief aus den Knien, bestimmt ein Sportler, Nackenmuskeln kontrahiert, Sehnen treten hervor, mit jedem Schritt eine ruckartige Kopfbewegung. Er findet in seinem letzten Aufbäumen sogar noch die Luft dafür, drohend mit den Fäusten herumzuwedeln, bevor seine Schritte austrudeln und er völlig außer Atem die Hände auf die Knie stützt. Für einen kurzen Moment glaube ich, einen flüchtigen Ausdruck der Zufriedenheit in den Mundwinkeln unter der verspiegelten Sonnenbrille zu erkennen. Dreckstag. Ich bin froh, im Bus zu stehen, auf der richtigen Seite, bei dem Typen mit der Sonnenbrille. Der hat die Kontrolle, Daumen hoch, oder eben runter. Neben ihm steht ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen, schwanger. Moment mal, die dicke Mutter neben ihr, der kleine Bruder auch schon mit leichtem Bauchansatz … sie ist gar nicht schwanger, das ist eine normale Entwicklungsstufe, ganz im Rahmen des Familienwachstums. Kolumbusplatz. Ich stehe auf. Der Bus hält abrupt, und ich rutsche mit der verschwitzten Hand fast von der Stange ab.

»Schaug d’an o«, sagt hinter mir ein Sandler zu seinem Saufkumpan, »wo d’Hosn hängt.«

Der andere grinst:

»Hat er d’Hosn voll, ha?«

Sie lachen und prosten sich zu, mit ihren Oettingerflaschen. Ein Komikerduo, eingespielt, geben sich Vorlage, Pointe und auch gleich Applaus, alles im abgeschlossenen Kreis reguliert, selbstgenügend. Und sie nerven mich, nicht wegen des Kommentars, sondern wegen der Ironie. Wegen der Ironie, dass ich wirklich, wirklich dringend aufs Klo muss, und der Witz ist ganz klar zu einfach gestrickt, als dass ich über mich selbst darin lachen könnte. Die Türen gehen auf. Draußen ist es noch viel heißer als im Bus, die Hosenbeine kleben sofort an den Oberschenkeln. Der Bürgersteig ist aufgeheizt, die Außenmauern auch, schwere Haustür aus Holz aufsperren, rein in den modrigen kühlen Flur, dunkel ist es hier drinnen. An den Briefkästen stoße ich fast mit einem der Punker zusammen. Seit Neuestem hausen sie in den schon leer stehenden Wohnungen oder hängen dort rum, leben, wie auch immer.

»Oh, Verzeihung«, sagt er übertrieben höflich, oder vielleicht auch nur höflich, je nachdem, ob er es ironisch gemeint hat.

»Macht nichts.«

Wusste vorher gar nicht, dass es die überhaupt noch gibt, Punker, sieht man ja fast nie in München. Vielleicht sind es ja auch keine Punks, sondern Anarcho-Punks, Pop-Punks oder Post-Punks. Aber der hier wirkt recht klassisch, Prachtexemplar, T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln, Sicherheitsnadel im Ohr. Der Fahrstuhl ist kaputt, ich weiß nicht, wie lange schon, gehe die Treppe hoch. Vier Stockwerke alter, schiefer Giesinger Holztreppenstufen, jede ein anderes Knarzen, wie die Klaviatur eines riesigen abgewetzten Xylophons. Eine fremde Skala, nicht in Halbtonschritten organisiert, sondern nach irgendeinem vergessenen System. Mein Gehör ist nicht gut genug ausgebildet, um es zu verstehen. Oben, am Ende der Tonleiter, ein komischer Kerl. Lungert vor meiner Tür rum. Halt, Richtigstellung, er lungert nicht rum, er steht aufrecht da, perfekte Körperspannung, wie ein Statist im Wirbelsäulengymnastik-Video. Vielleicht macht das der Anzug, für den es eigentlich zu heiß ist. Der Typ grinst mich an.

»Da hab ich aber Glück gehabt«, sagt er. Etwas in seiner Stimme klingt, als hätte ich selbst dadurch Pech gehabt.

»Hier, für die Dame des Hauses. Feininger mein Name.«

Eine gelbe Blume, keine Ahnung, was für eine, konnte mir so was noch nie merken. Ich nicke.

»Wie Sie sicher wissen …«, setzt er an, sein Scheitel ist gekämmt, und seine Krawatte hat dieselbe Farbe wie die Blume. Perfekt geputzte Schuhe, man könnte sich drin spiegeln, vielleicht sogar neu. Glatt rasiert, Babyface, randlose Brille, heißt bestimmt nichts Gutes, wenn solche Typen auftauchen.

»Also, was sagen Sie?«, sagt er, wie als Abschluss einer längeren Ausführung.

