Hurensohn - Jens Boele - E-Book

Hurensohn E-Book

Jens Boele

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Beschreibung

Sie lebt in einem alten, heruntergekommenen Plattenbau in Bukarest. Nein, hier sieht die hübsche Rumänin Stella für sich und ihren Sohn Beniamin keine Zukunft. Auf der Suche nach Glück reisen sie nach Deutschland, wo Stella schließlich im Rotlichtmilieu arbeitet. Zu allem Überfluss verschwindet Beniamin nach einigen Monaten spurlos. Doch wer hilft schon einer Prostituierten auf der Suche nach ihrem Sohn? In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an den Ex-Polizisten Robert Bormann, der für seine unkontrollierte Art bekannt ist. Auf eigene Faust sucht er nach Beniamin und gerät schnell in einen Sumpf aus Drogen, Kindesmissbrauch und Gewalt. Wer kann wem trauen in diesem schmutzigen Spiel? Handelt es sich vielleicht um organisierten Menschenhandel? Und über allem die verzweifelte Frage: Wo ist Beniamin? Ist er noch am Leben?

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Seitenzahl: 387

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Zum Buch:

Sie lebt in einem alten, heruntergekommenen Plattenbau in Bukarest. Nein, hier sieht die hübsche Rumänin Stella für sich und ihren Sohn Beniamin keine Zukunft. Auf der Suche nach Glück reisen sie nach Deutschland, wo Stella schließlich im Rotlichtmilieu arbeitet. Zu allem Überfluss verschwindet Beniamin nach einigen Monaten spurlos. Doch wer hilft schon einer Prostituierten auf der Suche nach ihrem Sohn? In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an den Ex-Polizisten Robert Bormann, der für seine unkontrollierte Art bekannt ist. Auf eigene Faust sucht er nach Beniamin und gerät schnell in einen Sumpf aus Drogen, Kindesmissbrauch und Gewalt. Wer kann wem trauen in diesem schmutzigen Spiel? Handelt es sich vielleicht um organisierten Menschenhandel? Und über allem die verzweifelte Frage: Wo ist Beniamin? Ist er noch am Leben?

Zum Autor:

Jens Boele, Jahrgang 1975, ist ausgebildeter Mediengestalter, der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt im Bereich Kino und Film. Seit dem Jahr 2015 ist er als Schriftsteller in Erscheinung getreten. Die Bausteine für seine literarische Arbeit nimmt er aus der Realität, seinen Werken liegen echte Kriminalfälle zu Grunde oder sind durch sie inspiriert. Jens Boele reist leidenschaftlich gerne, viele seiner Ideen entstanden auf Touren durch die USA. Sein Lebensmittelpunkt liegt in Bochum.

Zur Reihe:

»Ruhrpott Kriminell« ist eine Reihe von Romanen, die weder in das Genre Krimi, noch in die klassische Ruhrgebiets-Literatur passen. Inspiriert durch Autoren wie John Milton und Anthony Burgess sind ihre Protagonisten klassische Antihelden, die ihre eigene Persönlichkeit über die Welt an sich stellen. Gepaart mit dem (immer noch schmutzigen) Charme des Ruhrgebiets, verkörpern sie eine andere, unbequeme Art der Literatur.

Inhaltsverzeichnis

VORSPIEL

DIE NUTTE & DER BULLE

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

DER KINDER - SCHÄNDER

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

CHUCKY, DER MENSCHENHÄNDLER

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

TOD UND VERZWEIFLUNG

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

DIE BEERDIGUNG

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

FATA MORARULUI

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

KAPITEL 50

KAPITEL 51

KAPITEL 52

KAPITEL 53

VORSPIEL

Mama sollte wiederkommen.

Er stand auf seinem Bett, die Hände an die Fensterscheibe gedrückt und starrte in die Nacht hinaus. Draußen war es frostig, die Luft roch nach Winter. Die Kälte der Nacht kroch durch das Glas in seine Hände. Unmerklich zitterte der kleine Junge, doch er konnte sich nicht vom Fenster abwenden. Zu groß war die Sehnsucht, zu stark die Angst vor der Einsamkeit. Sein Atem schlug sich auf der Scheibe nieder, verwandelte sie in Milchglas. Die kleinen Finger wischten den Dunst hinfort, wie sie es schon oft getan hatten. Nacht für Nacht, die sie in der Stadt verbracht hatten, stand er an dem Fenster seines Zimmers und starrte traurig in die Dunkelheit hinaus. Und immer ließ Mama ihn allein. Eine einsame Träne lief an seiner rechten Wange hinab. Niemand war da, ihn in den Arm zu nehmen und zu trösten. Papa war schon lange weg. Die Erinnerung an ihn war längst verblasst. Sein Vater war verschwunden, bevor sie in die Stadt gekommen waren. Er wusste es nicht, doch der Junge vermisste ihn. Würde Papa ihn in den Arm nehmen, er würde sich geborgen fühlen, sicher. Es wäre kein so unheimliches Gefühl, wie das, was ihm die anderen Männer vermittelten. Die Männer, die Mama manchmal mit nach Hause brachte.

Doch er wusste es nicht besser und so vermisste er einfach seine Mutter. Die beste Mama der ganzen Welt.

Als er den Schlüssel in der Tür hörte, sprang der Junge vom Fenster zurück und schlich auf Zehenspitzen zur Tür seines Zimmers. Dumpfe Schritte dröhnten durch den Flur, Kleidungsstücke fielen zu Boden. Mit einem Knall fiel die Tür ins Schloss. Es wurde gelacht. Mama zischte die anderen an, leise zu sein.

Er atmete leise, ein Ohr an der Tür. Ständig darauf eingestellt, so schnell wie möglich zurück ins Bett zu springen, sollte sich die Tür öffnen. Sein Puls raste, das kleine Herz schlug ihm bis in den Hals. So sehr er sich auch an den Gedanken gewöhnen wollte, dass Mama nicht allein war, er konnte es einfach nicht. Mama sollte keinen Fremden mitbringen. Auch wenn sie ihm immer sagte, wie gut das für sie wäre. Sie war seine Mutter, sie sollte zu ihm kommen. Seine Gefühle wanderten auf einem schmalen Grat zwischen Einsamkeit und Eifersucht – doch auch das wusste er nicht. Alles, was er wusste war, dass es ihm in der neuen Stadt nicht gefiel und dass er sein Zuhause vermisste.

Als die Stimmen leiser geworden waren, öffnete er vorsichtig die Tür und schlich sich raus auf den Flur. Sie hatten das Licht angelassen und waren in Mamas Schlafzimmer verschwunden. Obgleich es ihm nicht gefiel, wusste er, was nun passieren würde. Das Lachen war verstummt, für einen Moment herrschte Stille in der Wohnung. Er musste aufpassen, wohin er trat, sonst würden die Holzbretter quietschen. Nicht mehr lange, dann könnte er sich entspannen, die Vorsicht schwinden lassen. Nur noch wenige Schritte, dann wäre er angekommen.

Die Tür zum Schlafzimmer seiner Mama war geschlossen. Ein Blick durch das Schlüsselloch ließ schemenhafte Bewegungen erkennen. Das Licht dort drinnen war gedämpft. Vorsichtig, ganz vorsichtig legte der Junge seine kleine Hand auf die Tür und spürte die Stille. Das Holz war warm, nicht so kalt wie die Fensterscheibe. Er schloss die Augen und hielt die Luft an. Sein Atem ging ganz langsam, auf keinen Fall wollte er die Stille durchbrechen. Und dann stöhnte seine Mama.

