Was Dunkelheit war - Inka Parei - E-Book

Was Dunkelheit war E-Book

Inka Parei

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Beschreibung

September 1977. Ein alter Mann liegt nach einem Zusammenbruch zu Tode erschöpft in seinem Bett. Im Treppenhaus hat er einen verdächtigen Fremden gesehen. Endlos lange dauert es, bis der Morgen kommt. Die Geräusche der Nacht beunruhigen ihn, sie lösen Bilder, Fragen, Erinnerungen in ihm aus - die Eindrücke des vergangenen Tages und seines vergangenen Lebens.Der alte Mann fragt sich, warum er das Haus geerbt hat, in dem er jetzt wohnt, die Stadt verlassen hat, in der er sein Leben lang zu Hause war - ist er freiwillig hier? Was hat den Fremden hergeführt? Wozu dient die Tür, die der Metzger und der Wirt am Vormittag im Hof gezimmert haben? Seine Beobachtungen der Vorgänge im Haus deuten eine Geschichte an, die mit seiner eigenen Lebensgeschichte, in deren Zentrum seine Kriegsschuld steht, seltsam verflochten zu sein scheint.Der Wunsch, das Rätsel um die Identität des Fremden zu lösen, wird für den alten Mann zu seiner letzten Lebensaufgabe.

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Seitenzahl: 149

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Inhalt

[Cover]

Titel

Was Dunkelheit war

Das Haus lag …

Draußen schlug eine …

Er schleppte sich …

Nein, da war …

Impressum

Kurzbeschreibung

Autorenporträt

Was Dunkelheit war

Das Haus lag am westlichen Stadtrand von Frankfurt, in der Nähe eines Flusses, der Nidda. Der alte Mann hatte nicht damit gerechnet, daß er es erben würde, er hatte einen Schreck bekommen, als er davon erfuhr. Im ersten Moment hatte er sich an den früheren Besitzer nicht mehr erinnern können.

Es hatte eine Nachkriegsfassade, schmutzig und ausdruckslos. Wahrscheinlich war es Ende der fünfziger Jahre das letzte Mal gestrichen worden. Der Putz an der Vorderfront bestand aus rauhen, wurmförmigen Kerben, in denen sich der Dreck der Jahrzehnte eingelagert und schwarze Rillen gebildet hatte. Es war ein Eckhaus mit einer Gaststätte und einem Metzgerladen im Erdgeschoß, und die Straße Alt-Rödelheim, in der es stand, war eng und gewunden. Tagsüber fuhr in zehnminütigen Abständen eine sehr laute Straßenbahn mit der Aufschrift »23 Röderbergweg« vorbei. Er mochte das Geräusch, es war ihm schon nach kurzer Zeit vertraut, in den Nächten kam ihm die Stille wie etwas Künstliches vor.

Er hatte sich an seine neue Umgebung nicht richtig gewöhnt, wie viele Leute in seinem Alter, die noch mal umzogen, ein Teil von ihm lebte noch in Berlin. Wenn er müde war oder wenn er ein paar Gläser zuviel getrunken hatte, kam es manchmal vor, daß er sein Bett nicht auf Anhieb finden konnte, oder er ertappte sich dabei, die Türen auf der falschen Seite zu suchen.

Bei seinem Umzug hatte er nicht mehr viel mitnehmen wollen. Seine Schrankwand hatte er zurückgelassen und seine Bücher an einen Nachbarn verschenkt, der am Wochenende auf einer Grundstücksbrache in der Nähe der Kreuzberger Möckernbrücke Trödel verkaufte. Der Händler hatte ihm die langen Holzkästen gezeigt, in denen der Nachlaß Verstorbener verhökert wurde, ihre Briefe und Familienbilder und persönlichen Dokumente, und daraufhin hatte er die Fotos, die noch in seinem Besitz gewesen waren, verbrannt.

