Sunshine - Jens Boele - E-Book

Sunshine E-Book

Jens Boele

4,9

Beschreibung

Hendrik Forster ist ein frustrierter Bochumer Grafiker, der sowohl beruflich als auch privat wenig Erfolg hat. Als er zu allem Überfluss auch noch durch eine Intrige seinen Job verliert, entschließt er sich, zusammen mit seinem besten Freund Dennis, Meth zu kochen. Angetrieben durch seine Leidenschaft zum Marketing gelingt es Hendrik, die Droge in kürzester Zeit zu etablieren: Methamphetamin breitet sich wie eine Seuche im östlichen Ruhrgebiet aus. Einem Krebsgeschwür gleich frisst es sich durch alle Gesellschaftsschichten. Wer den illegalen Rausch sucht, kommt früher oder später mit ihr in Berührung. Tage werden zu Nächten, Erfolg zum Desaster, Freunde zu Feinden - als der Rausch vorüber ist, droht Hendrik alles zu verlieren, was ihm noch geblieben ist ...

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Seitenzahl: 513

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Zum Buch:

Hendrik Forster ist ein frustrierter Bochumer Grafiker, der sowohl beruflich als auch privat wenig Erfolg hat. Als er zu allem Überfluss auch noch durch eine Intrige seinen Job verliert, entschließt er sich, zusammen mit seinem besten Freund Dennis, Meth zu kochen.

Angetrieben durch seine Leidenschaft zum Marketing gelingt es Hendrik, die Droge in kürzester Zeit zu etablieren: Methamphetamin breitet sich wie eine Seuche im östlichen Ruhrgebiet aus. Einem Krebsgeschwür gleich frisst es sich durch alle Gesellschaftsschichten. Wer den illegalen Rausch sucht, kommt früher oder später mit ihr in Berührung. Tage werden zu Nächten, Erfolg zum Desaster, Freunde zu Feinden – als der Rausch vorüber ist, droht Hendrik alles zu verlieren, was ihm noch geblieben ist …

Zum Autor:

Byron Weigand wurde 1975 in Bochum geboren und studierte weder Literatur, noch Germanistik, noch Philosophie. Allerdings legte er schon früh sein Augenmerk auf Ereignisse und Personen, die gesellschaftlich im Abseits stehen und bestenfalls polarisieren. Seine schriftlichen Werke sind inspiriert von Charakterstudien und der Schule des echten Lebens.

Zur Reihe:

»Ruhrpott Kriminell« ist eine Reihe von Romanen, die weder in das Genre Krimi, noch in die klassische Ruhrgebiets-Literatur passen. Inspiriert durch Autoren wie John Milton und Anthony Burgess sind ihre Protagonisten klassische Antihelden, die ihre eigene Persönlichkeit über die Welt an sich stellen. Gepaart mit dem (immer noch schmutzigen) Charme des Ruhrgebiets, verkörpern sie eine andere, unbequeme Art der Literatur.

Sunshine – Von einem ganz normalem Meth-KochAlternativer Titel: Auf die Krumme, Alter

Für Kerstin, die vom ersten Wort an mitgefiebert hat.

Inhaltsverzeichnis

Im Auge des Sturms

Kapitel 01

Sommerhitze

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Sunshine

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Sonnenschein

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Sommergewitter

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Sechs Wochen Später

Herbststürme

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Sonnenuntergang

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

IM AUGE DES STURMS

01

Drückende Hitze hing wie eine unsichtbare Dunstglocke über dem mittleren Ruhrgebiet. Der Sommer war heiß und windstill, Meteorologen sprachen wie in fast jedem Jahr von einem neuen Jahrhundertsommer.

Die Gebäude der Bochumer Innenstadt speicherten die Hitze, luden sich über Wochen mit Wärme auf. Wenn es sich nachts auf den Straßen abkühlte, dann war es in den Wohnungen immer noch unerträglich heiß. Nur die wenigsten Apartments und Büros waren mit Klimaanlagen ausgestattet. Überall standen Fenster weit geöffnet und Ventilatoren hielten die Luft in Bewegung. Nur wenige Passanten liefen über die Kortumstraße. Doch Bochums Shoppingmeile war nicht leer, in den Kaffees und Eisdielen suchten hunderte Menschen Schatten und Abkühlung. Im Kneipenviertel ›Bermuda-Dreieck‹ war zwischen Mittag und spätem Abend selten ein freier Platz zu finden. Wer nicht in den zahlreichen Dienstleistungsunternehmen der Umgebung arbeitete, der suchte an der frischen Luft nach einem schattigen Platz.

Die Stadt hatte sich gewandelt. Stahl- und Kohleproduktion war mehr und mehr zurückgegangen und immer mehr Dienstleister hatten sich in der Stadt niedergelassen. Personalvermittler, Verwaltungsbüros, Rechtsanwälte, Finanzdienstleister und Werbeagenturen hatten die Lücken geschlossen, die nach dem Zechensterben in den frühen neunziger Jahren entstanden waren.

Den Menschen ging es immer noch gut. Wenn morgens die Züge im Bochumer Hauptbahnhof einliefen, dann verließen tausende Pendler die stickigen Abteile und traten ihren Dienst bei Firmen wie Nokia und Opel an. Die Rushhour ließ die Zubringer zur A40 morgens und nachmittags verstopfen, Autokorsos brüteten in der glühenden Sommerhitze. Die Stadtteile Altenbochum und Laer waren überfüllt von Blechlawinen. Niemand bemerkte den schleichenden Rückzug der Unternehmen aus dem Herzen des Ruhrgebiets. Erst als große Firmen ihre Tore schlossen, begann ein rasanter Dominoeffekt einzusetzen. Es begann etwa sechs Jahre zuvor, als Nokia den Standort Bochum stilllegte, fuhren die Züge vom Hauptbahnhof in Richtung Westen mit wesentlich weniger Pendlern als zuvor. Sie änderten den Namen der ›Nokia Bahn‹ in ›Glückauf Bahn‹. Ein Name aus alten Tagen, der mit der Realität und der Zukunft nicht mehr viel gemein hatte. Doch Bochums Einwohner waren Dickköpfe und Optimisten. Das Leben ging auch weiter, als schließlich andere Firmen ihren Rückzug ankündigten. Allen voran General Motors, die ihr Opel-Werk an der A44 in absehbarer Zeit schließen würden.

Unbehagen wuchs in der Stadt. Schleichend, wie ein Krebsgeschwür zog die Arbeitslosigkeit in Bochum ein. Zuerst traf es die sozial Schwachen ohne höheren Schulabschluss. Dann die Jugendlichen, die keine Ausbildungsstelle fanden. Und schließlich auch diejenigen, die von den großen Firmen wie Nokia und Opel abhängig waren.

Es kam eine Zeit, in der sich Parteien und Organisationen in den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens spielten. Politiker der großen Volksparteien, Betriebsratsvorsitzende und couragierte Bürger buhlten um die Sympathien der Massen und spielten mit den wachsenden Ängsten. Manche von ihnen hatten tatsächlich Lösungsansätze parat.

Trotz des Abbaus tausender Stellen erlebte Bochum erneut einen Wandel. Im Handumdrehen war eine der größten Baustellen im östlichen Ruhrgebiet entstanden, als die gesamte Innenstadt neu gestaltet wurde. Wer zuvor das öffentliche Verkehrsnetz genutzt hatte, genoss in diesem Sommer den Vorzug unterirdischer Bahnhöfe, die der sengenden Sommerhitze trotzten. Die Rolltreppen entführten die Menschen in tiefliegende Hallen aus Marmor und Glas. Selbst unterirdische Brücken, auf denen der U-Bahn-Verkehr kreuzte, konnte man hier erleben.

