Humboldthain - Inka Parei - E-Book

Humboldthain E-Book

Inka Parei

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Beschreibung

Im Zentrum Ostberlins finden Bruno, Ina und ihr Sohn Julius in den Neunzigerjahren ihr Zuhause. Aber der Freiraum, der sich für sie dort aufgetan hat, schließt sich bald wieder. Brunos Leben wird unübersichtlich, er verstrickt sich in Lügen, strauchelt privat wie beruflich und verlässt die Stadt.Anderthalb Jahrzehnte später vermittelt eine Familienberaterin ein Treffen, das ihn mit Frau und Kind wieder zusammenbringen soll. Im Humboldthain, einem zentralen Ort seiner Kindheit.Doch die Begegnung auf einer Anhöhe in der Nähe des ehemaligenFlakbunkers im Park verläuft anders als erwartet. Eine fremde Frau taucht auf, die Motive der Beraterin sind uneindeutig, Ina kommt nicht. Die Situation spitzt sich zu, als Bruno mit Julius den Bunker aufschließt und die beiden Frauen ihnen folgen.In Humboldthain erzählt die gefeierte Romanautorin Inka Parei luzide und eindringlich davon, wie die Aussöhnung einer Familie von den Folgen der deutschen Nachkriegsgeschichte immer wieder durchkreuzt wird.

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Seitenzahl: 363

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Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

Berlin, Humboldthain

New York, Greenwich Village

Berlin, Humboldthain

New York, Greenwich Village

Berlin, Humboldthain

Berlin, Gesundbrunnenviertel

Berlin, Humboldthain

Berlin, Prenzlauer Berg

Berlin, Humboldthain

Autor:innenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Widmung

Für Jona

Berlin, Humboldthain

Bruno schlägt die Augen auf und sieht vor sich eine weiße Fläche. Wenn man es genau nimmt, ist sie grau. Sie wäre weiß, wenn er eine Lichtquelle in seiner Nähe hätte. Aber um ihn herum ist nichts. Überall Dunkelheit.

Er liegt auf einer Schicht aus hellem Pulver. Anfangs hat er das nicht gleich bemerkt. Kalk, ist seine Befürchtung, als es ihm etwas später klar wird, und sofort kneift er ­panisch die Augen zusammen und bildet sich einen ätzenden Geruch ein. Dann überlegt er, ob es Zement sein könnte oder Mörtel. Vor ihm, neben ihm und unter ihm bedeckt die Substanz den Boden.

Aber einen Moment lang starrt er einfach nur in das matte Weiß und denkt: Keine Ahnung, was das jetzt ist. Es ist die erste Überlegung, seit er das Bewusstsein wiedererlangt hat. Sie gefällt ihm so gut, dass er sie mehrmals wiederholt: Keine Ahnung, was das jetzt ist. Ich weiß es nicht.

Das jetzt hat eine besondere Bedeutung. Das ahnt er. Es heißt, dass es nur noch die Gegenwart gibt und dass er ­einfach in die Mitte dieser Fläche schauen kann. Dorthin, wo sie unbegrenzt ist. Er muss sich um alles, was darüber hinaus existiert, nicht mehr kümmern.

Nicht um seinen körperlichen Zustand, der nach dem Sturz von der Plattform durch das zerstörte Treppenhaus des alten Bunkers erbärmlich ist. Nicht um die Frage, ob es gut wäre, sich durch Schreien bemerkbar zu machen, obwohl man durch den größtenteils zertrümmerten, mit Erde bedeckten Stahlbeton wahrscheinlich nichts hört. Auch nicht darum, ob seine Zeit in Berlin, zwei aufwühlende Wochen, in denen er Menschen von früher begegnet ist und Orten, die ihm einmal wichtig waren, einen Sinn hatte. Das ist jetzt alles ohne Belang.

Und deshalb, nur deshalb, kann er die weiße Fläche vor sich noch ein weiteres Mal scharf betrachten. Er muss das nicht tun. Das ist offensichtlich. Er muss gar nichts mehr tun.

Da ist etwas, ganz an ihrem Ende, fast an der Wand. Ein kleiner Gegenstand, der nicht hierhergehört. Er angelt danach. Als er ihn mit den Fingern umschließt, sieht er für eine Sekunde die Situation wieder vor sich, in der er ihm das erste Mal aufgefallen ist, und ganz kurz fühlt sich das an wie eine Rückkehr nach draußen.

Als er das nächste Mal zu Bewusstsein kommt, sieht er das kleine Gerät vor sich im Staub, es scheint unversehrt zu sein. Es hat ein Gehäuse aus silberfarbenem Plastik und in der Mitte ein winziges Display. Hoffentlich ist kein Schmutz eingedrungen, denkt er. Hier ist überall Schmutz. Vorsichtig wischt er es mit dem Ärmel seines Mantels ab und drückt den Einschaltknopf. Ein Piepen ertönt, dann ein drängelnder greller Klang. Dann wieder Stille. Er wartet. Ich bin erschöpft, denkt er. Und ich will keine Erinnerungen. Aber wenn nichts passiert, erinnert man sich eben.

Für einen Augenblick weiß ich nicht, wo ich bin. Ich friere. Über mir sehe ich plötzlich den Himmel, grenzenlose Schwärze, durch die von Stadtlichtern matt gelb gefärbte Wolken ziehen. Ich halte meine Arme in das Innere eines Bogens aus Stahl, um sie vor dem Wind zu schützen, aber das hilft nicht. Das Metall ist kalt wie Eis. Ich sitze auf dem Gerüst einer Brücke, an einem ihrer vier höchsten Punkte, fünfzehn Meter über dem Asphalt und warte. Um meinen Hals hängt eine mit Steinen gefüllte Tüte, die ich mühsam hier hochgeschleppt habe. Meine Hände habe ich in die ­Jackenärmel gezogen. Meine Mütze ist heruntergeklappt und unterm Kinn festgeschnürt, um die Ohren warm zu halten. Ein Nachbar, der uns Kindern manchmal im Hof auflauert, um seine alten Geschichten zu erzählen, hat mir erklärt, die Ohren erfrieren immer zuerst.

In den Achtzigern wird es Mikrofasern geben, die sind viel besser als meine drei Wollpullover und die Kaninchenfellhaube aus Vaters Keller. Das alte Hertha-Stadion wird man abgerissen haben und die Brücke restauriert, gespickt mit Stahlstacheln gegen Tauben und illegale Kletterer. Aber es ist erst 1974. Ich bin elf Jahre alt. Und ich warte.

