Hunting Jack - K. K. Summer - E-Book

Hunting Jack E-Book

K. K. Summer

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Beschreibung

London, 1888 In den nebligen Gassen von Whitechapel wird eine Frau grausam ermordet aufgefunden. Inspektor Damien McNeil übernimmt die Ermittlungen. Die wenigen Hinweise führen ihn ausgerechnet in die höchsten Schichten der Gesellschaft. Doch weitere Morde versetzen die Stadt in Aufruhr! Verzweifelt wendet er sich an seinen alten Freund, Lord Jasper Earwing. Der Okkultist verspricht durch düstere Rituale Einblick in das Unfassbare zu erlangen. Je tiefer Damien gräbt, desto grausamer formt sich das Bild seines Falls: finstere Mächte, uralte Legenden und eine Wahrheit, die ihn selbst an den Rand des Wahnsinns bringt. London versinkt in Angst und Damien muss entscheiden, wem er noch trauen kann, denn das Böse lauert nicht nur in den Schatten.

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Seitenzahl: 439

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Hunting Jack
Über die Autorin
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Danksagung
Die Eisermann Media GmbH

K. K. Summer

Hunting Jack

Die Legende eines Mörders

Eisermann Verlag

Über die Autorin

K. K. Summer ist schon als Kind in die Welt der Bücher und Buchstaben eingetaucht. Alles begann mit dem Jungen, der überlebte und bis heute liebt sie das Fantasy Genre mehr, als alles andere. Elfen, Drachen, Magie und fremde Welten haben sie schon immer in ihren Bann gezogen und so ist es nicht verwunderlich, dass sie auch in ihrer Freizeit in diese Welt, mit Hilfe von Dungeons & Dragons, abtaucht. Auch wenn ihre Arbeit als Personalsachbearbeitung wenig Raum für Fantasie lässt, konnte sie sich diese doch stets bewahren. Wenn sie nicht selbst am Schreiben oder Lesen ist, liebt sie alles rund um das Thema True Crime, Japan und alles andere, was ein Nerd-Herz höher schlagen lässt.

K. K. Summer findet ihr auf

Facebook: K K Summer Autorin

Instagram: KK_Summer

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96173-232-6

E-Book-ISBN: 978-3-96173-283-8

Copyright (2025) Eisermann Verlag

Lektorat & Korrektorat: Jacky | Lektorat Silbenglanz

Buchsatz: Grit Richter, Eisermann Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, Eisermann Verlag

Kapitelgrafiken: Maja Köllinger

Bilder und Grafiken von www.shutterstock.com und creativemarket.com

Stockfoto-Nummer: 768795610, 1949731432

Hergestellt in Deutschland (EU)

Eisermann Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Nela

Einfach nur, weil du der Damien zu meinem Jasper bist.

Prolog

London, August 1888

Der Big Ben schlug ein Uhr, verkündete für alle hörbar, dass ein neuer Tag angebrochen war. Nebel hatte sich über die Straßen gelegt und alles, was man sah, war die Dunkelheit, die hier und da von den weißen Schlieren durchzogen wurde.

Alle braven Bürger Londons lagen in ihren Betten, träumten von einem besseren Leben, das sie ohnehin niemals haben würden.

Nur einer schien noch wach zu sein, stand am Ufer der Themse und blickte auf das stahlgraue Wasser, auf dem sich lediglich das fahle Licht des Mondes brach. Die Silhouette des Mannes wurde schwach erleuchtet – betonte die breiten Schultern, die unter einem Cape verborgen lagen, das sich im kühlen Abendwind, der durch die verlassenen Straßen fegte, blähte. Der Zylinder auf seinem Kopf und der Gehstock, den er umklammert hielt, deuteten auf seine adelige Herkunft hin und wirkten vor der nächtlichen Kulisse Londons seltsam deplatziert.

Wie auf ein unsichtbares Kommando hin wirbelte er zu den dunklen Gassen herum, die sich nun vor ihm erstreckten. Suchend. Abwartend. Lauernd.

Da, plötzlich regte sich etwas. So schnell er nur konnte, verschmolz er mit den Schatten um sich, verschwand direkt vor den Augen der jungen Frauen, die gerade um die Ecke bogen.

Huren, ohne Frage.

Sie verabschiedeten sich voneinander, umarmten sich und gingen getrennte Wege. Eine von ihnen, ein junges, hübsches Ding, folgte einer dunklen Gasse, die zwischen den Häusern verschwand. Ihre Haare leuchteten wie Stroh im Herbst und ihre wiegenden Hüften sollten wohl einladend wirken – doch er konnte nur an eines denken: Rache. Das Blut, das er schon bald auf den Lippen schmecken würde.

Ein dunkles Grollen entstieg seiner Kehle, als er der jungen Frau mit ausreichend Abstand folgte. Auf leisen Sohlen, umhüllt von Finsternis, hatte er sie schon bald eingeholt, wartete nur noch auf den richtigen Moment.

Selbst auf ein paar Schritte Entfernung konnte er ihren hektischen Puls hören, den schnellen Atem – sie fürchtete sich. Ungeahnte Vorfreude durchströmte seinen Körper, brachte ihn zum Kribbeln, sodass er sich genüsslich über die Lippen leckte.

Noch ehe die junge Frau ihre Schritte beschleunigen konnte, war er schon direkt hinter ihr – endlich am Ziel. Er legte eine schwere Hand auf ihre Schulter, drehte sie ruckartig zu sich herum und presste sie an die steinerne Hauswand.

Ihr Angstschweiß war überdeutlich zu riechen, das Zittern ihres Körpers verriet ihm, dass sie Angst hatte. Auch die großen Augen und das leise Wimmern, das sie immer wieder ausstieß, deuteten darauf hin – und der Mann genoss es sichtlich.

Seine Augen leuchteten in einem intensiven Rot, das nicht von dieser Welt war und jeden vor Furcht erzittern ließ. Es war alt, wissend und so voll Bösartigkeit, dass niemand vermochte, ihm etwas entgegenzusetzen.

Er achtete nicht weiter auf das leise Wimmern der Frau, als er mit einem heimtückischen Grinsen das Messer aus dem Umhang zog, ausholte und es ihr mit voller Wucht in den Unterleib rammte.

Sie schrie vor Schmerzen auf, Tränen benetzten ihre Wangen, doch er empfand kein Mitleid. Alles, woran er noch denken konnte, war das Blut, das ihm in Strömen über die Finger rann.

Vorsichtig löste er die Hand vom Messer, besah sich den roten Lebenssaft und fuhr genüsslich mit der Zunge darüber.

»Wirklich äußerst vorzüglich … Das könnte sein, was ich schon so lange gesucht habe …«, murmelte er, ehe er den Griff des Messers erneut packte und es mit einem reißenden Geräusch durch den Unterleib der fremden Frau zog.

Ein spitzer Schmerzensschrei entkam ihren Lippen und sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Wer bist du?«, hauchte sie, bevor sie leblos in sich zusammensackte.

Sein Atem ging deutlich schwerer, als er sie auf den Boden legte, sich über sie beugte und mit rauer Stimme flüsterte: »Mein Name ist Jack und ich bin mir sicher, dass wir viel Spaß zusammen haben werden.«

Kapitel 1

Damien

London, 07. August 1888

Gerade als ich mich in meinem Schreibtischstuhl nach hinten lehnen und die Ruhe etwas genießen wollte, hörte ich, wie meine Bürotür aufgerissen wurde und jemand hektisch eintrat. »Mr. McNeil! Mr. McNeil!« Es war die Stimme von Horace, unserem Laufburschen.

Mit einem lauten Seufzen öffnete ich die Augen und blickte den Jungen mit hochgezogenen Brauen an. »Was ist? Was soll der Krach? Kannst du nicht anklopfen?«, fuhr ich ihn forsch an.