Wer aus einem der anliegenden Städte wie Gelsenkirchen oder Herne mit der Bahn nach Bochum kam, der fand sich in einer Welt wieder, die Reichtum und Sicherheit vorgaukelte. Verglaste Aufzüge brachten die Besucher an die Erdoberfläche auf die neu gestaltete Einkaufsstraße, den Massenbergboulevard. Man hatte den alten Straßenbelag zusammen mit den Bahngleisen herausgerissen und eine Prachtstraße geschaffen, die sich optisch am Pariser Champs-Ulysses orientierte und der Düsseldorfer Königsallee in nichts nachstand. Fußgänger und Autofahrer, die den Bereich der Innenstadt verließen oder betraten, passierten neu gestaltete Tore, die den Eindruck erweckten, man betrete eine schöne, neue Welt, in der sich das Leben gewandelt hätte und in der die Einwohner optimistisch in die Zukunft blickten. Der Bahnhofsvorplatz wurde saniert und bot dem Reisenden die Illusion eines weitflächigen, offenen Platzes, von dem aus man die Welt erobern konnte.

Doch wer genauer hinsah, der erkannte, dass sich auch in diesem Sommer nichts geändert hatte. Die drückende Wärme trieb die Junkies und Alkoholiker am Hinterausgang des Bahnhofs zurück in die unterirdischen Tunnel, wo kalte Luft wie ein Ventilator nach oben blies. Nur diejenigen, die völlig zugedröhnt waren, schienen gegen Hitze und Wärme resistent. Sie schwitzten in ihren langen Pullovern, Schweiß rann unter ihren Kapuzen über ihre Gesichter. Erst bei Nacht trauten sich die Ratten aus dem Gebüsch und jagten nach den Abfällen, die die Junkies zurückgelassen hatten.

Dies war der Bodensatz der Bochumer Drogenszene, ihr Hauptquartier, von dem aus sie sich in die Stadt verteilten, immer auf der Suche nach einem Ersatz für Glück und Zufriedenheit.

Nichts war, wie es schien. Und so zog die neu gestaltete Innenstadt nicht nur hochwertige Investoren wie Apotheken an, in denen sich die Abhängigen mit Methadon und Schmerzmitteln versorgten. Billige Imbissläden, die türkische oder arabische Spezialitäten anboten, wechselten sich ab mit Ein-Euro-Shops, die die neue Bochumer Unterschicht als Zielgruppe ins Visier genommen hatte. Die Fluktuation war groß. Wo gestern noch ein neuer Döner-Imbiss eröffnet hatte, da fand sich schon morgen ein asiatischer Ramschladen wieder. Und niemand konnte sagen, was übermorgen wäre.

Doch wer die Innenstadt über eine der neuen Tore nach Norden oder Westen verließ, der fand sich in einem Bochum wieder, in dem die Zeit stehen geblieben war. Graue Häuserfassaden säumten die Straßen in Richtung Wattenscheid, Gelsenkirchen und Herne. Hinter diesen Fassaden lebten diejenigen, die die Ramschläden der Innenstadt frequentierten und auch diejenigen, die tagsüber am Hinterausgang des Bahnhofs ihr Dasein fristeten. Die Alleestraße war eine dieser Wege raus aus der Innenstadt. Sie bildete zusammen mit der Rottstraße das andere Bermuda-Dreieck der Stadt. Pornokinos, Sexshops und Bordelle ließen ihre Kunden in einer dreckigen Welt versinken, in der nur die Illusion von käuflicher Liebe noch lebte. Die Gußstahlstraße war der Prachtboulevard dieser anderen Bochumer Welt. Hier flimmerte die Hitze auf dem alten Kopfsteinpflaster, das seit Jahrzehnten nicht saniert worden war. Doch anders als in der Innenstadt boomte die Wirtschaft hier. Die Zuhälter und Hauseigentümer investierten. Der Puff hatte expandiert. Neben dem alten Bordellviertel »Im Winkel«, das einem eigenständigen Dorf glich, waren neue Peepshows und Laufhäuser entstanden. Im neuen Kontakthof konnten die meist osteuropäischen Mädchen ihre Freier ohne trennendes Fenster treffen. Sie saßen auf Barhockern vor ihren Zimmern und stellten sofort Körperkontakt her. Die Plätze hier waren begehrt, denn anders als auf der »Gurke«, wie man das Freiluftbordell im Volksmund nannte, verließ nur selten ein Freier das Gebäude, ohne sein Geld an eines der Mädchen weitergegeben zu haben.

Doch auch hier spielten sich viele Dinge nur in den Hinterzimmern der Bordelle und Kneipen ab. Während die Prostituierten versuchten, mit einem kurzen Akt ihren Gewinn möglichst zu maximieren, so verdienten Zuhälter und Dealer ihr Geld mit jeder Droge, die der Markt anbot. Von Gras und Ecstasy über Koks und Speed bis hin zu Crack und Heroin war hier alles käuflich zu erwerben. Der Hunger nach Drogen war kein Resultat der zunehmenden Arbeitslosigkeit. Der Handel damit schon.

Diejenigen, denen vom schließenden Opel-Werk nur ihr teilweise abbezahlter Astra geblieben war, verdienten sich ihr Geld mit kurzen Fahrten nach Holland. Die liberalen Drogengesetze der Niederlande hatten einen regen Import gefördert, der trotz Illegalität mit großen Gewinnmargen reizte. Es war der wirklich neue Markt im Ruhrgebiet. Ein boomendes Unternehmen, das den Wohlstand in einige Bevölkerungsschichten zurückbrachte.

Während zu später Stunde die Sonne unterging, wurde es im Bermuda-Dreieck brechend voll. Die Sommernächte brachten den Menschen die erhoffte Abkühlung. Unten in den Kneipen feierten all jene, die sich diesen Luxus noch leisten konnten. Doch über dem Bermuda-Dreieck, auf den exklusiven Dachterrassen, da traf sich die neue Elite der Stadt. Wer auf einer dieser Partys dabei sein konnte, der hatte es zu etwas gebracht. Und während sie von dort aus auf die Stadt herabblickten, kündigten weitere bürgerliche Unternehmen die Schließung ihrer Produktionsstädten an. General Motors plante die Einstellung ihrer Bochumer Produktion, BP drohte mit dem Umzug nach Düsseldorf und Thyssen sprach von einer kommenden Entlassungswelle.

Dort, wo die Zeit stehen geblieben war und man einfach so weitermachte wie bisher, nahm trotz allem Optimismus und trotz aller Gelassenheit die Unzufriedenheit zu. Protestmärsche gegen soziale Ungerechtigkeit formten sich auf den Straßen. Großkundgebungen der IG Metall und der Betriebsräte riefen zu einem Umdenken auf und schrien um Hilfe der Politik. Man empörte sich. Man zeigte Solidarität. Man wollte nicht untergehen wie all die anderen, die es schon so hart getroffen hatte.

Und als sich vor dem Schauspielhaus Politiker aller Parteien ein Stelldichein gaben, um den Schulterschluss mit ihren von Arbeitslosigkeit bedrohten Wählern zu üben, zogen dichte Gewitterwolken über der Stadt auf. Als sich der Abend näherte, grollte der Himmel. Die Meteorologen kündigten heftige Sommergewitter an.