Jetzt fährt die letzte S-Bahn aus dem Osten heran. Sie hält am rechten Bahnsteig, er ist leer. Eine Frau im braunen Mantel steigt aus. Hinter ihr zwei Männer in Leder­jacken. Einer von ihnen ist klein, untersetzt und blond. Beim Gehen zieht er den rechten Fuß nach. Der andere ist groß und dünn, mit Nickelbrille und hoher Stirn. Der Zugabfertiger verschwindet im Dienstraum, kehrt mit ­einer Tasche zurück auf den Bahnsteig und tritt an die Säule. Über den Zugtüren leuchten die Lampen auf. Eine Tür schließt knallend. Der Hinkende hebt seinen Arm und sieht die Frau dabei an. Sie geht einen Schritt auf ihn zu, nimmt seine Hand und lässt sie wieder fallen. Der Mann mit der Brille holt die beiden ein. Sie laufen zur Treppe, ­lachen.

Der Aufstieg hat eine halbe Stunde gedauert. Ich bin zuerst auf den untersten Absatz des Stahlgerüsts geklettert, das auf beiden Seiten der Brücke niedrig ansetzt und sich bald immer steiler hochschwingt, bis zu den Pfeilern in der Mitte. Dann habe ich mit den Händen höher liegende Teile umklammert, die Füße nachgeholt, mich hochgezogen, ­etwas verschnauft und die Hände gewärmt, achtzehn Mal. Bis ich oben an dem Gitter angelangt bin, das beide Seiten der Brücke miteinander verbindet. Es besteht aus Stangen mit kleinen Querstreben, die aussehen wie Leitern mit zu wenigen Sprossen. Um eine von ihnen habe ich meine Hände gekrallt, mir eine bequeme Sitzposition gesucht und die Schuhe in zwei schmale Zwischenräume unter mir gezwängt, die mir Halt geben.

Nach unten schauen ist in so einer Situation keine gute Idee, das weiß ich. Auch nicht, wenn man es geschafft hat und, wie ich jetzt, oben sitzt. Mein ganzer Körper wird vor Kälte langsam steif. Nur mein Kopf ist noch warm. Ein Kopf auf der Brücke. Ich kann ihn nach links wenden und sehe ein Tal aus Sandbergen, Schotterbergen und Schienen. Dahinter erstreckt sich eine zweite Brücke und graue, am Grenzstreifen endende Häuser, deren freigelegte Brandmauern nach Westen zeigen. Oder ich kann, nach rechts gewandt, hinter den Bahnsteigen den Bahnhof erkennen. Die Lichter dort sind jetzt alle abgeschaltet. Etwas Helles, vielleicht eine Papiertüte, hat sich von einem Abfallkorb gelöst, weht über den Bahnsteig und fällt auf die Gleise. In dieser Richtung ist die nächste Brücke ganz nah, eine mehrspurige Fahrbahn mit schmucklosem Geländer. Jenseits davon beginnt der Humboldthain, mit schwarzen Baumkronen, dunkler als der Himmel.

Hinter der Gleisschlucht zu meiner Rechten erkenne ich ein großes Areal mit Baracken, die zum Teil bunt angestrichen sind. Dort gibt es einen Kiosk, an dem ich mir früher Lakritzschnecken und Gummibärchen gekauft habe, einen Eisladen, eine Autowerkstatt und zwei Kneipen. Den Eisladen mag ich besonders, ein türkisfarbener Bretterbau mit zerkratzten Italienfahnen an den Scheiben. Im Winter ist er geschlossen. Nur kurz vor Weihnachten ziehen ein paar Wochen lang Händler dort ein, besprühen die Fenster mit Dosenschnee und verkaufen billige Taschen und Kunstpelze.

Das Stadion liegt hinter mir. Ich kann mich nicht umdrehen, aber wenn ich die Augen schließe, sehe ich es vor mir. Weil ich mich an fast alles erinnere, was mir irgendwann mal begegnet ist. Auch an Dinge, die nicht für mich bestimmt sind oder die ich nicht verstehe. Sie sammeln sich in meinem Gedächtnis und bleiben dort liegen, unsortiert, wie der Sperrmüll auf den Grundstücken der Schrotthändler links und rechts der Brückenpfeiler. Ich wäre jetzt gerne dort unten, um die verlassenen Stehtribünen entlangzuwandern, die an den beiden Stirnseiten des Geländes wie Berge aufragen, und über den matschig-braunen Rasen zu laufen, der früher ein Spielfeld war. Aber ich darf meine Augen nicht schließen, und ich darf auch nicht einfach so sitzen bleiben. Ich muss es irgendwie schaffen, meine Hände, die sich am Stahl der Brücke festklammern, zu lösen.

Ein blaues Licht flammt auf, blendet Bruno und reißt ihn aus seinen Gedanken. Das Display auf dem kleinen Gerät vor ihm leuchtet jetzt hell, und er kann einen Schriftzug darauf erkennen, klar und grau: MEMO 1. Angstvoll wartet er. Ein Scharren ertönt, gefolgt von einem Pochen. Als würde jemand auf ein Mikrofon tippen. Und dann hört er plötzlich eine Stimme.

Julius, denkt er. Mein Sohn. Beim tief vertrauten Klang der ersten Worte wandert sofort Wärme durch seinen Körper. Er spürt sie im Bauch, in der Brust und in seinem Gesicht. Einen Moment lang ist er überzeugt, dass sein Sturz nicht so schlimm war, dass ihm nicht viel passieren wird. Aufgeregt hört er zu. Es fällt ihm schwer, sich auf den ­Inhalt des Gesagten zu konzentrieren. Es geht um New York. Er überlegt, an wen die Erzählung sich wendet, aber er kommt zu keinem Schluss. In Julius’ Stimme ist ein ­Vibrieren zu vernehmen, wie von Angst.

Nach zehn Minuten, er sieht es auf der Anzeige, bricht der Bericht ab. Eine Zeit lang sind jetzt nur noch kratzende, schmirgelnde Geräusche zu hören. Ihm wird sofort wieder kalt, und ihn packt die Furcht, dass das alles war. Dass die Stimme wieder versiegen könnte.

Er ist mit Julius hierhergekommen. Daran erinnert er sich auf einmal. Sie sind gemeinsam durch den Humboldt­hain gelaufen, den Park ihrer beider Kindheit, fast wie früher. Alles hat sich vertraut angefühlt. Als wäre die Zeit gar nicht vergangen. Es ist ihm sogar so vorgekommen, als gäbe es keine Zeit. Beim Gehen haben sie miteinander gesprochen. Eher zögerlich und über Belangloses.

Er sieht verschiedene Bilder des Parks jetzt wieder vor sich. Sträucher und Bäume, Anhöhen. Ein kleines quadratisches Tor. Er versucht, sich zu erinnern, von wann diese Eindrücke stammen, aus den Siebzigerjahren, den Neunzigern? Oder von letzter Woche?

Dann sieht er eine Holztreppe. Klobig, hell, noch recht neu. In einen steilen, mit Sträuchern bepflanzten Abhang gebaut. Julius und er haben dort haltgemacht. Sie führt zum Eingang des Bunkers. Er liegt auf halber Höhe von einem der noch erhaltenen Türme.