Doch er schien mich gar nicht zu beachten. Sein Blick huschte wild umher, die Augen saßen tief in den Höhlen und es schien, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan.

Augenblicklich war ich wach und beugte mich nach vorne.

»Nun beruhige dich, Junge, und dann sprich!«, forderte ich ihn auf.

Er atmete einige Male tief ein, ehe er fortfuhr. »Ein Mord! In Whitechapel! Es ist … furchtbar! Sie müssen kommen, Sir – umgehend! Mr. Taylor ist schon dort und … oh Gott, all das Blut …«, sprudelte es aus ihm heraus und jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht.

»Ein Mord? In Whitechapel? Das ist nichts Besonderes, wieso behelligst du mich -«

»Mr. Taylor hat Sie angefordert, Sir. Unverzüglich! Sie müssen kommen, sofort!«

Die Dringlichkeit in seiner Stimme und die Tatsache, dass der Londoner Polizeipräsident explizit nach mir gefragt hatte, ließen mich aufhorchen. Sofort war meine Neugier geweckt. Ruckartig stand ich auf, ging zur Garderobe und zog meine dunkelblaue Uniform an, um mich gegen den äußerst kühlen Spätsommerwind zu wappnen, der unablässig durch die Straßen Londons blies.

Ohne auf Horace zu achten, der noch immer mit vor Schreck geweiteten Augen im Raum stand, ging ich an ihm vorbei, öffnete die Tür meines Büros und trat nach draußen. Doch ich hielt noch einmal inne, kramte in den Taschen meines Mantels und fand einen Penny, den ich dem Jungen zu schnippte. »Kauf dir davon etwas Heißes zu trinken. Und jetzt verschwinde aus meinem Büro.«

Als ich die Polizeistation verließ, stellte ich den Kragen meines Mantels auf, um mich vor dem unwirschen Wind zu schützen, auch wenn er immer einen Weg durch meine Kleidung fand. Für August war es ungewöhnlich kalt. Schnell vergrub ich meine Hände in den Taschen des Mantels und machte mich ohne Umwege auf den Weg nach Whitechapel. Obwohl es helllichter Tag war, traf man kaum Menschen auf den Straßen, jeder war mit sich selbst beschäftigt und froh, dem Wetter so schnell wie möglich zu entkommen.

Die ganze Zeit über kam ich nicht darüber hinweg, dass der Polizeipräsident persönlich mich angefordert hatte. Mich, einen Absolventen der Akademie, der nicht einmal drei Jahre im Dienst war. Die Rate meiner Verbrechensaufklärung war ohne Frage exzellent, doch das war wohl kaum ausschlaggebend. Sosehr ich mir auch den Kopf zerbrach, wusste ich nicht, was ich zu erwarten hatte. Horace war weiß wie eine Wand gewesen und das musste etwas heißen, denn als Botenjunge war er einiges gewohnt. Ein Mord in Whitechapel und die Polizei ermittelte – das war wirklich etwas Neues und wenn ich ehrlich war, gefiel es mir nicht, dass sich mein Magen dabei seltsam zusammenzog.

Zwei Querstraßen später wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg war, auch wenn ich vergessen hatte, nach der genauen Adresse zu fragen.

Das Dröhnen des Megafons und das Stimmengewirr waren schon von Weitem zu hören und ich beschleunigte meine Schritte.

Als ich um die nächste Ecke bog, in George Yard ankam, hatte ich den Ort des Verbrechens gefunden. Der metallische Geruch von Blut schwängerte die Luft und die aufgeregten Stimmen mehrerer Polizeibeamter wiesen mir den Weg.

»Mr. McNeil! Da sind Sie ja endlich! Und ich dachte schon, ich müsse Horace einen Tritt verpassen, dass er ein wenig schneller läuft!« Die schneidende Stimme von Mr. Taylor zog sofort meine Aufmerksamkeit auf sich.

Ich tippte mir zur Begrüßung knapp an den Hut. »Sir?«

»Kommen Sie. Wir … Ich denke, es ist am besten, wenn Sie selbst sehen.« Der Präsident der Londoner Polizei klang müde. Als ich ihn mir näher besah, musste ich feststellen, dass tiefe Augenringe sein Gesicht zierten und ihn älter wirken ließen, als die neunundvierzig Jahre, die er alt war.

Noch bevor ich ihm antworten konnte, zog er mich in Richtung des Tatortes, an dem die Polizisten emsig hin und her rannten. Auch den Doktor hatte man bereits gerufen, wie ich an dem weißen Kittel erkennen konnte, der aus der Menge an blauen Uniformen herausstach.

Mr. Taylor dirigierte mich vorbei an den Reportern, die versuchten, einen Blick auf die Leiche zu erhaschen. Noch waren meine Kollegen allerdings in der Lage, sie in Schach zu halten – die Frage war nur, wie lange noch.

»Sir, ich muss das einfach fragen. Wieso haben Sie mich angefordert? Es ist ein einfacher Mord – noch dazu hier. In George Yard, Whitechapel.«

Er warf mir einen genervten Blick zu und ich wusste, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, um ihn darauf anzusprechen. »Ich weiß, dass Sie immer darauf brennen, der Beste zu sein, McNeil, doch wenn ich Sie hierher zitiere, stellen Sie das nicht infrage – verstanden? Und sehen Sie selbst, dann haben sich die Fragen hoffentlich erledigt. Zumindest die, wieso ich die gesamte Mannschaft am frühen Morgen versammelt habe.« Mit diesen barschen Worten wies er mit dem Kopf auf den Körper, den ich hinter dem Doktor klar und deutlich erkennen konnte. »Gehen Sie schon. Ich werde mit den Reportern sprechen. Es darf keine Panik ausbrechen – das können wir wirklich nicht gebrauchen«, murmelte er und wurde sofort von den Reportern mit ihren Schreibblöcken umringt.

Kopfschüttelnd wandte ich mich dem Körper zu und tippte dem Arzt auf die Schulter, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. »Doktor? Damien McNeil. Ich bin auf Anfrage von Mr. Tayl-«

»Wunderbar, kann man hier nie seine Arbeit machen? Schön, Sie können die Leiche ansehen. Aber je länger ich aufgehalten werde, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ich etwas finde!« Der enorme, leicht ergraute Schnauzer des Mannes vor mir vibrierte bei jedem Wort und ich sah, wie die Ader auf seiner Stirn vor Wut pulsierte.

Ich war wohl nicht der Erste, der ihn heute bei seiner Arbeit störte. Doch ich ließ mich von ihm nicht einschüchtern, hob eine Augenbraue und zückte Block und Stift. »Was können Sie mir über das Opfer erzählen, Doktor?«, fragte ich geschäftsmäßig, während ich meinen Blick über das Opfer am Boden vor uns schweifen ließ. Und dabei stockte mir der Atem.

Ich war mit meinen fünfundzwanzig Jahren sehr jung und es war bei Weitem nicht die Regel, dass ein Junge, der gerade erst seinen Abschluss an der Akademie gemacht hatte, bereits eigene Fälle übernahm. Doch trotz allem hatte ich in der Zeit, die ich nun schon im Londoner Polizeipräsidium arbeitete, einige Dinge gesehen, die kein Mensch sehen sollte. Abgetrennte Körperteile, literweise Blut, Innereien und alles, was sicherlich mit Absicht innerhalb des Körpers verstaut worden war. Aber das hier … Es hatte den Anschein, als würde ein wildes Tier in London sein Unwesen treiben. Der Unterleib der Frau war mit einem scharfen und dennoch gezackten Gegenstand oder Fangzähnen aufgerissen worden. Die Hautfetzen, die rund um den Körper verteilt lagen, deuteten darauf hin.

Auch wenn ich gegen die Übelkeit ankämpfen musste, die in mir hochstieg, konnte ich bei genauerem Hinsehen feststellen, dass dem Unterleib der Frau etwas entnommen worden war – etwas fehlte.

