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Wenn die kleine Isor von ihren Streifzügen zurückkehrt, kann ihre Mutter nur erahnen, wo sie war. Mit den Fingern löst sie die Zöpfe der Tochter, findet Löwenzahnblüten, Grashalme, einen Käfer. Erzählen wird Isor nichts – denn Isor ist nicht wie andere Kinder. Sie spricht nicht, lernt nicht, lebt in stummen Gedanken und tobenden Wutausbrüchen. Gefangen in einer Realität, die nicht die ihre ist, treibt sie ihre Eltern in die Verzweiflung. Bis sie eines Tages auf Lucien von nebenan trifft und in dem vorsichtigen, einsamen Alten eine verwandte Seele erkennt. Alice Renard erzählt von einem ungewöhnlichen Mädchen und einer ungleichen Freundschaft, vom Brodeln unter der Oberfläche, vom Mythos der Normalität und der Suche nach einer Welt, die groß genug ist für das Unerwartete.
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Seitenzahl: 174
Veröffentlichungsjahr: 2025
Isor ist nicht wie die anderen Kinder. Sie spricht nicht, lernt nicht, lebt in stummen Gedanken und tobenden Wutausbrüchen. Gefangen in einer Welt, die nicht zu ihr passt, treibt sie ihre Eltern in die Verzweiflung. Bis sie eines Tages auf den einsamen Alten von nebenan trifft und in ihm eine verwandte Seele erkennt.
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Alice Renard (*2002 in Paris) studierte mittelalterliche Literatur und beschäftigt sich mit Neurodiversität und Hypersensibilität, im Alter von sechs Jahren wurde sie als frühreif eingestuft. Für ihren Debütroman Hunger und Zorn erhielt sie den Prix Méduse und den Prix littéraire de la Vocation.
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Katharina Meyer, geboren 1979, absolvierte ihr Übersetzerstudium in Düsseldorf und Santiago de Compostela. Sie übersetzt aus dem Französischen, Englischen und Spanischen.
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Lena Müller, geboren 1982, studierte Kultur- und Literaturwissenschaften in Paris und Hildesheim. Sie übersetzt aus dem Französischen und arbeitet als Autorin.
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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
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Alice Renard
Hunger und Zorn
Roman
Aus dem Französischen von Katharina Meyer und Lena Müller
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 2023 bei Éditions Héloïse d’Ormesson S.A.S. EHO, Paris.
Motto: Perceval, oder die Geschichte vom Gral, aus dem Altfranzösischen von Konrad Sandkühler, Verlag am Goetheanum, Stuttgart 1957, S. 25.
Originaltitel: La Colère et l’Envie
© 2023 Éditions Héloïse d'Ormesson
Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit der Literarischen Agentur Gaeb & Eggers, Berlin
© by Unionsverlag, Zürich 2025
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Houcine Ncib (Unsplash)
Umschlaggestaltung: Sven Schrape
ISBN 978-3-293-31192-3
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
HUNGER UND ZORN
Erster Teil – MutterZweiter Teil – Die Familie aus Nr. 14 war immer sehr …Dritter Teil – PapEpilogMehr über dieses Buch
Über Alice Renard
Über Katharina Meyer
Über Lena Müller
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Hell und lachend waren die Augen
im Kopfe des wilden Junkers.
CHRÉTIEN DE TROYES
Mutter
Mein Küken, mein Kleines, ich habe dich im Rhythmus der Geheimnisse meines Bauches geschaffen und schließlich heranwachsen sehen. Trotz aller Widerstände. Ungeachtet all der unerklärlichen Dinge, die sich dir in den Weg gestellt haben.
Vater
Ich war nicht dafür gemacht, der Vater eines solchen Kindes zu sein. Heute, bald, in absehbarer Zeit ist sie gar kein Kind mehr. Sie wird langsam groß. Aber ich bin noch immer nicht dafür gemacht, ihr Vater zu sein.