Flakturm 3, denkt er. Dort liege ich jetzt. Ganz unten. An seinem Grund.

Zusammen sind sie die zahlreichen Stufen hochgeklettert und ein Stück um die Reste des Gebäudes herumgelaufen, bis sie vor einer großen schweren Tür standen. Er hat einen Schlüssel aus seiner Jackentasche gezogen und für sie beide aufgeschlossen. Beim Eintreten stößt man nach wenigen Schritten auf einen runden Gang. An seinem Ende folgen ein paar alte Stufen, die nach unten führen. An mehr erinnert er sich nicht. Später hat es oben geklopft. Sie sind zurückgelaufen, haben die Tür aufgemacht – und dann? Was ist passiert?

Der Bau, in dem er jetzt feststeckt, ist gefährlich. Das ist ihm klar. Er war es immer schon. Früher gab es hier sieben Stockwerke. Das hat er gelesen, auf einer der Tafeln, die weiter oben hängen, Spanplatten mit aufgezogenen Fotos, Texten und Skizzen. Man sieht dort Aufnahmen von Zwangsarbeitern, die Stahl biegen für Armierungen, von Männern, die um ein fahrbares Krangerüst versammelt sind, mit dem eine der Flugabwehrkanonen auf dem Dach ausgerichtet wird, und eine militärische Zeichnung, auf der sich zur Veranschaulichung zwanzig schwarze Gestalten mit Helm auf unterschiedliche Positionen an den Geschützen verteilen.

Er hat in einem riesigen Raum gestanden und sich das alles angesehen, irgendwann in den letzten Tagen. Ein Raum, der spärlich beleuchtet war, mit gelblichem Licht aus einer Glühbirne. Licht, das außerhalb eines kleinen Radius von der Schwärze, den fensterlosen Wänden und der Düsternis herumliegenden Schutts vollständig verschluckt wurde. Er war dabei nicht alleine. Jemand war mit ihm zusammen, hat ihn wahrscheinlich auch dorthin geführt. Und alles, was diese Person ihm gezeigt hat, wollte er später Julius zeigen, aber warum? Und wie hängt das alles zusammen mit der Situation, in der er sich jetzt befindet?

Ich muss mich erinnern, denkt er, es herausfinden.

Ein Ausflug, den er als Schüler in der fünften Klasse gemacht hat, fällt ihm jetzt wieder ein, ein Besuch in einem Museum. Er vermutet, dass es das Weddinger Heimat­museum war. Damals hat er den Bunker das erste Mal unversehrt gesehen, auf einem Schwarz-Weiß-Foto. Quadratisch, kompakt und düster ragte er auf dieser Aufnahme aus dem Boden, scheinbar ganz unverbunden mit der Parklandschaft, die ihn umgibt, wie der Monolith in Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum. Direkt neben dem Bild hing ein Propagandaplakat der NSDAP, eine plumpe Zeichnung in düsteren Farben, mit der die Gefahr eines Luftkrieges heraufbeschworen wurde. Sie hat ihm als Kind Angst gemacht. Wahrscheinlich hat er sie deshalb nicht mehr vergessen. Zerstörte Straßenzüge waren darauf ab­gebildet, die tief unten in einem Abgrund lagen und den Straßen seines Kindheitsviertels ähnlich sahen. Eine apo­kalyptische Welt, in der nur noch Reste großstädtischen ­Zusammenlebens zu erkennen waren, ein umgekippter Bus, ein paar Schilder, eine zerbrochene Litfaßsäule. Drum­ ­herum herrschte Menschenleere und Verwüstung. Der Betrachter, er weiß es wie heute, schaute vom Sockel eines großen Gebäudes auf das Geschehen. Es war als Einziges noch unversehrt, hermetisch verschlossen, und wirkte sehr abweisend. Nur eine kleine Skizze am Rand gab Einblick ins Innere. Man sah darauf eine Höhle aus Stahl, in der viele Menschen dicht nebeneinandersaßen, geschützt und geborgen, aber steif wie Marionetten. 1931 stand über der Darstellung, in dramatisch gepinselten, etwas wackeligen Ziffern. Damals konnte er nicht viel damit anfangen.

Zwischen den Situationen vor langer Zeit im Museum und kürzlich in dem riesigen dämmrigen Raum muss es ­einen Zusammenhang geben, grübelt er weiter. Dann fällt es ihm ein: das Bild des unversehrten Bunkers war auch hier drinnen auf einer der Tafeln zu sehen.

Dieselbe Macht, die solche Bilder schon lange vor Kriegsbeginn erfand, um Panik zu schüren, stand den Bomben, die bei den ersten Luftangriffen im Sommer 1940 auf Menschen fielen, völlig unvorbereitet gegenüber. Auch das ist in dem Raum, der sich jetzt irgendwo unerreichbar hoch über ihm befindet, zu lesen gewesen. In der Folge zog man in den großen Berliner Parks Gebäude wie dieses hier aus Hunderttausenden Kubikmetern Stahlbeton in nur wenigen Monaten hoch. Düstere Festungen, in deren Innerem Schutz und Vernichtung aufs Engste zusammengepfercht waren: auf dem Dach Geschütze gegen Flugzeuge, unten ein Munitionslager, ein Aufzug, der die Geschosse nach oben brachte, dazwischen Schutzkammern für die wich­tigen Bestände aus Museen, eine Krankenstation, Labore für kriegswichtige Forschung. In den noch verbleibenden Raum strömten bei jedem Angriff Zehntausende Menschen.

Die Zahlen und Fakten in meinem Kopf sind alle noch da, denkt Bruno. Aber trotzdem weiß ich nicht, warum ich jetzt hier bin.

Die Ruine liegt am nördlichen Rand des Parks, in dem er den größten Teil seiner Kindheit verbracht hat. Wenn er als Jugendlicher an den zahllosen nicht enden wollenden Nachmittagen hierherkam, hat er meistens der Versuchung widerstanden, zuerst über die große Wiese zu laufen und von da aus zu einem der Spielplätze oder zum Schwimmbad. Er ist auch nicht zu dem kleinen Tor gegangen, auf das man auf diesem Weg nach ein paar Metern stößt, das Tor zum Rosengarten, einer Anlage mit zahlreichen Bänken in kleinen Laubengängen und etwas steif angeordneten Blumenbeeten. Überall dort hätte er leicht auf andere Kinder treffen können. Aber er kam trotzdem immer zuerst hierher. Man folgt einem breiten Weg, immer geradeaus, in Richtung Westen. Dann wird das Gelände in zwei Etappen abschüssig und mündet tief unten in eine Bahnböschung. Wenn man es von dort unten betrachtet, vom Fenster einer vorbeifahrenden ­S-Bahn, wirkt die einzig noch intakte Fassade des Bunkers auch heute noch hochmütig und uneinnehmbar wie eine Festung. Er hat diese Fahrt am zweiten Tag nach seiner Ankunft gemacht, er wollte unbedingt einmal den ­gesamten S-Bahn-Ring umfahren. Als die Strecke kurz nach der Jahrtausendwende nach jahrelangen Bauarbeiten endlich wieder komplett befahrbar war, hat er das kaum registriert, und kurze Zeit später war er schon nicht mehr in der Stadt.