Erst ganz leise, dann immer lauter. Sie stöhnte, wie sie es immer tat, wenn sie glücklich war. Das jedenfalls hatte Mama ihm erzählt.

Er atmete schwer aus, ließ die Hand sinken und drehte sich von der Tür weg. Ohne jeden Argwohn lief er den Gang hinab zurück zur Wohnungstür. Die Bohlen quietschten bei jedem Schritt, doch das war dem Jungen egal. Das Stöhnen seiner Mutter war ohnehin lauter als die Geräusche, die er verursachte. Erst war es nur Mama, die deutlich hörbar stöhnte, dann konnte der Junge eine männliche Stimme erkennen. Als er am Eingang der Wohnung angekommen war, vernahm er schon drei Stimmen aus Mamas Zimmer. Von da an schenkte er ihnen keine Aufmerksamkeit mehr. Es war ihm egal. Mama würde bald zu ihm kommen. Dann wären die Männer nicht mehr da. Also musste er sich beeilen.

An der Garderobe hingen drei Jacken – eigentlich vier, aber eine davon war Mamas Jacke. An die durfte der Junge nicht gehen. Das hatte sie ihm verboten. Doch die Jacken der Männer waren seine Beute – Mamas und sein Raubgut. Er lächelte. Seine Mutter hatte ihm über den Kopf gestreichelt und ihn geküsst, als sie das gesagt hatte. »Schatz, das ist unsere Beute. Du und ich, wir sind Räuber« hatte sie ihm ins Ohr geflüstert.

Er kletterte auf das Schuhregal, in dem Mamas Stöckelschuhe standen, und hielt sich dabei an der Garderobe fest. Mit der linken Hand durchsuchte er die Taschen. Er war noch jung, doch konnte er anhand der Formen und des Materials ganz genau erkennen, was seine Hand ertastete: Zigaretten, Streichhölzer, Feuerzeuge, Kondome, Trinkfläschchen, Münzen und Scheine. Das war das Wichtigste. Geldscheine. Er angelte sie raus und steckte sie in seine Schlafanzugtasche. Manchmal hatten die Männer die komischsten Dinge dabei. Fotos von Frauen. Ringe. Zettel. Visitenkarten.

Der Junge freute sich, wenn er etwas in die Finger bekam, was er nicht ertasten konnte. Einmal hatte er eine blaue Glasmurmel gefunden. Die lag immer noch unter seinem Bett. Ein anderes Mal sogar ein Handy. Aber das hatte er in der Jacke gelassen. Mama wollte nicht, dass er teure Elektrosachen klaute. Die Männer vermissten das meistens sehr und schimpften dann mit Mama.

Als er alle Jacken durchsucht hatte, kletterte der Junge vom Schuhregal hinunter und ging ins Wohnzimmer. Er schaltete den Fernseher ein und legte seine Beute auf den Fliesentisch vor der Couch. Angewidert schob er den Aschenbecher beiseite. Mama hatte viel geraucht und die Zigarettenkippen nicht weggetan. Es stank. Der Mann im Fernsehen schimpfte mit seiner Frau. Der Junge fragte sich, ob sein Papa auch mit Mama geschimpft hätte. Aber Mama hätte sich das nicht gefallen lassen. Sie war größer als der Mann im Fernsehen. Sogar die fremden Männer machten Mama glücklich, niemand schimpfte mit Mama.

Vorsichtig breitete er die Scheine auf dem Tisch aus. Dann sortierte der Junge das Geld nach Farbe. Grün, blau, grau … die Gesichter auf den Banknoten waren komisch. Keines lächelte ihn an, alle schauten regungslos. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war, dass sie mit den Scheinen Sachen kaufen konnten. Er zählte sie so, wie Mama es ihm beigebracht hatte. 300, 400 … das war ganz schön viel. Der Junge freute sich. Mama würde stolz auf ihn sein.

Er hatte das viele Geld gerade zurück in seine Tasche geschoben, da hörte er Schritte auf dem Flur. Hastig grapschte er nach der Fernbedienung und kauerte sich auf der Couch zusammen, den Blick starr auf den Fernseher gerichtet.

Ein Mann stand in der Tür, nur mit einer Unterhose bekleidet. Der Junge konnte seine Figur im Türrahmen erahnen.

»Hallo, kleiner Mann. Was machst du denn hier?«

Der Junge ignorierte den Störenfried, schaute konzentriert auf die Geschehnisse im Fernsehen. Der Mann, der eben noch mit seiner Frau geschimpft hatte, schaute betrübt in den Himmel. Dann wechselte die Szene und drei Frauen unterhielten sich.

»Das hier ist kein Ort für ein Kind.« Der Fremde stand immer noch in der Tür und redete mit dem Jungen. Dann endlich vernahm er die Stimme seiner Mama. »Das Klo ist auf der anderen Seite. Hier rechts, Schatz.« Der Mann verschwand und der Junge erkannte die Silhouette seiner Mutter im Türrahmen. Ihr langes Haar war wuschelig und lag kreuz und quer auf ihren Titties. Sie war nackig – wie immer, wenn sie nachts aus ihrem Schlafzimmer kam.

»Hallo Schatz. Schaust du was Schönes im Fernsehen?«

Der Junge nickte, obwohl er nicht wusste, was er da schaute. Mit langsamen, anmutigen Schritten kam seine Mama näher und setzte sich zu ihm auf die Couch. Sie hatte geschwitzt, das konnte er riechen – wie immer, wenn sie nachts aus ihrem Schlafzimmer kam.

Mama legte die Füße auf den Tisch und einen Arm um ihn. Sein Kopf sank nach links. Er kuschelte sich an ihre Schulter.

»Geht es dir gut, Schatz?«

»Mhm«, der Junge nickte und legte eine Hand auf ihren Bauch. Für einen Moment lang war es still, nur das Fernsehprogramm quasselte leise vor sich hin.

»Warst du fleißig, mein Kleiner?« Der Junge lachte und drehte sich auf die Seite, um in seine Tasche greifen zu können. Stolz legte er die Geldscheine in den Schoß seiner Mutter. »Guck, Mama!« Er legte seinen Kopf auf ihre Oberschenkel und wartete darauf, dass Mama das Geld zählen würde. Doch seine Mutter hatte mit einem Augenblick erkannt, wie viel ihr Sohn da zusammengeklaut hatte.

»Komm her, setz dich auf meinen Schoß«, flüsterte sie.

Er stützte sich mit einer Hand ab und kletterte erwartungsvoll auf die nackten Beine seiner Mama. Dann schaute er in ihre großen Augen und wartete gespannt ab, was sie ihm wohl sagen wollte.

Mamas Brustwarzen waren hart. Wie immer, wenn sie nachts aus ihrem Schlafzimmer kam.

»Du bist ein guter Junge, Schatz.« Sanft strich sie durch sein Haar. Ihre Fingerspitzen glitten hinab an seinem Ohr, seinem Hals und an seiner schmalen Brust. »Sieht so aus, als wärest du der Mann im Haus, was?« Mama nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste ihn. Dann schob sie ihn sanft von sich hinunter und stopfte die Scheine unter die Kissen der Couch. »Geh gleich ins Bett, Schatz, ja?« ermahnte sie den Jungen.