Mutter
Ich knete den Kuchenteig und denke an dich. Deine trotzigen und unschuldigen Gesichter jeden Alters tauchen vor mir auf, legen sich übereinander und lassen mich nicht mehr los. Ich bin glücklich. Ich weiß, du bist hier, in diesem Moment, nur wenige Schritte hinter mir, auf dem grünen Sofa starrst du ins Licht, mit halb geschlossenen Augen. Und diese Momentaufnahme ist wie das Titelbild zu all meinen Erinnerungen, in denen ich gerade blättere.
Vater
Sie hatte schon immer eine Art Geistesschwäche, auch wenn es nie jemand gewagt hat, das wirklich auszusprechen.
Ob sie überhaupt begreift, dass wir froh sind, weil heute ihr Geburtstag ist? Wir, die so viele Opfer für sie gebracht haben …
Mutter
Ich als deine Mutter weiß es: Wenn deine Augen so durchdringend sind, wenn wir deinen Blick nicht zu fassen kriegen, dann, weil du Dinge begriffen hast, die wir niemals begreifen werden.
Vater
Begreifst du überhaupt, was dieser Tag für uns bedeutet? Diese bescheidene Freude, kannst du sie überhaupt mit uns teilen?
Fast jede Nacht träume ich davon, dass Maude wieder schwanger ist. Und dann wache ich schweißgebadet auf. Denn wenn ich meine Hand auf ihren Bauch legen will, erscheinen mir immer wieder deine Augen, Isor, die mich durch die Bauchdecke hindurch anstarren. Deine Augen, Isor, die die Farbe der meinen haben, aber nicht ihren Ausdruck. Nein, dieser Blick kommt ganz gewiss nicht von mir. Aber wo bin ich in dir? Wo?
*
Mutter
In deinen Zöpfen finden sich im Frühling immer unerwartete Dinge. Wenn du am Abend nach Hause kommst, nachdem du den ganzen Tag durch die Gegend gestromert bist, und dich auf den kleinen Hocker setzt, damit ich dir die Haare bürste, und meine Finger durch dein Haar gleiten, um die Zöpfe zu lösen, die sie am Morgen geflochten haben, sind zwischen den Strähnen jedes Mal kleine Schätze versteckt. Pollen, Löwenzahnblüten, Rindenstückchen, Grashalme und manchmal sogar ein kleiner Ohrenkneifer.
Wie schaffst du es nur, all diese Dinge aufzulesen, meine Kleine? Wie kommt es, dass sich alles an dich klammert, wenn du unterwegs bist? Selbst tief im Haar finden sich Sachen, die sich in deinen schwarzen Locken verzwirbelt haben. Anfangs war ich besorgt. Jetzt kann ich darüber lachen und zeige dir die Fundstücke, damit du mit mir lachst. Du antwortest mir stets mit einem Lächeln, als handele es sich dabei um die natürlichste Sache der Welt, und manchmal wirst du sogar rot, als zeigtest du mir dein Innerstes, das so schwer zu erreichen ist.
Vater
Vor allem ihre Tränen machen mir Angst und sind mir fremd. Sie sind einfach nicht zu begreifen, weder für mich noch für andere. Manchmal erscheinen mir ihre Tränen wie Säure oder Harz aus einem Feuer. Sie rinnen mit solchem Schmerz über ihr Gesicht und sind so unerklärlich und absurd, dass jeder Trost von vornherein zwecklos erscheint. Es sind keine Launen. Ich würde es schon fast als Trauer bezeichnen.
Diese Tränen lassen erahnen, welche Qualen sie erleidet. Ein unbeschreiblicher Schmerz, jenseits von allem. Nicht in seiner Intensität, nein. Er befindet sich einfach außerhalb der Grenzen gewöhnlichen Schmerzes. Tiefer, in einem entlegeneren Bereich, in einer anderen Schicht, fest verwurzelt. Jenseits jeder Wahrscheinlichkeit. Mit eisernen Schrauben in ihrem Wesen verankert.