SOMMERHITZE

02

Hendrik Forster stand in dem kleinen Badezimmer der Agentur und wusch sein Gesicht mit kaltem Wasser ab. Er war blass. Die letzten Tage hatten ihm Schlaf und Nerven geraubt. Mit beiden Händen verteilte er den Rest der Flüssigkeit durch die kurzen blonden Haare, hinab bis in den Nacken. Er wurde wieder wach. Draußen grollten die Vorboten eines sich ankündigenden Sommergewitters. So wie alle hier hoffte Hendrik auf ein wenig Abkühlung. Es war der heißeste Sommer seit Jahren. Nachts war durch die Hitze kaum an Schlaf zu denken, tagsüber arbeitete er auf Hochtouren am neuen grafischen Konzept des Kunden Asap Management. Der Dienstleister im Bereich mobile Sitzsysteme, Türverkleidungen und Cockpits hatte sich dazu entschlossen, seinen Werbeetat zu reduzieren und die grafische Betreuung des Unternehmens neu auszuschreiben. Für Hendriks Agentur bedeutete das den eventuellen Verlust eines langjährigen Kunden. Um so dringlicher war der Erfolg der neuen Kampagne.

Als Hendrik das Bad verließ, vernahm er sofort den Protestlärm des Demonstrationszugs, der über die Wittener Straße zum Schauspielhaus zog. Er blieb am geöffneten Fenster stehen und schaute nach draußen. Hunderte Menschen spazierten gemächlichen Schrittes über die voll gesperrte Straße. IG-Metall und Gewerkschaftsmitglieder in orangenen Warnwesten präsentierten Schilder und skandierten Durchhalteparolen. Hendrik schloss das Fenster. Seine Zeit war knapp.

»Herr Forster, gut, dass ich Sie treffe!« Ryan Kaur war Leiter der Agentur.

»Herr Kaur.« Hendrik reichte ihm die Hand.

»Ja, sie wissen sicherlich um das knappe Timing für Asap Management«, fuhr Hendriks Chef fort.

Hendrik nickte bestätigend.

»Ich habe grade mit ihrer Kollegin Frau Bischof gesprochen. In einer Stunde brauche ich ihre Layouts, ja?«

»Ähm, Abgabetermin ist morgen Nachmittag.«

»Ja, sie wissen ja, wie sprunghaft unser Kunde ist. Je eher, je besser. Bis gleich, ja?«

Nein, nicht bis gleich. Und eher ist auch nicht besser. Jedenfalls nicht, wenn es um Layouts ging. Aber was blieb Hendrik schon über? Wenn sie das Rennen um Asap Management gewinnen wollten, dann musste das auch unter Druck funktionieren.

»Oh, hast du schon gehört?« Katja Bischof sah ihren Kollegen Hendrik niedergeschlagen an.

»Ja, Kaur hat’s mir grade gesagt.« Unmotiviert ließ er sich in den Stuhl vor seinem Bildschirm fallen.

»Und das, wo ich heute so müde bin …«, jammerte Katja.

»Trink einen Red Bull«, war Hendriks teilnahmsloser Lösungsansatz.

»Ich hab’ schon zwei getrunken.«

»Dann nimm Koffeintabletten.«

»Hast du welche?« Katja lächelte ihn an.

»Nein, ich nehme so was nicht.«

»Aber mir schlägst du es vor. Toll …« Katja nörgelte noch weiter vor sich hin, doch Hendrik hörte ihr nicht mehr zu.

Als er auf die bisherigen Layoutentwürfe starrte, konnte er sich nicht recht entscheiden. Er hatte einen ganzen Tag zur Fehleroptimierung eingeplant. Diesen Prozess musste er jetzt innerhalb einer knappen Stunde abwickeln. Es fiel ihm schwer, einen Favoriten auszumachen. Sie waren alle halbwegs passabel, aber es fehlte jedem der letzte Schliff. Hier ein Eyecatcher, da eine alternative Farbwelt. Alle zehn Fenster präsentierten sich ihm am Monitor und warteten auf eine schnelle Entscheidung. Nach und nach klickte er die schwächsten Entwürfe weg, bis er nur noch drei Entwürfe in den Farben Blau, Grün und Weiß geöffnet hatte.

Hendrik war so in seiner Arbeit versunken, dass er Katja gar nicht bemerkte. Wie lange seine Kollegin dort gestanden hatte, wusste Hendrik nicht. Aber anscheinend lang genug, um seine Layouts beurteilen zu können.

»Also, die gefallen mir alle ganz gut.« Katja versuchte, mit Worten zu lächeln, aber es blieb bei dem Versuch.

Hendrik reagierte nicht auf ihren Gesprächsanfang.

»Willst du meine mal sehen?«

»Katja, grade nicht. Ich bin hier noch nicht fertig.«

Eine Pause entstand, dann antwortet sie. »Ja, du brauchst auch noch ein bisschen« und verschwand zurück zu ihrem Platz.

Innerlich kochte Hendrik. Er hielt Katja für eine selbstverliebte Pute, die ihren Charme von Mutti in der Küche geerbte hatte. Sie war eine typische Agentur-Tussi, austauschbar und opportunistisch. Doch leider hatte sie Recht. Seine Entwürfe benötigten eigentlich noch mindestens ein paar Stunden Zeit – die ihm aber nicht blieben.

Hendrik musste sich sputen und veredelte die unzureichenden Elemente mit Schlagschatten und Verläufen. Im herkömmlichen Sinne war es Pfuscherei, aber gemessen an der verbleibenden Zeit konnte man ruhigen Gewissens von Ergebnisoptimierung sprechen. Hendrik schickte die Entwürfe an das Proof-Gerät und wartete auf die Ausdrucke. Grade noch rechtzeitig, denn Kaur stand schon in der Tür und forderte Katja und ihn lächelnd zum Meeting auf.

Hektisch sortierte er das dicke Hochglanzpapier, ging in Gedanken noch mal seine Präsentation durch und machte sich dann auf ins Konferenzbüro, wo die Agenturleitung um Kaur mit dem Online-Team und der Text-Abteilung schon auf ihn wartete – zusammen mit seiner Kollegin Katja Bischof.

»Schön, dass sie da sind, Herr Forster, dann sind wir ja vollständig« begrüßte Kaur ihn.

Hendrik setzte ein ehrlich wirkendes Lächeln auf und nahm zwei Plätze neben Kaur Platz.

»Ja, sie waren sicherlich überrascht von diesem etwas kurzfristigen Termin, aber leider gibt es einen dringlichen Anlass.«

Kaur griff zu seinem Glas und nahm einen großen Schluck Eiswasser.

»Unsere Mitbewerber haben das Tempo angezogen und bereits heute ihre Visionen vor der Asap Geschäftsführung präsentiert. Wir stehen also unter Zugzwang. Deshalb werden wir morgen früh unsere Konzepte in den Räumlichkeiten unseres Kunden vorlegen. Ich erwarte nicht mehr als ihr Bestes, ja?«

Hendrik lächelte vor sich hin, doch innerlich hatte er schon resigniert. Nicht mehr als unser Bestes, ja? In Anbetracht der verkürzten Zeit wäre das wohl kaum möglich.

»An dieser Stelle möchte ich das Wort an Frau Bischof übergeben, die mit ihren Konzeptionen beginnen wird. Frau Bischof, bitte.« Anerkennend nickten die Kollegen ihr zu. Stolz lächelnd platzierte Katja sich vor dem Whiteboard neben Kaur und brachte ihre Layouts in Position.

Hendrik fror das Lächeln im Gesicht ein. Der erste Entwurf war in den gleichen dezenten Blautönen gehalten, die Hendrik für seine Layouts gewählt hatte. Text und Bildmaterial waren an ähnlichen Stellen platziert.