»Tschuldigung. Hab grad nich aufgepasst.«

Aber nicht schlecht auf Zack der Mann, keine Irritation, das Lächeln hilft ihm wie eine gefrorene Brücke von einem Satz zum nächsten. Er rutscht da einfach drüber.

»Die Kandidatur«, wiederholt er geduldig, »für die Stadtratswahl. Da Sie momentan den Kopf nicht freizuhaben scheinen, wer hat das schon, nicht wahr? So viele Dinge, das Leben ist so hektisch heutzutage … jedenfalls würde ich Ihnen gerne diese Broschüre hierlassen, da können Sie mein Wahlprogramm nachlesen. Einen angenehmen Feierabend wünsche ich.«

Ich nicke schon wieder. Einen angenehmen Feierabend wünscht er, ein waschechter Opportunist, Gott sei Dank hat er nicht noch angefangen, Jugendslang mit jemandem zu reden, der Mitte dreißig ist. Ein Typ, der für die Presse quer durch den Darkroom tollen würde, um zu beweisen, dass er nicht homophob ist. Ich sperre die Tür auf und als ich sie hinter mir schließe, ein misstrauischer Blick durch den Spalt, sehe ich noch, dass er bei den Nachbarn klingelt und sich den Kragen zurechtrückt. Jochen und Sabine. Getöpfertes Namensschild an der Tür, da stehen die Chancen besser. Tür fällt zu, die Welt ist draußen, ich drinnen, gut so. Durchatmen. Die Broschüre schmeiße ich in den Papiermüll, ungelesen wie die Zeitungen, die sich darin stapeln.

Irgendwo hatte ich noch ein Bier, ich bin mir sicher. Aber im Kasten sind nur leere Flaschen, und die füllen ihn auch nur zur Hälfte. Was ist mit den anderen Flaschen passiert? Vielleicht hab ich sie mitgenommen und getrunken, auf dem Weg irgendwohin, und dann abgestellt. Genau, und dann haben sie die Pfandsammler genommen, für acht Cent zurückgebracht. Von den Isarauen, aus den Papierkörben der Bushaltestellen, von den Stromkästen, warum stellt man Bierflaschen eigentlich immer auf diesen Stromkästen ab? Wäre mal was für eine Diplomarbeit in Psychologie, ich sollte eine schreiben. Energiezyklen des 21. Jahrhunderts, Sandlertum an urbanen Verteilungsorten. Zu anstrengend. Besser ein voyeuristisches Fotografieprojekt: Trinker an U-Bahnhöfen und leere Flaschen auf Verteilerkästen. Knotenpunkte. Aber vielleicht ist es auch anders. Ein Zurückbringen. Kühlschrank und Stromkasten, wie Anfang und Ende. Mein Freund, der Kühlschrank, hat jedenfalls noch Käsescheiben, ach ja, und saure Gurken. Kann man gut zusammen essen, Gurken in den Käse einrollen, bestens. Und hinter den Gurken, da grüßt er, quer im Kühlschrank, der Augustinermönch. Ich rolle eine Gurke in eine Käsescheibe und mach das Bier auf. So lässt es sich leben. Auf der Kühlschranktür fällt mir die Werbepostkarte für vegetarische Schnitzel ins Auge: »Nächste Woche wird besser.« Wie lang ist das jetzt her, Majas Geburt? Jeden Tag diese Karte vor Augen, jeden Abend der Gedanke, morgen fang ich an zu schreiben, endlich neue Songs, genug Akkordfolgen gesammelt, genug vage Ideen skizziert. Morgen fange ich an zu schreiben. Eine blasse Erinnerung. Aber bald trägt mich ein kreativer Aufwind, ich ahne es, ich kann die Brise schon spüren. Gleich morgen werde ich anfangen, alles zu ordnen, zu strukturieren, zu formulieren, aber erst brauche ich ein neues Notizbuch, ein hochwertiges, mit schwerem Einband, eines, das sich wie ein Neuanfang anfühlt.

Jemand klingelt an der Tür, es ist Jochen. Jochen, mein Nachbar. Wenn es nicht Jochen wäre, dann hätte ich jemanden auf der Treppe hören müssen.

»Hallo Jochen«, sage ich also, während ich die Tür aufmache, noch bevor ich ihn dastehen sehe, in Polohemd und Leinenhose, mit seinem chronisch leicht geröteten Hals.

»Hallo Mark«, sagt er und grinst, »ein Hellseher? Hast du dir gerade was Leckeres in der Küche gezaubert?«

»Was gezaubert«, so redet Jochen. Jochen redet wie ein Vollidiot. Jochen hat aber anscheinend auch irgendwann mal »tolerant« in einen Selbstauskunftsbogen geschrieben, und seitdem kämpft er täglich um die Berechtigung dafür, nach dem Credo: Tolerant ist man nicht, man muss es jeden Tag aufs Neue werden.