Früher war der Bereich rund um den Bunker einsam, sich selbst überlassen. Der Hauptweg, der über die vollständige Breite des Geländes verläuft, meist menschenleer. Fast noch im Schatten der grauen Anhöhe gab es ­einen kleinen Spielplatz, errichtet im Stil der Fünfzigerjahre. Ein Areal mit kargen, einfältig bemalten Eisenstangen, einfache Konstrukte aus einer Zeit, in der das Verständnis des Spielens verkümmert war. Wenn er als Kind dort vorbeiging, war es fast immer verlassen und die Gerüste leicht angerostet, aber weder zerkratzt noch verbogen. Spielplätze an anderen Ecken im Park wurden nach und nach modernisiert und die nüchternen Vorrichtungen zur körperlichen Kräftigung ersetzt durch Kletterlandschaften aus Holz und Seilen. Nur dieser blieb über Jahrzehnte gleich. Er ist zweimal an der Stelle vorbei­gekommen, seit er wieder hier ist, kann sich aber im Moment nicht erinnern, was aus ihr und den alten Spielgeräten geworden ist.

In den Achtzigerjahren wurde wenige Meter entfernt eine Brücke wiederhergestellt, die über die Schienen zum dahinter gelegenen Stadtviertel führt. Damals fand er, dass sie nicht in die Gegend passt mit ihrem neuen, leuchtend roten geschwungenen Geländer, das ihn an die üppigen Wandverzierungen des China-Restaurants in der Behmstraße erinnert, in dem er als Kind mit seinen Eltern manchmal sonntags essen war. Aber angesichts der Bedeutung des Ortes, die ihm erst seit seiner Rückkehr richtig aufgegangen ist, fragt er sich, ob das vielleicht keine Gedankenlosigkeit war, sondern Absicht. Früher haben wir von den grauen Überbleibseln aus der alten Zeit kaum Notiz genommen, denkt er. Wir haben mit ihnen gelebt, wie man mit Schatten lebt. Man weiß, dass sie da sind, ohne ihnen Wichtigkeit beizumessen. Das ist jetzt anders. Unten im Zug, beim Vorbeifahren, hat er es gleich gespürt. Man kann nicht sagen, dass er nach der Bahnfahrt einen Bogen um die Gegend gemacht hätte. Allerdings hat er ­zunächst auch kein großes Bedürfnis gehabt, sie aufzu­suchen. Auch jetzt wäre er wahrscheinlich nicht hier, wenn er nicht am Nachmittag desselben Tages ganz in der Nähe eine Frau getroffen hätte, die sich für sein Leben und seine Vergangenheit in der Stadt interessierte.

Bruno lauscht angestrengt. Das Schmirgeln, das die ganze Zeit aus dem blau schimmernden Apparat gedrungen ist, hat aufgehört. Eine Zeit lang passiert nichts. Dann sind auf einmal Schritte zu hören. Es klingt, als würde jemand auf und ab gehen. Kurz darauf kommt Julius’ Stimme zurück. Gut, sagt er, nach einem kurzen Wortwechsel mit anderen, die nur undeutlich im Hintergrund zu hören sind. Dann mache ich jetzt weiter.

Obwohl Julius leise spricht, klingt es nachdrücklich und entschlossen. Er ist also nicht alleine. Bruno ist jetzt sehr aufgeregt. Ich muss weiter gut zuhören, denkt er, ich darf nichts verpassen. Aber er fühlt sich für einen Augenblick weit entfernt, als befände er sich immer noch in dem rie­sigen dämmrigen Raum, in dem er vorher die Bildtafeln gesehen hat, er spürt hinter sich die Kühle. Und auch den Boden, auf dem er gestanden hat, während er dort oben war, kann er fühlen. Dann sieht er sich auf einmal selbst, wie er nach unten blickt, auf einen nicht ganz ebenen Lehmboden. Er ist auch noch in anderen, wärmeren und trockeneren Räumen gewesen, erinnert er sich, mit einem Betonboden. Und die ganze Zeit war jemand an seiner Seite. Ein Mann, da ist er sich jetzt sicher, etwas größer als er und kräftiger, mit einer auffällig tiefen Stimme. Zusätzlich zu dem, was um sie herum zu sehen war, hat dieser Mann ihm noch etliches erklärt. Während Bruno ­daran denkt, tauchen Umrisse eines Kopfes vor ihm auf, blondes Haar. Er fragt sich, ob das sein kann, und im selben Moment begreift er, dass er mit seinen Gedanken schon wieder woanders ist.

Winter 1974. Auf dem Schulhof.

Los, Kleiner. Eis essen.

Sie sind zu dritt, wie immer. Dicht vor mir steht ein blasser, schwarzhaariger dicker Junge, denkt Bruno. Ich weiß nicht mehr, wie er heißt, ich erinnere mich nur an seine wässrigen Augen und an die leuchtend roten Flecken in seinem Gesicht, die immer eine andere Form haben, je nachdem, ob er schwitzt, Schiss hat oder sich prügelt. Er trägt einen Ranzen aus grasgrünem Plastik mit einem Flugzeug aus Leuchtstoff auf der Klappe und ihm ist andauernd zu heiß, auch im Winter.

Rechts dahinter hat sich Andi postiert. Er lässt den Dicken immer zuerst reden, obwohl eigentlich er es ist, der die beiden anderen anführt. Andi ist blond, hat krumme Schultern und ist nicht sehr kräftig, aber er hat keine Skrupel. Bevor er vor einem halben Jahr zu uns gekommen ist, soll er woanders einem Neunjährigen den Arm gebrochen haben. Seine Handrücken und Oberarme sind mit Bildern aus Tinte bekritzelt, Darstellungen von Ketten, Kreuzen und Blitzen und von zerstückelten Gliedmaßen, aus denen dunkle Tropfen rinnen.

Links außen steht Eladio. Er ist auch noch nicht lange hier. Anfangs hat er nur Spanisch verstanden und war ­komisch angezogen, er trug handgestrickte Pullunder in blassen Farben, dicke Flanellhemden und eine zerbeulte Anzugjacke aus grobem Stoff, wie sie ältere Männer manchmal anhaben. Am Revers der Jacke war ein Abzeichen aufgenäht, das wir alle nicht kennen, ein Bündel roter Pfeile, in der Mitte durch etwas verbunden, das von Weitem wie ein geöffnetes Schloss aussieht. Eladio hat erklärt, dass er die Jacke von seinem Vater hat, und uns immer wieder wichtigtuerisch den Namen dieses Symbols nachsprechen lassen, mit einem stark gerollten R, das natürlich niemand auf Anhieb hinbekam, Flechas Rojas. Er hat sich schnell eingelebt. Inzwischen trägt er ganz normale Sachen und kann fast alles verstehen. Und er hat sehr schnell zur Bande gehört.

