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Mitten im Nirgendwo liegt die verlassene Kaserne aus den Tagen des Kalten Krieges, die ein beliebtes Ziel für Fotografen, Influencer und Abenteurer ist. Ein Ort, der streng bewacht wird und eine Vielzahl an Risiken birgt. Doch nicht nur die maroden Gebäude stellen eine Gefahr dar. Eine Gruppe von Randalieren zieht durch die verlassene Ansiedlung. Provokationen eskalieren zur brutalen Gewalt. Nach Einbruch der Nacht wird die Kaserne zur Falle. Es wird dunkel. Es gibt keinen Ausweg. Grenzen werden überschritten -Grenzen, die zwischen Leben und Tod entscheiden ...
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Seitenzahl: 422
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Zum Buch:
Mitten im Nirgendwo liegt die verlassene Kaserne aus den Tagen des Kalten Krieges, die ein beliebtes Ziel für Fotografen, Influencer und Abenteurer ist. Ein Ort, der streng bewacht wird und eine Vielzahl an Risiken birgt. Doch nicht nur die maroden Gebäude stellen eine Gefahr dar. Eine Gruppe von Randalieren zieht durch die verlassene Ansiedlung. Provokationen eskalieren zur brutalen Gewalt. Nach Einbruch der Nacht wird die Kaserne zur Falle. Es wird dunkel. Es gibt keinen Ausweg. Grenzen werden überschritten – Grenzen, die zwischen Leben und Tod entscheiden ...
Zum Autor:
Jens Boele, Jahrgang 1975, ist ausgebildeter Mediengestalter, der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt im Bereich Kino und Film. Seit dem Jahr 2015 ist er als Schriftsteller in Erscheinung getreten. Die Bausteine für seine literarische Arbeit nimmt er aus der Realität, seinen Werken liegen echte Kriminalfälle zu Grunde oder sind durch sie inspiriert. Jens Boele reist leidenschaftlich gerne, viele seiner Ideen entstanden auf Touren durch die USA. Sein Lebensmittelpunkt liegt in Bochum.
Urbex (kurz für Urban Exploration oder Urban Exploring)ist die private Erkundung von Einrichtungen des städtischen Raums und sogenannter Lost Places. Oftmals handelt es sich dabei um das Erkunden alter Industrieruinen, aber auch Kanalisationen, Katakomben, Dächern oder anderer Räumlichkeiten ungenutzter Einrichtungen. Die fotografische Dokumentation und künstlerische Verarbeitung solcher Urban Explorations begründete das noch junge Genre der Ruinen-Fotografie und findet in sozialen Medien wachsenden Anklang.
Apex Predator (von lateinisch apex Gipfel oder Spitze)oder Spitzenprädator ist in der Biologie die nicht streng definierte Bezeichnung für einen Carnivoren, der in einem Ökosystem an der Spitze der Nahrungspyramide steht. Er ist somit ein Prädator, der selbst keine Fressfeinde hat.
PROLOG
TRAMPELPFADE
NACHTANBRUCH
HETZJAGD
FLUCHTWEGE
DIE KASERNE
DER HADES
SCHON WIEDER EIN FEUER IN EINEM LOST PLACE!
EPILOG
Stille war alles, was noch übrig war. Nicht das Brüllen der Offiziere, nicht der Donner des Marschierens und auch nicht die Schüsse der Gewehre waren geblieben vom Kalten Krieg. Es war die Zeit, die am Ende alle Gegner besiegt hatte.
Unbeirrbar, gleichgültig und schonungslos nagte sie am Fundament dessen, was die alliierten Streitmächte nach ihrem Abzug zurückgelassen hatten. Sommerhitze brach den Asphalt auf, Regen wusch Gestein aus, Wind & Sturm zerschlugen Türen und Fenster. Teerpappe schmolz in der Sonne und gefror im Winter. Fliesen sprangen bei klirrender Kälte. Die Witterung kroch ins Gebälk und trieb die Farbe aus dem Holz. Moos und Farne klammerten sich an Außenmauern, verstopften Dachrinnen und Wasserrohre. Die Natur zerstörte, was dem Feind nicht gelungen war.
Im kalten Mondlicht wanderten Rick und Neno zwischen den ehemaligen Wohnblocks nahe der Kaserne entlang. Sechsstöckige Wohnsilos hatten damals wohl die Familien der Soldaten beherbergt. Heute wurden sie von Bäumen überragt, die beim Verlassen der Häuser noch nicht gepflanzt worden waren. Im Mondlicht wirkten ihre offen stehenden Haustüren wie der Eingang in eine Welt, die finsterer und Furcht einflößender als das Dunkel des Waldes war. Der Nachtwind wehte den schweren Geruch von Waldboden und feuchten Kellern in ihre Nase. Nachttiere erwachten nun zum Leben, mischten ihre Rufe unter das Rauschen der Blätter.
„Warte!“ Neno legte seine Hand auf Ricks Schulter. „Da vorn ist was.“ Sie bleiben auf dem von Gras überwucherten Weg stehen, der vor langer Zeit mal eine Straße war.
„Was soll denn da sein?“ Rick verschränkte die Arme vor der Brust.
„Schau doch …“
Ein schwarzer Schatten schlich aus dem Wald. Neno erstarrte, Rick hielt den Atem an. Wie in Zeitlupe bewegte sich das Tier auf sie zu. Lieber Gott, lass es nur einen Hund sein, der sich verlaufen hat.
„Das ist ein Wolf “, flüsterte Rick.
Neno spürte, wie ihn Ricks Arm zurückschob.
„Scheiße, was machen wir jetzt?“ Ricks Brustkorb hob und senkte sich hektisch.
Das Tier kam langsam näher, den Kopf nach unten geneigt.
„Das ist ein Wolf “, flüsterte Rick immer wieder, „das ist ein Wolf …“ Seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter. Hektisch atmete er ein und aus.
„Das! Ist! Ein! Wolf!“ rief er energisch, stampfte mit seinem Fuß bei jedem Wort auf und riss die Arme in die Luft.
Als Neno hinter seinem Rücken hervorkam, war das Tier verschwunden. Seine Schultern sackten ab. Rick atmete erleichtert aus.
„War das wirklich ein Wolf?“, fragte Neno mit leiser Stimme.
„Keine Ahnung.“ Rick ging weiter. „Jedenfalls ist es weg.“
„Kannst du nicht mal die Taschenlampe anmachen?“
„Nein, Mann. Erst, wenn wir drin sind. Ich habe keine Lust, vorher von der Security erwischt zu werden.“
Neno presste die Lippen zusammen und atmete schwer aus. „Und wie soll das überhaupt funktionieren? Wir laufen schon seit einer halben Stunde durch den Wald.“
„Ja, na und?“
„Wie sollen wir die Kabel denn zurück zum Auto bekommen? Meinst du, ich laufe die Strecke zigmal hin und her?“
Rick blieb abrupt stehen und drehte sich zu Neno um. „Hörst du mir eigentlich gar nicht zu? Wir holen in dieser Nacht alle Kabel aus den Decken und bunkern sie an einem Ort. Dann sehen wir, was wir an Beute gemacht haben und morgen Nacht brechen wir das Tor auf und fahren mit dem Transport hier drauf. Alles klar?“
Neno kaute auf seiner Unterlippe. „Ja, aber warum fahren wir jetzt nicht schon mit dem Transporter?“
„Weil das aufgebrochene Tor morgen früh die Security auf den Plan ruft und die uns auf frischer Tat erwischen würden.“ Nach einer Antwort suchend, schaute Neno Rick an. „Ist aber auch nicht so schwer zu verstehen, oder?“ Neno nickte stumm.
„Aber meinst du denn, hier gibt es noch viel zu holen? Das Ding ist doch schon voll alt. Da waren bestimmt schon andere vor uns da und haben das Kupfer aus den Wänden geholt.“
„Schau dich hier mal genau um. Siehst du hier Graffiti? Siehst du Trampelpfade? Hat hier irgendwer randaliert?“ Neno ließ den Blick wandern. Nein, diesen Ort hatte seit vielen Jahren niemand mehr betreten. „Frag mich nicht, warum. Aber das Ding ist heiß.“ Rick hob die Augenbrauen. „Und jetzt lass uns weiter gehen.“ Versöhnlich klopfte er Neno auf die Schulter. „Sonst holt dich gleich noch der böse Wolf.“
Neno verdrehte die Augen und setzte sich in Bewegung.