In seinem neuen Wohnzimmer gab es nur noch zwei Sessel und einen Tisch und einen alten Vitrinenschrank. Der Tisch war meistens leer bis auf eine farblose Decke und eine Dose aus Tropenholz, die für Besucher gedacht war und steinalte Zigaretten enthielt.

Als er am Abend des sechsten September aufwachte, war es bereits dunkel. Er war am Fenster eingedöst und mit dem Ohr gegen die Scheibe gestoßen. Er schrak hoch und rieb sich die ausgekühlte Seite seines Gesichts. Draußen war Nacht, aber er hatte die Dunkelheit nicht kommen sehen, auch nicht den Regen. Der Regen hatte überhaupt kein Geräusch.

Einen Moment lang war ihm nicht klar, wo er sich befand. Er hatte einen schlechten Traum gehabt. Die Scheibe vor ihm war beschlagen, und dahinter sah alles verschwommen aus und war ohne Tiefe. Er wischte mit dem Hemdsärmel über das Glas. Unter ihm lag eine dicke Asphaltkurve, die sich lautlos verfärbte, sie wand sich wie der Rücken eines Tieres um die Häuser und mündete nach ein paar Metern in eine Hofeinfahrt. Er sah parkende Autos und etwas weiter entfernt das Licht einer Straßenlaterne, das auf den schon feuchten Teilen des Pflasters trübe und grobkörnig glitzerte. Die Fassade des Gebäudes gegenüber war nur wenige Schritte entfernt, sie neigte sich nach vorn, eine Wand aus Schieferplatten, wie riesige Reptilschuppen aneinandergeschichtet.

Worum es in dem Traum gegangen war, hatte er wieder vergessen, nur daß es kalt gewesen war, wußte er noch. Es hatte nach Schnee gerochen, und er hatte Birkenstämme gesehen, die sah er in letzter Zeit oft; dicht beieinander stehende Birken, mit Spuren von Streifschüssen.

Ein paar Minuten lang achtete er nur auf seinen Atem. Es war eine mondlose Nacht, schon kühl. Die Kinder vom Wirt heulten. Sie hatten noch Licht an. Lärm drang sehr laut zu ihm herauf, der Hof, zu dem er jetzt immer öfter, bei Tag und Nacht, hinaussah, war wie ein Schacht, in dem die Geräusche sich sammelten, auch ein Flüstern.

Er zog sein Fernglas hinter der Heizung hervor und richtete es auf die gegenüberliegende Hauswand.

Er hatte noch nie etwas Größeres besessen, nicht mal ein eigenes Auto. Natürlich bekam er jetzt wesentlich mehr Geld als früher, aber diese Einnahmen bedeuteten ihm nicht viel. Er hatte nächtelang über den Papieren gesessen, die man ihm übergeben hatte, besonders die Versicherungen, die für das Haus abgeschlossen waren, hatten ihn beschäftigt, er hatte sich sämtliche Bestimmungen durchgelesen, die mit ihnen verbunden waren, sich aber eingestehen müssen, daß er sie nicht alle begriff. Er wußte nicht, gegen welche Katastrophen das Haus wirklich geschützt war, er war jetzt immer wachsam.

Über den Parkplätzen lag die Wohnung eines Ehepaares, das Dörr hieß, sie waren die ältesten Mieter im Haus. Ihre Wohnung war auch im Sommer überheizt, in der Küche tropfte Kondenswasser von den Scheiben. Die Frau saß am Tisch und strickte, er sah einen Teil ihrer Beine und Knie und eine mit Wollbällen gefüllte Plastikschüssel. Der Sohn der Dörrs stand daneben am Herd, ein pickliger Junge mit Schnauzbart. Er rührte in einem Topf und warf, ohne hinzusehen, eine leere Konservendose in den Abfalleimer.

Das Kinderzimmer befand sich ein Stockwerk höher, es war meistens unaufgeräumt, ihm kam es verwahrlost vor. Die Schranktüren standen offen, eine schwankende Lampe warf trübes, von Bastfäden durchbrochenes Licht durchs Zimmer.