»Liebe Kollegen«, eröffnete Katja ihre Präsentation »wir alle haben in den letzten Tagen wirklich großes geleistet. Jeder von euch hat sein Bestes gegeben und wir haben so viele tolle Ideen umsetzen können. Wir, also Hendrik und ich, stehen als Grafiker in diesem Prozess immer erst an letzter Stelle, das bringen die Arbeitsabläufe nun mal mit sich. Aber grade deswegen ist es uns eine ganz besondere Ehre, euren mit Herzblut erarbeiteten Ideen das Look-and-feel zu geben, was sie verdienen. Nicht wahr, Hendrik?«

Als er die Lippen zu einem bestätigenden Lachen öffnete, zeigte Hendrik der Belegschaft seine zusammengebissenen Zähne. Seine Augen lächelten nicht. Nur mit einem Nicken konnte er seine Wut kaschieren. »Absolut!«, entgegnete er schließlich.

Als Katja der Belegschaft ihre drei Konzepte vorgestellt hatte, waren Hendriks Entwürfe verbrannt. Es war viel zu offensichtlich, dass einer die Arbeit des anderen gestohlen hatte. Doch zu seinem Leidwesen war Katja diejenige, die den Bonus der Initiative erhielt. Wer zuerst zuschlägt, der gewinnt. Diese Lektion hatte Hendrik schon auf dem Schulhof lernen müssen. Niemand hatte ihn allerdings darauf vorbereitet, dass sich dieses Moralkonzept auch im echten Leben bestätigte.

Ein leises Raunen ging durch den Raum, als Hendrik seine Ideen zur Schau stellte. Kaur hob lediglich die Augenbrauen, scheinbar bewertungsfrei.

»Wie ihr also seht«, beendete Hendrik seine Darbietung, »laufen eure und unsere Ideen auf einen Punkt hinaus, der völlig eindeutig und nicht mehr interpretierbar ist. Das, liebe Kollegen, nenne ich Konzeption und Entwicklung. Nur so, indem wir alle an einem Strang ziehen, wird es uns gelingen, Asap Management am morgigen Tag für uns zu gewinnen. Herzlichen Dank!«

Zumindest hatte er versucht, seine Ehre zu retten und seine Arbeit ins richtige Licht zu rücken. Doch der Schatten des Zweifels überdeckte die ihm zustehende Anerkennung. Hendrik hatte sich wieder gefasst, nichts der in ihm brodelnden Wut brach durch die Maske von Professionalität. Ein kurzes Schweigen entstand und Hendrik konnte sehen, wie Kaurs Hirn arbeitete. Schließlich setzte der Agenturleiter an.

»Vielen Dank Frau Bischof. Vielen Dank Herr Forster. Ja, wie wir sehen konnten, arbeitet unser Grafik-Team hervorragend zusammen. Ich denke, wir haben einige ganz ausgezeichnete Konzepte gesehen, die – und davon gehe ich aus – die Asap Management GmbH morgen wieder zurück ins Boot holen werden.« Kaur lächelte überzeugt in die Runde, »Und damit möchte ich dieses Meeting beenden, auf uns alle wartet noch viel Arbeit.« Pflichtbewusstes Klatschen wurde gefolgt von hastigem Stühlerücken. »Frau Bischof und Herr Forster, sie bleiben bitte noch einen Moment.«

Als die Belegschaft den Konferenzraum verlassen hatte, saßen nur noch Katja, Kaur und Hendrik an dem riesigen Tisch. »Ich möchte ihnen mitteilen – und das bleibt selbstverständlich fürs Erste unter uns – dass wir gezwungen sind, im Falle eines Rückzugs der Asap Personal einzusparen. In Anbetracht ihrer Präsentationen dürfte ihnen klar sein, wo wir mit dem Stellenabbau beginnen werden, ja?« Kaurs Blick richtete sich auf Hendrik und verriet, dass seine Aussage nicht als Frage gemeint war.

»Herr Kaur, ich muss …« warf Hendrik ein, doch der Agenturleiter schnitt ihm das Wort ab. »Das war jetzt eigentlich nicht als Diskussionseinleitung gemeint. Und jetzt entschuldigen sie mich bitte.« Mit diesen Worten stand Kaur auf und verließ den Raum. Nicht ohne Katja, die ihm die Tür aufhielt.

Als Hendrik sich aus seiner Schockstarre gelöst hatte, verließ er die Agentur nach draußen und zündete sich eine Zigarette an. Auf der Straße war von der Demonstration nichts mehr zu sehen, längst hatten die Teilnehmer das Schauspielhaus zur Kundgebung erreicht. In der Ferne donnerte das näher kommende Gewitter. Hendrik zog sein Smartphone aus der Tasche und tippte eine Kurznachricht. »Egal, was morgen ist, ich muss abends dringend feiern gehen. Bist du dabei?«

03

Heftige Windböen zogen durch die Alleestraße. Im Westen über dem Stadtteil Wattenscheid hatte sich der Himmel schwarz gefärbt. So gut das kommende Unwetter auch die Hitze vertrieb, um so mehr wirbelte es Blütenstaub und Pollen auf, die seit Wochen auf dem heißen Asphalt lagen.

Dennis Steinert nieste. Sein Heuschnupfen meldet sich zurück. Alter, nicht schon wieder. Er blickte sich kurz um und rotzte in Fußballermanier auf den Bürgersteig. Dann wischte er sich mit dem Unterarm die Nase trocken und joggte die Treppen zum Fitnessstudio hoch. Als er im Foyer die hübsche Bedienung sah, lächelte Dennis schief.

»Hi, alles klar?«, grüßte er und ging weiter zum Umkleideraum.

»Hallo Denny« winkte die Dunkelhaarige.

Denny … Alter, geht’s noch? Dennis verdrehte die Augen und verschwand in der Umkleide.

Vor der Wand aus Schließfächern konnte er Ricky sehen, der sich bereits umgezogen und den Schrank verschlossen hatte.

»Ricky, du Lappen. Alles fit?« Er lachte seinen Trainingspartner an.

»Ich zeig’ dir gleich mal Lappen, du Mongo.« Ricky grinste zurück.

Die zwei schlugen die Hände ineinander und umarmten sich kurz.

»Was machen wir heute?«

»Bankdrücken, Alter.«

»Willste wieder verlieren?«

»Auf gar keinen Fall, Junge.«

»Werden wir sehen, werden wir sehen.«

Ohne sich aufzuwärmen, gingen die Jungs vorbei an den Laufbändern und Anfänger-Maschinen in den Freihantelbereich, wo die Profis trainierten. Am Ende des Studios war die Wand mit riesigen Spiegeln verkleidet. Dennis beobachtete sich im Gehen. Sein kahl geschorener Kopf wirkte auf dem fast zwei Meter großen Körper immer noch zu groß. Obwohl er durchtrainiert war, gefiel ihm sein Körper noch nicht. Er musste breiter werden, um perfekt auszusehen. Ricky hingegen war kleiner, aber kantiger als er. Sein Partner war kompakter, das verlieh ihm den nötigen Druck beim Training. Dennis musste Gas geben, wenn er mithalten wollte.

Nach einer kurzen Runde ohne Gewichte läutete Ricky den ersten Durchgang ein. Sechzig Kilo pumpte er in den ersten vier Sätzen ohne Probleme durch. Dennis konnte problemlos mithalten.

Dann erhöhte Ricky das Gewicht auf achtzig Kilo. Auch hier legte Dennis nach.

»Stell dich mal hinter mich und pass auf«, ordnete Ricky an, als er weitere Gewichte aufgelegt hatte.

Breitbeinig platzierte Dennis sich hinter der Bank und legte seine Hände leicht unter die Hantelstange. Er half nicht nach, sondern würde die Gewichte zurück in die Halterung ziehen, wenn Ricky die Kräfte verlassen sollten. Aber das passierte nicht.