„Wahrscheinlich ist das hier einfach zu weit weg von der Zivilisation. Wir sind hier halt am Arsch der Welt, mitten im Nirgendwo. Hier verläuft sich niemand hin …“
Ein markerschütternder Schrei gellte durch die Nacht.
Neno blieb wie angefroren stehen, Rick trat einen Schritt zurück.
„Was war das?“ Nenos Stimme zitterte.
Rick strich sich mit einer Hand durch sein Haar. „Das war sicher nur ein Tier.“
Neno zitterte. „Das war kein Tier, Mann.“
Rick drehte sich zu ihm um. „Was soll das sonst gewesen sein? Wahrscheinlich hat der Wolf ein Reh gerissen. Weißt du, was für Geräusche die Viecher in Todesangst machen?“
Neno verharrte in seiner Schockstarre und schüttelte stumm den Kopf.
„Sieh es mal so – der Wolf wird jetzt fressen und uns in Ruhe lassen.“ Rick hob die Mundwinkel. „Ist sogar besser für uns.“
Nach einem kurzen Schweigen ergänzte er „Komm schon, denk an die Kohle.“
Der Wind hatte nachgelassen, Stille erfüllte den dunklen Waldweg. Hinter ihnen erleuchtet der Mond die Lichtung, auf der der Häuserblock stand. Vor ihnen lag Finsternis.
„Warte“, flüsterte Neno und ging zögernd vorwärts. Seine Beine waren schwer wie Blei, der Atmen flach. „Warte auf mich.“
„Beeil dich“, flüsterte Rick leise.
Der Weg wurde enger, Bäume rückten näher zusammen und verwehrten dem Mond das letzte Licht.
Finsternis umgab sie, als sie vor sich im Dunklen eine Bewegung wahr nahmen.
Ein großer Schatten bewegte sich langsam zwischen den Bäumen hindurch.
Er ging aufrecht, auf zwei Beinen.
Das war kein Tier.
Ein kalter Guss überkam Neno, seine Arme fühlten sich taub an, ein unsichtbares Band legte sich um seine Brust und nahm ihm den Atem, als Rick vor ihm in der Dunkelheit verschwand.
„Rick?“
Seine Hand lag auf seinem Mund, der Atem ging stoßweise.
„Lauf! Lauf Neno!“
Nenos Magen krampfte sich zusammen. Er hörte, dass Rick etwas rufen wollte, doch seine Stimme wurde zu einem unkontrollierten Gurgeln. Als würde er sich übergeben. Dann ein Röcheln.
Neno wollte laufen, doch er stand nur zitternd da. Schreckgelähmt. Seine Finger umklammerten seine Wangen. Seine Augen starrten in den Wald, und dann weiteten sie sich.
»Rick?«
Ein Ast knackte.
Die Dunkelheit umfing ihn.
Stille.
Warmes Sommerlicht fiel auf die Wiese. Es roch nach Stroh. Brennnesseln säumten den Übergang zum Fichtenwald, der sich am Ende der Lichtung kilometerweit ausdehnte. Unter Vogelgezwitscher hörte man von Weitem vereinzelte Autos die entfernte Bundesstraße entlang fahren. Ein Trampelpfad führte Nela und Tess durch das kniehohe Gras, das schon seit Jahren niemand mehr gemäht hatte. Bemerkenswert war dies insofern, als diese Wiese einmal jemandem gehört haben musste. Denn jemand musste die Autos, die hier langsam verrosteten, einmal geparkt haben.
„Schau!“ Nelas Augen lachten, als sie ihrer Freundin Tess sanft über die Schulter strich.
„Ja, hallöchen! Was haben wir denn da?“ Tess sprang aufgeregt an Nela vorbei und lief durch das hohe Gras auf den verrosteten Pick-up-Truck zu. „Ganz schön sexy, das gute Stück!“
Nela verdrehte die Augen und lachte, als sie den Rucksack von ihren Schultern nahm und ihre Ausrüstung aufbaute, während ihre Freundin aufgeregt über die Wiese lief.
„Schau dir an, was hier noch für Wagen stehen.“
Ihr Blick wanderte über die Wiese und entdeckte einen grünen Kastenwagen am Waldesrand, durch den schon Äste gewachsen waren. Weiter hinten verrottete ein Kombi, während direkt daneben ein Smart in gar nicht so schlechtem Zustand auf den Griff der Zeit wartete. Der Pick-up-Truck würde das erste Motiv, der Kastenwagen das zweite. Beide Wagen wirkten perfekt. Unberührt von Menschenhand und zugleich zerstört vom Hauch der Zeit.
„Als ob sie nur auf mich gewartet haben …“
Behutsam fuhr Nela die Beine des Stativs aus, befestigte die Spiegelreflexkamera und setzte schließlich das Objektiv auf. Im Display der Kamera sah der alte Wagen klein und unscheinbar aus. Die Rosttöne des Motorblocks vereinten sich mit dem Hintergrund des Fichtenwaldes, umrahmt vom Grün der Wiese und der Nadeln der Bäume. Lediglich der ehemals weiße Lack der Karosserie durchbrach das Bild. Doch der Rost darunter warf Blasen und durchbrach die Farbe. Regen, Moos und Sonne hatten ihn dreckig und spröde gemacht und ihm einen Hauch von Grün verliehen. Nela vergrößerte den Kameraausschnitt auf die Sitze, von denen kaum mehr als Holzbretter, Schaumstoff und die Reste des Plastikbezugs übrig geblieben waren. Das Profil der Reifen jedoch war erstaunlich tief. Wann auch immer der Wagen seine letzte Fahrt erlebt hatte, sie war nicht lang gewesen.
Nela warf einen Blick in den Himmel und war zufrieden. Vorbeiziehende Wolken sorgten für ein dynamisches Motiv. Das wäre ein perfekter Start für ihr Shooting. Nur etwas näher ran und die Perspektive weiter nach unten verlegen, um einen interessanteren Blickwickel zu haben.
„Soll ich mich reinsetzen oder lieber drauflegen?“
Tess hatte sich mit den Ellbogen auf den Motorblock gestützt. Ihre langen, blonden Harre fielen auf der einen Seite herab, während sie ihren Po auf der anderen herausstrecke. Ihre kurze, abgeschnittene Jeans ließ mehr Haut sehen, als sie verdeckte, die Kniestrümpfe in ihren Wanderschuhen wirkten koketter, als sie praktisch waren. Tess blinzelte ihr mit gespitzten Lippen zu.
Nela atmete tief durch und blickte gen Himmel.
„Los, beweg deinen Knackarsch auf die andere Seite“ forderte sie Tess auf, die ihre Position wechselte und mit geneigtem Kopf hinter dem Wagen stand. „So? Oder lieber so?“ Tess neigte den Kopf in die andere Richtung.
„Weder noch. Du gehst in die Hocke, bis ich dich nicht mehr sehen kann“ rief Nela grinsend.
Tess kniff die Augenbrauen zusammen und verschränkte die Arme. „Ein bisschen nackte Haut würde deiner Bachelor-Arbeit nicht schaden …“
„… aber auch nicht nutzen“, erwiderte Nela. „Das Thema lautet ‚Natürlicher Verfall‘. Und bei dir ist es ja noch nicht so weit.“
Tess seufzte über Nelas Witz. „Du kannst mir doch mal einen Gefallen tun. Wie soll ich mit meinem Account sonst jemals Erfolg haben?“
„Ja, wir können Aufnahmen mit dir machen. Obwohl ich die Zurschaustellung des eigenen Körpers zur Generation von Likes, als den ersten Schritt in die Prostitution empfinde. Aber das musst du ja für dich entscheiden.“
Jetzt musste Tess lachen. Nelas zynische Kommentare zeigten Wirkung. Langsam, mit wiegenden Hüften, kam sie auf ihre Freundin zu. „Frau Dubois, vielleicht sollten wir uns zusammen prostituieren. Die kaffeebraune, exotische Schönheit und das blonde Engelchen stehen dem zahlenden Kunden für frivole Fotos zur Verfügung.“
Grinsend schüttelte Nela den Kopf. „Ja, genau. Und jetzt fahr deine Flügel aus und flieg aus dem Bild, du blondes Engelchen. Du zertrampelst das Motiv.“
„Bitte? Aber ich halte mich doch ganz klar an deine Regeln.“ Mit gespielter Empörung rezitierte sie den Urbex-Kodex „Take nothing but pictures, leave nothing but footprints.“
„Ja, aber you are leaving a Trampelpfad on my picture.“ Nela lief hinter Tess her und richtete die Grashalme wieder auf, um die Illusion der Unberührtheit wieder herzustellen.