»Kleines Feierabendbierchen?«, fragt er mit Blick auf die Flasche in meiner Hand.

»Ach ja, so’n Bierchen zum Feierabend«, sinniert er und fixiert einen Punkt in der Luft, »vielleicht ’nen kleinen Joint … erinnert mich an meine Studentenzeit.«

Mir fällt nichts ein, was ich darauf antworten könnte. Ich versuche, mir Jochen in der soeben entworfenen Situation vorzustellen: Ich schaffe es nicht.

»Aber jetzt, mit Familie … Weißt ja, wie’s ist, nicht wahr?«

»Ja«, lüge ich – ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, wie es ist.

»Ich wollt’ eigentlich nur fragen«, fährt er fort, »hat die Maja vielleicht die Hausaufgaben mitgebracht? Weil, die Jennifer war heut nicht in der Schule. Krank.«

»Tja, weißt du«, sage ich und kratze mich wie zur Unterstützung am Kopf, »Maja ist noch in der Musikschule. Ida holt sie gerade ab.«

Das macht Jochen nervös.

»Wann kommt sie denn heim? Weil, nachher wird’s vielleicht zu spät für die Jennifer.«

»Meinst du, es ist so schlimm, wenn sie mal die Hausaufgaben nicht macht? Ich mein, wenn sie schon krank ist …«

»Klar, klar, keine Frage«, schneidet mir Jochen das Wort ab und grinst sein bestes Unternehmensberaterlächeln, »ich sag ja bloß, wenn sie in einer halben Stunde nach Hause kommt, kannst du sie ja kurz rüberschicken.«

»Klar, mach ich.«

»Bis morgen dann.«

Wieso bis morgen? Egal. Tür zu, Jochen weg, Bier auf, hinsetzen, ausruhen. Ich lege eine Baden-Powell-Platte auf und setze mich so auf das Sofa, dass ich noch die letzten Sonnenstrahlen abkriege. Ausruhen, oder besser: ruhen. Früher, wenn mein Opa schnarchend im Sessel saß, Kopf nach hinten weggeklappt, offener Mund in Richtung Zimmerdecke, hat Oma immer gesagt: »Vati ruht.« Ich ruhe. Badens Gitarrenläufe gleiten mit meinem Atem dahin, fließen mit der Abendsonne über das Parkett, tief und gleichmäßig. An manchen Stellen ist das hallende Geräusch der Saiten zu hören, wenn Baden umgreift – ein Geräusch, das mir schon vor dem folgenden Akkord ein Gefühl der Sicherheit gibt. Baden als der gute Busfahrer und ich als Passagier, bis der Schlüssel im Schloss geht, Tür auf, Maja und Ida kommen rein.

»Hallo.«

»Hey, na?« Ich geh zur Anlage und stell die Musik ein bisschen leiser. Ida legt die Schlüssel auf der Kommode ab und küsst mich, ihre Lippen sind noch kalt von draußen, dabei war es heute tagsüber so warm, vielleicht reicht der Aufstieg durch das Treppenhaus zum Abkühlen.

»Wie geht’s euch?«, frage ich.

»Wir haben Essen mitgebracht«, sagt Maja, als wäre das die passende Antwort. Vielleicht ist das auch so. Sie zeigt auf zwei Plastiktüten, die auf dem Boden stehen. Ida stellt sie auf den Tisch und zieht drei alubedeckelte Styroporschalen heraus.

»Wir kamen grade am Vietnamesen vorbei«, sagt sie, »und da ist mir eingefallen, dass wir gar nichts mehr im Kühlschrank haben. Ich meine, es sei denn, man steht auf Käse und saure Gurken.«

»Nichts gegen Käse und saure Gurken.«

Ich hole Teller und Gläser, wo ist mein Bier, ah ja, auf dem Couchtisch. Mir fällt Jochen ein, aber ich denke, es ist vertretbar, seine Tochter heute ohne Hausaufgaben ins Bett gehen zu lassen. Zum Einspruch klingelt es schon wieder.

»Wer ist das?«, fragt Ida.

»Jochen. Er hat Angst, dass Jennifer die Hausaufgaben nicht bekommt.«

Maja verdreht die Augen, nimmt ihren Schulranzen und macht die Tür auf.

»Hallo Maja«, höre ich Jochen, »mmh, hier riecht’s aber gut. Chinesisch, oder?«

»Vietnamesisch«, sagt Maja bestimmt, und ich schaue Ida an, sie muss grinsen.

»Ich wollte nur fragen …«, fährt Jochen fort.