Als Dennis an der Reihe war, stand Ricky hinter ihm. Er zählte hoch bis zehn und half ihm, die Stange zurück in die Halterung zu bringen. Doch beim zweiten Satz konnte Dennis die Gewichte schon nach der sechsten Wiederholung nicht mehr stemmen. Ricky half ihm und grinste triumphierend. »Verloren, Junge.«

Alter, das gibt’s doch nicht! Mit rotem Kopf setzte Dennis sich auf und starrte sein Spiegelbild wütend an. Hinter ihm feixte Ricky. Penner, Alter. Dennis atmete ein paar Mal durch und stand auf. Er ignorierte seinen Partner, spannte die Muskeln an und betrachtete sich wieder im Spiegel. Da geht noch mehr. Jetzt nur nicht entmutigen lassen. Vollgas, Alter!

»Hab ich dir doch gleich gesagt …« Ricky lächelte.

»Ja, ja. Lass’ mal weiter machen.«

Sie gingen von den Bänken rüber zur Seilzugmaschine. Dennis trank einen Schluck Wasser und justierte die Gewichte. Für den Anfang sollten fünfzig Kilo reichen, dann würde er nachlegen. Er setzte den linken Fuß nach vorn, den rechten hinter sich und beugte den Oberkörper leicht nach vorn. Dann lehnte er sich zurück und griff die zwei Seilenden. Mühelos zog er das Gewicht eines Zentners nach vorn und ließ es wieder zurückgleiten. Nachdem er zehn Wiederholungen in schnellem Tempo absolviert hatte, ließ er die Gewichte krachend zurückfallen und ging wortlos an Ricky vorbei. So, Alter, hau mal rein.

Während Ricky das gleiche Set absolvierte, betrachtete Dennis sich wieder im Spiegel. Sein Trizeps war aufgepumpt. Aber das war noch nicht alles. Wenn er die Übung beendet hatte, würden die Adern auf seinen Oberarmen deutlich herausstehen. Dennis verschränkte die Arme und beobachtete Ricky. Auch er absolvierte das Set mühelos.

Dann legte Dennis fünfzehn Kilo Gewicht nach und ging in Position. So, jetzt geht’s los. Er biss die Zähne zusammen und legte all seine Kraft in den ersten Zug. Er konnte fühlen, wie das Gewicht förmlich in die Luft gerissen wurde. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs! Nach der siebten Wiederholung musste Dennis mehr Kraft aufbringen, die achte und neunte brachten ihn an seine Grenzen. Als er die zehnte geschafft hatte und das Seil zurückführte, verlor er das Gleichgewicht und musste einen Schritt nach hinten treten. Mann, Alter!

Wortlos griff Ricky die Seile und zog sein Programm durch. Dennis blickte zwischen seinem Oberarm – der immer praller zu werden schien – und Ricky hin und her. Der Junge hatte echt eine enorme Disziplin. Ohne Aussetzer arbeitete sein Körper wie eine Maschine. Es wurde Zeit, dass Dennis nachlegte.

Siebzig Kilo waren sein bisheriges Limit gewesen, aber heute wollte er sich selbst überbieten und vor allem wollte er Ricky endlich schlagen.

Dennis klatsche zur Motivation in die Hände, spannte jeden Muskel in seinem Körper an und biss die Zähne zusammen. Dann zog er das Seil über seinen Kopf nach vorne. Er spürte, wie seine Arme nach jedem Zug mehr brannten. Alter, gib jetzt Vollgas! Nach der fünften Wiederholung wurde der Schmerz fast unerträglich. Dennis kniff die Augen zusammen und atmete durch die zusammengepressten Zähne. Sechs, sieben … bei Nummer Acht ließ er ein qualvolles Stöhnen hören, Nummer Neun schaffte er nur noch halb, dann rutschte das Seil und zog ihn nach hinten. Krachend fielen die Gewichte zurück in die Halterung.

Ricky schaute ihn kopfschüttelnd an.

»Maaaaaann, Alter, ey!« Zornig drehte Dennis sich weg und überließ seinem Partner das Gerät.

Der absolvierte sein Set unter lautem Zählen. Eins, zwei, drei – Dennis drehte sich wieder um und beobachtete ihn – vier, fünf, sechs – Rickys Tempo ließ nicht nach – sieben, acht, neun – er blickte Dennis triumphierend an – zehn! Langsam ließ er das Gewicht nach hinten gleiten. Lautlos kam es zum Liegen. Höhnisch grinste er Dennis an.

Lauter Donner knallte durch die Halle. Das Gewitter entlud sich und schlagartig prasselten dicke Regentropfen gegen die Fenster. Der plötzliche Krach ließ die Trainingspartner entspannen.

»Alter …« Dennis blickte mit großen Augen nach draußen.

»Krass.«

Beide nahmen einen Schluck Wasser und genossen das Unwetter, das sich wie eine Sturmflut aus dem Himmel ergoss.

»Du bist viel zu verbissen.«

»Ach, laber’ nicht.«

»Doch, tu dir mal die Ruhe an. Nur mit Kontinuität erreichst du dein Ziel.«

»Ricky, ganz ehrlich, ich will einfach richtig durchtrainiert sein. Ich will gut aussehen.«

Ricky lachte. »Was denn? Biste doch.«

»Ach, Alter …«

»Pass mal auf. Orientier dich nicht an mir. Zieh einfach dein Programm durch und alles wird gut. Du kannst auch Proteine und Aminosäuren nehmen, als Nahrungsergänzung. Verstehste? Vielleicht noch ein bisschen Kreatin dazu und dann fluppt das auch.« Ricky kniff Dennis ein Auge zu. »Alles wird gut.«

»Hm. Nimmst du das auch?«

»Klar. Vor und nach dem Training und zum Frühstück.«

»Und sonst nichts?«

»Was meinst du?«

»Alter, was meine ich wohl?«, grinste Dennis schief.

Ricky verdrehte die Augen. »Hau ab, die Scheiße nehme ich nicht.«

»Hau ab, die Scheiße nehme ich nicht« äffte Dennis ihn nach.

»Kannste ja gerne machen, aber das bringt gar nichts. Im Gegenteil, das frisst deine Organe auf.«

Pfff, Ricky übertrieb maßlos. »Schwachsinn, ey. Guck dich doch mal um hier. Meinste, die trainieren hier alle schon seit Jahren? Einen Scheiß machen die, die ballern doch alle.« Dennis flüsterte.

»Keine Ahnung, ist mir aber auch egal. Ich hab’ keinen Bock auf Anabolika.«

»Pock, pock, pooock!« Dennis imitierte ein feiges Hühnchen.

Doch Ricky lächelte nur süffisant. »Weiter geht’s, Junge.«

Sie gingen vorbei an den Maschinen, zurück in den Freihantelbereich. Hier pumpten die wirklich großen Jungs. Goldene Trainingsanzüge spannten sich um tätowierte, muskelbepackte Körper. Wer hier sein Programm absolvierte, der war mit Sicherheit kein Blender. Niemand redete hier, die einzigen Geräusche waren aggressives Fluchen und schmerzliches Aufstöhnen. Die geschlossenen Fenster und die Hitze sorgten für penetranten Schweißgeruch. Dennis war angespannt.

Ricky und er stellten sich nebeneinander auf und stemmten Kurzhanteln in die Luft.

Schon nach dem zweiten Set brannten Dennis’ Schultern. Verstohlen beobachtete er, wie Ricky immer noch Reserven zu haben schien. Kontinuierlich drückte er die Gewichte hoch und ließ sie wieder hinab.

Dennis machte eine Pause und setzte sich auf die Flachbank hinter ihm. Im Spiegel ließ er seinen Blick über die anderen Sportler gleiten. Hier wog mit Sicherheit keiner unter 120 Kilogramm. Und niemand hatte mehr Fett am Leib als nötig. Alter, so will ich auch aussehen!