»Ja. Ihr wurde die Gebärmutter herausgeschnitten. Herausgerissen sollte ich wohl eher sagen. Den Einstichwunden nach zu urteilen, wurden diese jedoch post mortem zugefügt«, erläuterte der Arzt unnötigerweise.

»Mir ist bewusst, was es bedeutet«, zischte ich genervt und versuchte, die Leiche so genau wie möglich zu skizzieren und zu beschreiben, ohne mich dabei zu übergeben. »Was wissen wir noch? Irgendwelche Hinweise auf den Täter?«

Er schüttelte den Kopf. »Keine. Außer dass, wer immer das getan hat, nichts anderes als ein Monster sein kann.«

Zurück hinter meinem Schreibtisch blickte ich auf die Zeichnung, die ich in aller Eile angefertigt hatte, und noch immer fuhr mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich daran dachte, was der armen Frau widerfahren war. Inzwischen hatten wir erfahren, dass es sich um Martha Tabram handelte. Eine Prostituierte, die in George Yard ein schäbiges Zimmer bewohnte. Zumindest bis gestern Abend. Und laut Arzt hatte kurz vor ihrem Tod kein sexueller Akt stattgefunden – keine Vergewaltigung also. Das einzige Motiv, das Sinn ergeben hätte, und es gab keinen Hinweis, der darauf hindeutete.

Unwirsch fuhr ich mir durch die Haare und schlug mit der geballten Hand auf den Tisch, der unter der Wucht laut ächzte. »Das kann doch nicht wahr sein! Niemand hat etwas gesehen! Niemand hat etwas gehört!« Wenn ich dem Ärger, der sich bereits den ganzen Morgen über in mir angestaut hatte, keine Luft machte, würde ich noch verrückt werden. Jeder Reporter der Stadt schien Wind von diesem Mord bekommen zu haben und eine Schlagzeile war unsinniger als die nächste. Wilde Tiere, Insassen eines Tollhauses – was auch immer die Fantasie hergab, es war an diesem Morgen zu einem Zeitungsartikel verarbeitet worden.

Keine Hinweise, keine Spuren. Eine Frau war gestorben und … wofür? Welches Monster war nur zu solch einer grauenvollen Tat fähig?

Aber eines war mir klar: Egal, wer der Täter war, ich würde ihn finden und dingfest machen. Denn auch wenn ich noch nicht wusste, was das alles bedeutete, so verspürte ich ein ungutes Gefühl in der Magengegend, welches mir zuflüsterte, dass das hier erst der Anfang sei.

Kapitel 2

Jasper

London, 07. August 1888

Noch bevor ich meine Augen öffnete, wusste ich, dass der Tag wirklich mies beginnen würde. Der stechende Kopfschmerz, der sich hinter meinen Schläfen ausbreitete, als ich mehr und mehr erwachte, drohte, meinen Schädel zu spalten, und der saure Geschmack, der meinen Hals emporstieg, machte die Situation nicht gerade angenehmer.

Solange ich meine Augen geschlossen hielt, war es erträglich. Allerdings würde ich trotz allem nicht den ganzen Tag im Bett verbringen können – so sehr ich es mir auch wünschte.

Ich zählte innerlich bis drei und öffnete die Lider ohne weitere Verzögerung. Nach wenigen Sekunden konnte ich endlich erkennen, wo ich mich befand: Offensichtlich lag ich auf dem Boden meines Schlafzimmers, denn ich sah den Baldachin meines Himmelbettes, wenn ich nach oben blickte, und noch dazu einen Teil der Matratze.

»Bloody hell«, fluchte ich und spürte ein unangenehmes Kratzen im Hals, als hätte ich gestern Abend eine Zigarre zu viel geraucht. Langsam versuchte ich, mich aufzusetzen, und musste feststellen, dass der Raum begann, sich um mich zu drehen. Ich betete, dass ich einfach wieder ohnmächtig würde, doch dieser Segen war mir natürlich nicht vergönnt.

»Mylord?« Es klopfte sachte an der Tür. »Seid Ihr bereits wach und fertig für das Frühstück?«

Hell no.

Ich hatte meinen Blick zwar noch nicht gesenkt, doch ich war mir äußerst sicher, dass ich es nicht war – zumindest, wenn ich auch nur in irgendeiner Weise dem glich, wie ich mich fühlte.

»Sir? Kann ich hereinkommen?« Olivers Stimme klang ehrlich besorgt und wäre mein Kopf dabei nicht explodiert, hätte ich vermutlich gelacht. »Ja?«

»Meinetwegen«, antwortete ich schlecht gelaunt und lehnte den Kopf gegen meine angewinkelten Knie, um nicht wieder nach hinten zu kippen. Das Quietschen der Tür und das Geräusch von Absatzschuhen auf dem Parkett verrieten mir, dass Oliver eingetreten war.

Auch wenn ich es sofort bereute, sah ich ihm ins Gesicht und registrierte, wie seine Augen belustigt blitzten. »Mit Verlaub, Mylord, Ihr seht wahrlich bescheiden aus.«

Das hatte mir gerade noch gefehlt – ich wusste noch nicht einmal, wie ich in meinem Schlafzimmer gelandet war und konnte einen solchen Kommentar nicht gebrauchen. »Erzähle mir etwas, das ich noch nicht weiß«, murrte ich und versuchte, dieses Mal mit Olivers Hilfe, auf die Füße zu kommen. Auch wenn er bereits über sechzig Jahre auf dem Buckel hatte, schien es ihm nichts auszumachen, die Arbeiten rund um das Anwesen zu erledigen und sich um all die Dinge zu kümmern, für die ich keine Zeit hatte. Oder schlichtweg keine Lust.

»Oliver?«, fragte ich erstickt, als ich mich am Bettrahmen nach oben zog und gegen die Matratze lehnte.

Er zog fragend eine Augenbraue nach oben. »Ja, Sir?«

»W-Wie bin ich in mein Schlafzimmer gekommen?«

Den Blick, den ich nun von ihm erntete, hätte ich wohl bei niemand anderem toleriert, doch Oliver kannte mich bereits mein gesamtes Leben lang und hatte somit einen besonderen Status.

»Sir, ich habe nicht den leisesten Schimmer, wovon Ihr sprecht. Ihr seid ausgegangen und als ich zu Bett ging, wart Ihr noch nicht zurückgekehrt.«

Das ergab doch keinen Sinn! Ich konnte mich noch genau an das erinnern, was Oliver beschrieben hatte, doch danach … nichts mehr. Leere. Schwärze. Es schien mir, als versuchte ich, nach einem Traum zu greifen, der mir doch immer mehr entglitt.

»Sir? Ist alles in Ordnung bei Euch?«

Was sollte ich ihm antworten? Ich wusste ja selbst nicht einmal, was los war. »Ja. Ich … werde in wenigen Minuten im Speisesaal erscheinen«, wiegelte ich seine neuerlichen Versuche ab und war froh, als er endlich die Tür hinter sich zuzog und mich alleine ließ. Kaum dass sie ins Schloss gefallen war, ließ ich mich nach hinten auf die Matratze fallen und stieß hart die Luft aus meinen Lungen aus, ehe ich meine Hände auf die Augen presste und versuchte, das Dröhnen meines Schädels auszublenden.

Da zog jedoch ein neuer Schmerz durch meine Handflächen und als hätte ich mich verbrannt, nahm ich sie von meinem Gesicht. »Was zum …?« Sofort fielen mir die roten Striemen ins Auge, die sich darauf deutlich abzeichneten und das unangenehme Brennen verursachten. Wann in der letzten Nacht hatte ich mich geschnitten? So sehr ich auch versuchte, ich konnte mich nicht erinnern. Aber was hatte es mit dem -

Wie vom Blitz getroffen fuhr ich nach oben und jegliche Schmerzen waren mit einem Mal vergessen. So schnell ich es in meinem jetzigen Zustand vermochte, kroch ich aus dem Bett, durchquerte das Zimmer und blieb vor dem in Gold eingefassten, bodentiefen Spiegel stehen. Und was ich vor mir sah, brachte mich dazu, mich geräuschvoll auf den Boden zu übergeben.