Als sie ihn umarmte, spürte er Mamas Brüste an seinem Kinn. Der Junge lächelte und war unglücklich zugleich. Sie würde ihn wieder allein lassen, zurück zu den fremden Männern gehen. Erst morgen früh käme Mama zu ihm ins Bett gekrochen. »Ich liebe dich, mein Schatz!« Mamas Lippen schmeckten nach Alkohol, nach Rotwein. Wie so oft. Dann ging sie weg, zurück in ihr Schlafzimmer. Der fremde Mann folgte ihr einige Augenblicke später.

Er wusste, dass er jetzt allein sein würde. Allein für eine lange Zeit. Doch er war nur für einen kurzen Moment traurig.

Seine kleinen Finger zogen das Tütchen aus der Hosentasche, was er Mama verheimlicht hatte. Einer der Männer hatte es in der Jacke gehabt. Der Junge kannte solche Tütchen, Mama hatte sie auch oft bei sich. Deswegen durfte er nicht an ihre Jacke gehen. Er bekam sonst totalen Ärger. In zweien seiner kleinen Finger hielt er das Plastiktütchen in das Licht des Fernsehers. Das war die gleiche Medizin, die seine Mutter zu sich nahm. Vorsichtig steckte er es zurück in seine Hosentasche und schlich sich auf Zehenspitzen zur Zimmertür. Es war ruhig in der Wohnung, mucksmäuschenstill. Im Widerhall des Fernsehers huschte der Junge zurück in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sein Bettchen war unberührt. Die Decke lag noch immer halb aufgedeckt auf der Matratze, ein Plüschaffe darunter versteckt.

Im Schneidersitz machte es sich der Junge auf dem Bett bequem. Auf dem grünen Cover eines Comics schüttete er den braunen Inhalt der Tüte aus. Das Pulver roch komisch. Wie immer. Nach feuchter Erde. Wie im Wald, wenn es geregnet hatte. Der Junge mochte den Geruch.

Mama hatte ihm eingebläut, ganz wenig von dem braunen Pulver zu nehmen. Die Medizin war sehr stark. Sie hatte einen ganz komischen Namen: Schore. Und er sollte nur eine Fingerspitze davon nehmen. Wie immer. Es schmeckte bitter. Dann kroch Wärme seinen Körper empor. Und er wurde müde. So müde.

Am nächsten Morgen wachte der Junge auf. Sein Herz raste. Er erschreckte sich, glaubte aus einem Albtraum zu erwachen. Panisch warf er die Decke aus dem Bett. Er richtete sich auf, schnappte nach Luft. Grelles Licht fiel durch das Fenster auf sein kleines Bett. Der Junge atmete tief ein, seine Lungen gierten nach Luft. Er litt unter den Folgen des Heroinkonsums, doch das wusste er nicht. Alles, was er fühlte, war die Sehnsucht nach seiner Mutter.

»Mamaaaaaaa!«, rief er laut und unverkennbar. »Mamaaaaaaa!«

Erst nach einigen Augenblicken, die sich wie Stunden hinzuziehen schienen, begriff der Junge, dass seine Hilferufe unbeantwortet bleiben würden. Zitternd lehnte er sich aus dem Bett, setzte einen Fuß nach dem anderen auf den kalten Boden. Mit einem Ruck stand er auf, hielt sich wackelig auf den Beinen. Er war krank, das konnte der Junge fühlen. Wie immer, wenn Mama die ganze Nacht unterwegs gewesen war. Doch diesmal war es anders. Diesmal war sie nicht in sein Bett gekommen. Die Angst vor der Einsamkeit packte ihn. Selbst wenn er erwachsen gewesen wäre, er hätte den Unterschied zwischen Drogenkater und dem Alleinsein nicht empfinden können. Es fühlte sich einfach viel zu ähnlich an.

Sein Körper war zu schwach, doch die Sehnsucht nach der Mutter verlieh dem Jungen den nötigen Antrieb. Mit wackeligen Beinen lief er zur Tür, schob sie auf und trat auf den Flur hinaus.

Das Licht war aus, der Fernseher verstummt. Mama musste ihn ausgeschaltet haben. Bestimmt war sie einfach eingeschlafen, hatte es nicht mehr zu ihm geschafft. Wie immer wäre sie zu ihm ins Bett gekommen. Einen Morgen ohne sie konnte sich der Junge nicht vorstellen.

An der Tür angekommen legte er seine kleine Hand auf die Klinke. Sein Herz raste immer noch. Mama, bitte mach mir auf.

Er drückte all seine Kraft gegen die Tür, schob seinen kleinen Körper durch den Spalt und schaute voller Entsetzen in das Bett der Mutter.

Dort lag sie, umschlungen von den Armen des Mannes, der letzte Nacht bei ihr gewesen war.

Der Junge rannte.

Er rannte, so weit ihn die Füße trugen.

DIE NUTTE & DER BULLE

KAPITEL 1

»Wer bist du schon, du Drecksbulle?«

Kommissar Bormanns Faust traf den Dealer auf die Oberlippe. Blut sickerte aus der Platzwunde, wo es sich sofort mit dem kalten Nieselregen vermischte. Der Mann taumelte durch die Wucht des Treffers nach hinten, schlug dabei wild um sich. Bormann hörte zornige Rufe und sah Hände auf seinen Schultern. Der Mob der Schaulustigen hatte sich entrüstet, mobilisierte sich. Mit einem kurzen Blick über die Schulter versicherte er sich, dass sein Partner Jankowski ihm den Rücken freihielt.

»Du bist verhaftet, Arschloch!«, rief er dem Dealer zu. Vor einer Minute erst hatte er die fünf Päckchen Heroin aus dessen Hosentasche befördert, danach eskalierte die Situation. Schaulustige waren von Gaffern zu Komplizen geworden, solidarisierten sich mit dem Kriminellen.

Bormann bekam den Dealer zu fassen, als ihn ein Stein am Kopf traf. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde ihm schwarz vor Augen. Während der Verhaftete fliehen konnte, wurden er und sein Kollege von dem Mob eingekreist.

»Verpisst euch!« Bormann riss seine Dienstwaffe aus dem Holster und schoss in die Luft.

Totenstille. Pfeifen in den Ohren. Der Schuss hatte sie aus ihrer Rage gerissen. Blaulicht erhellte die Szenerie. Erst Sekunden später nahmen sie die Sirenen wahr. Drei Einsatzwagen standen quer auf der nassen Straße. Der eben noch tollwütige Pöbel zerstreute sich in alle Richtungen.

Der Bildschirm wurde schwarz, das Video war zu Ende.