»… wegen den Hausaufgaben«, vervollständigt Maja. »Mark wollte mich schon zu euch rüberschicken.«

Das lernen sie in der Schule, vervollständigen. Dazu sind diese ganzen Lückentexte gut.

»Äh, ja genau.«

»Das sind die beiden Blätter hier«, sagt Maja, »beim zweiten nur die Aufgaben eins bis acht.«

»Eins bis acht. Gut.«

»Ich ringel es ein.« Maja traut ihm nicht zu, sich allzu viel merken zu können. Daran bin wahrscheinlich ich schuld.

»Das ist ja mal ein Service. Also, dankschön, gell? Und guten Appetit.«

»Danke.«

Die Tür fällt ins Schloss. Maja kommt wieder zurück an den Tisch. Ida schüttet ihren Reis auf den Teller um. Sie nimmt einen Bissen und schaut mich komisch an.

»Was ist? Schmeckt es nicht?«, frage ich und merke, sie schaut nicht mich an, sie schaut hinter mich. Sie geht zum Fenster.

»Seit wann bist du schon hier?«, fragt sie.

»Seit ’ner halben Stunde, oder vielleicht ’ner Dreiviertelstunde.«

»Ist dir vielleicht irgendwas aufgefallen?«

»Wie, was? Was sollte mir denn auffallen?«

»Weiß auch nicht«, sagt sie übertrieben arglos, und ich weiß, sie weiß es genau. Gleich kommt etwas, das mir hätte auffallen müssen. Ich bin zu Hause in diesen Sekunden des Vorausahnens, für konkrete Gedanken zu kurz. Stattdessen schlaglichtartige Suche: Musikschule? Schule? Arbeit, Termine, Einkaufen? Müll runterbringen, Auf-, Weg-, Umräumen? Abwasch?

»Vielleicht sollte dir zum Beispiel auffallen, dass der Balkon verbarrikadiert ist. Na ja, andererseits, die Sperre übersieht man ja auch leicht. Ist ja nur ’nen verfluchten Quadratmeter groß.«

Maja springt auf und läuft zur Balkontür, ich gehe hinterher. Jetzt sehe ich es auch, Stahlstreben bis auf Hüfthöhe vor die Tür geschraubt, der Balkon vollkommen leer.

»Wann haben die das gemacht?«, schimpft Ida, die Höhen voll aufgedreht. »Und wo sind unsere Möbel? Ich ruf die Hausverwaltung an. Denen tret ich dermaßen in den Arsch …«

»Sind bestimmt nicht mehr im Büro. Lass uns essen.«

Ich gehe zurück an den Tisch und lade mir Huhn mit Zitronengras auf den Teller. Ida verdreht die Augen, setzt sich mir gegenüber, Telefon am Ohr und stopft wütend Reis in sich rein. Das sieht zu lustig aus, ich kann mich nicht beherrschen und muss lachen.

»Besetzt! Und du brauchst gar nicht so saudämlich zu lachen. Ist dir ja anscheinend scheißegal, der Balkon.«

Sie legt auf, und weil man bei dem Funktelefon nicht den Hörer auf die Gabel knallen kann, schmeißt sie es stattdessen auf das Sofa, von wo es abprallt, Plastik auf Parkett, Batterien rollen über den Boden. Sie isst weiter ihren Reis, immer noch sauer, aber ich kann nicht aufhören zu lachen.

»Man kann doch jetzt sowieso nichts machen.«

Beschwichtigender Tonfall, Diplomatie bei heiklen Themen, zum Glück muss sie jetzt auch ein bisschen lachen. Es ist nämlich so: Ich mag den Balkon, klar, frische Luft, Sonne und alles. Kann wohl keiner was dagegen haben. Aber für Ida ist der Balkon praktisch das Herzstück der Wohnung, der wichtigste Grund überhaupt für das Stadtleben, wenn man das hier denn wirklich so nennen will.

»Können wir bald wieder auf den Balkon?«, fragt Maja.

»Darauf kannst du dich verlassen«, sagt Ida bitter. Lass mich nie zwischen diese Frau und die Sonne kommen.

2

»Diese Vollidioten!« So beginnt mein Tag. »Diese Vollidioten!«

»Mh?«

»Hör mal.« Ida beugt sich über mich. »Ich hab grad mit der Hausverwaltung gesprochen. Die haben behauptet, sie hätten zwei Briefe geschrieben, dass wir den Balkon räumen müssen. Fassadenrenovierung. Und jetzt haben die das Zeug in den Keller gestellt.«

»Wie denn?« Ich zwinge mich aus meinem Traum in die Alltagsrealität. »Über die Leiter, oder was, aus dem vierten Stock?«

»Wie! Was weiß ich, wie! Jedenfalls muss es da weg. Alles, was man heute nicht aus dem Keller holt, wird entsorgt. Muss jetzt los, ich bring Maja. Tschau.«

Kuss auf die Wange, ich schäle mich aus der Decke.