Die Bande, so nennen sie sich. Ohne weitere Erklärung oder einen Namen.

Unsere Grundschule liegt hinter dem großen Sportplatz an der Behmstraße, ein paar Hundert Meter vom Park und dem alten Bunker entfernt. Im Klassenraum der Sechsten hat Eladio seinen Platz direkt vor mir. Was im Unterricht passiert, interessiert ihn nicht. Man sieht es an der Art, wie er dasitzt, die Arme um den Stuhl hängt und mit dem Daumennagel versucht, von der Oberfläche der Lehne Lack abzukratzen. Wie er mit der Füllerspitze immer wieder Krater im Radiergummi aushebt und seine Hacken auf dem erbsengrünen Fußboden leise hin und her quietschen, während er von Zeit zu Zeit seufzt und den Kopf herumwirft wie ein Gefangener.

Meine Mutter würde mich am liebsten immer noch jeden Morgen zur Schule bringen. Das wissen die drei, und in den Pausen verspotten sie mich dafür. Manchmal vergisst sie absichtlich, mir Brote zu machen, und kommt später mit Essenspäckchen an den Schulhofzaun. Auch heute steht sie dort, in ihren Plateauschuhen aus Kork mit dem aufgeklebten blauen Strohherz über dem großen Zeh. Als die drei mich abgefangen haben, habe ich gerade durch die große Scheibe in der stickigen, kalten Vorhalle geblickt und sie sofort erkannt.

Bei schlechtem Wetter verbringen wir hier, in diesem sogenannten überdachten Bereich, die Pausen. Wir stehen dann dicht gedrängt und es riecht nach Regenmantelplastik, nach süßen rosa Kaugummis und nach feuchtem, ungewaschenem Haar. Brote werden aufgeklappt, angebissen, getauscht oder fallen gelassen, so wie draußen auf dem Hof, und manchmal holen die Mädchen Wollfäden aus ­ihren Taschen, binden sie in Mustern um ihre Finger und nehmen sie sich gegenseitig nach mir unbekannten Regeln in neuen Mustern wieder ab, während sich am Eingang, in einer Senke, langsam das Wasser staut, ein riesiger, mit ­Essensresten, Flaschenverschlüssen und Papierfetzen bedeckter See.

Aber heute regnet es nicht. Heute scheint die Sonne. Und ich bin mit den drei anderen hier drinnen allein. Die Tür ist etwas geöffnet und das kleine Stück Himmel, das ich durch den Spalt sehen kann, erscheint mir trotz des gleißenden Lichts, in das draußen alles getaucht ist, fast dunkelblau. Auf dem Hof spielen die anderen Jungen jetzt wahrscheinlich wie immer Fangen, tauschen Sammelkarten oder rennen ziellos herum, und die Mädchen stehen in kleinen Gruppen zusammen und reden. Manchmal sind rhythmische Schreie zu hören. Dann prügeln sich zwei Jungs miteinander. Sie ringen, bis sie am Boden liegen, dreschen wild aufeinander ein und nehmen sich gegenseitig in den Schwitzkasten. Die anderen kommen schnell dazu, bilden einen Kreis um sie und feuern die beiden mit minutenlangem Gebrüll an.

Meine Mutter hat wahrscheinlich vergeblich versucht, mich in der Menge zu finden, und jetzt hält sie sich mit ­einer Hand an den Gitterstangen des Zauns fest, dreht ­resigniert den Kopf weg und starrt auf die Straße. Von Zeit zu Zeit schlüpft dabei ihr linker Fuß aus dem Schuh und tastet nervös über den rechten, über die Schnalle, das Herz und ihren Knöchel. In der anderen Hand hält sie mein Pausenbrot. Ich stelle mir vor, wie die Alufolie, mit der es umwickelt ist, in der Sonne glitzert. Immer wieder holt sie eine Haarsträhne aus ihrem toupierten, am Hinterkopf zu einer Welle zusammengesteckten Haar, wickelt sie um den Finger oder kaut darauf herum und wirft dabei nervöse, scheinbar zufällige Blicke in den Hof.

Ich stehe drinnen, im Halbdunkel vor dem Eisautomaten. Hinter mir vibriert die Kühlung. Mir ist übel. Das Eis, das ich in der Hand halte, ist schon das dritte in zehn ­Minuten. Ich befürchte, dass ich ein viertes essen muss. Während der Vanilleblock schmilzt, rutscht die weich gewordene Schokoladenhülle langsam nach unten und fällt in Stücken auf meine Schuhe.

Wir stehen uns gegenüber. Aber die drei sehen mich nicht an. Sie schauen auf das Eis. Ich sehe das Eis nicht, ich blicke über den Stiel hinweg in Richtung der Glasbausteine, zähle die Quadrate und weiß, dass ich mich gleich übergeben muss.

Sie bilden ein loses Halbrund, das die Ecke, in der der Automat steht, versperrt. Dass ich nicht abhauen werde, ist klar. So klar wie die Stoffausbuchtung in Brusthöhe auf dem Hemd von Andi, eine kleine Tasche, in der sein Feuerzeug steckt. Er muss es nur zücken und sein Kinn heben. Schon werden die beiden anderen auf mich zuspringen, sich an meine Arme hängen und sie nach hinten biegen, und ich werde, so wie neulich auf dem Klo der Junge aus der Klasse unter mir, weinen und auf die Knie gehen. Andi wird sich herunterbeugen, den Reißverschluss meiner Hose langsam nach unten ziehen, das Feuerzeug in den Hosenschlitz schieben und am Zündrädchen drehen. Ich werde stillhalten. Er wird nur ab und zu, ganz kurz, mit dem Daumen am Gasknopf hängen bleiben. Und dabei werde ich in sein Gesicht sehen, das sich dicht vor das meine schiebt, in seine großen grauen Augen mit bernsteinfarbenen Sprenkeln in der Mitte, die aufleuchten, wenn der Daumen zuckt.

Eladio tritt jetzt von einem Bein aufs andere, immer schneller, und läuft zwischen der Wand aus Glasbausteinen und der Tür nach draußen hin und her. Bis Andi ihn festhält, ihm einen Ellbogen in die Seite rammt.

Was ist, fragt er ihn, musst du aufs Klo, Kleiner?

Andi ignoriert unsere Namen. Für ihn sind wir ­immer die Kleinen. Eladio hustet, reibt sich die Rippen, steht still und schweigt. Der Dicke hat ein Portemonnaie aus seiner Hosentasche gezogen, wirft es mehrmals hoch und fängt es wieder auf. Andi schnalzt dazu, aber dann schüttelt er plötzlich den Kopf und sieht mich mit zynischer Nettigkeit an.