»D-Das kann nicht sein … Das darf nicht sein … Ist das … Blut?«, würgte ich hervor und fuhr mir mit zitternden Fingern über das Gesicht. Verkrustete rote Flocken schälten sich von der Haut meines Gesichtes und der Finger, ehe ich etwas dagegen tun konnte. Nicht nur meine Hände waren mit einer dunkelroten Schicht überzogen, nein, auch meine Wangen, Nase und Lippen wiesen die gleichen Spuren auf. Selbst auf dem Schwarz meiner Haare waren leicht feuchte Flecken sichtbar.

Mit einem Schlag traf der metallische Geruch meine Nase und ich musste mich zurückhalten, um mich nicht noch ein zweites Mal zu übergeben.

Das ist nicht möglich. Nein, das darf nicht sein. Was ist nur geschehen? Meine Gedanken rasten, versuchten, sich einen Reim darauf zu machen und scheiterten doch kläglich. So sehr ich auch rieb und kratzte, das Blut wollte nicht von meiner Haut verschwinden. Alles, was ich erreichte, war, dass sie sich darunter ebenso rot färbte und den Anblick noch schlimmer machte.

»Oliver«, rief ich mit erstickter Stimme und zog an der Kordel, die nach meinem Diener klingelte. »Oliver!«

Eine kleine Ewigkeit später klopfte es auch schon an der Tür und noch ehe der alte Mann sie öffnen konnte, riss ich sie auf und zog ihn ins Zimmer und vor den Spiegel. Das Herz schlug mir bis zum Hals und als ich meinem Spiegelbild ein weiteres Mal gegenübertrat, musste ich feststellen, dass meine Hautfarbe unter den Blutflecken inzwischen mehr Ähnlichkeit mit der weißen Wand neben mir hatte als mit der eines lebendigen Menschen.

»Sir! Ich muss wirklich protestieren! Was ist nur in Euch gefahren? Ihr seht aus, als hättet Ihr einen Geist gesehen!«, beschwerte er sich ob meiner durchaus groben Behandlung und kam stolpernd neben mir zum Stehen.

»Da! Siehst du es nicht?«, rief ich verzweifelt und wies mit zitternden Fingern auf die Reflexion im Spiegel.

Mein Diener folgte der Weisung und runzelte die Stirn.

»Und, hast du gar nichts zu sagen?«

Sein besorgter Blick schoss zu mir. »Mylord, Ihr seid äußerst blass um die Nase, zittert und kalter Schweiß steht Euch auf der Stirn. Abgesehen davon kann ich nichts Außergewöhnliches erkennen.«

Was? Das ist nicht möglich! Das kann nicht sein …

Er log. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Er musste doch sehen, dass meine Hände und das Gesicht über und über mit Blut beschmiert waren!

Erneut wandte ich den Blick meinem Spiegelbild zu und konnte ein ersticktes Wimmern nicht unterdrücken. Nichts hatte sich geändert, einzig, dass das Rot auf meiner bleichen Haut nun noch besser zur Geltung kam.

»Das kann nicht sein … Du musst doch sehen, dass … Nicht möglich …«

»Sir? Lord Jasper!«

Wie durch eine Schicht Watte erreichten mich Olivers Worte, während der Raum begann, sich um die eigene Achse zu drehen. Wie gebannt starrte ich auf den Spiegel, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren oder einen klaren Gedanken zu fassen. Alles verschwamm vor meinen Augen, trat in den Hintergrund, bis lediglich der Spiegel und ich übrig blieben – umgeben von unendlicher Schwärze.

Was ist nur los mit mir? Und was zur Hölle ist gestern Nacht geschehen?

Allerdings musste ich nun einen kühlen Kopf bewahren. Es brachte mich nicht weiter, in blinde Panik zu verfallen. Für einen Moment schloss ich die Augen, atmete bewusst ein und aus und zwang mein Herz dazu, ruhiger zu schlagen. Dabei handelte es sich um eine alte Technik, die meine Eltern mir bereits im Kindesalter beigebracht hatten. Bevor …

Ehe ich diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, schlug ich die Lider auf und spürte, wie im nächsten Augenblick mein Herz einen Schlag aussetzte. »Das … ist nicht möglich. I-Ich habe die Augen offen. Nein. Nein, nein, nein.«

Doch mein Spiegelbild dachte gar nicht daran, die Augen zu öffnen.

»Mach die Augen auf, verdammter Bastard!«, schrie ich mein Gegenüber an, rüttelte am Rahmen und versuchte, es zu irgendeiner Bewegung zu bringen, auch wenn ich wusste, dass es vollkommen verrückt war. Ich hatte anscheinend den Verstand verloren!

»Sir? Ist alles in Ordnung? Kann ich etwas für Euch tun? Einen beruhigenden Tee, zum Beispiel? Der besänftigt sicherlich Eure Nerven …«

Erst da realisierte ich, dass ich gar nicht alleine war. Dass Oliver den Ausbruch aus nächster Nähe mit angesehen hatte und nun sicherlich darüber nachdachte, mich in ein Sanatorium einzuweisen.

»Nein … nein, du kannst gehen. Lass mich alleine. Ich … brauche noch ein paar Minuten, dann werde ich hinunterkommen.«

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Oliver die Stirn runzelte. Es missfiel ihm, dass ich mich verschloss, anstatt zu reden, doch das war nun einmal meine Art. Schließlich nickte der alte Mann, verließ mein Zimmer und schloss die Tür heftiger, als es hätte sein müssen. Ein deutliches Zeichen für seinen Unmut, doch darum konnte ich mich nicht auch noch kümmern.

Müde rieb ich mir über die Augen, presste meine Handballen gegen meine Schläfen und schüttelte den Kopf. »Ich sehe Geister. Mein Spiegelbild kann nichts anderes tun als ich selbst. Das bilde ich mir ein. Vielleicht verliere ich den Verstand, aber daran kann man arbeiten«, murmelte ich.

Auf drei öffne ich meine Augen und werde sehen, dass alles beim Alten ist. Eins. Zwei. Drei.

Auch wenn es mich einige Überwindung kostete und das Blut mir noch immer in den Ohren rauschte, schlug ich meine Lider auf und blickte mir selbst ins Gesicht. Alles schien so zu sein, wie es sein sollte. Ich wandte meinen Kopf nach rechts und der Mann hinter dem Glas tat es mir gleich. Nach links und er folgte mir ebenso.

Erleichtert lachte ich auf und fuhr mir erneut über das Gesicht. Das war doch verrückt, wie konnte ich nur glauben, dass mein Spiegelbild -

»Schön, Euch endlich kennenzulernen, Mylord.«

Ich erstarrte, sah mein Gegenüber an und ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, während kalte Panik sich in meinem Inneren ausbreitete. »Nein …«

Der Mann im Spiegel, der mir bis aufs Haar glich, schenkte mir ein grausames Lächeln und offenbarte zwei Reihen messerscharfer Reißzähne, die keinesfalls menschlich sein konnten. Nie im Leben hatte ich mich selbst mit einem solchen Gesichtsausdruck gesehen.

Mit schräg gelegtem Kopf und irrem Blick starrte er mich an, während ich außerstande war, etwas zu erwidern.

»Sprachlos? Das hätte ich wirklich nicht erwartet. Nun ja – es scheint wohl doch der Fall zu sein, dass wir unterschiedlicher sind, als ich angenommen habe. Allerdings glaube ich, dass Ihr Euch etwas säubern solltet. Das Blut stand Euch nicht halb so gut wie vermutet.«

Das ist ein Traum. Ich muss irgendwelche Drogen genommen haben und kann mich jetzt nicht mehr daran erinnern.