Kriminalhauptkommissar Robert Bormann nahm einen Schluck aus seiner kleinen Cola-Flasche. Missbilligend schaute ihn sein jüngerer Kollege Michael Jankowski an. Wie immer, wenn er zu reden ansetzte, zog er harsch Luft durch die Nase ein. »Robert, du packst jetzt am besten deinen Flachmann weg und kaust die hier.« Er hielt Bormann einen Streifen Kaugummi hin. »Ich kann den Fusel in der Cola bis hierhin riechen.«

Ungehalten riss er ihm das Päckchen aus der Hand und stopfte es in seinen Mund. »Sonst was? Verpetzt du mich sonst bei Gössing?«

»Ich glaube wohl kaum, dass das notwendig ist.« Süffisant lächelte Jankowski in den Außenspiegel des Wagens. »Wenn der deine Fahne riecht, ist es mit deiner Karriere erstmal Essig. Und nach der Gewaltorgie hier sowieso.« Er deutete auf das Video, das seine Bodycam eine halbe Stunde vorher aufgenommen hatte.

»Ich sag dir mal was, mein Freund«, zischte Bormann ihn herausfordernd an. »Wenn du jeden beschissenen Dealer davonkommen lässt, weil du Angst vor dem Alten hast, dann hast du deinen Job verfehlt. Dann solltest du lieber Innendienst schieben.« Bormann knallte die Tür des Wagens zu und stützte sich mit beiden Armen am Dach ab.

Wieder sog Jankowski die Luft durch seine Nase ein. »Ohne dich und dein Alkoholproblem wären wir gar nicht erst in die Situation gekommen!« Auch Jankowski warf die Fahrertür wutentbrannt zu. »Du hättest den Kerl am liebsten abgeknallt.«

Bormann stieß sich mit einem Ruck vom Wagen ab und versperrte Jankowski den Weg. »Ganz genau. Irgendwann ist nämlich Schluss mit Tischlein deck dich. Dann gibt’s Knüppel aus dem Sack. Aber dir ist deine Karriere ja wichtiger als dein Beruf.« Jankowski schüttelte sprachlos den Kopf, während Bormann sich umdrehte und die Tür zum KK 14 aufwarf. »Los, ab zum Chef. Ich schreib schon mal den Bericht«, rief Bormann seinem Kollegen zu.

Ohne Jankowski eines Blickes zu würdigen, verschwand Robert Bormann hinter seinem Schreibtisch. Er atmete tief ein und aus, spürte, wie sein Puls langsam zur Ruhe kam. Dann setzte er die Plastikflasche an und trank den letzten Rest seiner Rum-Cola-Mischung. Ja, die letzten 15 Dienstjahre hatten aus ihm einen alkoholkranken Pegeltrinker gemacht. Das bedeutete aber nicht, dass er den Glauben an Gerechtigkeit verloren hätte. Ganz im Gegenteil, es war das letzte Ideal, an das er sich klammern konnte. Mit der rechten Hand strich er sich durch das Gesicht, fühlte die Stoppeln seines schwarzen Dreitagebartes. Entfernt roch er den Schmauch an seinen Fingern. Schwarzpulverablagerungen, die ihm nach dem Schuss anhafteten. Als sein Blick auf das verblichene Familienfoto auf seinem Schreibtisch fiel, raunte ihm Kollegin Schwarze ins Ohr. »Schmeiß die Pulle lieber weg. Die Interne ist im Haus.« Bormann nickte und ließ die Flasche im Mülleimer verschwinden. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn die internen Ermittler seinetwegen im Haus gewesen wären. Diese scheinheiligen Nichtsnutze.

Bormann schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Wärme in seinem Bauch. Komm runter, reg dich nicht auf. In diesem Moment klingelte sein Telefon. Der Anschluss von Gössing. »In mein Büro, Bormann. Danke.«

Als er den Flur zu Kommissariatsleiter Gössing hinablief, kam ihm Jankowski entgegen. Sein Blick war ausdruckslos und starr nach vorn gerichtet. Er atmete tief durch die Nase ein, als wolle er zu reden ansetzen, doch dann verschwand er stumm hinter Bormanns Rücken.

»Setzen Sie sich«, wies Gössing an. »Herr Bormann, ich komme direkt zum Punkt«, eröffnete dessen Vorgesetzter. »Alkoholmissbrauch, Beleidigung mehrerer Kollegen, Gewaltvorwürfe in mehr als einem Fall. Das ist der bisherige Stand Ihrer Akte. Sie sammeln einen Verweis nach dem anderen.« Mit diesen Worten knallte Gössing eine braune Kladde auf den Schreibtisch. Bormann schaute ihn schweigend an. »Und dann der heutige Exzess. Körperverletzung und unverhältnismäßiger Gebrauch der Schusswaffe. Ist das eigentlich Ihr Ernst?« Bei den letzten Worten flog Speichel aus Gössings Mund.

Bormann knackte mit den Fingern, als er seine Hände zu Fäusten anspannte. »Der Verdächtige war vorbestrafter BTMler, darüber hinaus Gewalttäter. Es kam aus der Menge heraus zu Gewalt gegen Beamte …«

»Bormann, das hatten wir schon tausend Mal!«, brüllte Gössing ihn jetzt an. »Ich habe das Video der Bodycam gesehen. Sie sind eindeutig zu weit gegangen!« Mit drei schnellen Schritten kam Gössing hinter seinem Schreibtisch vor und baute sich vor Bormann auf.

»Haben Sie die Angriffe auf mich und Jankowski …«

Gössing schnitt ihm das Wort ab. »Ein Mitarbeiter des KK 14 hat kein Säufer zu sein! Sie arbeiten für das Rauschgiftdezernat, Bormann! Ich enthebe Sie hiermit aus dem Dienst. Sie sind suspendiert.«

Es war so weit. Als hätte er es vorher gewusst, fiel jetzt endlich das Damoklesschwert der Entlassung auf Bormann herab. Es stach ihm wie eine Klinge ins Herz. Zähneknirschend stand er auf und legte Dienstwaffe, Marke und Handy auf den Schreibtisch seines Vorgesetzten. Die bisher gut in Zaum gehaltene Wut kochte wieder in ihm hoch.

Als hinter ihm die Tür ins Schloss fiel, marschierte Bormann mit schnellen Schritten zurück an seinen Schreibtisch. Er spürte die entsetzten Blicke seiner Kollegen. Sie alle wussten es. Jankowski stand mitten unter ihnen, atmete langsam ein und legte dabei den Kopf in den Nacken. Seine Lippen waren zusammengepresst, heuchelten Betroffenheit. Er hatte augenscheinlich schon allen von seiner Suspendierung erzählt. Als er in die Runde schaute, senkten die Kollegen den Blick. Lediglich sein Partner schaute ihm verkrampft in die Augen. »Robert, vielleicht ist es ja tatsächlich das Beste, wenn du mal eine Auszeit vom Job nimmst«, überlegte er laut.

Für Robert Bormann war Aufgeben keine Option. »Das hast du nie kapiert, Micha. Oder?«, zischte er seinen Kollegen an. »Der Unterschied zwischen uns beiden ist: Für dich ist das nur ein Job.« Mit diesen Worten nahm er das verstaubte Foto seiner Familie vom Tisch und verließ das Gebäude – denn Robert Bormann hatte noch etwas zu erledigen.

KAPITEL 2

»Wie lange ist Ihr Sohn denn jetzt verschwunden, Frau Raluka?«

Nein, sie hieß nicht ›Frau Raluka‹. Das war lediglich ihr zweiter Vorname. Ihr Nachname lautete Benzar. Aber wie um alles in der Welt sollte Stella das der großen blonden Polizistin klarmachen, die geistesabwesend ihre Personalien aufnahm? Ihre Deutschkenntnisse reichten für ein solches Gespräch nicht aus.