Lass ihn erst mal aufessen.

Der letzte Rest Eis sackt nach unten, läuft über meine Hand und schmilzt auf meinen Fingern. Ich muss Zeit gewinnen, denke ich und blicke wieder in Richtung Hof. Meine Mutter spricht jetzt vermutlich mit einem Mädchen aus meiner Klasse, gibt ihr die Brote, öffnet ihre Hand­tasche, reicht eine Münze über den Zaun. Und sobald sie gegangen ist, wird das Mädchen sich das Geld in die Rocktasche stecken und mit meinen Broten zum Abfalleimer laufen.

Schokoladengeruch dringt in meine Nase und etwas Stechendes, Saures steigt aus meinem Magen hoch. Bis ich den Mund plötzlich aufreiße, den Stiel fallen lasse.

Wir haben aufessen gesagt, erklärt der Dicke. Nicht auskotzen.

Langsam kommt er näher, schüttelt das Portemonnaie und hält es vor mein Gesicht. Seine Fingernägel sind für einen Moment dicht an meinem Auge, quadratische, rissige Flöße, die im Fett hervorquellender Kuppen schwimmen. Aber Andi schüttelt den Kopf, beordert ihn wieder zurück, geht einen Schritt auf mich zu und legt mir seine tintenverschmierte Hand auf die Schulter.

Du musst nichts zahlen, du kannst bei uns mitmachen. Falls du die Mutprobe bestehst.

Hätte ich doch bezahlt, denkt Bruno. Er starrt in die Dunkelheit. Dann wieder auf die Anzeige. An die Bande erinnere ich mich bestimmt nicht umsonst gerade jetzt, überlegt er. Zwischen den Kindern von damals, meinem Absturz hier und Julius gibt es einen Zusammenhang, nur welchen? Oder bilde ich mir das ein?

Er sieht den Eingang zum Bunker jetzt wieder vor sich. Eine Stahltür, gesichert durch ein zusätzliches Gitter. Als Julius und er davorstanden, fing es schon an zu dämmern, es muss bereits Nachmittag gewesen sein. Beide Schlösser ließen sich mit demselben Schlüssel öffnen. Von wem hat er ihn bekommen? Er grübelt, schaut verzweifelt in die Schwärze. Es fühlt sich so an, als wäre die Antwort eben noch in meiner Nähe gewesen, denkt er. Aber vielleicht stimmt das nicht. Vielleicht war sie gar nicht bei mir, sondern dicht, möglicherweise viel zu dicht, an etwas anderem. Wut steigt in ihm hoch. Er weiß, dass abstrakte Gedanken ihm nicht weiterhelfen. Der runde Gang, überlegt er weiter, führt zu dem Wendeltreppenhaus, auf dessen Grund ich jetzt liege. Treppenhaus ist übertrieben, eigentlich ist es nur ein zylinderförmiger Schacht. Die Stufen ­enden nach kurzer Zeit und münden in eine neu errichtete provisorische Plattform. Wenn ich mich auf den Rücken drehen würde, könnte ich sie sehen. Er hat inzwischen festgestellt, dass er den unteren Teil seines Körpers nur schlecht bewegen kann. Das rechte Bein schmerzt und das linke spürte er nicht mehr, ebenso wenig den linken Fuß. Vielleicht wäre es eine bessere Idee, überlegt er, wenn ich es mit den Händen probiere. Ich könnte mich wie beim Liegestütz hochstemmen und den Oberkörper mit Schwung in eine andere Position bringen. Fast setzt er dazu an, ­zögert aber. Er ist sich nicht sicher, ob es funk­tionieren wird, und hat Angst, dass die Bewegung zu sehr wehtun könnte, denn sobald er den Rumpf nur ein kleines Stück bewegt, schmerzt sein Brustkorb so stark, dass er kaum noch Luft bekommt. Trotzdem kann ich den Versuch nicht ewig aufschieben, sagt er sich. Ich kann ja hier nicht einfach so liegen bleiben. Irgendwann muss ich anfangen, zu kämpfen. Mich bewegen.

Flakturm 3. Offenbar ist es wieder üblich, den an der Ostseite hervorspringenden Teil des früheren Gebäudes so zu nennen. Woher weiß er das, hat es ihm jemand erzählt? Oder hat er das auch irgendwo gelesen? Die Stelle, an der er mit Julius innegehalten hat, um den Schlüssel aus der Tasche zu ziehen, haben sie als Kinder das »untere Stockwerk« genannt. Damals gab es dort keine Tür.

Er sieht sich mit seinem Sohn in dem halbrunden Gang stehen, neben einem großen, mit einem Vorhängeschloss versehenen Korb mit Schutzhelmen, wie sie Arbeiter auf Baustellen tragen. Obendrauf liegt ein Stapel mit Handzetteln. Er hat Julius, der ihn dabei steif und gespannt ­anlächelte, einen der Zettel gereicht und gleichzeitig in eine seiner Hosentaschen getastet, wo noch ein weiteres Exemplar steckte. Also muss er bereits gewusst haben, was draufstand. Er hebt den rechten Arm und schiebt ihn vorsichtig nach hinten. Ein kurzer, starker Schmerz fährt durch seinen Körper, aber Bruno beißt die Zähne zusammen und tastet weiter, am halb geöffneten Mantel vorbei in Richtung seiner Gesäßtasche. Sie ist leer.

Dass das hier mal ein Bunker war, war uns früher klar, denkt er. Das musste nicht durch die Benutzung eines Wortes wie Flakturm unterstrichen werden. Aber vielleicht sind die militärischen Bezeichnungen einzelner Stellen im Gebäude inzwischen ja notwendig, weil die Jüngeren sich sonst gar nicht mehr richtig vorstellen können, was sich hier abgespielt hat.

Die Zeit, als er die vierte Klasse besucht hat und die ersten Tintenlöschstifte aufkamen, fällt ihm wieder ein. Er hat damals oft Fehler gemacht. Manchmal hat er in seinem Deutsch- oder Matheheft halbe Seiten mit dem neuen Stift ausgelöscht und anschließend immer etwas angespannt auf die erst feucht glänzende, später stumpfe und raue Stelle auf dem vorher makellos weißen Blatt gestarrt und inständig gehofft, was er gerade entfernt hat, wäre wirklich weg. Aber so war es natürlich nie. Wenn man dort, wo keine Tinte mehr haftete, mit dem Korrekturstift schrieb, fiel das immer auf. Tat man es dagegen nicht, blieben riesige weiße Flächen zurück, die vielleicht leer waren, aber nie unsichtbar.

Die Älteren haben früher oft weitschweifig vom Krieg erzählt und sich dabei von uns unbeobachtet geglaubt, denkt er. Und gleichzeitig haben sie uns gegenüber so getan, als wären die Leerstellen und grauen Reste, die im Straßenbild noch übrig waren, nicht da. Aber wir haben diese Überbleibsel immer gesehen und sie einfach hingenommen. Wir dachten, sie wären zu massiv, um jemals wieder entfernt werden zu können.