Es waren Mädchen, er verstand nicht, warum sie keine Nachthemden trugen. Sie saßen auf dem oberen Bett, ein Knäuel aus mageren Armen und Beinen in Schlafanzügen aus Frottee. Auf den ersten Blick konnte er nicht erkennen, ob die beiden kämpften oder beieinander Schutz suchten, dann sah er jedoch, daß sie stritten. Ihre Haare waren zerzaust, die Ältere drückte ihre Schultern an den Bauch der Jüngeren, die ihr die Hände von hinten um den Hals krallte.

Als die Kinder sahen, daß jemand kam, trennten sie sich und schrien laut durcheinander. Eine Männerhand kam ins Bild, eine Faust, in die zwei Zahnbürsten eingeschlossen waren. Oben ragten die Bürstenköpfe heraus. Der Wirt war ein kräftiger, schwarzhaariger Mann, ungefähr Mitte Fünfzig, unter seinen Augen hingen auffallend dicke Tränensäcke. Er deutete auf herumliegende Gegenstände im Zimmer und schrie etwas und dann trat er ans Bett der Kinder und öffnete seine Gürtelschnalle.

Der alte Mann ließ das Fernglas sinken, seine Hände zitterten. Er hatte grobe, kräftige Hände, die mit Altersflecken und weißen pigmentlosen Stellen bedeckt waren, die Adern ragten auffällig unter der Haut hervor. Er hatte die zerfurchten Hände eines körperlich arbeitenden Menschen, obwohl er nie wirklich schwere Arbeit verrichtet hatte, er war Postbeamter gewesen.

Fast konnte er das zischende Geräusch hören, mit dem das Leder des Gürtels aus den Schlaufen rutschte. Die Jüngere der beiden Mädchen riskierte einen Blick nach draußen, der plötzlich lang wurde, zögerlich, als ob sie ihn gesehen hätte. Dann wandte sie sich um, rannte zur Tür, jemand löschte das Licht.

Etwas unangenehm Lautes riß ihn kurze Zeit später hoch. Er war zusammengeschreckt, offenbar war er noch einmal eingedöst. Er mochte das Geräusch nicht, er fror.

Es ist die Schlaflosigkeit, dachte er. Sie macht mich ganz benommen.

Zerstreut nahm er den Kopf von der Scheibe und kratzte sich am Kinn. Seine andere Hand, die eben noch auf dem Schoß gelegen hatte, strich unruhig über seine Beine, sie stieß auf ein zerknülltes Taschentuch, und von da aus wanderte sie weiter, zu seinem linken Knie. Er befühlte es vorsichtig und zwängte seine Hand in den Spalt zwischen Wand und Heizkörper, ein kleines Stück, und von da aus tastete er nach oben, über das Fensterbrett.

Es war leer.

Er dachte über die Uhrzeit nach. Im Taumel des Aufwachens hatte er sein Zeitgefühl verloren, das brachte ihn durcheinander, er wußte sonst immer genau, wie spät es war.

Vorsichtig drehte er sich um. Die Reste seines Abendessens standen noch auf dem Tisch, ein angebissenes Leberwurstbrot, eine Gewürzgurke. Da war es schon wieder, das seltsame Geräusch, offenbar rüttelte unter ihm jemand an der Tür zum Hotel.

Er beugte sich ein Stück vor und sah nach unten. Der Hof war still und kalt. Gegenüber war alles dunkel, die Fenster im anderen Gebäudeteil wurden nachts mit braunen Klappläden verschlossen, sie sahen klein und blind aus, wie Schießscharten. Seitlich vom Haus lag das Gemüsebeet des Metzgers, jemand hatte es am Tag davor mit einer Lieferwagenplane abgedeckt, auf der ein Schwein abgebildet war. Im Rücken des Tieres steckte eine Gabel, sein Körper war unterteilt und numeriert in die Bereiche, die nach dem Schlachten verwertet werden, und zwischen Schenkeln und Leib klafften breite Lücken, wie fehlende Gelenke. Auf der Oberfläche der Plane hatte sich eine Wasserschicht gesammelt, sie floß in die Rillen eines krummen, an den Kanten zerschmetterten Plattenwegs, der vom Beet zu einem Wäscheständer führte und von da aus weiter zum Hauseingang. Ein Hüpfgummi baumelte am Pfahl, darunter stand ein Blechnapf, ein muschelförmiges Sieb ragte daraus hervor, kleine, zerbissene Bälle, Schaufelgriffe.