Mutter
Sobald sie merkt, dass sie ihren Schmerz gezeigt hat, zieht sie sich schamvoll zurück und wird wie durch ein Wunder ihres Wesens gleich darauf fröhlich, getragen von einer aufrichtigen, strahlenden Freude. Eine Fröhlichkeit, die mit einer Art Entschuldigung beginnt, weil sie sich gezeigt hat, und in ein helles, fröhliches Kinderlachen mündet.
Vater
Oder sie weint wie von Sinnen und ist durch nichts und niemanden zu beruhigen. Tatsächlich wirkt sie in solchen Momenten beinahe erleichtert – sie scheint die Verwandlung von Schmerz in Traurigkeit durch und durch zu genießen, und im Schmerz wie in der Freude gibt sie sich ganz ihren Gefühlen hin, bis sie vollkommen leer ist.
*
Mutter
Manchmal beobachte ich sie beim Tanzen, ohne dass sie es bemerkt. Sie tanzt allein und ohne Musik. Sie steht auf und schiebt den ganzen Kram auf dem großen Teppich in ihrem Zimmer zur Seite. Mit einer Geste, die man für Nachlässigkeit halten könnte, die aber keine ist, schiebt sie ihre ganzen Schätze in eine Ecke. Und dann beginnen ihre kleinen Füße, mit einer unbegreiflichen Anmut auf den Boden zu stampfen. Das ist der Moment, in dem ich zu ihr gehe um zuzuschauen.
Vater
Obwohl sie schon dreizehn ist, sind Isors Bewegungen oft linkisch und unbeholfen. Sie hat nie gelernt, richtig nach Dingen zu greifen – ob Löffel, Stift, ein Stück Seife oder ein Schal –, sie macht alles auf ihre eigene Weise, wählt jedes Mal von Neuem aus einem unerschöpflichen Vorrat an Bewegungen, wie es ihr gerade passt. Normalerweise sind solche Bewegungsabläufe eindeutig, man schaut sie sich von anderen ab. Aber Isor ist dabei – wie bei allem anderen – nicht zum Lernen zu bewegen. Sie klammert sich eisern an ihre eigene Vorstellung von Bewegung, eine Bewegung ohne Moral und Vergangenheit, die sich nicht um die Jahrtausende der Zivilisation vor ihr kümmert. Sie übernimmt keine Gesten, die ihrem Alter oder ihrem Geschlecht entsprechen, und schert sich nicht darum, was angemessen oder nützlich ist.
Mutter
Wenn sie tanzt, wird sie von einem inneren Rhythmus ergriffen, der sie nicht mehr loslässt. Jede Bewegung geschieht im richtigen Moment, in perfekter Harmonie. Es ist weder Walzer noch Tango, weder Jazz noch Foxtrott. Ihr ganzer Körper wird zu Musik in ihrem Kopf. Und was für eine Musik das sein muss … Kaum auszuhalten. Als würden alle afrikanischen Rhythmen gleichzeitig auf den Trommeln der ganzen Welt geschlagen und Isor nach einer unausweichlichen, wahnsinnigen Arithmetik in alle Richtungen reißen. Ihr ganzer Körper ist in Bewegung, mal schwingt jeder Arm, jedes Bein auf seine eigene Weise, mal folgen alle demselben Schwung. Es ist wie bei den acht Armen einer Krake: Jeder hat sein eigenes Hirn, doch manchmal, wenn ein gemeinsames Verlangen sie vereint, werden sie alle vom Kopf aus gesteuert. Von einer Sekunde zur nächsten kann sich alles komplett verändern, und keine Minute gleicht der anderen. Durchs Zuschauen habe ich verstanden, dass jeder Tanz unweigerlich in einer Art Wiegen mündet. Keiner dauert länger als eine Stunde. Und jedes Mal beginnt sich bereits nach der Hälfte etwas abzuzeichnen. Ein Schimmer, der am Horizont aufsteigt und sich langsam verstärkt. Die Bewegungen werden fließender, regelmäßiger: Auf gewisse Art ist ihr Tanz ein Gebet, das seit Jahren in ihr wächst, Zeit hatte, zu reifen, zu werden, und nun schließlich an die Oberfläche dringt. Das Ganze mündet in einer eindringlichen, majestätischen Regelmäßigkeit, als hätte sie klassisches Ballett getanzt. Schließlich hört ihr kleiner Körper auf, und sie liegt reglos auf dem Boden, ein Lächeln im Gesicht.