Tess sah ihrer Freundin zu, wie sie angestrengt durch das Gras strich, als führe sie eine japanische Zen Harke. Es war ein schmaler Grat zwischen Zynismus und Humor, und sie war sich nie ganz sicher, auf welcher Seite Nela zu Hause war. Ihr Blick blieb an Nela heften, wurde starr und verschwommen.
Tess wusste, dass sie attraktiv war, bevor sie als Aktmodell an Nelas Uni gejobbt hatte, wo sie sich kennengelernt hatten. Sie war von Anfang an gefesselt von Nelas zielstrebiger Art, aber in Moment wie diesen wünschte Tess sich, ernster genommen zu werden. Sie wusste genau, dass sie viel mehr Erfolg haben würde als diese Online-Models, denen sie in den sozialen Medien folgte. Zumindest so viel Erfolg, dass sie mit dem Kellnern aufhören könnte. Und ein wenig mehr Glamour in ihrem Leben hätte. Und in der Sonne leben könnte.
Tess streckte die Arme aus und kniff die Augen zusammen. Ihr Blick fokussierte sich und sie beobachtete Nela, wie sie Einstellungen an ihrer Kamera vornahm, den Auslöser drückte, die Kamera wieder drehte, neue Einstellungen vornahm und erneut den Auslöser drückte. Ihre liebevolle Arbeitsweise war auf eine bestimmte Art faszinierend. Tess nährte sich und schaute ihrer Freundin über die Schulter.
„Das sieht toll aus“ musste sie erstaunt feststellen, als sie den alten Pick-up im Fokus des Bildes sah, eingebettet in die Natur, als wäre er ein Teil von ihr. Und doch erkannte man sogleich, dass dieses Objekt fremd war, kein Produkt der Natur. Während alles drumherum wuchs und gedieh, verfiel es und starb. Das Foto hatte eine unvergleichliche Magie, der man sich nur schwer entziehen konnte.
„Gefällt es dir?“, fragte Nela ohne sich umzudrehen.
„Ja, sehr.“
„Mir auch, es ist perfekt so, wie es ist. Wir hätten keinen besseren Tag finden können.“
Tess lachte. „So, und jetzt bin ich dran!“ Mit kurzen, schnellen Sprüngen hechtete sie zum Wagen und warf sich in Pose. „Los, schieß, Cowgirl!“, rief sie Nela zu.
„Du bist unmöglich! Verschwinde aus meinem …“
Doch Tess rannte aus dem Bild, bevor Nela den Satz beenden konnte. „Hallo! Hey!“
An dem grünen Kastenwagen am Rand der Lichtung bauten zwei junge Fotografen ihr Set auf. Erstaunt hielten sie innen.
„Habt ihr vielleicht Lust, mich zu fotografieren?“ Mit in die Hüften gestemmten Händen schlenderte Tess auf die noch immer sprachlosen Jungs zu. Sie drehte ihren Torso von links nach rechts und öffnete ihren Mund zu einem breiten Lächeln. „Wisst ihr, meine Freundin da hinten steht mehr auf verrostete Schlitten als auf scharfe Kurven.“ Tess hielt inne und klimperte mit den Wimpern. „Aber ihr wisst solch eine heiße Karosserie sicher mehr zu schätzen, nicht wahr?“
„Ähm …“, war alles, was einer der beiden Fotografen zustande brachte.
„Okay, okay“ hakte Tess nach „ich kann auch mehr Haut zeigen, wenn ihr wollt.“ Sie lüftete ihr Shirt und knotete es unter ihren Brüsten zusammen. „So ist besser, oder?“
Genauso sprachlos wie ihre männlichen Gegenstücke beobachtete Nela Tess‘ Auftritt. Sie fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, die Aufnahmen für ihre Abschlussprüfung zusammen mit einem zwar liebenswerten, aber verrückten Möchtegern-Model zu machen.
„Sorry, aber wir sind hier gerade …“ stotterte der junge Mann „wir können ja …“
„Ihr müsst nicht so ängstlich sein“ glaubte Tess die Situation entschärfen zu können.
„Nee, es ist nur so, wir wollen heute halt mehr …“ er suchte nach Worten „also, wir wollen mehr Naturaufnahmen machen.“
Tess lächelte ihn an und verdrehte spielerisch die Augen, als akzeptiere sie seine Rechtfertigung nicht.
„Wir haben halt einen richtigen Plan für heute“ mischte sich sein Partner ein „und noch unheimlich viel zu tun.“
Tess blinzelte ungläubig. „Ihr wisst aber schon, dass sich manche Gelegenheiten nur einmal bieten, oder?“
„Hm, ja, das stimmt …“ überlegte er ratlos.
„Aber wenn wir unseren Plan über Bord werfen, dann muss das schon einen richtig guten Grund haben“ ergänzte sein Freund.
„Also, dann muss das schon ein ganz besonderes Motiv sein.“
„Ja, was ganz Besonderes.“
„So, dass wir nachher halt sagen könnten ‚Gut, dass wir das Motiv geschossen haben und nicht die alten Autos‘.“
„Hmh.“ Bestätigendes Nicken.
„Wenn da jetzt etwa ein seltener Schmetterling auf der Wiese irgendwie wäre …“
„Ihr seit richtige Arschlöcher, wisst ihr das?“ schaltete Nela sich wütend ein. „Komm, Tess, die sind es nicht wert.“
Gleichzeitig hielten die zwei Frauen den verschüchterten Jungs ihre Mittelfinger entgegen. „Drückt mal lieber die Knöpfe an euren Kameras, ihr Waschlappen!“
Während Nela ihre Ausrüstung einpackte, mussten beide ihr Lachen unterdrücken. Manche ihrer Urbex-Kollegen waren verklemmter als ein katholischer Messdiener auf der Kölner Pride-Parade.
„Komm, wir verschwinden“ forderte sie Tess auf und zeigte in Richtung des Endes der Lichtung. Dort, wo sich der Fichtenwald öffnete, führte ein kleiner Pfad ins Nirgendwo. „Immer dem Trampelpfad folgen!“
„Wir haben noch einen langen Weg vor uns.“
„Das ist aber der kürzeste Weg!“ Sander Renz verschränkte die Arme, senkte den Kopf und beobachtete den Rest der Gruppe aus den Augenwinkeln.
„Ganz ehrlich, wir gehen zu einem Fotoshooting und ich soll erst durch den Busch krabbeln und dann auch noch über eine Mauer klettern?“ Vivien hatte sich ihre Sneaker von Jelka geben lassen und trug ihre Flip-Flops in der rechten Hand, als trage sie eine Handtasche. Mit Hotpants und einem Spaghetti-Top war sie für einen Ausflug in eine verlassene Kaserne mehr als unpassend gekleidet.
„Ich muss dir ganz ehrlich sagen, Jelka“, ergänzte ihr Manager Damian, „dass ich auch ein wenig irritiert bin über die Location. Gibt es keine offizielle Begehung des Geländes?“ Er hob seine Sonnenbrille und fixierte Jelka und Sander mit gehobenen Augenbrauen.