Er griff ein letztes Mal nach den Hanteln und drückte sie nach oben. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, doch Dennis zählte lautlos bei jeder Wiederholung mit. Wieder brannten seine Muskeln, doch er wollte nicht aufgeben. Als er bei Sieben ankam, wusste er, dass er nicht bis Zehn kommen würde. Die Acht schaffte er grade noch, dann musste er aufgeben. Erschöpft ließ er sich auf die Bank zurückfallen.

Als Ricky sich zu ihm setzte, ging Dennis aufs Ganze. »Jetzt mal ohne Laberei, wo krieg ich was her?«

»Mann, ey. Raff’s mal. Ich hab’ keine Ahnung.«

»Haste nicht oder willste nicht haben?«

»Pass auf, von den Jungs, die ich hier kenne, kann keiner was besorgen. Und ich am allerwenigsten.«

Genervt atmete Dennis heftig aus. Dann blickte er sich um. Seine Augen blieben bei einer Gruppe von drei Männern stehen, die seit geraumer Zeit am rechten Ende der Halle pumpten, ohne müde zu werden. Es war die Seite, wo die schweren Gewichte und Hanteln lagen. Dort, wo es keine Steigerung mehr gab.

Sie mussten etwa zehn bis fünfzehn Jahre älter als Dennis sein, etwa Mitte bis Ende dreißig, vielleicht Anfang vierzig. Ihre Gesichter waren wie in Stein gemeißelt, die Haut vom Solarium gealtert. Sie trugen dicke Schnauzer, blonde Dauerwellen und schwere Goldketten.

»Alter, wer sind die denn?« Dennis deutete mit den Augen zu dem Trio.

»Wer?« Ricky wollte sich schon umdrehen, doch Dennis hielt ihn ab.

»Guck nicht hin – die drei Typen da hinten.«

Vorsichtig suchte Ricky die verspiegelte Wand ab und fand schließlich das Trio, von dem Dennis sprach.

»Alter … vergiss es. Mit denen willst du nichts zu tun haben.«

»Sag mal, wer ist das?«

»Das sind irgendwelche Zuhälter vom Eierberg. Lass mal lieber.«

Dennis starrte die Luden noch einige Augenblicke an, als Ricky ihn anstupste. »Feierabend! Komm, wir hauen ab.«

Wortlos folgte Dennis seinem Partner in die Umkleide. Als er seinen Spind aufgeschlossen hatte, warf er einen Blick auf sein Handy. Er hatte eine neue Nachricht bekommen. »Egal, was morgen ist, ich muss abends hart feiern gehen. Bist du dabei?« - Hendrik. Dennis grinste. Er duschte, zog sich an und verließ zusammen mit Ricky den Umkleideraum.

Als er an der Bedienung vorbeikam, fragte er »Hey, hast du morgen schon was vor?«

Sie blickte ihn an, überlegte kurz und sagte dann »Nein, warum?«

»Wenn du Lust hast, komm ins Zoes. Ich feier’ da mit ein paar Kollegen. Würd’ mich freuen, wenn du auch kommst.«

Sie lächelte. »Oh ja, gerne. Freu mich!«

Diesmal grinste Dennis Ricky an.

04

Alessios Boutique ›La Madre Maria‹ lag auf dem oberen Teil der Kortumstraße, kurz vor dem Anfang des Bermuda-Dreiecks. Als Sohn eines pakistanischen Vaters und einer italienischen Mutter war er ganz besonders stolz auf seinen Modeladen. Nur wenige Einwandererkinder waren so erfolgreich wie er.

Kritisch blickte er durch den Verkaufsraum. Erst gestern war ein Artikel über ›La Madre Maria‹ erschienen, der seine Boutique zum angesagtesten Modeladen des östlichen Ruhrgebiets kürte. Besonders das Interieur hatte es dem Autoren angetan. Die Mischung aus 70er-Jahre-Stil und moderner Reduziertheit war perfekt kombiniert und sorgte für ein Ambiente, in dem die Kunden auf angenehme Weise große Summen ausgaben. Die neu angeschaffte Klimaanlage verströmte für angenehm kühle Luft und ließ ihn die Sommerhitze vergessen.

Plötzlicher Donner riss Alessio aus seinen Tagträumen. Draußen hatte der Wind an Fahrt zugelegt und der Himmel sich schwarz verfärbt. Es würde nicht mehr lange dauern und das Gewitter würde losbrechen. Er stellte sich auf einen entspannten Nachmittag mit wenig Kunden ein.

Als er das Geschäft vor drei Jahren eröffnet hatte, waren seine ganzen Ersparnisse in das Unternehmen geflossen. Alessio hatte alles in eine Waagschale geworfen und einen Großeinkauf in Mailand getätigt. In einem geräumigen Transporter hatte er die Textilien eigenhändig bis nach Bochum zurückgefahren. Man konnte nicht sagen, dass ihm die Kunden seine Ware aus den Händen gerissen hatten, aber der Erfolg stellte sich nach und nach ein. Nach etwa einem Jahr verfügte ›La Madre Maria‹ über einen festen Kundenstamm und kontinuierlich steigenden Umsatz.

Seitdem war sein Lebensstandard rapide gestiegen. Er leistete sich zwei Wohnungen, zwei Wagen und eine erlesene Anzahl an Freundinnen, die seine unverbindliche Art der Beziehungsführung sehr schätzten. Während er unter der Woche in einem kleinen Appartement am Südring wohnte, verbrachte er die Wochenenden in seiner Eigentumswohnung in Querenburg am Rande der Universität.

Ein weiteres Mal schallte Donner durch die Bochumer Innenstadt. Blitze zuckten vom Himmel. Heftiger Wind trieb dicke Regentropfen gegen das Schaufenster. Fast im selben Augenblick öffnete sich die Tür und die ersten Passanten suchten in Alessios Boutique Schutz vor dem Unwetter. Drei junge Frauen im Alter von etwa 20 Jahren stürmten durch die Tür. Die ersten Regentropfen hatten sie voll erwischt und dunkle Flecken auf ihren Oberteilen hinterlassen.

»Oh mein Gott, guck mal, ich bin voll durchnässt!«

»Ja, ich auch, heftig!«

»Boah, mein Top ist krass schmutzig geworden.«

»Das geht gar nicht!«

Alessio beobachtete die drei Kundinnen aus dem hinteren Ladenteil. Wenn er etwas in den letzten Jahren dazugelernt hatte, dann war es vor allem, Menschen schnell und effektiv einzuschätzen. In den meisten Gruppen junger Frauen gab es ein Alphatier. In diesem Fall war es die große Schwarzhaarige, die als erste das Wort ergriffen hatte. Sie gab den Ton an, die anderen zwei waren nur Jasager. Wenn er ihnen etwas verkaufen wollte, dann musste er das Alphaweibchen ansprechen. Im Grunde waren sie einfache Beute für einen geschickten Verkäufer. Ihre Wortwahl ließ auf mäßige Intelligenz und ihr Äußeres auf durchschnittliche Attraktivität schließen, die aber durch viel Styling und exklusive Mode kaschiert wurde. Was ihnen an Verstand fehlte, das machten sie durch Emotionalität wieder wett.

»Hoffentlich hört es gleich auf.«

»Wenn Hasin mich so sieht, dann macht er direkt Schluss.«

»Wirklich?«

»Ja, Mann, er steht nur auf richtig krasse Weiber.«

In diesem Moment griff Alessio zu einem weißen, mit goldenen Strassteinen versetztem Tanktop, ging zielstrebig auf die Gruppe zu und hielt es der Schwarzhaarigen vor den Oberkörper. Er ließ das Überraschungsmoment für eine halbe Sekunde sacken, dann sagte er »Wenn du das trägst, denn wird er dich auf Händen tragen.«

Sprachlos blickte ihn das Trio an.