»Tschüss«, sagt Maja.

»Schönen Tag«, bringe ich raus, es klingt krächzend. Die Wohnungstür fällt hinter den beiden zu. Mir ist klar, das Erste, was ich zu tun hab, ist, die verdammten Plastikmöbel zu retten. Um die Lieder kann ich mich später kümmern. Irgendwo hier muss meine Jogginghose liegen, da ist sie schon. Sieht warm draußen aus, klarer Fall für das Unterhemd. Unterhemd? Was heißt Unterhemd, hab das Ding noch nie unter irgendwas angehabt. Aber jetzt ist keine Zeit für Haarspaltereien, ich habe eine Mission. Wohnungsschlüssel, Kellerschlüssel nicht vergessen, Treppen runter. Science-Fiction-Alien-Akkordeon-Tonleiter wieder abwärts, vorsichtig, die Stufen sind innen tiefer als außen, also schräg gelatscht von ganzen Generationen. Ist ziemlich gefährlich, besoffen raufzugehn, neben dem niedrigen Geländer. Oder runter. Runter ist sogar noch gefährlicher, nimmt man leichter Tempo auf. Schießt man runter, gleich durch entsprechende Soundeffekte kommentiert, wie im Stummfilm. Im Keller ist es kühl. Die Möbel stehen da, ans Ende des Gangs gestopft, ein Monstrum aus Wäscheständern, Stuhlbeinen, Klapptischen, Blumengittern und allem möglichen anderen Mist. Ich sehe ein Bein von unserem Tisch und zieh dran, der ganze Haufen wackelt mit, ich manövriere das Ding hindurch, enthake es mit ruckhaften Bewegungen, zum Glück hängen die drei Stühle auch irgendwie daran fest und fallen mit raus. Der ganze andere Plunder kippt vor meine Füße. Eigene Möbel sicherstellen, ans andere Ende bringen, dann den ganzen Müll wieder aufstapeln.

»Was ist denn hier los?«

Hat mir ’nen ganz schönen Schreck eingejagt, die Hausmeisterin, mit ihrer rauchigen Stimme, und hier klingt sie auch noch so dumpf.

»Oh, hallo Gerda. Jetzt hab ich ziemlichen Lärm gemacht, oder?«

»Ja, des kannst laut sag’n. Ah, hier ist’s aber schee kühl. Da lasst’s sich aushalten.«

Sie setzt sich auf einen der Plastikstühle.

»Hab ich mir vorher auch gedacht.« Ich stelle einen anderen Stuhl auf und setze mich dazu. »Wollte nur unsere Möbel holen. Wegen der Fassadenrenovierung.«

»Ha! Die Fassadenrenovierung«, sagt die Hausmeisterin, »da bin i ja mal g’spannt, ob des was werd.«

»Warum?«

Sie beugt sich vor, und ich kann jetzt schon in ihrem Gesicht ablesen, dass ihr Tonfall verschwörerisch sein wird.

»Mei Onkel, dem sei Schwager, der steht guat mit’m …« Klick, schon abgeschaltet, solche Ketten versuch ich gar nicht erst nachzuvollziehen. Hat dann mit der Geschichte sowieso nichts zu tun.

»Jedenfalls«, kommt sie zum Schluss, »der Besitzer wui des Haus verkaffa, und der neue Eigentümer hat an Plan, da Luxuswohnungen draus zu machen.«

»Ja, aber mal ehrlich, die Leute kriegt man ja nicht raus. Die wohnen hier ja schon ewig und ham auch ihre Rechte.«

»Genau«, sagt die Hausmeisterin, »des is es ja. Rausekeln wollen’s uns. An Aufzug reparieren’s net. Die Halbstarkn ham’s neiglassen. Meiner Kneipn ham’s a scho des Gesundheitsamt auf an Hals gehetzt. Aber bei mir, da is alles sauber.« Sie lacht ein schepperndes Lachen, von dem ich nicht genau sagen kann, ob es triumphierend ist oder auf den wahren Hygienezustand ihrer Küche abzielt. Ich überlege, wann ich zuletzt in ihrer Kneipe Schnitzel gegessen habe. Dann überlege ich, wann ich zuletzt das Wort »Halbstarke« gehört habe.

»Also«, sagt sie und stützt sich beim Aufstehen auf der Tischplatte ab, »i muss weiter.«

»Ich wohl auch«, sage ich und betrachte das Tisch-Stuhl-Ensemble.