Vater
Isor hat sich immer geweigert, irgendetwas zu lernen. Solange wir denken können. Sie wollte nicht sprechen lernen. Sie wollte unsere Namen nicht lernen. Nie hat sie uns wie andere Kinder aus der Wiege angelächelt, nie hat sie freudestrahlend »Papa« oder »Mama« gerufen. Nicht das kleinste Wort, das etwas bedeutet hätte oder an uns gerichtet war. Sie weigerte sich, anders als mit ihren Fingern zu essen, sie weigerte sich, etwas zu malen, ein Instrument zu spielen, zu reiten und was sonst noch alles. Es war völlig ausgeschlossen, sie zur Schule zu schicken (auch die Ärzte kamen zu dieser Einschätzung). Mit vier Jahren versuchten wir, sie zu Hause zu unterrichten, aber sobald wir ein Heft auf den Wohnzimmertisch legten und ihr einen Stift in die Hand drückten, damit sie ihren Vornamen schrieb, brach sie entweder in Gelächter aus (ein selbstsicheres Lachen, das zu sagen schien: »Das ist so was von lächerlich«), oder sie bekam einen unbändigen Wutanfall, der wie ein Gewitter über uns hereinbrach, und es dauerte Stunden, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Manchmal stand sie auch einfach auf und verließ den Raum, als wäre nichts geschehen oder als hätte sie nicht verstanden, was wir von ihr wollten.
Was also hat sie gelernt, mit ihren dreizehn Jahren? Eigentlich so gut wie nichts. Sie weiß nicht, dass die Erde eine Kugel ist, sie weiß nicht, was ein Adjektiv ist, sie weiß nicht, wie man die Uhr liest, sie weiß nicht, was ein Vater ist und dass wir über die Gene miteinander verbunden sind.
Daran denke ich oft und frage mich dann, wie sie es bloß schafft, so ganz ohne all das zu leben. In einer Welt, die ihr völlig sinnlos oder abwegig vorkommen muss. Ich dachte immer, dass sie gerade deshalb so wütend ist, weil sie nichts versteht.
Aber sie bemüht sich gar nicht erst, etwas zu begreifen.
Mutter
Camillio denkt, dass Isor dumm ist. Die Ärzte hielten sie damals für behindert. Ich bin jedoch überzeugt, dass sie die grundlegenden Dinge versteht – und zwar nur diese – und sich mit dem Rest einfach nicht belasten möchte. Ich weiß, dass sie sich mit etwas auseinandersetzt – etwas, das wir nicht sehen und das extrem mächtig ist. Sie blickt diesem unsichtbaren, irrationalen Etwas geradewegs ins Gesicht, mit ihren strahlenden Augen, die so blau sind wie die Freude. Ich bin überzeugt, dass sie deshalb so erschöpft ist, dass sie ihre ganze Energie darauf verwendet und für alles andere kein Fünkchen mehr bleibt.