Sander ignorierte seinen Blick, tat so, als würde er auf die Uhr schauen. Tatsächlich gingen ihm Vivien und Damian schon jetzt auf die Nerven. Das konnte ja heiter werden. Aber er war es gewohnt. Man konnte darauf wetten, dass einer von beiden bei der kleinsten Gelegenheit dramatisch werden würde. Und die zweite Sache, auf die man wetten konnte, war, dass Jelka versuchen würde, ihre Schwester zu besänftigen. Seine hübsche Jelka. Ach, würde sie nur wissen, wie sehr er sie begehrte …
„Sander hat wirklich alles probiert, Vivi. Das hier ist der schnellste Weg zur Kaserne – und zu deinen Fotos.“ Sie lächelte. „Du wirst eine unfassbar gute Figur machen, Schwester-Herz. Als Hintergrund ist die Kaserne wirklich klasse. Nicht wahr, Sander?“
Da war sie wieder. Ihre samtweiche Stimme und das Augenklimpnern, was seine Beine weich wie Gummi machte. Sander verstand nicht, warum Vivien und nicht Jelka das Instagram-Model war. Was sollte das überhaupt sein?
Ich bin Model auf Instagram.
Ja, und ich bin Söldner bei Call of Duty.
„Nicht wahr, Sander?“ wiederholte Jelka ihre Frage.
„Hm? Oh ja“, stotterte Sander wie bei einer Lüge ertappt. „Die Kaserne wurde nach der deutschen Wiedervereinigung verlassen und liegt seitdem brach“ erklärte er. „Das Areal liegt inmitten eines 2.500 Hektar großen Waldstückes und besteht aus der Kaserne, einer zivilen Ansiedlung und einem Militärkrankenhaus. Alle Bereiche sind zwar voneinander abgetrennt, sollen aber durch unterirdische Bunkeranlagen miteinander …“
„Um Himmels willen, kannst du mich bitte wecken, wenn er mit seinem Monologe fertig ist?“ Vivien schaute Damian genervt an.
„Vivi, bitte.“
„2.500 Hektar sind verdammt groß“ hakte Damian ein. „Ich hoffe, dass wir nicht noch kilometerweit durch den Wald laufen müssen. Heute Abend müssen wir die Storys posten, morgen früh die Bilder. Und die Grafik muss sie noch bearbeiten.“
„Das hier ist der schnellste Weg. In einer halben Stunde sind wir da“ versicherte Sander kleinlaut.
„Ich soll noch eine halbe Stunde …“
„Runter! Runter!“ riefen Sander und Jelka gleichzeitig.
Am Ende des Feldweges, über den sie neben einer verwitterten Betonmauer entlang liefen, näherte sich ein Auto.
„Bitte? Wie …?“ Doch diesmal handelte Jelka und zog ihre Schwester nach unten, hinter eine Brombeer-Hecke. Sander hatte sich schon auf den Boden fallen lassen, Damian folgte ihm.
Ein blauer, alter Kombi näherte sich, wirbelte Staub beim Fahren auf. Sander erkannte durch die Büsche einen einzelnen Fahrer. Er war schon älter, etwa Ende 50 und hatte einen braunen Hund im Kofferraum. Der Mann beobachtete die Mauer mit Argusaugen. Das musste die Security sein, die das Gelände bewachte. Regungslos blieben sie auf dem Boden der Heidelandschaft liegen, bis der Wagen außer Hörweite war.
„Was sollte das denn?“, machte Vivien ihrem Ärger Luft.
„Wenn die uns hier erwischen, dann können wir sofort wieder nach Hause gehen.“
„Deswegen ist das der gefährlichste, aber auch der schnellste Weg.“
„Die Alternative wäre ein langer Fußmarsch vom alten Schrottplatz durch den Wald.“
Während Damian seine Herrenhandtasche richtete, nestelte Vivien noch immer aufgebracht an ihrem Outfit herum. Ihr Top war hoch gerutscht, so dass Sander einen Blick auf ihren Bauch werfen konnte. Die Muskeln zeichneten sich ein wenig ab, doch nicht genug, um zu sportlich zu wirken. Sein Blick wanderte hinab zum obersten Knopf ihrer Jeans. Wenn sie nicht so furchtbar arrogant wäre …
„So, wie geht’s weiter?“ Damian war ungeduldig.
„Dort drüben müsste eine Sanddüne vor der Mauer sein …“ überlegte Sander laut.
„Ja, ich sehe sie schon. Los, komm, Schwester-Herz!“
Aufgeregt liefen sie durch das Gebüsch und erreichten einen Mauerabschnitt, vor dem Wind und Witterung einen kleinen Erdhügel aufgetürmt hatten. Vom Weg aus war er nicht zu sehen. Nur wenige Besucher hatten hier den Weg in die Kaserne gewählt.
„Los, du gehst als erster“ forderte Damian Sander auf.
Er zog sich seine schwarzen Sicherheitshandschuhe an und näherte sich mit langsamen Schritten der Mauer. Obwohl der Erdhaufen die Höhe der Mauer reduzierte, musste Sander die Arme über den Kopf strecken, um die Oberkante zu erreichen. Der Beton war spröde, von der Witterung gegerbt. Risse in der Mauer gaben den Blick auf rostige Metallstreben preis.
„Soll ich dir helfen?“ Jelka stand hinter Sander und beobachtete ihn.
„Mmh.“
Er stemmte einen Fuß in die Mauer und zog sich nach oben. Als er sein Gewicht nach vorn verlagerte und einen ersten Blick auf die andere Seite werfen konnte, zog er sein linkes Bein nach oben und setzte sich aufrecht hin.
Unter ihm lag eine vom Sommer verblichene, kniehohe Wiese, die in einiger Entfernung in dunklen Fichtenwald überging. Und zwischen den Wipfeln der Bäume erahnte er die Dächer des Wohnkomplexes, der inmitten des Waldes lag. Sein Herz begann zu klopfen. Dort hinten lag der erste Teil der alten Kaserne. Er beugte sich zu Jelka zurück.
„Ich kann sie sehen.“
„Ja?“ Ihre Augen leuchteten. Es war ihre Idee gewesen, hierher zu fahren. Jelka hatte sich schon lange gewünscht, diesen Ort zu besuchen.
„Komm hoch!“ Sander reichte ihr freudig erregt die Hand.
Mit einigen schnellen Bewegungen schaffte es Jelka zu ihm auf die Mauer. Er zeigte über den Gipfel des Waldes auf die dunklen Dächer der Hochhäuser. „Siehst du?“
„Oh mein Gott, da ist es!“, rief Jelka enthusiastisch. Ihre Freude war so groß, dass sie Sander umarmte und drückte.
Er fühlte, wie er rot wurde und lächelte verlegen. „Okay, ich gehe runter.“ Als er sich zur Seite lehnte, um sein rechtes Bein auf die andere Seite zu heben, leg sein Kopf unbeabsichtigt in Jelkas Schoß. Als seine Wange ihren Oberschenkel berührte, verlor er fast das Gleichgewicht. Im letzten Moment umklammerten seine Hände die Mauer und Sander konnte sich fangen. Jelka griff seinen Unterarm. „Hey, pass doch auf “, rief sie sowohl erschrocken als auch amüsiert.
Sander atmete tief durch und ließ sich fallen. Der weiche Boden federte seinen Sturz ab, als Sander im tiefen Gras landete.
„Alles gut, da unten?“ Sander zeigte Jelka den ausgestreckten Daumen und nickte. „Okay, dann komm hoch, Vivi!“
„Das kann ja heiter werden.“ Damian stütze sich unten mit dem Rücken an der Mauer ab, ging in die Hocke und bot ihr seine ineinander verschränkten Hände als Räuberleiter an. Vivien reichte Jelka ihre Flip-Flops, trat bereitwillig in Damians Hände und ließ sich grinsend von ihrer Schwester auf den Sims heben.
„Der arme, arme Kerl“, flüsterte Vivien. „Wann lässt du ihn bloß endlich ran?“
Jelka verdrehte die Augen. „Hör auf!“ Jelka grinste zurück und knuffte ihre Schwester in die Rippen.
„Findest du ihn nicht auch ein wenig süß, wenn er bei jeder Berührung von dir rot wird?“
„Pscht!“ Jelka wollte auf keinen Fall, dass Sander ihr Gespräch mitbekam. „Wenn du nicht artig bist, verkuppel’ ich dich mit ihm.“
„Pfff, der ist seit dem Kindergarten in dich verliebt, daran würde sich auch nichts ändern, wenn man mich nackt auf seinen Bauch binden würde.“
Amüsiert lächelte Jelka und schwang sich über die Mauer. „Ja, das würde dir gefallen, was?“ feixte sie, als sie sich nach unten fallen ließ.