Das Lächeln des Mannes im Spiegel wurde noch breiter und ich glaubte, sein hämisches Lachen zu hören. Oder war es meines? Nein, das war wirklich nicht mein Stil und ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals einen solchen Laut von mir gegeben zu haben.

»Keine Drogen, nein. Das haben wir keinesfalls nötig, nicht wahr? Es dürstet uns nach etwas anderem, etwas viel Besserem … und vor allem Frischerem.«

Bei seinen Worten stellten sich alle Härchen auf meinem Körper auf, jeder Muskel spannte sich an, war kampfbereit. Fluchtbereit. Auch wenn mir mein Verstand etwas anderes vorgaukeln wollte, so wusste ich genau, dass es kein Entrinnen gab. Wer oder was auch immer er war, ich hatte nicht das Gefühl, dass er mich gehen lassen würde. »W-Wer bist du? W-Was willst du von mir? Lass mich in Frieden!«, rief ich und stolperte einige Schritte nach hinten.

Und als ich sah, wie mein Gegenpart meine – oder seine – Augenbraue nach oben zog, wusste ich, dass es keinen Sinn hatte. »Oh Jasper, erinnerst du dich wirklich nicht? Mein Vorschlag wäre, dass du in deinen Keller gehst und nachsiehst, was dort geschehen ist. Ich bin mir sicher, dass es dich überraschen wird.«

Bloody hell. »Du willst mir nicht sagen, dass … Du bist …?« Falls es überhaupt möglich war, wurde mein Spiegelbild noch blasser.

Bruchstückhaft kamen die letzten Nächte zu mir zurück – und es war alles andere als gut. Zwar konnte ich nicht genau sehen, was ich getan hatte, doch ich sah Londons Straßen bei Nacht, leere Gassen. Ich spürte sogar den schneidenden Wind.

Das Nächste, was ich wahrnahm, waren meine Hände, mit noch warmem Blut bedeckt und klebrig.

Mir wurde übel. Das durfte nicht wahr sein! Ich musste mir das Ganze einbilden oder hatte erneut angefangen, Drogen zu nehmen, ohne es zu merken.

Der Jasper im Spiegel warf den Kopf zurück und lachte sein gackerndes, bösartiges Lachen. Als er mich wieder fixierte, erkannte ich statt meinen hellblauen Augen stechend rote Iriden, in denen das Feuer der Hölle brannte. »Oh Jasper, du weißt genau, wer ich bin, oder? Wenn ich mich vorstellen darf: Mein Name ist Jack und auch wenn du dich nicht daran erinnerst, werden wir auch in Zukunft sehr viel Spaß zusammen haben, du wirst schon sehen.«

2 Tage zuvor

London, 05. August 1888

»Oliver, ich habe nicht vor, heute Abend gestört zu werden.«

Mein Diener blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und was, wenn ich so frei sein darf zu fragen, soll ich dann mit dem Essen machen, das gerade für Euch in der Küche zubereitet wird?«

Essen? Das war das Letzte, woran ich nun dachte. »Iss es oder … gib es irgendwem, es ist mir egal.«

Langsam wurde ich nervös. Ich hatte keine Zeit für dieses Geplänkel und Oliver wusste das genau. Doch wie immer würde unser Gespräch die gleiche Wendung nehmen.

»Es tut Euch nicht gut. Ihr müsst diesem Wahnsinn ein Ende bereiten! Es wird noch einmal böse ausgehen.«

»Ich werde das Erbe meiner Eltern nicht aufgeben, weil du zu viel Angst hast – und jetzt hole mir eine schwarze Ziege und bringe sie nach unten.«

Ein wütendes Schnauben war alles, was ich von ihm erntete. Er diente bereits seit Jahrzehnten meiner Familie und ich erinnerte mich noch zu genau daran, wie ich mich als Kind vor ihm in den Winkeln und hinter Vorhängen versteckt hatte, wenn ich einmal mehr etwas angestellt hatte. In diesen Fällen hatte er genau den Gesichtsausdruck zur Schau getragen, den er auch nun an den Tag legte.

»Master, ich sage es wirklich nur ungern, aber wenn Ihr eine Ziege benötigt, dann werdet Ihr sie selbst holen müssen. Denn ich werde es nicht noch einmal für Euch tun. Ihr wisst genau, dass Eure Eltern das nicht gutheißen würden.«

Das war ein Tiefschlag und ihm musste das klar sein – das war auch der Grund dafür, wieso er es derart formulierte. Wann immer ich über meine Eltern sprach, bildete sich ein Kloß in meinem Hals und ich spürte, wie tief in mir die Wut zu brodeln begann. Und es wäre nicht das erste Mal, dass ich eine unbezahlbare Vase im Verlauf eines solchen Abends zerschmetterte. »W-Wage es ja nicht, dieses Thema erneut anzuschneiden!«, drohte ich leise und funkelte ihn wütend an.

Leider schien es ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken. Mit einem höflichen »Ihr wisst, wo sich die Ställe befinden« verbeugte er sich förmlich und verschwand in Richtung Küche.

»Warum noch gleich beschäftige ich Personal, wenn ich doch alles selbst machen muss? Das kann doch nicht wahr sein!«, murrte ich, während ich mir einen dünnen Mantel überwarf und durch die Gesindekammer nach draußen an die frische Luft trat.

Für August war das Wetter seltsam wechselhaft und so schlang ich die Jacke enger um meinen Körper, während ich über den frisch geschnittenen Rasen schritt.

Das quadratische Anwesen stand auf einem deutlich größeren Grundstück, sodass es von einem großen Stall und einem gigantischen Garten umgeben wurde. Das Gesinde schlief zwar im Haupthaus, doch sie besaßen einen eigenen Trakt, sodass ich meine Ruhe hatte.

Vor dem Haus wuchsen jetzt im Sommer wunderschöne Blumen, doch im Herbst würde das bunte Laub der zahlreichen Bäume das Gras bedecken. Es war immer ein deutliches Zeichen dafür, dass sich das Jahr dem Ende zuneigte und alle Lebewesen sich langsam auf den Winter vorbereiteten. Die Jahreszeit, um zu sterben.

Raschen Schrittes ging ich auf den Stall zu, der sich zu meiner Linken befand und in dem meine Pferde untergebracht waren. Ein schwarzer Hengst, ein Fuchs und ein Rappe. Sie hatten meinen Eltern gehört und auch wenn ich es liebte auszureiten, versetzte es mir jedes Mal einen Stich, sobald ich mich auf den Sattel schwang und den Wind in den Haaren spürte. Musste immer wieder daran denken, dass sie nicht mehr dazu in der Lage waren – es nie wieder sein würden, wenn ich keinen Ausweg fand. Nein, wenn ich den Weg, den ich gefunden hatte, nicht ging.

So wie die anderen, die ihre Köpfe in den Sand stecken und sagen, es sei zu gefährlich, die Petro, also kriegerische und dunkle Loa, anzurufen.

Doch wie bei allen anderen Loa auch handelte es sich bei ihnen lediglich um Geister. Spirituelle, körperlose Wesen, die den Menschen gehorchten und halfen, wenn man ihnen das richtige Opfer brachte. Wieso sollten diese hier also anders sein?

Ha, dass ich nicht lache! Einzig sie werden in der Lage sein, mir zu helfen! Was soll ich mit einem Gott anfangen, wenn meine Eltern im Totenreich festsitzen? Nein. Es ist Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen und auf drastischere Maßnahmen zu setzen.

Diese Gedanken beschleunigten meine Schritte und schon bald empfingen mich die drückende Wärme und der Geruch der Tiere, als ich die Tore entriegelte und in den Stall trat.