Letztlich haben wir alle unsere Hypothesen – das ist es, was Isor in uns hervorruft –, und das hier ist meine. Und Camillio, der mich ständig fragt, woran man erkennt, dass sie seine Tochter sei, sage ich: »Sie hat deinen Mut. Ihre Unnachgiebigkeit hat sie von dir.«
*
Vater
Jeden Morgen, wenn ich für die Arbeit im leeren Raum schwebe und an den Glasfassaden entlanggleite, beweise ich aufs Neue meinen Mut. Ich hänge im Nichts, mein eigenes Spiegelbild als einziges Gegenüber, mein Körper an Gurten mitten am Himmel, und sage mir: Wenn ich das hier schaffe, dann werde ich wohl auch in der Lage sein, mit meiner Tochter fertigzuwerden.
Mutter
Ich weiß, dass Isor sich erinnert, ich weiß, dass sie sich weiterentwickelt. Inmitten ihrer Unordnung, in ihrer Wut und selbst in ihrer Panik macht sie Fortschritte. Ich weiß es einfach.
Vater
Damals war Isor noch keine fünf Jahre alt. Wir waren auf dem Spielplatz. Zu meinem eigenen Erstaunen verlief alles ganz normal und reibungslos, ohne größere Zwischenfälle – ich konnte mich sogar mit anderen Eltern unterhalten. Und plötzlich schrie auf der anderen Seite des Spielplatzes eine Mutter: Am Rand des Sandkastens waren zwei kleine Körper mit unglaublicher Brutalität ineinander verknäult, umeinandergewunden wie zwei Schlangen, ohne dass man erkennen konnte, wer wer war, mein Kind oder ihres. Die Masse bewegte sich, verschmolz zu einem grausamen, zuckenden Knoten. Wir waren wie versteinert. Wie lange dauerte das Ganze? Die beiden kleinen, ineinander verschlungenen Wesen keuchten leise vor Anstrengung. Nicht vor Schmerz. Als sie schließlich voneinander abließen, stürzten wir uns auf sie, völlig aufgelöst und viel zu spät. Die beiden, ihr Sohn, meine Tochter, weinten nicht. Vor lauter Schrammen und Dreck waren sie kaum wiederzuerkennen. Im Kampf hatte Isor dem anderen ihren feurigen, stolzen Blick weitergegeben. Sie maßen sich mit den Augen, während wir weinten. Für uns alle in diesem Park (selbst für die, die nichts gesehen hatten) dehnte sich die Zeit, alles stand still, bis auf unsere Tränen. An den Hälsen der Kinder waren die Handabdrücke des anderen deutlich zu erkennen. Hatten sie sich umbringen wollen? Wenn sie gestorben wären, da waren wir sicher, hätten sie sich gegenseitig in exakt derselben Sekunde getötet. Aber war das nun eine Sterbeszene oder eine Liebesszene? Das Bild hatte sich in unser Gedächtnis eingebrannt: ein Schlangennest, ein Gewirr aus weichen, rosafarbenen Armen. Wir hatten vor dem Kampf keine Provokation, keine Beleidigung gehört. Es war, als hätten sie sich in stiller Übereinkunft aufeinander gestürzt, wie bei einem lang geplanten Auftritt. Hatte Isor ihn hypnotisiert, so wie sie uns jetzt alle in ihren Bann zog? Oder hatten sie ineinander denselben Wahn erkannt, diesen Drang, die Gewalt hervorbrechen zu lassen, sie als etwas Intimes zu teilen, als Geschenk zu überreichen? Ihre entstellten Gesichter schienen immer wieder zu sagen: »Gefühle sind Gewalt. Gefühle sind Gewalt.« Schließlich packte die andere Mutter ihr Kind am Arm. Die Gegenwart setzte wieder ein. Wir sind nie wieder auf diesen Spielplatz gegangen.