Erst jetzt realisierte ihre Schwester, wie tief es war. Sie zögerte.
„Los, das ist nicht schlimm, du schaffst das!“
Doch Jelkas Worte konnten Vivien nicht überzeugen. Sie atmete tief ein und aus. „Damian, komm hoch, du musst mir helfen.“
Nach einigen Augenblicken erschien ihr Social-Media-Manager auf dem Mauersims. Er war sichtlich sauer darüber, dass seine neuen, roten Sneaker dabei dreckig geworden waren. „Los Sternchen, runter mit dir, ich halte dich fest“ wies er sein Model an, doch die hörte nicht auf ihn.
Vivien zog mit routiniertem Griff ihr Handy hervor und setzte ein affektiertes Lächeln auf. „Selfie-Time“ zwitscherte sie und drückte ab. „Letzte Story vor dem Sprung in die Dunkelheit!“
„Hey, keine Koordinaten!“, rief Jelka. „Wir posten keinen Standort.“
„Du und deine komischen Urbex-Regeln …“
Sander war einige Meter durch das Gras gelaufen und ignorierte die drei anderen. Er wäre lieber mit Jelka allein hier. Es war Sander ohnehin nicht klar, warum sie sich diesen Ort mit einem Fotoshooting für ihre selbstverliebte Schwester vermieste, anstatt eigene Aufnahmen zu machen. Man könnte hier ohne Schwierigkeiten auch über Nacht bleiben, das würde ihr bestimmt besser gefallen, was sich von Damian unter Zeitdruck setzen zu lassen. Jelka liebte dieses Hobby, seit sie in diesem Kalifornien-Urlaub gewesen war. Ihre Chip-Karte war voller Fotos von verlassenen Ortschaften und Ferienanlagen gewesen. Seitdem hatte sie Sander mit dem Urbex-Virus infiziert, hatte ihn angesteckt. Er liebte es, mit ihr auf Abenteuer-Reise zu gehen, die Magie dieser ganz speziellen Orte zu spüren. Aber ohnehin wäre er mit Jelka überall hin gegangen …
„Hey!“, rief Damian aufgebracht. Er und Vivien waren in der Zwischenzeit von der Mauer herabgekommen und schauten ihn entgeistert an. „Wie sollen wir denn da wieder hochkommen?“
Tatsächlich war es ohne Hilfsmittel schier unmöglich, von dieser Seite über die Mauer zu klettern.
Damian war sichtlich wütend. Vivien schüttelte erregt und ungläubig den Kopf. Jelka atmete mit zugekniffenen Lippen tief ein.
Ist doch nicht mein Problem.
Ich wollte euch eh nicht dabei haben.
Sander lächelte. „Wir finden schon einen Weg!“
„Hast du den Smart gesehen? Der stand da noch nicht lange.“
„Ja, und auch der Transporter sah aus wie eben geparkt.“
„Na ja, wer weiß? Vielleicht sind wir ja nicht allein in der Kaserne.“
„Von mir aus. Hauptsache, wir treffen keine Vollidioten wie vorhin.“
Tess lachte. „Ein Pärchen verklemmter Jungs ist mir trotzdem lieber als ein paar bekloppte Randalierer.“
„Hey, letzte Woche hat die Kinderklinik im Sauerland gebrannt.“
„Wirklich?“
„Ja, als ob das alte Krankenhaus nicht schon ramponiert genug war.“
„Ich bin froh, dass wir vorher da waren und Fotos gemacht haben.“
„Kann ich nicht verstehen, warum man so was mach? Was hat man denn davon?“
Nela und Tess wanderten seit einer guten Stunde durch den dichten Nadelwald. Der Regen der letzten Tage hatte aufgequollenen Boden und tiefe Pfützen zurückgelassen. Die Sommerluft war feucht, Mücken schwirrten um ihre Gesichter.
„Mann, ey!“ Tess schlug sich auf den Unterarm, wo sie soeben einen Stich verspürt hatte.
Nela hielt ihre Arme in Bewegung, verscheuchte die Insekten durch konstantes Wedeln.
„Wie weit ist es denn noch?“
„Keine Ahnung, hab hier kein Netz“, erwiderte Nela. „Aber wenn ich die Entfernung richtig einschätze, sollten wir gleich da sein.“
„Wird auch Zeit, ich mag nicht mehr durch den Wald laufen. Mückenstiche verunstalten meine Haut. Und jucken.“
„Ich habe Creme dabei. Morgen früh benutzen wir das Spray, dann ist der Rückweg stressfreier.“
„Ob das so eine gute Idee ist, in der Kaserne zu übernachten …“
„Stimmt, wir können auch zurückgehen.“
„Dann schlafe ich in meinem weichen Bett …“
„… und bekommst keine sexy Fotos von dir!“
„Pfffff! Als ob.“ Nela lachte.
Sich leise unterhaltend liefen sie durch den dichten Wald, als sich vor ihnen eine Lichtung auftat. Der Trampelpfad weitete sich, unter den Grashalmen war verblichener Asphalt zu erkennen. Hier musste vor einigen Jahrzehnten einmal eine Straße hergeführt haben. Links und rechts waren noch mehr Straßen und Wege zu erkennen.
„Schau doch, das ist eine Kreuzung“, rief Nela überrascht. „Hier sind mal Autos hergefahren!“
„Guck dir das an!“
Hinter den Bäumen ragte der erste Wohnblock empor. Sechs Stockwerke grauer, fensterloser Beton eingerahmt von Nadelgehölz waren die letzten Zeugen des Kalten Krieges. Dort, wo einmal ein breiter Weg den Eingang zu vielen Wohnungen Preis gegeben hatte, wucherten jetzt Farne, Büsche und Geäst. Im Unterholz waren die Reste einer Schaukel zu erkennen, daneben ein Klettergerüst.
„Unfassbar, oder?“
„Ich komme mir vor, wie im Dschungel von Kambodscha.“
„Man kann sich gar nicht vorstellen, dass wir hier mitten in Deutschland sind.“
Mit langen Schritten stelzte Nela durch das Dickicht, immer darauf bedacht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„Guck mal“, rief sie Tess zu, „eine Laterne!“
Auf den ersten Blick war der moosgrüne Betonpfeiler der Straßenbeleuchtung im Grün des Waldes nicht zu erkennen gewesen. Erst, als Nela sich daran abstützte, fühlte sie die harten Kanten und das kalte Gestein unter ihrem Griff.
„Die hat aber schon seit Jahren nicht geleuchtet.“
„Wahnsinn!“
„Hey, ob die heute Nacht angehen?“
„Glaub’ ich nicht.“
Als sie weitergingen, näherten sich Tess und Nela dem Hauseingang. Die Fenster der unteren Etagen waren mit Brettern vernagelt, doch die Haustür fehlte. Unter einem moosbehangenen Unterstand fand sich der dunkle Eingang ins Innere des Wohnblocks. Es war das warme Sonnenlicht, das Vogelgezwitscher und das satte Grün der Pflanzen, das dem Ort seine dunkle, Furcht einflößende Seite nahm. Innen ließen sich rohe Wände, zerfallenen Treppen und nasser Beton erahnen. Je näher sie kamen, desto schwerer und kälter roch die Luft. Es war die finstere Magie verlassener Gebäude, die sich Nela und Tess anbot.
„Sollen wir rein oder möchtest du erst eine Runde um den ganzen Häuserblock drehen?“
Nela war kaum aufzuhalten. „Hast du etwa Angst?“
„Nein, ist schon gut.“ Die Sommerluft war feucht und heiß. In dem Schatten des verlassenen Hauses wäre es sicher angenehm kühl.
Vorsichtig tasteten sich Nelas erste Schritte ins Dunkel des Häuserblocks. Es fühlte sich an, als betrete sie eine andere Welt. Schlagartig war die Wärme des Sommertages gewichen und das Gezwitscher der Vögel verstummt. Die feuchte Kälte sorgte für den Anflug einer Gänsehaut auf Nelas Armen. Das Knirschen unter ihren Schuhen warf ein leises Echo durch das Treppenhaus. Ganz selbstverständlich senkte sie ihre Stimme zu einem leisen Raunen. „Pass auf, die Treppen haben kein Geländer mehr“, flüsterte sie Tess nach hinten zu.