»Einen Tag? Zwei Tage?«

Die deutsche Beamtin redete hektisch, ohne Stella anzusehen. Zwar verstand sie ihre Worte, Deutsch sprechen konnte Stella jedoch nicht.

»Ich genannt Benzar«, erwiderte sie leise.

»Bitte?« Die Polizistin fiel ihr harsch ins Wort. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, vermissen Sie ihn seit gestern Abend?« Das Telefon der Beamtin klingelte. »Ja, bitte? Du, ich brauche noch einen Moment. Ja, eine von diesen halbseidenen Rumäninnen. Keine Ahnung, ich beeile mich. Tschüss.«

Stella hatte nicht jedes Wort verstanden, was die Polizistin da gesagt hatte, aber der abfällige Tonfall sprach deutlicher als jedes Wort.

»So, Frau Raluka, wir müssen mal zum Punkt kommen. Erzählen Sie jetzt bitte!«

Stellas Hilflosigkeit verschwand, wich einer Welle ungehaltener Erregung. Căca-m-aș în gura ta! Ich scheiß dir in den Mund, du dumme Kuh! Dann hau ich jetzt eben alles raus. Sieh zu, wie du mein Kauderwelsch entschlüsselst!

»Gestern um achteinhalb kommen nach Hause. Mein Sohn Beniamin nicht da. Warte bis heute Morgen. Meine Sohn hat nichts gekommen. Ich gehen arbeiten heute, Beniamin immer noch nichts kommen.« Stella liefen die Tränen hinab, ihr Mascara verlief. Sie hatte Angst um ihren kleinen Sohn. »Mein Sohn hat neun Jahre. Er viel gut. Bitte mir helfen.«

Die Beamtin hatte sich in ihren Stuhl zurückgelehnt und schaute Stella aufmerksam an. Als sich ihre Blicke trafen, hob sie das Kinn und ihre Miene verhärtete sich. »Was machen Sie eigentlich in Deutschland?«

Es war dieser eine unscheinbare Satz, der Stellas Hoffnung im Keim erstickte. Sie alle hatten es ihr vorher gesagt: die Bullen werden dir nicht helfen. Eher stecken sie dich in den Knast oder schicken dich zurück nach Bukarest, wo du vor einem halben Jahr hergekommen bist. Zurück in den alten, versifften Plattenbau im Stadtteil Ferentari. Zurück dorthin, wo Straßenköter durch den Müll vor den Türen streunten. Zurück in ein Viertel, in dem Armut, Kriminalität und Verfall herrschten. Dorthin, von wo sie mit ihrem kleinen Sohn Beniamin geflohen war. Er sollte es einmal besser als sie haben. Scheiße, kein Mensch sollte so aufwachsen müssen! Aber nicht jeder hatte die Möglichkeit, von dort zu verschwinden. Als sie die Chance sah, ihm und sich eine bessere Zukunft in diesem Deutschland aufzubauen, hatte sie nicht lange gezögert. Etwas Besseres als den Tod fände sie allemal, hatte sie sich gesagt und den Flug von Bukarest nach Dortmund genommen. Seit einigen Wochen lebte sie bei neuen Freunden in Bochum.

»Wollen arbeiten hier. Zur Schule schicken meinen Sohn.« Trotzig reckte Stella das Kinn in die Luft. »Bitte finden meinen Sohn!«, forderte sie erneut, diesmal mit mehr Nachdruck.

Die Polizistin hob in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen. Stella musterte sie. Ihre Züge hatten irgendwann einmal etwas Liebevolles gehabt, aber das war vor langer Zeit abgestorben. Dort, wo sich hätten Lachfalten bilden können, wuchs nun Häme heran. »Aha, das Übliche. Wohl eher etwas für das KK 12. Erzählen Sie mal was über Ihren Sohn.«

Wieder trafen sich die Blicke der zwei Frauen. Diesmal senkte Stella ihre Augen nicht, die Tränen waren versiegt. »Beniamin hat viel Leben und ist freundlich immer. Er ein lieber Junge ist, viel hilfsbereit. Mein Sohn hat neun Jahre. Er so groß ist.« Stella hob ihren Arm und deutete die Größe ihres Sohnes an. Dann fuhr sie fort. »Er blonde Haare hat und blaue Augen. Wie Vater.« Die Härte war aus Stellas Gesicht gewichen, während sie von Benni erzählte. Das Bild vor ihrem inneren Auge zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. Der Funke musste wohl auf die Beamtin übergesprungen sein. Stella glaubte, etwas Freundliches in ihrem Blick zu entdecken. »Haben Sie vielleicht ein Foto von Ihrem Sohn?«

»Ja. Ja. Hier!« Stella zog ihr Portemonnaie und zog ein aktuelles Porträt-Foto ihres Jungen heraus. Sie hatte nicht übertrieben, ihr Junge war ein hübsches Kind mit den Zügen seiner Mutter.

»Danke, das werde ich in die Fahndung geben. Können Sie sonst noch etwas über Ihren Sohn sagen?«

»Ja, er lieben zu spielen PlayStation. Spiel mit kleines Igel. Er lieben sehr.« Stella schmunzelte. »Oh, und jede Abend bevor einschlafen ich erzählen ihm Geschichte, Märchen!«

»Aha«, erwiderte die Polizistin emotionslos. »Welches ist sein Lieblingsmärchen?«

»Ah, ich …« der deutsche Name von Bennis liebster Geschichte fiel ihr nicht ein. »Fata morarului! Ah, pula!« Sie schaute verzweifelt an die Decke. »Nicht wissen …«

»Na ja, schon gut, Frau Raluka. Ich denke, ich weiß, was mit Ihrem Sohn ist.«

Was hatte sie da gesagt? Konnte sie Stella etwa doch helfen? Scheiße, hatte sie sich etwa in der deutschen Beamtin getäuscht?

»Ich denke, ihr kleiner Lausejunge ist einfach mal ausgerissen und will sich austoben. Jungs in diesem Alter brauchen ihre Freiheit und keine Übermutter, die sie mit ihrer Liebe erdrückt. Verstehen sie? Können sie mir folgen?« Eindringlich blickte sie Stella an.

Pula, ich verstehe jedes Wort, du Kuh. Wenn du wirklich wüsstest, was mit meinem Sohn ist, würdest du so einen Scheiß nicht reden!

»Ich bin mir sehr sicher, dass ihr Junge ruckzuck wieder auftaucht. Wahrscheinlich wird er beim Klauen erwischt werden. Ich frage mal bei den anderen Dienststellen nach. Jungs in dem Alter testen gerne mal ihre Grenzen aus.«

Futu-te în cur! Fick dich in den Arsch, du blöde Fotze! Glaubte sie wirklich, dass ihr kleiner Junge ein Dieb wäre, nur weil sie aus Rumänien kamen?

»Du sehr viel unverschämt sprechen!« Entrüstet stand Stella auf und warf sich ihre Handtasche über die Schulter. »Bitte helfen mir!« forderte sie ein letztes Mal.