»Is direkt schad, gell?«, folgt sie meinem Blick. »Da kennt ma schee an Kaffeeklatsch machen, wenn es draußen gar so hoaß is.«

»Ja, das wär nicht schlecht.«

»So. Dann servus derweil.« Das »so« sagt sie ganz wie der Profi, der sie ist, wie jemand der viel »so« sagt, also wie ein Hausmeister, bei dem sich den ganzen Tag viele kleine Aufgaben aneinanderreihen, und jede wird mit einem »so« angegangen und beschlossen. Ich nehme erst mal die Stühle, Plastik, lassen sich ineinanderstapeln, wiegen fast nichts, kann man an den Armlehnen halten, Schwerpunkt direkt vor mir, es darf mich nur nicht aufs Maul hauen. In der Wohnung, wohin damit? Die ganze Wohnung steht voll mit Zeug, erst mal ins Badezimmer, dann kann man im Sitzen duschen, auch nicht schlecht. Wieder unten, der Tisch das glatte Gegenteil von den Stühlen. Rutschig, rund, sperrig, lässt sich nirgends richtig halten, schrammt mir gegen’s Knie, stößt gegen das Geländer und rammt mir ein Bein in den Bauch, muss ihn alle paar Meter absetzen. Quer durch die Wohnungstür, Kratzer in die Kommode, lass ihn im Wohnzimmer stehen, setz mich auf die Couch. »So«, sage ich. Und weil ich gerade dabei bin, so gut organisiert zu sein, Möbel sofort geholt, anstatt sie bis zum Abend unten rumstehen zu lassen, werd ich mich gleich an die neuen Songs für »Kartonagen und Büropapier« setzen. Aber erst mal ein bisschen ausruhen, viel zu anstrengend das Ganze. Clifford Brown in der Anlage, flirrende Läufe, wegtreiben.

»Hey, du musst aufwachen!«

»Mmmh.« Versuche, so zu klingen, als ob ich das mitgekriegt hätte, schon unterwegs wäre. Ein antrainierter Reflex.

»Du musst aufstehen. Du musst doch zum Elternabend.« Ida küsst mich. Eltern? Abend? Elternabend? Dienstag? Mittwoch? Hab den ganzen Tag verschlafen.

»Okay.« Ich setze mich aufrecht hin. Ida und Maja stehen schon angezogen da. Ich streiche Maja über den Kopf.

»Wir müssen jetzt los«, informiert sie mich. Ungeduld in der Stimme. Ich habe keinen blassen Schimmer, wohin die beiden losmüssen. »Zum Tanzen.« Anderer Tonfall. Gnädige Mitteilung. Zum Tanzen also. Musikschule, Tanzen, das Kind hat mehr Termine als ich. Muss Ida noch fragen, in welchem Klassenzimmer der Elternabend genau ist. Muss sie nicht mehr fragen. Hat mir einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem alles genau aufgelistet ist. Einer von diesen beigen Zetteln mit blauer Schrift, hätte nicht gedacht, dass es die noch gibt.

»Viel Spaß beim Tanzen.«

»Mmh.«

Immer noch in der Jogginghose, ich muss was anderes anziehen. Ich muss überhaupt noch duschen, das bringt vielleicht auch meinen Kreislauf in die Gänge. Ach ja, die Stühle, perfekt, im Sitzen duschen, die Sache langsam angehen lassen. Dann kälter stellen, frisch, klar, abtrocknen, ins Schlafzimmer, in die Jeans, sollte ich ein Hemd anziehen? Zieh das Hemd aus dem Schrank, knöpfe es zu, sehe mich im Spiegel. Es sieht zerknittert aus, das Hemd, viel zu sehr so, wie ich mich fühle, höre schon eine Mutter in einer Kaffeerunde sagen, »Na ja, er sah etwas, wie soll ich sagen … zerknittert aus«, und dann lachen alle, nein Mann, nicht mit mir, runter damit.

Im Klassenzimmer kleine Stühle, klar, für kleine Leute. Obwohl es schon ein paar Elternabende gegeben hat, ist das auch jetzt wieder Anlass für Gelächter und Witze und mehr nervöses Gelächter. Männer in Sandalen, kein Witz, und in Shorts. Ihre Frauen in Sommerkleidern, Blumen, Streifen, Karos und Jeans mit weiten Oberteilen. Jochen setzt sich neben mich, wirkt froh, jemanden zu kennen.

»Ist ein komisches Gefühl, oder, wieder an so einer Schulbank zu sitzen?« Er fragt das, als ob er sich selbst nicht sicher ist. Vielleicht hält er mich für eine Kompetenz in Sachen komischer Gefühle. Vielleicht hat er recht. Ich nicke und denke darüber nach.