Seit ich den Titel meines Vaters geerbt hatte, war ich nicht oft hier gewesen, doch seitdem Oliver sich weigerte, meine … Versuche zu unterstützen, fand ich mich vermehrt zwischen den stechenden Heuballen und warmen Tieren wieder. Es tat mir in der Seele weh, doch ich wusste genau, wofür ich das alles tat. Wofür ich diese Tiere opferte – wofür ich mich selbst nicht zum ersten Mal in Gefahr brachte. Und ich würde es wieder tun. So lange es nötig war, um das zu erreichen, was ich schon seit mehr als zehn Jahren versuchte: die Menschen wiederzuerwecken, die vor ihrer Zeit gestorben waren. Meine Eltern, welche die Loa mir genommen hatten.

Die Bewohner Londons würden es niemals verstehen und das war auch der Grund, weshalb ich meinen Glauben so weit es ging für mich behielt. Schon die Vorstellung, den Lords und Ladys etwas über rituelle Opferungen zu erzählen, brachte mich zum Lachen. Sie alle verabscheuten Dinge, die sie nicht verstanden und so verhielt es sich auch mit fremden Religionen. Oder gerade mit dieser.

Wie sollte ich ihnen eine Religion näherbringen, die schon seit Generationen in meiner Familie praktiziert wurde? Auch wenn die Erinnerungen an mein früheres Leben, in meinem Heimatland, immer mehr verblassten, sah ich einige Dinge noch immer vor Augen. Zum Beispiel die Priester, von Kopf bis Fuß mit weißen Symbolen bemalt.

Meine Eltern hatten mir stets erzählt, dass schon ihre Eltern und auch deren Eltern den Voodoo-Glauben praktiziert und gelebt hatten. Wenn ich mich richtig erinnerte, gab es mehrere Priester in meiner direkten Blutlinie und auch wenn ich es niemandem mitteilen konnte, war ich stolz darauf. Stolz, das Erbe meiner Familie weiterzuführen – schließlich gab es nur noch mich.

Endlich kam ich im hinteren Teil des Stalles an, in dem das Nutzvieh untergebracht war. Ich brauchte eine Ziege, doch ich bezweifelte, dass sie sich so einfach würde gefangen nehmen lassen.

»Nun komm schon, du blödes Vieh«, rief ich verzweifelt und versuchte, die Ziege die Treppe zu meinem Keller hinunterzuführen. »Wie kann man nur derart bockig sein!«

Ein leises Räuspern ließ mich herumfahren. »Was willst du, Oliver? Dich über mich lustig machen?«

Der alte Mann legte den Kopf schräg und ein feines Lächeln erhellte sein von Falten durchzogenes Gesicht. »Sir, ich glaube, dass das Tier schlauer ist, als Ihr ihm zugesteht. Ich an seiner Stelle würde auch nicht dort hinuntergehen. Immerhin ist keiner seiner Brüder wieder nach oben gekommen.« Mein Diener hielt seine Hände hinter dem Rücken verschränkt und seine Miene verriet, abgesehen von leichtem Ekel, nichts. Schon vor vielen Jahren hatte er mir mitgeteilt, was er von den Praktiken meiner Familie hielt – den Ritualen, Opferungen und Anrufungen der Loa.

»Wenn ich deine Meinung hätte wissen wollen, hätte ich dich verdammt noch mal gefragt! Aber wenn du nicht vorhast, mir zu helfen, könntest du genauso gut das Silber polieren!«, knurrte ich wütend und wäre Oliver nicht zum ersten Mal am liebsten an den Kragen gegangen.

Doch Oliver ertrug es wie immer mit viel englischer Würde und Fassung. »Wie Ihr wünscht, Master. Euer Wunsch ist mir schließlich Befehl.« Allerdings klangen die Worte aus seinem Mund keinesfalls unterwürfig – eher sarkastisch.

Ein tiefer Seufzer entfuhr mir und ich blickte zu dem älteren Mann, der einige Stufen über mir stand und viel zu selbstgefällig aussah. »Wenn ich lachen möchte, dann gehe ich ins Theater. Von dir brauche ich das nicht auch noch – tue einfach, was ich dir sage. Nicht mehr und nicht weniger«, murrte ich schlecht gelaunt.

Wieso muss ich in diesem Haushalt eigentlich alles selbst machen! Das darf doch nicht wahr sein!

Unwirsch packte ich das Tier um die Mitte, hob es hoch und brachte es, begleitet von seinem lauten, angsterfüllten Blöken, hinunter in den Keller. Am Ende der Treppe angekommen setzte ich das Tier ab, kramte in meiner Manteltasche und zog den alten Eisenschlüssel hervor, der mein Elternhaus von einem anderen Bereich meines Lebens trennte. Dunkel. Gefährlich.

Das Quietschen der Scharniere jagte mir auch nach all den Jahren noch einen kalten Schauer über den Rücken, während ich das Reich meiner Eltern betrat, in dem es keine Rolle mehr spielte, dass ich der Erbe eines riesigen Vermögens war. Nein, hier unten zählte das Weltliche nicht, einzig der Glaube und seine Stärke waren von Bedeutung. Die Anrufungen der Loa und auch die dazugehörigen Rituale wurden stets hier unten abgehalten – fernab von den neugierigen Augen der Öffentlichkeit, die nichts für Menschen übrighatte, die nicht der Norm entsprachen. Schon gar nicht für einen Lord, der zum englischen Adel gehörte. Und wenn es jemanden gab, der nicht der Norm entsprach – egal in welchem Sinne – dann war es wohl ich. Und so sah man mich jeden Sonntag in der Kirche beim Gottesdienst, im Theater und bei Benefizveranstaltungen, einfach, weil es von mir erwartet wurde. Doch nicht hier. In dieser Villa war es mir möglich, die Loa anzurufen und mich meinem neusten Projekt zu widmen – der Wiedererweckung der Toten.

Nachdem ich die Tür zum Keller aufgestoßen hatte, schob ich die schreiende Ziege über die Türschwelle, zog Zündhölzer aus meiner hinteren Hosentasche und entzündete den Kronleuchter, der auf einer Kommode rechts neben dem Eingang platziert worden war. Sofort wurde der Raum in schummriges Licht getaucht und die Kerzen warfen flackernde Schatten an die Wand, die beinahe aussahen, als tanzten sie einen unheilvollen Reigen um mich herum.

Ich brauchte inzwischen kein Licht mehr, um mich zurechtzufinden, und so huschte ich geschickt um die Feuerstelle herum, die mitten im Raum ausgehoben worden war, und entfachte der Reihe nach alle Kerzen, bis mehr als ein Dutzend brannten und den Raum gut genug erhellten. Außerdem öffnete ich den Abzug, der in die Decke eingelassen und direkt mit unserem Schornstein verbunden worden war.

Das Tier jedoch schien von dem Licht nicht sonderlich beruhigt zu werden, denn es gab ein gequältes Blöken von sich, ehe es immer und immer wieder gegen die nun verschlossene Tür rannte und versuchte, diese mit ihren Hörnern zu durchdringen.

»Wirklich? Muss es wirklich jedes Mal dasselbe Spiel sein? Du weißt genauso gut wie ich, dass du hier nicht mehr herauskommst«, sprach ich mit dem Tier und zwang mich, so beruhigend wie möglich zu klingen, um es nicht noch mehr aufzuregen. Zwar verlangte das Ritual ein Tieropfer, doch ich war nicht bereit, das arme Ding zu quälen. Deshalb nahm ich einen der Betäubungspfeile aus einem der niedrigen Regale, stellte mich über das Tier, hielt es mit den Beinen an Ort und Stelle, bevor ich den Pfeil in seinem Hals versenkte. Es dauerte einige Augenblicke, doch das Nervengift wirkte schnell und kurz darauf erstarb seine Gegenwehr, ehe es auf den Boden sank. Lediglich seine zitternden Seiten verrieten, dass es noch lebte.