Die ersten Räume, die sie betraten, waren leer. Putz rieselte von der Decke, Tapeten rollten von den Wänden. Im Schein ihrer Taschenlampen ließen sich alte Zeitungen erkennen, deren Seiten so verblichen waren wie ihr Inhalt.
„Hey, die sind noch aus der Wendezeit“, flüsterte Nela
„Ja, das sieht jedenfalls aus wie die Berliner Mauer. Wie lange die hier schon liegen?“
„Ziemlich genau 30 Jahre.“ Nela musste ein Lachen unterdrücken.
„Ja, stimmt …“
Für einen Moment schwiegen die Freundinnen und ließen den Ort auf sich wirken. Die Atmosphäre war unwirklich, als hätten sie ein Paralleluniversum betreten, in dem der Lauf der Zeit vor einem Vierteljahrhundert die Richtung gewechselt hätte. Und dennoch war nicht viel davon greifbar.
„Lass uns schauen, dass wir weiter hochkommen. Ich vermute, dass die oberen Etagen mehr zu bieten haben.“
„Vielleicht ist es da auch wärmer.“
„Der Temperaturunterschied ist verrückt, oder?“
Das Treppenhaus war auch im Licht der Taschenlampen dunkel. Die wenigen Fenster waren vernagelt oder durch nahe stehende Bäume zugewachsen. Kondenswasser tropfte still von der Decke und sorgte beim Aufprall für ein dumpfes Echo. Tess leuchtete am Rand der Treppe nach unten, doch der Strahl ihrer Lampe vermochte die Finsternis nicht zu durchdringen.
„Immer nur nach oben schauen“ ermutigte Nela sie.
„Mhm …“ Tess hatte sich an die Wand zu ihrer Rechten gedrückt und den Schritt verlangsamt.
„Nimm meine Hand.“
Tess ließ sich nicht lange bitten und griff die Hand ihrer Freundin. Kälte und Höhe wurden so erträglicher.
„Wir sind da“, sagte Nela nun in deutlich selbstsicherer Lautstärke.
Nela hatte recht gehabt, die Wohnung, die sie jetzt betraten, war fast unberührt, nur der Zahn der Zeit hatte an ihr genagt. Die Wandregale waren zusammengebrochen, die Wände hatten sich durch die Witterung grün verfärbt. Unter der Garderobe standen Schuhe, wie Nela und Tess sie noch nie gesehen hatten. Sie schienen so alt, dass sie selbst vor 30 Jahren schon aus der Mode gekommen waren. Unrat lag auf dem Boden, der mit dem moderigen Teppich verwachsen war. Es roch nach Schimmel und nassem Kleister.
„Bevor wir hier übernachten, muss aber erst mal gelüftet werden“ scherzte Tess.
„Gute Idee, mach mal ein Fenster auf.“
„Können vor Lachen. Das Holz ist so aufgequollen, dass sich der Griff nicht mehr drehen lässt.“
„Dann lass es lieber. Vielleicht kommen wir ja irgendwie aufs Dach und können dort übernachten. Frische Luft wäre toll.“
„Hey Nela“, flüsterte Tess nun wieder. „Da unten sind welche.“
Tatsächlich erkannte Tess zwischen den Bäumen drei oder vier Personen.
„Sind uns die Klemmis gefolgt?“ Nela feixte.
„Nein, das scheinen mehrere zu sein.“
„Sicher auch Urbexer.“
„Bestimmt Möchtegern-YouTuber, so schlecht ausgerüstet, wie die sind.“
Von oben konnten sie erkennen, dass die meisten von ihnen kurze Hosen und T-Shirts trugen. Um ihre Sicherheit schienen sie sich wenig Gedanken zu machen.
„Aber ich glaube, das sind auch Fotografen“ überlegte Tess. „Die haben Stative dabei“.
„Die sind aber ziemlich laut.“
„Wahrscheinlich denken die, sie wären hier allein.“
„Die haben gar keine Rucksäcke und Taschen dabei. Wo haben die denn ihre Foto-Ausrüstung?“
Schweigend beobachteten sie die Gruppe, die sich angeregt unterhalten zu schien. Lachen klang zu Nela und Tess empor.
„Komm, wir gehen mal runter und erschrecken …“
Einer aus der Gruppe schlug mit seinem Stativ auf einen Baum ein. Tess blieben ihre Worte im Hals stecken.
„Das sind keine Stative. Das sind Stahlrohre“ flüsterte Tess mit zitternder Stimme.
„Die kommen hier her.“
„Los, wir verschwinden.“
Die Füße in den Boden gestemmt, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt schlug Radko sein Stahlrohr immer wieder und mit voller Wucht gegen den Stamm eines jungen Baumes. Sein Blick war starr, doch die Wucht seiner Schläge stieg. Radko war gefesselt im Akt der Zerstörung, würde erst Ruhe geben, wenn der verfluchte Baum zertrümmert wäre. Schon war die Rinde abgesplittert und der Pflanzensaft spritze hervor, da hörte er das Bersten einer Scheibe. Im Augenwinkel sah er Kadir links neben sich, eines der Fenster dieser miesen Ruine einschlagen. Ein winziger Splitter traf ihn an der Wange. Schlagartig ließ er sein Rohr sinken und brüllte Kadir an.
„Bist du behindert?“ Er strich sich über die Wange und suchte nach Blutspuren in seiner Hand. Als er keine fand, schrie er Kadir erneut an. „Kannst du nicht aufpassen? Ich hab’ Splitter abgekriegt!“
„Heul’ doch, Mann!“ Den Kopf zur Seite gelegt grinste Kadir seinen Kumpanen an. „Was für ein Mädchen du bist.“
„Fick dich, Arschloch.“ - „Fick du dich!“
Luca beobachtete, wie die zwei älteren Jungs sich angingen und schubsten. Eigentlich mochte er diese Momente, wenn Gewalt in der Luft lag. Solange er nicht das Opfer war, spürte er dieses Kribbeln im Magen. Eine Mischung aus Sensationslust und Voyeurismus war das, was ihn kitzelte. Aber Luca war abgelenkt. Sein Blick wanderte zu Celina rüber. Das ältere Mädchen hatte sich die Haare dunkel gefärbt und trug ein unter den Brüsten abgeschnittenes Top. Luca wollte den Moment nicht verpassen, wenn sie sich streckte und er einen Blick auf ihre Titten erhaschen könnte.
Marcel und Steven hatten auch gemerkt, dass Celina sich aufgedonnert hatte. Ständig schwärmten die zwei Platzhirsche um das Mädchen herum. Luca war sich ziemlich sicher, dass Steven und Celina etwas am Laufen hatten, aber offiziell waren sie nicht zusammen. Wenn Luca nur drei Jahre älter wäre, würde er auch sein Glück bei ihr versuchen.
Celina hatte sich auf die alte Schaukel neben der verrotteten Wippe gesetzt und fing vorsichtig an, vor und zurückzuschwingen. Mal bewegte sie das Becken nach vorn, mal streckte sie die Brust nach vorn, um Schwung zu holen.
„Möchte einer von euch mich anstoßen?“, fragte sie mit unschuldigem Unterton, doch der Doppeldeutigkeit ihrer Worte bewusst.
Steven hielt die Leine seines Hundes Speed stramm und baute sich breitbeinig vor ihr auf, während Marcel hinter ihr stand und sie leicht anschubste.
„Wenn du es härter willst, solltest du lieber auf die Knie gehen“ lachte er über seinen eigenen Witz.
Celina schaukelte nach vorn. Ihr und Stevens Blicke trafen sich lächelnd und vorausahnend. Als sie zurückglitt, kreuzten sich Stevens und Marcels Blicke. Sie blitzen voll Herausforderung.
„Vor allem solltest du dann kein Weichei hinter dir stehen haben.“
„Würde ein Weichei das machen?“ Marcel grinste und packte Celina an ihren Hintern, bevor er ihr wieder Schwung gab.
„Uh!“, rief Celina mit großen Augen. Marcels Zudringlichkeit schien dem Mädchen zu gefallen.