Jetzt baute sich die einen Kopf größere Polizistin vor Stella auf. Ihre blonden Haare waren streng im Nacken zusammen geknotet, die Augen funkelten sie angriffslustig an. »Ich glaube, dass sie mir Märchen erzählen, Frau Raluka! Denken sie ernsthaft, dass ich nicht weiß, was sie hier in Wahrheit machen?« Zynisch lächelte sie Stella an. »Oh ja, sie sind unschuldig wie die Jungfrau Maria. Alle anderen verkaufen sich und …« abrupt beendete sie den begonnenen Satz und schloss kurz die Augen. »Hören sie, kommen sie morgen noch mal wieder, falls ihr Sohn dann immer noch nicht da ist. Auf Wiedersehen.«

Stella hatte ihr nicht mehr zugehört. Während sie ihre unausgesprochene Unterstellung heruntergeschluckt hatte, war sie zur Tür hinaus verschwunden. Sie hatten sie gewarnt. Gehe nicht nach Deutschland. Dort wird man arrogant – oder eine Hure.

KAPITEL 3

Bormann trank den kleinen Flachmann mit einem Zug leer. Es brannte in seinem Rachen, Speichel sammelte sich in seinem Mund. Für einen Moment hielt er inne, dann spuckte er aus und lief weiter durch den ständigen Nieselregen in Richtung Gußstahlstraße, wo er zwei Stunden zuvor den verdächtigen Dealer verhaften wollte. Es war später Nachmittag, die Abenddämmerung zog auf. Bormann war der einzige Fußgänger am Rande der Bochumer Innenstadt. Es war nass und kalt, doch ihn störte das nicht. Der Schnaps hielt ihn warm.

Ein Mitarbeiter des KK 14 hat kein Säufer zu sein. Sie arbeiten für das Rauschgiftdezernat. Gössing, der fette Nichtsnutz, glaubte tatsächlich, ihm etwas über Idealismus und Berufsethos erzählen zu müssen. Als stünde Bormann auf einer Stufe mit den selbstzerstörerischen Junkies, die sie Tag für Tag verhafteten. Nein, mangelndes Selbstbewusstsein war absolut nicht der Grund, warum Robert Bormann trank.

Als er die Christuskirche hinter sich gelassen und den Ring passiert hatte, zog er sich die nasse Kapuze ins Gesicht. Langsam lief er die letzten Meter der Gußstahlstraße hinab und drückte sich unter der Brücke kurz vor dem Rotlichtbezirk in den Schatten. Er wusste, dass sein Klient jeden Moment wieder an seiner Wirkungsstätte auftreten würde. Während er wartete, fiel Bormanns Blick auf den Kiosk gegenüber dem Sperrbezirk. Dort könnte er sich noch etwas zu trinken holen. Als er sich aus der Deckung löste und über das regennasse Kopfsteinpflaster lief, passierte ihn ein heller Wagen. Den Kopf gesenkt, warf Bormann einen verstohlenen Blick ins Innere. Das war er.

Bormann sprang in den Hinterausgang eines Parkhauses und beobachtete den Wagen. Als er anhielt, stieg auf der Beifahrerseite ein junges Mädchen aus und lief hektisch die letzten Meter zum Sperrbezirk. Der Wagen parkte in zweiter Reihe, Bormanns Dealer stieg aus.

Angespannt beobachtete er, wie der schwarzhaarige Mann die Straße passierte und zu dem Kiosk ging, den Bormann selbst angesteuert hatte. Zwei Jungs waren vor ihm dran, die offensichtlich das Abenteuer suchten, den Reiz des Verbotenen liebten. Er schätzte sie auf 14 oder 15 Jahre. Als die zwei Minderjährigen von dem erwachsenen Dealer angesprochen wurden, bekamen sie große Augen. Bormann konnte weder verstehen, was er ihnen sagte, noch erkennen, was er ihnen gab, aber seine Berührungen und Gesten brachten Bormanns Blut zum Kochen. Er stieß sich von der Wand ab und ging geradewegs auf ihn zu.

»Ey Arschloch, wir waren noch nicht fertig.« Der Dealer reagierte sofort, schubste einen der Jungen in Bormanns Arme und rannte davon. »Stehen bleiben, Polizei!«, brüllte Bormann, als er den Jungen zur Seite schob.

Es waren vielleicht fünf Meter, die der Mann Vorsprung hatte. Bormann verfolgte ihn, vorbei an dem Striplokal in Richtung der Bahnunterführung. Das nasse Kopfsteinpflaster machte die Jagd nicht leichter. Meter um Meter machte er wett, dann schlug der Flüchtige einen Haken, sprintete rechts die Treppe zum S-Bahnhof hinauf. Bormann hechtete hinterher, verlor fast das Gleichgewicht. Mit festem Griff klammerte er sich am Geländer fest, zog sich die Treppe hinauf. Sein Blick fiel nach oben. Etwas flog auf ihn zu. Bormann drehte sich weg. Im letzten Moment wich er aus. Metallisches Klirren hinter ihm. Er rannte weiter. Passanten schubsten ihn. Ein Mann stellte sich ihm in den Weg. »Kannst du nicht …« Bormann stieß ihn beiseite. Am Ende des Bahnsteigs floh der Dealer. »Polizeeiiiiiiiii!«, brüllte Bormann. »Bleib stehen!«

Jetzt gingen ihm die Bahnfahrer aus dem Weg. Auf der anderen Seite jagte er die Treppe hinab. Bormann bremste, nahm die ersten Stufen im Sprung. Unten flankte der Mann links über das Geländer in einen Innenhof, verschwand im Dunkeln.

Bormann zögerte, warf einen Blick über die Brüstung und konnte gerade noch erkennen, dass der Flüchtige in einem Hinterausgang verschwand.

»Scheiße!«, zischte er leise, als er vom Geländer ins Ungewisse der Dunkelheit sprang.

Die Landung presste ihm die Luft aus der Lunge. Er war tiefer gefallen, als er angenommen hatte. Bormann schnappte kurz nach Luft, dann riss er die Tür auf, durch die der Dealer entkommen war.

Hier ging es nicht weiter. Zwei bärtige Männer versperrten ihm den Weg. Jetzt wusste er, wo er war. Es war der Hinterausgang eines libanesischen Restaurants, in das der Araber geflüchtet war. »Polizei, lasst mich durch!« Die zwei Männer schüttelten den Kopf. Hinter ihnen tauchten weitere Personen auf. »Zeig mal deinen Ausweis, Bulle. Kann ja sonst jeder behaupten.« Bormann starrte in die bärtigen Gesichter erwachsener Männer. Das waren keine Halbstarken wie der flüchtige Dealer. Das hier waren die großen Brüder. Während er in seiner Tasche nach dem Ausweis suchte, ließ er den Blickkontakt nicht abreißen. »Rami, mach jetzt keinen Ärger. Lass mich durch. Du heißt doch Rami, oder?«

Verdammt, er hatte keinen Ausweis mehr.

»Wer will das wissen? Ich kenn dich nicht.«

»Mein Name ist Kriminalhauptkommissar Bormann. Ich hab deinen Cousin eingebuchtet. Klingelt’s jetzt bei dir?« Ungehalten schnauzte er den Bärtigen an.

»Nee, sagt mir nichts.« Abschätzig musterte er Bormann von Kopf bis Fuß. »Wenn du keinen Ausweis hast, dann hau mal lieber ab.« Mit einem Kopfnicken deutete er zur Ausfahrt, die vom Hof auf die Alleestraße führte.