Das Hotel gehörte zur Gastwirtschaft, ein Gang mit fünf oder sechs Zimmern, von denen die meisten zur anderen Seite lagen, zum Nachbargrundstück. Der Gang hatte eine Verbindung ins Treppenhaus, eine Feuerschutztür, die aber nicht benutzt wurde. Von den Hotelgästen im Haus hörte er fast nie etwas, obwohl er vermutete, daß zwei der Räume an seine Wände grenzten, an die im Schlafzimmer und an die Wand in der Küche.

Der Regen war inzwischen stärker geworden, er fiel jetzt in dicken, seitwärts gerichteten Strichen. Es hatte schon lange nicht mehr geregnet. Der Sommer war stickig und heiß und der Himmel fast immer auf eine dunstige, verschmierte Art hellblau gewesen. Eine stark verdünnte Wolkenschicht hatte wochenlang ohne Niederschlag am Himmel gestanden, aber jetzt tropfte draußen das Wasser aus den Fallrohren der Dachrinnen und sammelte sich in den Abflüssen. Die betonierten Rinnen zerschnitten den Hof in drei Teile, sie trafen sich in der Mitte in einer Senke, einem uralten Zugang zum Abwasserkanal. Ein mit Kalk und Dichtungshaaren verstopftes, Fäulnis ausdünstendes Gitter hing darüber, mit zerbrochenen und schief wieder ineinandergerosteten Streben, braun und rissig. Es stank tagelang nach Unrat, wenn der Hof bei starkem Regen unter Wasser stand.

Der alte Mann zog seinen Pullunder über die Hüfte. Das Rütteln unten hörte nicht auf, es war ein beunruhigendes und drängendes Geräusch, und dazu wurde jetzt auch geklopft. Er betrachtete seine Beine. Sie waren an den falschen Stellen dick, nicht dort, wo die Muskeln sein sollten, und dadurch sahen sie ganz gerade aus und auf eine schlaffe Art biegsam, wie die Glieder von Stofftieren.

Er richtete sich auf. Wenn er nach längerer Zeit des Sitzens stand, war ihm immer ein bißchen schwindelig, und er hatte einen Moment lang das Gefühl, nur aus diesen Beinen zu bestehen. Er wartete ab, bis der Schwindel nachließ, dann nahm er seine Krücken, graue Stangen, die in drei Gummifüßen endeten. Er tastete sich langsam vor, wie er es immer am Anfang tat oder auf rutschigem Boden oder wenn er sich unsicher fühlte. Er stützte sich rechts auf und schob den Fuß etwas nach vorne und dann die linke Krücke, bis Beine und Krücken versetzt zueinander standen wie vier Gliedmaßen, so ging er die Dielen entlang, bis zur Küche.

Der Flur kam ihm dunkel vor und schmal wie ein Graben. Er war in einer Farbe gestrichen, die offenbar seit jeher hier an den Wänden hing, ein düsteres Gelb oder Grün auf Resten einer Tapete, die nur noch durch den Anstrich haftete. Es roch feucht und metallisch. Das Rütteln war jetzt undeutlicher zu hören.