„Luca!“ Steven wendete den Blick nicht von ihr ab. „Luca, komm her!“
Der jüngste der Bande riss sich von Celinas Körper los. Für einen Moment hatte er alles um sich herum vergessen. Als Marcel Celina an den Po fasste und sie den Kopf nach oben reckte, um einen wohligen Lustschrei auszustoßen, rutschte ihr Top nach oben und Luca konnte für den Bruchteil einer Sekunde ihre Brustwarzen erahnen.
„Ja?“, fragte er noch immer in Trance.
„Hier, nimm Speed und geh eine Runde mit ihm.“
Ohne ihn anzuschauen, drückte Steven Luca Speeds Leine in die Hand. Enttäuscht aber pflichtergeben griff Luca das Lederband und zog daran. Der braune Mischling mit dem kurzen Fell und der platten Schnauze bellte ihn an, fügte sich aber. Speed war groß und wäre er losgelaufen, hätte Luca all seine Kräfte aufbringen müssen, das Tier zu halten.
Steven interessierte das nicht. Der Kurze hatte zu parieren und sich in seine Gang einzufügen. Sonst setzte es Schellen. Klatsch, klatsch.
Wie Marcel sich gefiel, so nah an Celina, provozierte ihn. Die Kleine war sein Mädchen und Marcel sollte sich nicht einbilden, dass er bei ihr zum Zug kommen könnte.
„Harter Kerl, hä!“, rief er Marcel rüber. „Bist schon lange nicht mehr zum Schuss gekommen, was?“
„Wir werden ja sehen, wer hier zum Schuss kommt“ prahlte er zurück.
Celina war schon lange klar, dass sie heute mit einem der Jungs gehen würde. Es war nur die Frage, ob sich am Ende Steven oder doch Marcel durchsetzte.
„Du auf gar keinen Fall, so viel steht fest!“ Steven, der jetzt beide Hände freihatte, lächelte Celina an und ging ihr einen Schritt entgegen. Als sie ihre Beine spreizte, berührten sich ihre Lenden und Steven legte seine Hände um Celinas Po. Erstaunt schaute sie ihn an. Steven ließ sie nicht los und sie drohte, nach hinten zu rutschen. Hektisch legte sie die Beine um ihn, dann ließ sie die Schaukel los und schmiegte sich an Steven, der sie nun auf dem Arm trug. Als die Schaukel leer zurückschwang, trat Marcel sie frustriert mit dem Fuß zur Seite. Schweigend lief er an dem Paar vorbei, gesellte sich zu Radko und Kadir. Steven warf ihm einen Kuss hinterher. „Sollen wir zwei von hier verschwinden?“ Celina kicherte.
Stumm beobachtete er, wie Radko und Kadir im Eingang eines Hauses standen und mit ihren Stahlrohren gegen die Wände schlugen. Ihr boshaftes Lachen deute auf einen perfiden Spaß, den sie dort trieben. Hinter ihnen stand Luca, Stevens bellenden Hund mit beiden Händen festhaltend.
Marcel schubste Radko nach vorn. Er drehte sich um und schaute ihn hämisch grinsend an.
„Was macht ihr da?“, herrschte Marcel Radko an.
„Da unten ist eine Katze im Keller.“
„Drecksvieh!“, rief Kadir.
„Wir machen der richtig Angst und dann gehen wir runter.“ Radko hob die Augenbrauen und spielte demonstrativ mit dem Stahlprügel in seiner Hand.
Marcel nickte mit zusammengepresstem Kiefer. Die verfluchte Katze würde ihr Fett wegkriegen. „Halt den Köter fest, das Vieh hol’ ich mir!“
Mit eiligen Schritten lief Marcel die Treppe in den dunklen Keller hinab, Radko und Kadir folgten ihm dicht. Die Stufen führten in die unterste Etage, vor ihnen lag eine halb offen stehende Tür. Hier musste sich das Tier versteckt haben.
„Miez, miez, miez“, flüsterte Marcel, als er die Tür vorsichtig öffnete. „Komm zu Papa.“ Im finsteren Zwielicht des Kellers konnte er die Katze in der hinteren Ecke erahnen. „Jetzt hab’ ich dich!“ Er täuschte einen Schritt auf sie an, sprang aber in die rechte Ecke, den einzigen Ausweichort. Radko gab ihm Rückendeckung, während Kadir die linke Flanke sicherte. Da war sie, Marcel packte der Katze in den Nacken und riss das fauchende Tier nach oben. Ihre Augen leuchteten grün auf. „Jetzt drehen wir dir das Hälschen um“ fantasierte Marcel. Er war bereit, all seine Wut an der wehrlosen Katze auszulassen.
Doch als er mit der anderen Hand zugreifen wollte, schlug ihm das Tier seine ausgefahrenen Krallen ins Fleisch des Unterarmes. Vor Schmerz und Schock schrie er auf und warf die Katze im hohen Bogen durch den Keller. „Mach die Tür zu!“ Doch es war zu spät. Die Katze war verschwunden.
„Verfluchte Scheiße!“ Marcel war außer sich, rannte die Treppen empor, wo er Luca dabei erwischte, wie er Steven und Celina beobachtete, während Speed sich beruhigt hatte und im Gras sitzend hechelte.
Klatsch! Eine saftige Ohrfeige traf Luca. „Holst du dir gerade einen runter, kleiner Wichser? Wo ist das Katzenvieh hin? Kannst du nicht einmal aufpassen?“
Aufgebracht kamen die drei aus dem Keller zurück. Luca wusste nicht, wie ihm geschah. Sogar Steven und Celina hatten ihre wilde Knutscherei unterbrochen.
„Was ist da los?“, brüllte Steven, während Marcel, Kadir und Radko sich im Halbkreis um Luca aufgebaut hatten. Kadir schubste den Jungen und Marcel holte zu einer weiteren Backpfeife aus, da packte Steven seinen Arm.
„Hör auf mit der Scheiße. Ich verteile hier die Schellen, ist das klar?“
Marcel riss seinen Arm aus Stevens Griff. „Ach ja? Sieht für mich aber eher so aus, als würdest du den Liebeskasper spielen.“
Für einen Augenblick hing feindseliges Schweigen über der Szene. Steven wollte etwas entgegen, doch Marcel war schneller. „Guckt euch unseren Weiberhelden an“ forderte er den Rest der Bande auf. „Jeden Tag müssen wir hier abhängen, während er sich mit seiner …“ Marcel zögerte „… Tussi vergnügt.“
„Pass auf, was du sagst!“
„Sonst was?“ Sie starrten sich herausfordernd an, doch diesmal war es kein Wetteifern, sondern Zorn, der in der Luft lag. Steven ballte die Fäuste und spannte seinen Oberkörper an. „Komm her!“ Doch Marcel ging einen Schritt zurück und senkte den Ton. „Komm schon, noch nicht mal dein Hund interessiert sich für dich.“ Tatsächlich lag Speed im Gras und eilte seinem Herrchen nicht zu Hilfe herbei.
„Den brauche ich auch nicht für dich, halbe Portion!“
Luca interessierte sich nicht mehr für Steven und Marcel. Seine Wange glühte noch immer von der Ohrfeige, die ihm der ältere Junge verpasst hatte. Er schielte zu Celina rüber, doch die hatte sich zurückgezogen. Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt und schaute missmutig zu Steven hinüber. Ihr musste klar sein, dass sie der Anlass für den Streit war. Luca spürte es, diesmal würde es knallen, Marcel hatte den Bogen überspannt. Steven würde ihm die Scheiße aus dem Leib prügeln, das war klar. Doch dann sah Luca etwas, was die Situation entspannen sollte. Vorläufig.
„Hey“, flüsterte er laut genug, um die zwei Kontrahenten zu unterbrechen. „Da vorn sind welche.“
„Wir finden besser schnell einen Weg. Ich habe den Redaktionsplan so straff getaktet, dass wir uns eine zeitliche Verzögerung nicht leisten können!“
Damians Worte lagen wie tonnenschwerer Ballast auf der Gruppe. Er hatte das Talent, seine persönlichen Probleme zur Angelegenheit aller zu machen. Wenn seine Laune sank, war an Spaß nicht zu denken. Und Damian war noch nicht fertig.