New York, Greenwich Village

Also fange meinetwegen ich an. Ich erzähle euch, wieich vor ein paar Wochen in Manhattan auf einer Parkbank saß. Ich glaube das ist mein entscheidender ­Moment, mein Tag. Und danach suchen wir ja jetzt, oder? Ihr seid dann nach mir dran.

Damals wusste ich genau, dass ich mich im Kreis drehe. Ich hatte schon viel zu lange überlegt, wo ich beginnen sollte. Wie ich das, was passiert war, in meinem Kopf ordnen sollte. Mit geschlossenen Augen sah ich alles wieder vor mir: den Fußboden. Er war aus Holz. Quadrate, ein schmutziges, fast schwarzes Braun. Das riesige Wohnzimmer, in dem nur ein wackliges Regal stand und ein schwarzes Kunstledersofa. Die Küche. Den kleinen Raum, in dem ich geschlafen hatte.

Drei Monate lang war ich hier jeden Morgen aufgewacht. In den ersten Tagen lange vor der Zeit. Ich hatte durch das Fenster gesehen, wie der Himmel sich aufhellt. Dünne, alte Panoramascheiben, an denen der Wind rüttelt und auf denen sich über Nacht, wie im Badezimmer meiner Kindheit in Berlin, Eisblumen bildeten. Anschließend hatte ich mir meine Notizen vom Vortag angesehen und etwas später in einem kleinen Laden, der zwei Querstraßen entfernt lag, Brot gekauft. Danach hatte ich Spaziergänge gemacht, Museen besucht, Parks, verschiedene Stadt­teile.

Das Haus, in dem meine Wohnung lag, ist ein kantiger schmuckloser Bau aus gelblichem Beton. I. M. Pei hat ihn in den Sechzigerjahren gebaut. Von dort, wo ich jetzt saß, einer Parkanlage am Washington Square, konnte ich ein Stück der Fassade sehen. Es gehört zu einer Gruppe von drei identischen Türmen, die etwas versetzt zueinander auf einem struppigen Rasen stehen. Andere Gebäude in der Nähe sind viel älter, wie das Bayard-Condict Building. Zum Teil sind sie sogar sehr alt, wie das winzige Backsteinhaus, auf das ich vom zehnten Stock aus immer he­runtergeblickt habe. Dennoch wirken sie nicht aus der Mode gekommen, im Gegenteil. Sie sind ein lebendiger und extravaganter Teil der Stadt. Der vielfältigen Anstrengungen, die sie hervorgebracht haben.

Anders diese drei Hochhäuser. Es muss die Idee des Erbauers gewesen sein, Gebäude zu errichten, die sich nicht hervortun. Die so unscheinbar sind, dass man sie bewohnen kann, ohne ihre Existenz richtig wahrzunehmen. Mich zogen diese Schlichtheit und Unauffälligkeit auf besondere Art und Weise an, und ich fühlte mich die ganze Zeit, die ich hier war, wohl.

Die Bedrängnis, in der ich mich jetzt befand, war nur auf den ersten Blick etwas Willkürliches, von außen Kommendes, das ahnte ich. Der Blick des Mannes in der blauen Uniform hatte sich verfinstert. Desselben Mannes, der mir noch ein paar Stunden vorher freundlich zugezwinkert hatte. Nicht nur einmal, sondern jedes Mal, wenn ich, während er Dienst hatte, aus dem Fahrstuhl getreten und auf die Drehtür zugelaufen war. Oder wenn ich umgekehrt, von der Houston Street kommend, auf dem großen Gelände schon von Weitem gut sichtbar, zu meiner Wohnung zurückgekehrt war. Sein Name war Paul. In letzterem Fall hatte Paul für mich immer den Öffner der kleinen Tür neben der Drehtür betätigt, sodass ich, ohne meinen Schritt zu verlangsamen, eintreten konnte. Ganz egal, womit er gerade beschäftigt war, das Entgegennehmen von Schlüsseln und Papieren, Gespräche mit Handwerkern oder private Lektüre, ihm entging nichts. Dann hatte sich folgende Szene abgespielt: Ich hatte mich soeben, seine Unfreundlichkeit ignorierend, hinter einem älteren Mann, wahrscheinlich Unidozent, und einer Frau mit einem kleinen Kind und zwei prall gefüllten Trader-Joe’s-Tüten dem linken der beiden Aufzüge zugewandt, als Paul mir plötzlich quer durch die Halle zurief:

Mister! I want you to leave this place. You are not welcome anymore.

Ich hatte zuerst gedacht, ich hätte mich verhört. Mein Englisch ist eigentlich ganz gut. Trotzdem kommt es manchmal vor, dass ich einfache Sachverhalte nicht verstehe. Es muss bloß um mich herum zu laut sein, jemand spricht schnell oder ich bin erschöpft.

Aber es war kein Irrtum. Er öffnete die Pforte neben der Empfangstheke, schloss sie sorgfältig wieder hinter sich und kam direkt auf mich zu. Dicht vor mir blieb er stehen. Eine kurze Pause entstand. Es war ein Augenblick, in dem ich plötzlich alles um mich herum mit großer Genauigkeit wahrnahm: die elektrischen Kerzen an dem großen Plastikweihnachtsbaum, der ein paar Tage zuvor in der Eingangshalle aufgestellt worden war, die Schließfächer in den beiden Nischen links und rechts der Eingänge, die vielen Kratzer an den Aufzugtüren. Ganz kurz kam es mir so vor, als wäre ich in der Lage, all diese unzähligen kleinen Dinge auf einmal zu erfassen. Ein grandioses Gefühl, aber es machte mich misstrauisch. Die Situation, in der ich es schon mal empfunden hatte, stieg wieder in mir auf. Sie lag lange zurück, erinnerte ich mich, und es war keine besonders gute gewesen.

Ich holte tief Luft und hielt den Schlüssel zur Wohnung krampfhaft in meiner Hand verborgen. Er war klein, messingfarben und an den Kanten schon reichlich abgewetzt. Paul begriff sofort, dass ich jetzt zu irgendwelchen Erklärungen ansetzen würde, und ein genervter, fast angeekelter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Doch das hielt mich nicht davon ab, draufloszureden. Endlos lange und ohne dass es etwas nutzte.