Am Eingang zur Küche blieb er stehen. Seine Küche war klein, ein ungekachelter Raum mit einem Klappfenster zwischen zwei Dachschrägen. Wenn er ganz drin war, füllte er sie fast vollständig aus und konnte sich nur mit vorsichtigen Vierteldrehungen zu allen Seiten wenden, zum Herd, zum Schrank und zum Eßtisch. Er schaltete das Licht an, schob sich ein paar Zentimeter nach vorne und zog an der Schublade unter der Tischplatte. Ein etwas streng nach Schmierfett riechender, mit Schrankpapier ausgeschlagener Kasten kam zum Vorschein, in dem Bleistiftstummel, zerknitterte Rabattmarken, alte Kugelschreiber, Korken und rote und grüne Gummibänder durcheinanderlagen. Dazwischen steckten die Schlüsselbunde seiner Mieter, Zugänge zu Wohnung, Garage und Keller der Dörrs, beschriftet und mit einer Schlinge aus Klebstreifen zusammengehalten, ein Ring an einem Anhänger aus braunem Leder, den kürzlich der Wirt bei ihm abgeliefert hatte, und ein weiteres Paar, der Einlaß zur Vorder- und Hintertür der Metzgerei. Der Metzger hatte ihm gleich zu Beginn den hinteren Teil des Hauses abgekauft und ihn abgerissen, er hatte sich ein neues Wohnhaus gebaut, einen flachen, häßlichen Bau mit einer Sauna im Keller. Alle Schlüssel des Hauses, die der alte Mann besaß, waren mit einer Paketkordel zu einem großen, klappernden, aneinanderhängenden Ganzen zusammengebunden, bis auf einen, den er noch nie benutzt hatte, es war ein flacher, messingfarbener. Er nahm ihn heraus und steckte ihn in seine Hosentasche.

Jemand sollte wach werden, dachte er. Die Wirtsleute sollten jetzt wach werden.

Wahrscheinlich waren sie zu müde, sie wurden morgens immer von Maschinen und von den Rufen der Straßenarbeiter geweckt. Ihr Schlafzimmer lag im Vorderhaus, über dem Zentrum einer Baustelle, wo man seit Tagen Teile alter Bürgersteige abtrug und sie auf Lastwagen stapelte, von früh um halb sieben bis nachmittags um drei, in sorgfältig markierten Reihen, wie Knochenfunde. Zu kurzer Schlaf war wie eine dünne oder zu kurze Decke, etwas, an dem man in ständiger Rastlosigkeit und Wachsamkeit ziehen mußte. Alle störenden, nicht unmittelbar Gefahr anzeigenden Geräusche wurden bei so einer Art von Schlaf mit unruhigen, sie in den Traum mit einbeziehenden Bewegungen abgeschüttelt, es war ein kalter Schlaf, man wurde nicht warm, man fröstelte beim Aufwachen. Er stellte sich die beiden vor, die Wirtsleute, blaß, verkatert und durstig, wie sie sich ihre Bettdecken über die Gesichter schoben, das Klopfen draußen wegwälzten.

Bei mir ist es genauso, dachte er, es war das erste Mal, daß ihm dieser Zusammenhang auffiel. Ich friere andauernd und schlafe diesen dünnen, trostlosen Schlaf, wie zu meiner Zeit als Soldat, bloß müde bin ich überhaupt nicht mehr, jedenfalls nicht, wenn ich versuche, die Augen zu schließen. Einfach nie.

Er drehte sich um, zur Nische hinter der Küchentür, wo seine Krücken standen. Eine von beiden kippte um und fiel auf einen Stapel alter Zeitungen. Er beugte sich vor, um sie aufzuheben, und blickte in das Gesicht von Elvis Presley, es war ein Bild kurz vor seinem Tod, eine Nahaufnahme. Man konnte die Schweißtropfen an seinem Hals sehen, die Schatten unter den Augen und jedes einzelne seiner Haare, sie wurden durch das Bühnenlicht von hinten angestrahlt und sahen dadurch auf eine seltsame, entfärbte Art grau aus.