„Dazu kommt, dass wir hier kein Netz haben. Null, nada, kein bisschen.“ Er ließ die Worte sacken und ergänzte dann „Selbst, wenn ich wollte, könnte ich hier nichts posten.“ Er steckte sein Handy weg und schloss zu Sander auf. „Es wird folgendermaßen laufen: Während die Mädels Fotos schießen, suchst du nach einem Ausgang, der uns Ay Es Ay Pi hier herausbringt. Get it?“
„Wir bekommen das mit den Fotos schon hin, mach dir mal keine Sorgen“ hakte Jelka von hinten ein. „Und heute Abend wirst du vom Hotel aus zusehen, wie deine Follower-Zahlen nach oben schießen.“
„Davon gehe ich aus“, antwortete Damian knapp. „Der wunde Punkt in der Planung ist der Rückweg. Aber um den wird Sander sich kümmern. Und ich weiß, dass er einen richtig schnellen Weg für uns finden wird.“ Er klopfte ihm anerkennend auf die Schultern.
„Damian, was glaubst du, wann brechen wir die 30.000er-Marke? Ich würde das so gerne dieses Wochenende schaffen.“
„Ja, Sternchen, das schaffen wir ganz bestimmt. Deine hübsche Schwester wird einen fantastischen Job machen und Sander wird uns ruckzuck zurück zum Hotel bringen.“
Sander waren Damians Probleme völlig einerlei. Wenn es nach ihm ginge, sollte Vivien einfach stumpfe Erotik-Aufnahmen am Strand oder in einem Studio machen. Oder besser Soft-Pornos drehen. Darum ging es doch eigentlich. Vielleicht würde er sich das auch anschauen. Vivien nackt im Sand. Hmmm … Klicks durch Sex. Wie dem auch sei, mit der Faszination verlassener Orte hatte das alles nichts zu tun. Und diese Kaserne hatte so viel davon zu bieten.
„Wenn wir diesem Weg durch den Wald folgen, erreichen wir gleich den Wohnblock. Von dort aus führt ein Weg zu den Freizeit-Einrichtungen. Es gibt ein Freibad, einen Sportplatz und ein Theater, das aber auch als Kino genutzt werden konnte. Parallel dazu …“
„Schwesterchen, sollten wir mich nicht in diesem Freibad fotografieren?“ Vivien spielte lasziv mit dem Träger ihres Tops.
„Unbedingt“ lachte Jelka.
Warum war sie eigentlich nicht auf seiner Seite? Er hatte den ganzen Ausflug schließlich nur für Jelka geplant. Sander wollte, dass heute alles perfekt wäre. Aber eigentlich ginge das nicht mit Vivien und Damian. Ganz nüchtern betrachtet hätten sie gar nicht erst mitkommen dürfen. Ein saurer Geschmack breitete sich in Sanders Mund aus, als der Wald sich plötzlich öffnete und den Blick auf eine Siedlung freigab.
Mehrstöckige Wohnblocks ragten verwittert in den Himmel, waren von Birken und Tannen zugewachsen. Moos umklammerte die Eingangsbereiche, Efeu suchte sich seinen Weg nach oben. Die Szenerie wirkte wie ein modernes Dornröschen-Schloss, entsprungen der Vorahnung einer finsteren Dystopie.
Für einen kurzen Moment blieb die Gruppe stehen, ließen sich gemeinsam von der Magie des Ortes fesseln. Sprachlos schweiften ihre Blicke die mehrstöckigen Häuser hinauf, blieben an den dunklen Gebäudeöffnungen hängen und saugten die surreale Atmosphäre in sich auf.
„Das ist unglaublich“ fand Jelka als erste zu Worten zurück. Sie legte einen Arm um Sander und drückte ihn an sich. „Einfach unglaublich.“
Sander spürte, wie sein Herz schneller schlug. Seine Aufregung suchte einen Kanal. „Wenn man bedenkt, dass die Besatzer hier 40 Jahre gelebt haben und die Natur sich seit nunmehr 30 Jahren …“ Er wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte. Sander war überwältigt, sowohl von dem Ort als auch von Jelkas Nähe.
„Schwester-Herz, du kannst dir schon mal überlegen, ob du auf den Treppenstufen oder dem alten Klettergerüst abgelichtet werden willst“ gab Jelka zu bedenken, während sie ihre Kamera aus dem kleinen Rucksack kramte.
„Treppenstufen sind toll!“, rief Vivien und ließ sich auf den moosbedeckten Stufen nieder.
„Perfekt“ schaltete sich auch Damian wieder ein. „Das sieht hervorragend aus, Sternchen! Leg dich zurück, lass die Haare nach rechts herunterfallen.“
Sander lief gedankenverloren über das Moos, das die ehemalige Straße bedeckte. Hier mussten mal Familien zu ihren Wohnungen gelaufen sein, Kinder hatten auf dem Bürgersteig gespielt und Wagen fuhren nach Norden zur Kaserne hin. Mit einem harten Tritt riss er das Grün vom Boden und blickte auf den dunklen Asphalt. So hatte man den Ort vor nahezu drei Jahrzehnten verlassen. Er ging in die Hocke und ließ die Finger über den alten Straßenbelag gleiten. Ein Schauer überkam ihn. In diesem Moment fühlte er die gleiche Faszination für diese Orte wie Jelka. Verstohlen blickte er zu seiner heimlichen Liebe rüber, wie sie Fotos von ihrer heißen Schwester machte.
Vivien hatte sich dramatisch zurückgelehnt, die Brust nach oben gereckt, die Haare hingen nach hinten hinab. Ihr Bauch lag frei, ihr Busen drückte sich gegen das Top. Ihre langen Beine hatte sie ausgestreckt, sie ruderten wie beim Fahrradfahren in den Himmel.
Sanders Blick schweifte ab zu Jelka, die ihre Kamera mit beiden Händen hielt. Sie war in ihrem Element, wechselte die Position von Augenblick zu Augenblick. Obwohl sie eine dicke Cargo-Hose, Stiefel und Handschuhe trug, wirkte sie kein Deut weniger sexy als ihre jüngere Schwester.
Er schaute weg, ließ seinen Blick wieder über die Fassade des Wohnblocks schweifen, nur um wieder zu den Schwestern hinüberzuschauen.
„So, und jetzt …“ wollte Damian in das Shooting eingreifen, als ihnen durchdringendes Hundegebell das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Jelka stoppte ihre Aufnahmen, Vivien verlor die Körperspannung und Damian drehte den Kopf.
Der große, kurzhaarige Kläffer hing an der Leine eines jungen Kerls Anfang 20. Seine tätowierten Arme waren aufgepumpt, dehnten das rote Shirt darüber. Sein Brustkorb ragte weit hinaus, während er breitbeinig den Hund festhielt. Seine vollen Lippen waren von einem scharf geschnittenen Gesicht umrahmt. Der Hals war mit breiten, goldenen Ketten umhängt, die Haare kurz rasiert. Hinter ihm hatten sich vier Jungs und ein Mädchen aufgebaut. Zwei von ihnen trugen Metallrohre in den Händen, die sie bedrohlich auf und ab schwingen ließen.
„Schönen guten Tag zusammen!“ Die Worte klangen nicht wie eine Begrüßung, vielmehr wie eine Bedrohung. „Ihr seid ihr hier auf Privateigentum. Hier ist Betreten verboten!“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, knurrte der Hund eindringlich. Die Gruppe kam langsam näher. Die zwei Jungs mit den Schlagwerkzeugen grinsten bedrohlich, legten die Rohre locker über ihre Schultern. „Das ganze Gelände ist mit einer Betonmauer umgeben.“
Jelka ergriff als erste das Wort „Hey, wir machen hier nur Fotos, wir zerstören oder stehlen nichts …“
„Ja, und jetzt?“ herrschte Steven Jelka an. „Scheißegal, ihr seid ihr immer noch illegal. Überall draußen an den Mauern und Toren sind Schilder, dass hier Betreten verboten ist.“
„Ja, aber ihr kommt trotzdem her“, rief der dunkelhaarige Junge mit dem zerkratzten Unterarm.
„Obwohl es verboten ist.“
Die Gruppe hatte die vier umstellt, ließ keinen Ausweg mehr zu. Speed bellte Vivien an, zerrte an Stevens Leine.
„Was ihr hier macht, ist verboten, das wisst ihr.“