Wie die zwei von Paul herbeigerufenen Männer aus­sahen, die mich kurz danach von hinten an den Schultern packten, mir den Schlüssel aus der Hand wanden und mich aus der Empfangshalle schleiften, habe ich schon gar nicht mehr mitbekommen. Sekunden später stand ich bereits draußen auf dem großen Platz vor den drei Gebäuden. Und erst da setzte mein Bewusstsein wieder ein, ruckartig und viel zu schnell. Ich machte ein paar rudernde, hilflose Bewegungen. Wie ein Gefangener, den man unerwartet freigelassen hat und der von seiner Freiheit überfordert ist. Dabei blinzelte ich hoch zum Himmel, und meine Augen fingen sofort an zu tränen. Das ist mir während der Zeit in New York ständig passiert. In den ersten Tagen dachte ich noch, es würde am Jetlag liegen. Aber auch danach zerrten das grelle Licht und der scharfe Wind an meinen Augen und machten sie von Tag zu Tag empfindlicher. Es gab während meiner Zeit dort oft klaren blauen Himmel und viel Sonne, manchmal auch Sturm und Regen. Aber niemals vagen Dunst, wie ich ihn aus Europa kenne. Überhaupt keine milden Zwischenzustände.

In der Mitte des Platzes zwischen den drei Häusern steht eine graue, ziemlich hässliche Skulptur von Picasso. Dort ging ich hin, setzte mich auf den Sockel, atmete ein paarmal tief durch und versuchte, mich zu beruhigen. Ich würde in das Gebäude, in dem ich bis eben noch gewohnt hatte, bald wieder zurückkehren. Aber das konnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen.

Jetzt saß ich auf der Bank und fror. Nervös kickte ich mit der Schuhspitze kleine Klumpen Schnee auf den Weg. Es macht mich immer verrückt, wenn Menschen beim ­Reden unsicher sind und dadurch unpräzise werden und ihre eigenen Aussagen ständig abschwächen. Wenn jemand zum Beispiel den Höhepunkt eines Satzes mit »weiß nicht« oder »irgendwie« einleitet oder nach einer glasklaren Aussage anschließend noch ein »und so« hinterherschiebt. Meine Eltern machen das oft. Überhaupt ziemlich viele Leute in eurem Alter. Ist euch das schon mal aufge­fallen? Sie sagen etwas und gleichzeitig verbergen sie es. Ich finde das verwirrend. Beim Zuhören fühle ich mich immer wie auf Schmierseife. Wahrscheinlich bin ich Wissenschaftler geworden, weil man da immer genau sein muss. Allerdings kam ich jetzt selber ins Schwitzen. Wie sollte man nennen, was mir gerade passiert war, war es ein Rausschmiss? Das ergab keinen Sinn.

Ich schüttelte den Kopf und seufzte. Ein etwas zu lauter Seufzer, fast ein kleiner Schrei. Erschrocken sah ich hoch. Eine Frau in Sandalen und Pelzjacke, mit zwei Zwillingsschoßhündchen auf dem Arm, schlenderte dicht an mir vorbei, ungerührt. Während meiner Zeit hier hatte ich oft darüber nachgedacht, wie man beschaffen sein musste, um in dieser Stadt zu leben. Wenn man nicht wohlhabend war, durfte man wahrscheinlich nicht oft krank sein, man musste Körper und Geist immer fit halten. Und gute Organisation war wichtig. Arbeit, Wohnung und Freundschaften, das musste alles stimmen. Wenn man in mehr als einem dieser Bereiche Probleme bekam, geriet die Existenz hier sicher schnell ins Wanken. Und dann konnte man wahrscheinlich nicht darauf hoffen, dass ein günstiger Zufall, ein Mensch, ein Gespräch oder ein unerwartetes Angebot alles wieder herumriss. Abgesehen von der Grünanlage, in der ich jetzt saß, hatte ich während meiner Zeit hier in der Nähe keine Orte gefunden, die man aufsuchen konnte, ohne dort etwas Bestimmtes zu tun zu haben oder Geld auszugeben. Jeder schien immer irgendein Ziel zu haben, niemand bemerkte den anderen, wenn man nicht gerade miteinander verabredet war. Nur die Gestrandeten waren anders. Sie achteten auf alles ganz genau. Vor ein paar Minuten war ein ausgemergelter Mann an mir vorbeigeschlurft, hatte die Abfallkörbe nach Essensresten abgesucht und mich scharf gemustert. Ich hatte mich komplett durchleuchtet gefühlt.

Eine Zeit lang sah ich einfach nur hin zu der Straße, die sich zu meiner Linken jenseits von ein paar kahlen Sträuchern zwischen den Häuserblocks auftat, und zu der Kreuzung dahinter mit dem etwas zurückgesetzt stehenden flachen Gebäude, in dem sich ein Supermarkt befand. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich wollte sie wegwischen, aber dann war ich doch erleichtert über die flüssige Wärme, die meinen Blick überschwemmte und alles in eine wohltuende, schwankende Unwirklichkeit tauchte.

Die Luft um mich herum war noch die Gleiche. Ein ­banaler Gedanke, aber er war tröstlich. Ich versuchte, ihn weiterzuspinnen: Ein paar Meter entfernt von der Stelle, wo ich jetzt saß, hatte ich in den ersten Tagen mit einer Biologiestudentin, die jünger war als ich, asiatischer Abstammung und sehr schön, ein Gespräch über die Baum­arten im Central Park geführt. Und der kleine Laden hinter mir, an der Straße, die an das südliche Ende des Parks grenzte: Vorhin war ich, nachdem ich mich nicht gleich entscheiden konnte, ob ich etwas kaufen wollte, vom Inhaber, der mir meine unsichere Lage offenbar ansah, sofort rausgeworfen worden. Bei meinem ersten Einkauf am Tag der Ankunft dagegen hatte ich längere Zeit vergeblich nach einer Flasche Wein gesucht, und derselbe Mann hatte mir geduldig erklärt, wo der Shop mit Lizenz ein Stück den Broadway hoch zu finden war, in dem ich welchen bekommen konnte.

Mein rechtes Knie fühlte sich heiß an. Ich griff in die Manteltasche. Dort steckte mein Telefon, es lief auf Hochtouren und suchte die ganze Zeit nach einer Verbindung. Ich sollte es abschalten, dachte ich, Strom sparen. Aber so sehr ich mir auch einredete, dass das vernünftig wäre, meine Finger umklammerten das wärmende Gerät immer fester.

Ich muss mir jetzt etwas einfallen lassen, dachte ich. Und außerdem musste ich herausfinden, warum ich in ­dieser Lage war. Bloß, wo sollte ich beginnen? Ein eigen­artiger Tag in Berlin vor ein paar Monaten fiel mir ein. Ich hatte in meinem kleinen Institutszimmer am Schreibtisch gesessen, als plötzlich ein Besucher in der Tür stand. Es hatte ein paar Sekunden gedauert, bis ich ihn erkannte. Dann sah ich plötzlich einen Schulhof vor mir, ebenfalls in Berlin, an einer öden Straße am Stadtrand. Und ein ­weiteres Zimmer, genauso klein, mit einem grau gekachelten Fußboden. Andere Bilder folgten, in raschem Wechsel, aus dem Zusammenhang gerissen und in einen seltsamen Glanz getaucht, wie Treibgut.