»Ziemlich heiße Frauen, teilweise«, murmelt er kumpelhaft, »findest du nicht auch? Schau dir mal das Gerät da an.«

Das Gerät? Ich nicke und unterdrücke einen Angstschub. Kommt die Pubertät mit den Schulbänken zurück? Hängt das zusammen? Muss ich da noch mal durch? Nein, es ist einfach nur Jochen in der tiefsten Essenz seines Daseins, wie vor zehn Jahren, wie in zehn Jahren auch noch, ganz normal. Die Klassenlehrerin ist recht jung, und ihre Freundlichkeit macht auf mich einen ungespielten Eindruck. Sie erzählt etwas über das bisherige Schuljahr und organisatorische Planungen, die Tautologie ist in dem Fall völlig angebracht. Ich lasse meinen Blick schweifen, über die gemalten Bilder an der Wand, die riesigen ausgeschnittenen Buchstaben und Poster von Tieren. Die Lehrerin setzt sich hin, und eine Frau geht nach vorne. Sie trägt ein Blümchenkleid, aber sieht so aus, als könne sie Kokosnüsse unter den Achseln zerdrücken. Ihr Kopf ist knallrot, ich bemerke erst dadurch, wie warm es hier ist. Sie ist die Vorsitzende des Elternbeirates. Also meine Repräsentantin. Sie hat etwas zu organisieren. Ein Kuchenbuffet, fürs Sommerfest, genau, ich glaube, Ida hat was gesagt von Kuchen. Aber was für Kuchen? Ich kann mich nicht erinnern, was sie gesagt hat. Eine Liste wird herumgegeben, und wenn sie bei mir ankommt, dann muss ich einen Kuchen draufschreiben. Aber was für einen genau? Was mit Obst, was mit Rhabarber? Rhabarberkuchen vielleicht? Mit Rhabarber kann man mich jagen, Dreckszeug, aber ich muss den Kuchen ja auch nicht essen. »Du musst den Kuchen ja nicht essen«, ja, das könnte Ida gesagt haben. Ich bekomme die Liste in die Hand gedrückt, mit einem vertraulichen Lächeln, als seien es Wahlunterlagen. Ich überfliege die Liste kurz und schreibe »Rhabarberkuchen« drauf. Der Zettel wird wieder zu der Frau nach vorne gegeben. Sie schaut darauf und nickt zufrieden, aber ich bin mir sicher, dass das noch nicht alles war. Und richtig, sie zieht den Abzug: Standbesetzungen, Tombola, Sackhüpfen, Getränkeverkauf, Grill. Ich schaue in die Runde. Als sie auf das Grillen zu sprechen kommt, sehe ich, dass die Mundwinkel von ein paar Vätern sich verkrampfen. Einer lehnt sich sogar zurück und verschränkt die Arme. Wären wahrscheinlich selbst gern Grillmeister geworden, aber zu spät, ein anderer ist der Mann. Vielleicht hatte er bessere Beziehungen, alles Politik hier. Werden sich trotzdem um den Grill stellen, bei dem Fest, und Ratschläge geben, wüssten ja sonst nicht, wohin. Und auf dem Nachhauseweg werden sie sagen, der Kerl, der gegrillt hat, der hat ja keine Ahnung, das kann man so doch nicht machen, kein Wunder, dass es so lang gedauert hat, und dann war der Rost viel zu nah an den Kohlen, ist ja alles schwarz geworden. Und die Frauen sitzen neben ihnen im Auto und denken darüber nach, wie sie jemals wieder mit jemandem schlafen sollen, der so uncool ist. Sie haben so ähnliche Reden schon oft gehört. Genau wie die Lehrerin jetzt, sitzt da und kennt das alles, so oder so ähnlich. Sie lächelt die Frau aufmunternd an, aber ich glaube, sie ist nur dankbar, dass es jemanden gibt, der das macht, und sogar freiwillig. Sollten wir aber auch alle sein. Dann ist es vorbei, die Lehrerin bedankt sich und als wir gleichzeitig aus den Stühlen aufstehen und aufeinander einreden, entsteht noch einmal so ein seltsamer Schulmoment. Ich gehe aus dem Klassenzimmer. Jochen holt mich ein, mein Banknachbar, mein Nachbar.

»Kommst du noch mit auf ein Bierchen?«

Ich überlege kurz: Maja ist beim Tanzen, Ida auch und es ist nicht so, dass ich was Besseres zu tun hätte. Und außerdem bedeuten bei Jochen ein oder zwei Bierchen auch wirklich ein, zwei Bierchen, also kein Absturz, kein Schnaps, keine Tankstelle, nachdem die Kneipe zumacht, kein Kater, keine Fahne, kein deprimierender ohnmächtiger Kollaps jeglicher Pläne und Vorhaben des Folgetags.