Nun konnte ich mich endlich auf das konzentrieren, was zählte: das Ritual.

Zuerst entzündete ich die Holzscheite, welche ich immer auf der Feuerstelle platzierte, bis das Feuer munter vor sich hin prasselte und den dunklen Keller noch weiter erhellte. Auch das Buch, welches die heiligen Rituale und Sprüche unseres Glaubens enthielt, lag auf dem Ständer bereit – die richtige Seite, wie immer, bereits aufgeschlagen. Doch wenn ich ehrlich war, benötigte ich es nicht. Viel zu oft hatte ich es durchgeführt, sodass ich es in- und auswendig kannte.

Nur ein Detail fehlte noch: Die rituelle Körperbemalung, die einen Bocor oder eine Mambo kennzeichneten. Häufig genug hatte ich gesehen, wie erwachsene Menschen sich von Kopf bis Fuß mit weißer Farbe bemalt hatten, die auf der zumeist dunkleren Haut noch deutlicher zur Geltung kam. Ich allerdings war noch nie ein großer Freund davon gewesen und so tauchte ich lediglich beide Mittel- und Zeigefinger in den Tonpot und zog, einer indianischen Kriegsbemalung gleich, zwei schräge Striche auf meine Wangen.

Schon im Kindesalter hatte ich es gehasst, mich wirklich schmutzig zu machen und diese Angewohnheit zog sich bis heute durch mein Leben. Vor allem aber nach meinem weniger erfreulichen Kapitel in den Opiumhöhlen der Stadt achtete ich darauf, sowohl Körper als auch Geist sauber zu halten.

Als Letztes griff ich nach der Asson, die ich von meinem Vater nach seinem Tod geerbt hatte. Als ich meine Hand um die rituelle Rassel schloss, die nur den Priestern vorbehalten war, spürte ich, wie sich mein Magen verknotete und mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog. Schon seit mehr als zehn Jahren waren meine Eltern tot und doch konnte ich nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Und auch wenn die ganze Welt dachte, dass sie bei einem Fabrikunfall ums Leben gekommen waren, wusste ich es besser – sie starben in der Ausführung ihres Amtes. Die Loa hatten meine Eltern genommen und jetzt forderte ich sie zurück.

Nun war es allerdings an der Zeit, das Opfer zu bringen, welches den Geist erst genug besänftigen würde, um ihn erscheinen zu lassen. Und ich hoffte mit jeder Faser meines Seins, dass es dieses Mal gelingen würde. Dass Marinette endlich eine materielle Gestalt annehmen und zu mir sprechen würde.

Schnell durchquerte ich den vielleicht fünfundzwanzig Fuß breiten Raum, ging neben der Ziege in die Hocke, hob sie auf meine Arme und trug sie zum Feuer. Noch konnte ich ihren Puls deutlich unter meinen Fingern spüren, aber das würde sich schon bald ändern. Denn wenn es eine Sache gab, der die Petro-Loa nicht widerstehen konnten, dann war es ein Opfer aus Fleisch und Blut.

Das war auch der Grund, wieso auf meinem Anwesen lediglich schwarze Hennen und Ziegen gehalten wurden – auf einem schwarzen Pelz erkannte man Blutflecken schlechter und es war einfacher, sie unbemerkt verschwinden zu lassen. Ich benötigte sie, um die Geister gnädig zu stimmen, damit sie meine Bitten vielleicht eines Tages erhören würden. Schon von Kindesbeinen an hatte ich gelernt, dass rituelle Opfer nötig waren und nichts, wovor man sich fürchten musste. Und so hielt ich es auch noch heute. Zwar empfand ich jedes Mal einen Stich Mitleid mit dem Tier, und doch konnte ich mich selbst nicht dazu bringen, das, woran ich glaubte, zu verraten.

Ein leises Seufzen entfuhr mir, als ich nach dem Ritualdolch griff, der immer auf der Kommode bereitlag, und mich neben das noch immer bewusstlose Tier kniete. »Ich danke dir für dein Opfer. Die Geister werden zu schätzen wissen, was du für mich tust. Es wird nicht umsonst gewesen sein, das verspreche ich dir.«

Bei diesen Worten setzte ich das Messer an die Kehle des Tieres, zog es mit einer schnellen, präzisen Bewegung darüber und spürte sofort, wie warmes Blut meine Finger bedeckte. Augenblicklich umhüllte mich der metallische Geruch, den ich nur zu gut kannte. Auch wenn das sterbende Herz der Ziege weiter Blut durch ihre Adern pumpte, meine Hände besudelte und den Boden verschmierte, hob ich den Körper in die Höhe, dankte ihr noch einmal im Stillen und warf sie mitten in die Flammen des Feuers, das noch immer gen Decke leckte.

»Hör mich an, Marinette – Schrecklichste der Loa. Mit diesem Opfer rufe ich dich an und warte als dein untertänigster Diener darauf, dass du dich mir zeigst!«, rief ich, während ich eine Handvoll Salz in die Flammen warf, welche sofort höherschlugen und meinen Körper mit ihrer Wärme umschlossen. Wie von selbst bewegte sich die Asson in meiner linken Hand, untermalte meine Anrufung mit einem unheilvollen Klappern, welches mich immerzu beruhigte wie sonst nichts auf dieser Welt. Plötzlich war ich mit mir im Reinen – wusste, wer ich war und wo ich hingehörte. Hier musste ich mich nicht verstellen und hoffen, dass niemand meiner Person zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Denn so gern ich es in die Welt hinausgeschrien hätte: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Londoner Gesellschaft etwas derart anderes akzeptierte, war gleich null und ich wollte nicht riskieren, den Rest meiner Tage in einem Sanatorium zu verbringen.

Während der Anrufung hatte ich die Augen geschlossen, mich dem Rhythmus der Asson hingegeben, darin verloren und spürte, wie die Maske, die ich in der Öffentlichkeit bei jeder Möglichkeit trug, von mir abfiel, gleich dem Kokon eines Schmetterlings.

Wie lange ich die kehligen Gesänge meiner Vorfahren intonierte, wusste ich nicht, doch als ich meine Lider wieder öffnete, glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen. Direkt über dem Feuer, in der Mitte des Raumes, waberte etwas, das einer rauchigen Kugel am nächsten kam.

»Ist das … Nein. Nach all der Zeit habe ich es wirklich … Kann es sein, dass du …«, brachte ich hervor und konnte mein Glück kaum fassen. Das Herz schlug so schnell, dass ich glaubte, es würde jeden Augenblick aus meiner Brust direkt ins Feuer und zu der Loa springen, die erschienen war. Es schien unmöglich und doch hatte ich es geschafft. Endlich.

»Wer wagt es, mich zu rufen? An einen Ort zu binden und über mich zu bestimmen?«, hallte eine unheimliche Stimme durch den Raum, stellte jedes Härchen auf meinen Armen auf und verursachte mir eine Gänsehaut.

Jede Faser meines Körpers schrie danach zu fliehen, doch ich konnte mich hiervon nicht abhalten lassen. Nicht jetzt, da ich es endlich geschafft hatte. Und so nahm ich, trotz meines wild hämmernden Herzens, allen Mut zusammen und antwortete der Loa. »I-Ich, Jasper Earwing, habe dich gerufen und bitte dich, meinen Wunsch zu erfüllen, dich meinem Willen zu beugen und endlich zu tun, was ich schon seit einem Jahrzehnt versuche zu erreichen! So beantworte mir eine einfache Frage: Wer bist du?« Selbst in meinen Ohren klangen die Worte lahm und zu genau hörte ich, dass meine Stimme zitterte. Doch was sollte ich tun? Wenn ich mit meiner Vermutung richtiglag, war ich endlich am Ziel angelangt.