*
Mutter
Die Zöpfe waren meine Idee. Das lange Haar steht ihr so gut. Die dichten Locken hat sie von mir. Als ich so alt war wie sie, hat meine Mutter mir auch immer Zöpfe geflochten. Sie straffte sie mit kleinen ruckartigen Bewegungen, was mir gar nicht gefiel. Wenn ich Isors Zöpfe flechte, ist es wie eine Liebkosung. Ich flechte sie vor allem, damit sie sich nicht verletzt, wenn sie rausgeht, einen Wutanfall bekommt oder sonst wie herumtobt. Ich dachte, so kann sie sich nicht wehtun (nirgendwo hängen bleiben oder Feuer fangen – Gott weiß, wozu sie fähig ist!). Außerdem mochte sie die Zöpfe von Anfang an. Wenn man nicht genau hinschaut, sieht sie mit ihren Zöpfen richtig brav aus, gar nicht mehr wie ein Wildfang. An einem Frühlingstag gingen wir gemeinsam einkaufen. (Es war sehr heiß, und die Klimaanlage in den Geschäften lief auf Hochtouren.) In einem Laden entdeckte Isor ein blaues Samtband, ein paar Nuancen dunkler als ihre Augen, das ihr auf Anhieb gefiel. Amüsiert kaufte ich eine ganze Rolle, ohne genau zu wissen, wozu wir sie nutzen würden. Kaum waren wir zu Hause, griff Isor mit ihren kleinen ungeschickten Händen in meine Tasche, zog das Band heraus und packte es aus. Sie begann, damit in ihren Haaren zu spielen. Seitdem binde ich jeden Morgen eine cyanblaue Schleife ans Ende ihrer Zöpfe.
Vater
Wenn man sie genau beobachtet und jeden Tag mit ihr zusammen ist, könnte man sie für eine Priesterin halten. An bestimmten Tagen scheint ihre gesamte Haltung, ihr gesamtes Verhalten einer uns unbekannten Logik zu folgen, wie ein großes Ritual. Wie die Tiere in den Naturdokumentationen, die sie so gerne schaut: Auch sie wissen trotz ihrer scheinbaren Freiheit genau, was sie zu tun haben.
Manchmal kommt es mir so vor, als würde sie stundenlang beten. Aber zu welchem Gott? Es muss sich um einen Gott aus sehr alten Zeiten handeln, einen Gott der Maya, der Kelten oder aus dem alten Ägypten oder noch viel älter, wie die Götter, die man als Elfenbeinfiguren bei Ausgrabungen tief in der Erde findet – aus Zeiten, als die Götter des Lebens und des Todes nicht zu unterscheiden waren, als riesige Steine mit furchterregenden Fratzen gleichzeitig dazu dienten, die Toten zu beschwören und den Lebenden Schutz zu bieten, und als das Blut, das vergossen wurde, nicht als Zeichen von Verletzung galt, sondern vielmehr als Zeichen von Kraft und Jugend.
Mutter
Isor kann von Tag zu Tag sehr unterschiedlich sein, aber sie bleibt immer sie selbst, ehrlich, unfähig zu lügen. Sie kann sich nicht auf eine Person, ein festes Erscheinungsbild beschränken. Sie ist zu viele, zu umfassend. Das ist ihre Art, die Welt so gut wie möglich zu begreifen.
Vater
Als Maudes Mutter vor fünfzehn Jahren starb, konnten wir uns mit ihrem Erbe dieses Haus in der Rue de Pommard leisten. Beim Umzug stießen wir auf zahlreiche alte Möbelstücke und andere Gegenstände, die die frühere Besitzerin, eine achtzigjährige Frau ohne Familie, zurückgelassen hatte. Dazu gehörten mit Wachstuch ausgekleidete Badezimmerschränke, geblümte Deckenlampen, eine Mikrowelle und auch ein großer Fernseher, zwei riesige DVB-T2-Antennen für den Empfang asiatischer und zentralafrikanischer Sender, ein VHS-Rekorder und etwa zwanzig Videokassetten. Bis auf diese Sachen haben wir alles weggeworfen. In Wahrheit haben weder Maude noch ich jemals chinesisches oder senegalesisches Fernsehen geguckt, aber wir fanden es irgendwie lustig.