»Ja, probier es mal an. Du wirst deinen Freund nicht enttäuschen.«

Die Schwarzhaarige gewann als erste ihre Fassung wieder. »Mein Gott, wer bist du denn?«, empörte sie sich.

Alessio lächelte verständnisvoll. »Ich bin der Chef hier, Alessio. Freut mich, euch kennen zu lernen. Das hier habe ich heute Morgen aus Mailand bekommen.«

Erst jetzt warf sie einen Blick auf das Top. »Na ja, ist ja echt ganz schön, so.«

»Und die goldenen Steinchen passen perfekt zu deinem Lidschatten.«

»Wirklich?« Fragend sah sie ihre Freundinnen an.

»Ja, das ist echt voll schön.«

»Du musst es nicht kaufen, aber probier es einfach mal an. Dein Freund wird es lieben. Schau mal, in der Kabine ist ein großer Spiegel und hier hinten habe ich noch einen, da ist das Licht besser.«

»Ja, okay, aber wir müssen gleich weiter. Obwohl, das ist wirklich schön.« Alessio nahm ihr das Oberteil ab, führte sie galant zur Umkleidekabine und widmete sich dann ihren Freundinnen.

»Was kann ich denn für euch tun, ihr Hübschen?«

»Ja, ich weiß nicht, wir gucken mal.«

»Sanni, hast du das schon an?«

»Gleich, stress’ mal nicht.«

Alessio änderte seine Strategie, denn die Beta-Weibchen waren anscheinend noch nicht zum Kauf bereit.

»Ihr werdet sehen, das Oberteil steht ihr ganz hervorragend. Ich erkenne eine Frau mit Stil auf den ersten Blick. Und sie hat Stil.«

»Oh, das ist voll geil! Kommt mal gucken!«

Die Laune der zwei wartenden Frauen änderte sich schlagartig.

Strahlend stand die Schwarzhaarige vor dem Spiegel und bewunderte ihren neuen Look. »Er hat echt Recht gehabt. Guck mal, die Steine sind genau die gleiche Farbe wie mein Lidschatten.«

»Ja, das steht dir total gut.«

»Ja, wirklich, endschön.« Dann drehte sie sich Alessio zu und fragte: »Ich nehme das, was kostet das denn?«

Alessio grinste innerlich. Obwohl die Mädels sich nur unterstellen wollten, hatte er ihnen etwas verkaufen können. Jetzt musste er den Fisch nur noch an Land ziehen. »Lass mich kurz in den Computer schauen. Das ist heute ganz frisch reingekommen, sehr exklusiv. Ich hab’ noch nicht alle Preise im Kopf.« Der erste Teil war die Wahrheit, der zweite gelogen. Alessio wusste um den hohen Preis, doch mit dieser Pause gab er der Kundin Zeit, sich mental auf den Kauf vorzubereiten. Meist wartete er an dieser Stelle, bis der Käufer sein Portemonnaie zückte oder sich jemand zweites positiv über den Artikel äußerte. Wie in diesem Fall.

»Boah, Hasin, wird total begeistert sein. Wirklich!« Die zwei Frauen grinsten die Schwarzhaarige an. Es war an der Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen.

»150 Euro«, erklärte Alessio lächelnd. »Möchtest du es sofort anziehen?«

»Boah, so teuer ist das?« Sie blickte erst Alessio, dann ihre Freundinnen zweifelnd an.

»Ja, die kommen auch nicht so schnell wieder rein. Davon wurden nur ganz wenige produziert.«

Es entstand ein kurzes Schweigen. Die Köpfe der Frauen rotierten.

Jetzt senkten die drei ihre Stimmen, so als ob Alessio sie dann nicht verstehen könnte. »Wenn ich das kaufe, bin ich pleite.«

»Oh mein Gott, hast du keinen Dispo?«

»Dann soll doch Hasin dir Geld geben.«

Doch die Argumente ihrer Freundinnen überzeugten sie nicht wirklich. Alessio wusste, was jetzt kam. Es war der unbedingte Wunsch etwas zu besitzen, was man sich eigentlich nicht leisten konnte. Sie würde anfangen zu feilschen oder die Ware schlecht zu machen. Oder beides. »Kann man da am Preis noch was machen?« Prüfend hielt sie es hoch und inspizierte das Top.

»Leider nein. Wie gesagt, die werden sehr schnell ausverkauft sein.«

Immer noch starrte sie auf das Oberteil.

»Du, es war auch nur eine Idee. Soll ich es wieder zurücklegen?«

Doch sie ignorierte die Frage. »Guck mal, hier sind voll die Materialfehler drin.«

Alessio verdrehte die Augen.

Die Schwarzhaarige knallte das Tanktop auf den Tresen und zeigte mit ihren langen Fingernägeln auf die Naht am linken Rand. »Hier, da lösen sich schon die Fäden.«

Alessio nahm das Oberteil in die Hand, warf einen kurzen Blick darauf und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass sie Recht hatte. Dennoch ließ er sich nicht erweichen. »Möchtest du ein anderes haben? Ich kann dir schnell eins in deiner Größe raus suchen.«

»Kann ich das nicht billiger haben?« Es war mehr eine Forderung als eine Frage.

»Nein. Ich verkaufe dir gerne ein qualitativ gutes Stück. Aber billiger kann ich das leider nicht machen.«

»Oh, Mann, warum denn nicht? Willst du das jemandem verkaufen, der das nicht sieht, oder was?«

»Nein, das geht an den Hersteller zurück.« Alessios Laune war innerhalb weniger Sekunden drastisch gesunken.

»Ich glaube, das ist alles B-Ware hier. Du verkaufst voll den Schrott und willst mich noch abziehen.«

Ohne sie eines Blickes zu würdigen, faltete er das Oberteil zusammen. »Wie gesagt, du musst es ja nicht kaufen.«

»Mach ich auch nicht. Ganz bestimmt nicht!« Alle drei Frauen blickten Alessio empört an.

»Dann muss ich euch jetzt leider bitten, zu gehen.«

»Was soll das denn? Es regnet noch voll draußen!?«

»Ja, das geht echt nicht.«

Gelassen blickte Alessio in die wütenden Gesichter. »Doch, das kann ich. Ich habe hier Hausrecht. Und da ihr nichts kaufen wollt, schmeiße ich euch jetzt raus.«

»Boah, so ein Arschloch!«

»Hurensohn!«

Sie waren außer sich, verließen ›La Madre Maria‹ aber trotzdem. Als die letzte des Trios in den Regen hinausgetreten war, rief ihr Alessio »Tür zu!« hinterher. Einen kurzen Moment beobachtete er sie, wie sie mit ihren Handtaschen über den Köpfen durch den prasselnden Regen liefen. Dann wandte er sich wieder seinen Textilien zu.

Alessio war nicht über das Verhalten seiner Kundschaft erbost. Er kannte solche ›Damen‹ zur Genüge. Sie neigten zu Dramen und Selbstüberschätzung. Er mochte sie am liebsten, wenn sie gezahlt hatten und den Laden wieder verließen.

Was ihn wirklich entsetzte, war die offensichtlich schlechte Qualität seiner Ware, die sich grade bei jungen Damen großer Beliebtheit erfreute. So beliebt, dass er schnell gemerkt hatte, wie er die Gewinnspanne maximieren konnte.