»Klar, warum nicht.«

Die Kneipe ist nicht sehr voll, und warum sollte sie das auch sein, um acht Uhr abends unter der Woche. Es sind nur ein paar Leute da, die vorher wahrscheinlich draußen saßen und mit ihrem Feierabendbier nach drinnen umgezogen sind, als es zu kalt geworden ist. Ich sitze mit dem Rücken zum Eingang, was ich nicht mag, aber Jochen hat sich zuerst hingesetzt, und sich nebeneinanderzusetzen, ich weiß nicht, das ist wie in der U-Bahn, irgendwie macht man das nicht. Kaum ist das Bier da, schlägt Jochen einen vertraulichen Ton an. Das bringt die Anordnung mit sich, vermute ich, sind zwei Männer schon eine Männerrunde? Zack, schon werden wir in Jochens Welt geworfen. Jochens Welt sieht so aus:

»Kennst du das?«, fragt er und beugt sich ein bisschen weiter vor, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, »vorhin, als die Dicke sich gemeldet hat und angefangen hat, über Kuchen zu reden, da konnte ich mich gar nicht konzentrieren. Mir ist eingefallen, dass wir auf einem Elternabend sind.«

Er schaut mich an, als wäre er einer großen Sache auf der Spur.

»Elternabend«, wiederhole ich.

»Ja«, sagt er. »Die Frau hat ein Kind! Das Einzige, was ich die ganze Zeit denken konnte, war, JEMAND HAT DIESE FRAU GEFICKT! Kennst du das? Geht’s dir auch manchmal so?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Um ehrlich zu sein, so’n Gedanke ist mir noch nie gekommen.«

Noch ehrlicher, ich denke in diesem Moment: JEMAND HAT DIESEN KERL GEHEIRATET? Womit ich natürlich eine alte Leier wiederhole, sexueller Blick auf Frauen, demgegenüber die Bewertung des Mannes als Familienversorger. Aber der sexuelle Blick auf Jochen liegt außerhalb meiner Fantasie. Was anderes, Abwendung, Umleitung. Ich versuche, das Thema auf etwas Allgemeines zu lenken.

»Wann geht eigentlich die Saison wieder los?«

Fußball, das muss funktionieren, das hält Jochen am Laufen. Und das klappt immer. Innerhalb weniger Augenblicke legt er los und hält einen langen Monolog darüber, warum die Löwen wieder ins Grünwalder Stadion zurückmüssen, dass 1860 eben ein Giesinger Verein ist, der den Giesingern gehört, so wie Jochen einer ist, Verankerung, Arbeiterviertel, Authentizität, Tradition; und die echten Giesinger, wie Jochen einer ist, gehen sowieso nur zu den Amateuren ins Grünwalder, und er ist fast jedes Mal »draußen«. Ich als Preuße könne mir das ja wahrscheinlich gar nicht so vorstellen. Seit ich zwei Jahre alt bin, wohne ich in dieser Stadt und bin immer noch der Preuße. Ich sollte zurück nach Berlin, wo ich geboren wurde. Stattdessen sitze ich hier und höre Jochen halb zu, wie man eben so zuhört, zum Beispiel dem Radio, wenn man weiß, es wird nichts Überraschendes zu hören sein. Ich nicke und unterdrücke ein paar Einwände: Erstens, Jochen kommt aus Ramersdorf, nicht aus Giesing. Zweitens, er ist fast nie »draußen« und schon gar nicht bei den Amateuren. Mit Maja war ich da schon oft und hab ihn nie getroffen. Drittens: Ich bin mir fast sicher, dass er öfter in der Allianz Arena ist, bei den Bayern. Jochen geht da manchmal mit Geschäftspartnern hin. Ich denke mal, da hört er sich anders an. Gerade als Jochen in Fahrt kommt, kommt eine Frau rein. Und ich weiß das, obwohl ich mit dem Rücken zur Türe sitze. Denn: Jochen ist einer von den Typen, denen man ansieht, wenn eine Frau reinkommt. Sein Redefluss verlangsamt sich und gerät ins Stocken, dabei folgen seine Augen dem Weg der Frau in meinem Rücken. »… weil das schon immer so war, und außerdem … könnte die Stadt … weil … das … äh … Grünwalder … ist … ja … quasi … äh … ein … ein … Wahrzeichen … geile Sau.«

Das »geile Sau« zischt er, als ob ein innerer Druck die Worte zwischen den Zähnen rauspresst. Ich bin mir sogar fast sicher, dass es auch so ist. Jochen, der lebende Teekessel.

»Wir müssen mal wieder auf ein Bier gehen«, sagt Jochen zu Hause vor der Tür, »aber dann länger. Ein richtiger Männerabend.«

»Ja«, sage ich unter Ausblendung meiner Vorstellungskraft. Ich sperre die Tür auf. Ida sitzt auf dem Sofa und tippt einen Artikel.

»Hey«, sagt sie, »wie war’s bei dir?«