Im Treppenhaus war es dunkel. Der Gang roch nach Putzmittel. Die Gummifüße der Krücken hafteten immer sehr fest auf dem schwarzen Stein des Fußbodens; beim Gehen, wenn man sie abhob, gab es ein schmatzendes Geräusch. Der alte Mann legte die Hand auf den Lichtschalter. Hinter sich spürte er den Luftzug seines geöffneten Wohnzimmerfensters, dann schlug es zu, und mit ihm die Tür, und fast zeitgleich knallte unten im Bauch des Hauses ein Kellerschloß. Er lehnte sich gegen die Wand und rieb seinen Kopf für einen Moment an ihrer Kälte. Dann fiel ihm etwas ein. Er fühlte in der vorderen Hosentasche nach seinem Schlüsselbund, aber noch während er das tat, wußte er schon, daß er den Schlüssel bei sich hatte, er hatte am Haken über dem Herd gehangen, wie immer, er hatte ihn mit der üblichen Handbewegung abgenommen, bevor er die Küche verließ. Er hatte sich in letzter Zeit angewöhnt, kleinlich über seine Schlüssel und Papiere, zugezogene Gardinen und glattgestrichene Tischtücher zu wachen, und während er jetzt an der Wand stand, atemlos und etwas verwirrt, kam es ihm vor, als ob er mit dem überstürzten Aufbruch aus seiner Wohnung aus dieser Angewohnheit heraustrat wie aus einem Bild. Er war als jüngerer Mensch immer sehr zerstreut und vergeßlich gewesen, das wußte er noch genau. Er dachte nur selten daran.

Die Feuerschutztür befand sich in unmittelbarer Nähe des Treppengeländers. Er machte ein paar Schritte zum Geländer, lehnte die Krücken daran und holte den Schlüssel heraus. Das Treppenhauslicht spiegelte sich im Lack der Tür und blendete ihn. Die Tür war weiß gestrichen, auch der Griff und das hinter einer Plastikscheibe verborgene Schloß. Er drückte die Klinke herunter und versuchte, die Scheibe beiseite zu schieben, aber sie klebte fest, war mit dem Rest der Tür durch die Farbe verbunden. Mit der Schlüsselkante ritzte er sie an, der Lack riß.

Der Schlüssel paßte. Er stieß die Tür auf und wich etwas zurück, eine unangenehme, stickige Wärme kam ihm entgegen. Er mußte husten und wäre, als das Husten seinen Oberkörper nach vorne riß, fast über die Metallschwelle gestolpert, die die beiden Flure voneinander trennte. Er schimpfte darüber leise und hielt sich am Rahmen fest, dann trat er in den Hotelflur.

Der Gang war schmal und niedrig, es roch nach Nikotin. Auf der einen Seite des Flures befanden sich die Türen zu den Gästezimmern, gegenüber erstreckte sich der Sims einer Heizkörperverkleidung, auf der Bembel und Bierseidel standen und ein paar leere Zettelständer des Fremdenverkehrsamtes. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal hier gewesen war, es mußte schon eine Weile her sein. Am Ende führte eine kurze Treppe nach unten. Als er sie erreicht hatte, blieb er stehen. Er konnte die Gehhilfen beim Treppensteigen nicht gebrauchen und mußte sie deshalb mit dem Stoffriemen, der an einem der Griffe hing, aneinanderbinden, um sie sich über die Schulter zu hängen, und dann, dachte er, würde er die Geländerstangen fest packen, mit beiden Händen, um seine Beine langsam und nacheinander entlang der Stufen nach unten zu schieben. Aber jetzt wurde ihm klar, daß das Rütteln aufgehört hatte und daß es im Haus auch keinerlei Klopfgeräusche mehr gab, und er blieb einen Moment lang stehen, wie betäubt von dieser Erkenntnis und unschlüssig, in welche Richtung er sich nun bewegen sollte. Er gähnte und sank etwas in sich zusammen. Er fing auch wieder an zu frieren. Jemand im Haus zog eine Toilettenspülung, und ein Autoreifen quietschte in der Ferne.

Ich hätte mich hinlegen sollen, dachte der alte Mann, anstatt hier nachts herumzustolpern, ich bin ein alter störrischer Dummkopf, ich bin so erschöpft. Vielleicht hätte ich endlich einmal tief schlafen können.