Anstatt eine Antwort zu bekommen, vernahm ich lediglich ein raspelndes, böses Lachen. »Und du, Jasper Earwing, glaubst wirklich, mir etwas befehlen zu können? Marinette? Dein Opfer mag vielleicht genügen, um mich erscheinen zu lassen, doch wenn du glaubst, stark genug zu sein, mich zu befehligen … wirst du bald schon erfahren, was es heißt, mit Mächten zu spielen, die du niemals beherrschen kannst, Bocor.«

Bei jeder Silbe gefror mir das Blut in den Adern und ich trat unwillkürlich einen Schritt nach hinten. Noch immer zu geschockt von meinem Erfolg, um sofort zu antworten. Doch der Gasball schien sich nicht sonderlich für meine Gefühle zu interessieren, denn er verließ seinen Platz über den Flammen, schwebte durch den Raum – genau auf mich zu. Trieb mich so lange vor sich her, bis ich die Bretter eines Regales in meinem Rücken spürte.

Ich bin gefangen. Habe keinen Ausweg. War das ihr Plan? Hat sie recht? Habe ich mit Mächten gespielt, von denen ich weniger verstehe, als ich mir eingestehen wollte? Und was kann ich tun, um sie loszuwerden?

Das alles schoss mir innerhalb von Sekunden durch den Kopf und doch hatte ich keine Antwort. Ich hatte mich selbst in diese Lage gebracht und nun musste ich zusehen, dass ich herauskam. Vorzugsweise lebendig. »Ich rief dich an, da einzig du mir helfen kannst, diese Aufgabe zu erreichen! In all deiner zerstörerischen Macht und Schönheit, deiner tödlichen Präzision, hilf mir, meine Eltern dem Griff des Todes zu entreißen! Einzig du, Marinette, bist in der Lage, mein gebrochenes Herz zu heilen, meinen Geist zu reinigen und meinem Körper zu neuer Kraft zu verhelfen!« Es war vollkommener Schwachsinn und das wusste ich genauso gut wie die Loa vor mir. Doch ich durfte keine Schwäche zeigen, sonst würde sie mich auf der Stelle mit Haut und Haaren verschlingen – und ich hätte verloren.

Das Geisterwesen begann, langsam um meinen Kopf zu kreisen, sachte die Haut meines Gesichtes zu streichen, und ließ mich neuerlich erschauern.

Was soll das? Spielt sie mit mir? Was soll ich noch tun, damit sie mir gibt, was ich verlange? Verdammt, soll ich auf dem Boden kriechen?

»Du scheinst zu wissen, was du willst, Menschlein. Doch eines kann ich dir sagen – du weißt nicht, mit welchen Mächten du spielst.«

Bei ihren überheblichen Worten breitete sich kalte Wut in meinem Inneren aus, ballte sich zu einem Klumpen zusammen und verdrängte jeglichen rationalen Gedanken.

Was glaubte sie eigentlich, wen sie vor sich hatte! Sicher keinen blutigen Anfänger, der nicht wusste, mit welchen Mächten er hantierte! Ich wusste nur zu gut, was ich tat und war mir der möglichen Konsequenzen bewusst. Und so hob ich meine Hände über den Kopf, legte diesen in den Nacken und rief mit kehliger, seltsam rauer Stimme: »Beuge dich endlich den Wünschen deines Meisters! Wer auch immer du sein magst, Loa! Mein Opfer besänftige dich und meine Wünsche seien dir Befehl! So höre meine nächsten Worte und nehme sie als den Befehl, den sie darstellen, nicht als Wunsch oder Bitte: Suche die Seelen meiner Eltern, Mary-Ann und Robert Earwing, heile ihre Wunden und bringe sie zurück in die Welt der Lebe-«

Weiter kam ich nicht, denn im nächsten Augenblick presste ich jegliche Luft, die sich noch in meiner Lunge befand, schmerzhaft heraus, als sich ein kleiner Teil des Geisterwesens aus der Kugel löste und mit atemberaubender Geschwindigkeit auf mich zuraste. Ich wusste, dass ich ausweichen sollte, wusste, dass das hier böse ausgehen würde, doch ich befand mich nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu rühren. Das ungute Gefühl, welches von mir Besitz ergriffen hatte, wandelte sich in Bruchteilen von Sekunden in nackte Panik, als sich der Splitter der Gaskugel direkt in meine Brust bohrte. Was ich erwartet hatte, wusste ich nicht, doch sicherlich nicht, dass ein brennend heißer Schmerz von meiner Brust ausging, sich einen Weg durch meine Adern bahnte, den gesamten Körper in Besitz nahm und meine Existenz in einem Höllenfeuer aufgehen ließ. Verheerendes Feuer verbrannte jeden Inch meiner Haut und trotz allem entkamen meinem Mund keine Laute. Ich war mir sicher, dass ich es nicht viel länger aushalten würde. Vollkommen entkräftet sank ich zu Boden, noch immer darum kämpfend, die Fassung zurückzuerlangen – ohne Erfolg.

Innerlich schrie ich meinen Schmerz hinaus, versuchte, ihm zu entkommen, und doch hielt er mich in seinem eisernen Griff gefangen und stahl mir jedweden Lebenswillen. War das das Ende? In einem staubigen Keller, bei einem Ritual, das ich schon mehrere hundert Male durchgeführt hatte? Würde Oliver doch recht behalten und mein Sturkopf mich letzten Endes umbringen? Bei dem Gedanken an meinen Diener musste ich beinahe lächeln, trotz dass mein Gesicht zu einer Fratze verzerrt war.

Allerdings hätte ich niemals mit dem gerechnet, was als Nächstes geschah: Wie durch einen Schleier drang das dumpfe Lachen einer anderen Stimme an mein Ohr, gefolgt von ihren unheilvollen Worten: »Nun, Jasper Earwing, ich hoffe, dass du bereit bist für das, was auf dich zukommt. Du hast mich in diese Welt gebracht und ich glaube, es gefällt mir hier. Und ich habe nicht vor, sie so schnell wieder zu verlassen.«

Das musste ein Scherz sein, nein, das durfte nicht der Wirklichkeit entsprechen! Kämpfe, Jasper! Es darf nicht sein, dass … Du musst bei Bewusstsein bleiben und darfst nicht aufgeben, spornte ich mich im Geiste an und wusste doch im gleichen Moment, dass es vergebens war. Dass das Geisterwesen tausendmal stärker war, als ich es jemals sein könnte.

Ich rang nach Luft, versuchte, meinen Körper dazu zu zwingen, Sauerstoff in meine Lunge zu pumpen, und doch schien ich nicht in der Lage dazu, war nicht länger Herr meines eigenen Körpers.

Bloody hell, fluchte ich lautlos. Was hat das zu bedeuten? Ich kann nicht … sterben! Weder hier … noch … jetzt … Muss entkommen!

Auch wenn mein Verstand diese Gedanken noch hervorbrachte, gab mein Körper auf und mit jeder Sekunde, die ich nicht atmete, breitete sich der schwarze Rand, der langsam, aber sicher von den Rändern meines Sichtfeldes nach innen kroch, weiter aus. Nahm mir die Sicht und damit jegliche Hoffnung darauf, es lebend hier herauszuschaffen.

Wenn ich schon hier unten sterben muss, so lasst es wenigstens schnell gehen. An den einen Gott hatte ich nie geglaubt, war nicht derart erzogen worden, und doch musste es eine höhere Macht geben, die mein Flehen erhörte, denn in dem Moment, da eine weitere Welle des Schmerzes über mir zusammenbrach, verlor ich vollends das Bewusstsein und sowohl der Keller als auch das Feuer, direkt vor meiner Nase, versanken in ewiger Dunkelheit.

Kapitel 3

Damien

London, 30. August 1888

»McNeil!«