Bormann ließ die Knöchel seiner Fäuste knacken und schluckte seinen Ärger runter. Verdammt. Die jahrelange Erfahrung sagte ihm, dass sich eine Konfrontation mit den Libanesen nicht lohnte. Je länger er sich mit ihnen auseinandersetzte, desto weiter konnte der flüchtige Dealer entkommen. Wortlos stampfte er durch den stärker werdenden Regen hinaus auf die Straße. Eine letzte Chance gab es noch.

Mit eiligen Schritten lief er den Weg hinab bis zu dem großen Supermarkt, der Bochums Rotlichtviertel von der Alleestraße trennte. Hier war es voll, Menschen standen an einer Bushaltestelle, warteten an einer Ampel und strömten entweder in den Supermarkt hinein, oder aus ihm heraus. Für Robert Bormann waren sie nur schwarze Silhouetten auf seiner Jagd nach dem flüchtigen Straßendealer. Sein Radar funktionierte trotz seines Alkoholpegels ausgezeichnet.

Regen lief an seiner Nase herab, als er die Eingangshalle betrat. Mit kurzen Blicken tastete er den Gang zum Eingang des Supermarktes ab. Als er den flüchtigen Araber nicht entdeckte, bog er rechts am Bäcker ab und nahm die Rolltreppe nach oben. Hier atmete er kurz durch, nahm die Kapuze ab und wischte sich die Feuchtigkeit aus den kurz rasierten Haaren. Wenn der Tag vorbei wäre, bräuchte er dringend noch mehr Schnaps.

Oben angekommen passierte er den Parkautomaten, ließ Einkaufswagen schiebende Kunden hinter sich und ignorierte den Bettler am Ausgang zum Parkhaus. Es herrschte Hochbetrieb. Eine Blechlawine schob sich auf der einen Seite zur Ausfahrt, auf der anderen in das Parkhaus hinein. Bormann zog den Kopf ein und folgte drei jungen Damen, die vollbepackt mit Küchenpapier den Hinterausgang ansteuerten.

Als er nach ihnen zurück auf die Gußstahlstraße trat, lehnte der Flüchtige mit dem Rücken zu ihm gewandt an seinem Wagen. Bormann hatte es gewusst. Der kleine Emporkömmling würde sein geliebtes Auto nicht allein in zweiter Reihe stehen lassen. Mit geübtem Griff packte er den Mann und drehte ihm den Arm in den Rücken. »Polizei, du bist verhaftet.« Mit voller Wucht rammte er ihn gegen den Wagen, drückte seinen Kopf auf das nasse Dach.

»Ey, du Hurensohn, lass mich los, Junge!«

»Halt die Fresse, Arschloch!« Bormann schlug seinen Kopf erneut gegen das Autodach. »Das ist für den Mülleimer, den du nach mir geworfen hast.«

»Ich fick dich, du Nuttenkind!« Der Verhaftete brüllte und versuchte, sich loszureißen. Bormann hatte genug. Voller Wucht warf er den Mann zu Boden, drückte ihm sein Knie in den Rücken. Fluchend und geifernd wand sich der Dealer unter Bormann, doch der ignorierte dessen Aggressionen. Er musste nur noch die Kollegen rufen. Wo war sein Handy? Wo war sein Diensttelefon? Verdammt … er realisierte erneut, dass seine Ausrüstung beschlagnahmt in Gössings Schublade lag. Sein Blick blieb starr am Hinterkopf des Verhafteten hängen. Bormann atmete schwer durch. Scheiße.

Gerade wollte er aufstehen und den Einsatz abbrechen, da sah er reflektierendes Blaulicht auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Die Kavallerie war da!

Neben ihm kam ein Streifenwagen zu stehen. Der Motor wurde ausgeschaltet, doch das Licht erstrahlte immer noch vom Dach des Wagens, ließ die Hauswände im Sekundentakt blau aufleuchten. Als sich die Tür öffnete, erkannte Bormann, wer ihm da zur Hilfe eilte. Es war sein Kollege Michael Jankowski.

»Endlich«, keuchte Bormann. »Wieso hat das so lange gedauert?« Er stieg von dem Rücken des Dealers und stand auf. Dann zog er den Mann an den Schultern nach oben und packte seinen Hinterkopf. Mit einem Ruck drehte er sein Gesicht Jankowski zu und grinste ihn an. »Guck mal, wen ich hier habe«, triumphierte er.

Jankowski starrte ihn verständnislos an. Schweigend standen sie sich einen Moment gegenüber. Bormanns Griff lockerte sich, als er auf eine Reaktion seines Partners wartete.

»Was stimmt nicht mit dir, Robert?« Jankowski machte keine Anstalten, den Mann zu verhaften. Nach einer kurzen Pause sog er die Luft durch die Nase ein und fuhr dann fort. »War dir das alles nicht genug? Hast du den Ernst der Lage nicht begriffen?«

»Micha, wir können das später klären«, unterbrach Bormann ihn. »Jetzt solltest du den hier erstmal in Gewahrsam nehmen.« Bormann zurechtzuweisen war eine Sache, darüber die eigentliche Aufgabe zu vernachlässigen eine andere.

»Ich werde den Teufel tun, Robert.« Jankowski hatte die Arme hinter seinem Rücken verschränkt und das Kinn in die Luft gereckt. »Mal ganz davon abgesehen, dass du hier selbst gegen Recht und Ordnung verstoßen hast, bist du mir gegenüber nicht mehr weisungsbefugt.«

Wut machte sich in Bormanns Bauch breit. Was wollte Jankowski damit sagen?

»Ja, du hast mich verstanden. Seit gerade eben heißt es Kriminalhauptkommissar Jankowski.« Süffisant lächelte er seinen Ex-Partner an.

Dieser miese Nichtsnutz war tatsächlich auf seinem Rücken die Karriereleiter emporgeklettert und …

»Ja, Mann! Das ein Polizist. Aber wer bist du eigentlich, du Opfer?« Wie zur Unterstreichung seiner Worte spuckte der Dealer Bormann an.

Die Situation eskalierte.

KAPITEL 4

»Gibst du mir noch einen Kuss, Schatz?« Der dicke Freier drückte Stella an sich und machte Anstalten, sie auf den Mund zu küssen. Doch sie lächelte, umarmte ihn und hielt ihm die Wange entgegen.

»Tschüss Liebling, mach es gut«, brachte sie fehlerfrei über die Lippen. »Bis nächste Mal!« Entschlossen drückte sie die Fenstertür zu und drehte den Knauf nach unten. Ihr untersetzter Kunde schaute sie noch einen Moment lang lächelnd an, dann verschwand er im Nieselregen des Herbstwetters. Der kalte Luftzug wehte Stella eine Gänsehaut auf den Rücken. Lediglich mit einem Bikini und High Heels bekleidet lief sie zurück in ihr Zimmer und zog den weißen Bademantel an. Nur so lange, bis ihr wieder warm wäre. Sie musste Haut zeigen, wenn sie im Fenster saß. In den Bademantel gekuschelt würde sie niemand ansprechen.

Sofort warf sie einen Blick auf ihr Handy. Doris hatte geschrieben, aber niemand angerufen. Enttäuscht und mit betrübtem Blick lief sie zurück zum Fenster. Die anderen Mädels schauten von ihren Handys auf.

»Hey Süße, gibt’s was Neues?«, fragte Sandy stellvertretend für die fünf Frauen an ihrem Fenster.

»Nein, gibt nichts Neues«, antwortete Stella lethargisch. Sie blieb mitten im Raum stehen, starrte auf ihr Handy und wartete darauf, dass es klingelte. Als Stella auffiel, wie hoffnungslos ihr Verhalten war, ließ sie den Arm langsam sinken und schaute ratlos in die Runde. Die kleine stämmige Bianca stand auf und nahm sie in den Arm. »Er kommt bestimmt bald wieder, wirst sehen«, flüsterte sie in Stellas Ohr.

Sie kniff die Lippen zusammen und atmete schwer durch. Dass sie bei den Bullen gewesen war, verschwieg sie. Es war besser, wenn niemand davon erführe.

Stella nahm den Kopf hoch und löste sich sanft aus Biancas Umarmung. Die Nähe löste zu viele Emotionen in ihr aus. Tränen konnte sie nicht gebrauchen. Niemand würde für eine verheulte Hure zahlen.

»Verplempert ihr wieder eure Zeit mit Schmusen, ihr verdammten Lesben?«

Von allen unbemerkt hatte Frank den Vorraum betreten. Der kleine, breitschultrige Wirtschafter hatte einen rauen Ton am Leib, als er aus dem Hinterzimmer kam. Seine frisch rasierte Glatze glänzte im Neonlicht, seine kleinen Augen funkelten herrisch lächelnd. Über seinem Schnurrbart trug er ein breites Pflaster auf der Nase, die etwas schief stand. Frank war Mitte 30, gut in Form und scheute keine Auseinandersetzung.

»Ach, halt die Klappe«, schimpfte Bianca, während sie sich zurück auf ihren Stuhl fläzte. »Kümmer dich mal lieber darum, dass du ihren Sohn findest«, ergänzte sie leise.

Frank ignorierte die blonde Bianca und packte Stella sanft am Arm. »Hat er sich immer noch nicht gemeldet?« Seine Stimme war jetzt weniger aggressiv, aber noch genauso eindringlich.

Stella schüttelte stumm den Kopf. Schwer atmete sie ein, holte tief Luft. »Nein«, keuchte sie leise, rang mit den Tränen. Frank seufzte unmerklich und hob dann den Kopf. Er war nicht viel größer als Stella und schaute ihr in die Augen. »Der kommt wieder, da bin ich mir sicher.«

Stella nickte stumm. Ja, Frank wollte ihr Mut machen und dafür war sie dankbar. Aber am Ende war sie doch allein mit ihrer Angst. Also riss sie sich zusammen und versuchte zu lächeln. Verdammte Scheiße, sie hatte gerade noch lächelnd einen Freier bedient – wieso zur Hölle konnte sie ihre Angst nicht ausblenden, bis sie allein war?

»Fang jetzt nicht an zu heulen«, herrschte Frank sie scharf an. »Davon kommt er nicht wieder.«

Entsetzt schaute Stella den Wirtschafter an. Der barsche Ton hatte sie tatsächlich aus ihrer Trauer gerissen. »Ja …«, nickte sie zustimmend.

»Und jetzt zieh den Fummel aus und setz dich wieder ins Fenster. Wenn Benni zurückkommt, wirst du die Kohle brauchen.« Frank half ihr aus dem Bademantel und lief mit ihr zum Schaufenster, als sie draußen laute Schreie vernahmen. Die Mädels blickten von ihren Handys auf, die wenigen Freier auf der Straße wandten ihren Blick von den Frauen ab. Frank schaute mit verschränkten Armen in das graue Dämmerlicht hinaus. Am Ende der Straße parkte ein weißes Auto in zweiter Reihe. Dahinter spielte sich ein Tumult ab. Zwei Männer rangen miteinander. Stella lehnte sich nach vorn und schaute genauer hin. Der eine war Hamit, ein Dealer und Zuhälter, vor dem Frank sie gewarnt hatte. Den anderen Mann kannte Stella nicht.

»Was hat er denn jetzt wieder angestellt?«, schüttelte Frank den Kopf. Draußen wurde Hamit gerade mit dem Kopf gegen seinen eigenen Wagen geknallt. Die Schreie wurden lauter, Passanten flüchteten weg von dem Kampf. Stella hatte den Eindruck, als wäre der andere Mann Polizist. Jedenfalls drehte er Hamit den Arm in den Rücken, als wolle er ihn verhaften. Aber er trug keine Uniform und schien allein zu sein. Davon abgesehen prügelte er auf den anderen ein, das konnte nicht legal sein. Bumm, Hamits Kopf knallte gegen das Autodach. Stella legte sich erschrocken eine Hand vor den Mund. Pula, was ging da ab?

Der Mann war gerade auf den Boden geflogen und hatte ein Knie in den Rücken gerammt bekommen, da erhellte Blaulicht die Straße.

Während alle anderen die Festnahme beobachteten, warf Stella erneut einen Blick auf ihr Handy. Noch immer gab es nichts Neues. Ob sie es wagen sollte? Sie zögerte kurz, schnappte sich ihren Bademantel und öffnete kurz entschlossen die Glastür zur Straße. Ihre High Heels berührten schon das nasse Kopfsteinpflaster, da packte Frank sie unsanft am Arm und zog sie zurück.

»Wo willst du denn hin, Fräulein?«

»Zu Bullen gehen und fragen nach Benni«, entgegnete Stella entrüstet.

»Hör mal, du bist doch nicht mehr ganz dicht!« Er riss das Fenster hinter ihr zu und zog sie von den anderen Frauen weg. »Hier redet man nicht mit den Bullen. Und schon gar nicht, wenn alle zugucken.«

Aufgebracht stemmte Stella die Hände in die Hüften und schaute dem wütenden Frank in die Augen. »Mein Sohn hat verschwunden. Ich sollte nicht sprechen mit Bullen. Futu-te în gât, pula!« Verständnislos schaute Frank sie an. »Ich machen Anzeige jetzt für Benni.«

»Halt die Klappe«, zischte Frank sie wütend an.

Draußen hatte die Festnahme an Fahrt zugelegt. Hamit war wieder auf beiden Beinen, es schien zu einem Streit zwischen den Polizisten gekommen zu sein. Sie brüllten sich an. In einigen Metern Entfernung hatten sich Schaulustige gesammelt. Einige filmten die Festnahme mit ihren Mobiltelefonen.

»Ich gehen runter zu andere und dann sprechen. Machen Anzeige.« Trotzig deutete Stella auf die kleine Gruppe Gaffer am unteren Ende der Gußstahlstraße.

»Du machst keine Anzeige, sondern eine Vermisstenmeldung«, korrigierte Frank sie barsch.

»Mir egal«, drehte Stella ignorant den Kopf weg.

»Ja, und wie machst du das? In deinen Pumps und dem Bademantel? Viel Erfolg!«

Wäre die Situation nicht so dringlich gewesen, Stella hätte über die Vorstellung lachen müssen. Doch Frank schien es nicht lustig gemeint zu haben. Sein Lächeln jedenfalls war voller Spott.

»Mir egal, mich interessiert nicht, pula!« Erhobenen Hauptes drehte sie sich um und wollte raus auf die Straße, da hielt Frank sie abermals zurück.



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