Am Dortmunder Flughafen kam einmal im Monat B-Ware aus Mailand an. Artikel, die minimale Fehler aufwiesen und in der Stadt der Mode nicht verkauft werden konnten. Diese Produkte konnte man für einen Bruchteil des eigentlichen Preises einkaufen, allerdings musste man sie im Verkauf auch als solche auszeichnen. Dieses Detail überging Alessio. Ohnehin fehlte seiner Bochumer Kundschaft der Blick für Qualität, so glaubte er. Also sparte er sich die Reisekosten nach Italien sowie die hohen Einkaufspreise und kaufte seine Ware in Dortmund ein.

Es waren nur wenige Händler, die von dieser Quelle wussten und die wahrten ihr Geheimnis.

05

So schnell, wie der Wolkenbruch gekommen war, so schnell war er auch wieder vorbei. Die Wolken hatten sich gelöst und die Sonne knallte erbarmungslos auf die Innenstadt. Es wurde schwül.

Während das verdunstende Regenwasser langsam über den Dächern des Bochumer Stadtkerns aufstieg, stand Hendrik auf seinem kleinen Balkon und blickte hinab in den Innenhof zwischen Massenbergboulevard und Huestraße. Seine Wohnung lag mitten im Herzen Bochums. Doch ausgerechnet hier, genau zwischen den neu gestalteten Paradestraßen des Zentrums, bot sich ein trübes, dreckiges Bild, was nur wenige Passanten zu Gesicht bekamen. Der Innenhof zwischen den Häuserzeilen glich einer Festung, deren einzige Zufahrt über ein großes Tor zur Fußgängerzone geregelt wurde. Nur wenige der dreckig-weißen Fassaden verfügten über Balkone. Die restlichen Wände ließen nur durch kleine Fenster wenig Licht in die Wohnungen und Büros.

Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich der Hinterausgang Bochums berühmtester Eisdiele, um deren Besitzer sich die typischen Gerüchte rankten. Die aus Neapel stammenden Betreiber gehörten angeblich zum Umfeld der Camorra. Das Gleiche galt für den Dönerladen, der sich schräg unter Hendriks Wohnung befand. Doch Hendrik war das egal, er genoss die Anonymität dieses Häuserblocks.

Grade hatte er bei einer Zigarette den Ärger des Tages verdaut, da klingelte es an der Tür. Hendrik schnippte die Kippe in den Hof, ging durchs Wohnzimmer zum Eingang, drückte den Öffner und wartete auf seinen Besucher. Vom Türrahmen aus hatte er einen guten Überblick auf das Treppenhaus. Schwere Schritte näherten sich und dann kam Dennis die Stufen hinauf. Er schlang einen dick belegten Döner in sich rein und grinste ihn dabei schief an. Er war klitschnass.

»Wie siehst du denn aus?«

»Na, alles klar?« Dennis kommentierte sein Äußeres nicht weiter.

Doch Hendrik bohrte nach. »Haste deinen Regenschirm vergessen?«

»Ach, Alter, Ricky wollte mich fahren, aber der ist mir auf den Sack gegangen. Da bin ich halt gelaufen.« Schmatzend trat Dennis ein und machte es sich in der Küche bequem.

»Alter, der tut immer so, als wäre er der Geilste. Meint immer, er weiß alles.«

Er schluckte einen großen Bissen herunter und fuhr dann fort. »Weiß er aber nicht.«

»Hauptsache, du hast den Durchblick.« Er grinste seinen Freund an und schüttelte dabei den Kopf.

»Jau, hab ich. Alles fit bei dir?«

Die zwei kannten sich schon aus dem Kindergarten. Sie waren zusammen groß geworden, hatten sich aber nach der Grundschule aus den Augen verloren. Während Hendrik auf dem Schiller-Gymnasium Abitur gemacht hatte, war Dennis nach dem Realschulabschluss in eine Ausbildung als Fliesenleger gegangen. Erst später im Bermuda-Dreieck liefen sie sich wieder über den Weg und verbrachten viele Abende zusammen in den Clubs des Ruhrgebiets.

»Ja, geht«, antwortete Hendrik kurz angebunden.

»Alter, ich versau’ dir deine ganze Wohnung mit meinen nassen Klamotten!«

Hendrik lachte. »Schön, dass du es selber merkst« und warf ihm ein Trockentuch zu.

Während Dennis sich oberflächlich abtrocknete und dann auf dem Tuch Platz nahm, fuhr Hendrik fort. »Wir hatten heute eine Präsentation für einen wichtigen Kunden. Und weißt du, was passiert ist?«

Als Hendrik die Geschichte zu Ende erzählt hatte, schluckte Dennis den letzten Bissen seines Döners runter und sagte schmatzend »Was für eine kleine Mistsurge.«

»Jap, kannste wohl laut sagen.«

»Ja, und jetzt?«

»Was und jetzt? Ich kann nur hoffen, dass Asap Management weiter unser Kunde bleibt.«

»Ich kann nur hoffen, dass Asap Management weiter unser Kunde bleibt … Mähhhhh« äffte Dennis seinen Freund nach. »Du kannst dir doch nicht von der Alten die Wurst vom Brot nehmen lassen! Das meinte ich mit ›Und jetzt‹«

Hendrik wurde wütend. »Was soll ich denn jetzt deiner Meinung nach machen? Die Polizei holen und sie wegen Diebstahls meines geistigen Eigentums anzeigen?«

»Witzig. Alter, mach ihr mal klar, wer die Hosen anhat. Entweder sie stellt das richtig …«

»… Oder was? Soll ich ihr eine reinhauen? Dennis, wir sind hier nicht auf dem Bau. Ist dir schon klar, oder?«

Dennis verdrehte die Augen. »Ja, ja, ist klar. Das ist auch der Grund, warum ich kein Sesselfurzer geworden bin.«

Es verging eine kurze Pause des Schweigens. Dann fragte Dennis »Was ist denn jetzt, wenn ihr euren Kunden verliert?«

»Dann werden Stellen gekürzt und einer von uns muss gehen.« Ernst schaute Hendrik seinen Freund an.

»Ja, aber meinst du, die würden dich rausschmeißen?«

»Keine Ahnung. Ich bin länger da, deswegen sollten sie eigentlich Katja kündigen.«

»Dann geht’s ja.«

Aber es ging nicht. Tief im Inneren war Hendrik sich unsicher, ob es tatsächlich so sein würde. Katja war zu opportunistisch und falsch.

»Ja, aber so ist das halt. Im Grunde ist es mein Fehler. Ich hätte sie gar nicht erst auf meine Layouts gucken lassen dürfen. Passiert mir auch nicht noch mal.«

»Alter, warte doch erstmal ab. Vielleicht wird ja alles gut.«

»Ja, genau.« Hendrik musste über Dennis’ Unbekümmertheit lachen. »Manchmal will ich auch welche von deinen Pillen nehmen.«

»Hä?« Dennis verstand nicht. »Ich kiff’ nur ab und zu.«

Doch selbst diese Antwort auf einen nicht verstandenen Witz war eine Halbwahrheit. Denn mehr als ein Mal hatten er und Hendrik die Wochenenden auf Ecstasy und Speed verbracht. Doch das zählte jetzt nicht mehr, zu lange war die Zeit vorbei.

»Mmh … und das anscheinend zu oft« lachte Hendrik.

»Ach, Alter …« jetzt hatte sein Freund verstanden.

»Ganz genau.« Hendrik lachte.

»Aber wo du grade dabei bist …«

»Ja?«

»Drogen, dies, das … Ich brauch’ Stoff.«

Hendrik verdrehte die Augen. »Was für Stoff?«

»Testo. Oder Anabolika.«

»Mein Gott, nee. Warum brauchst du das?«

»Alter, ich will jetzt richtig Gas geben. Pumpen, verstehste?« Dennis lachte seinen Freund schief an.

»Und da fragst du mich?«

»Ja, nee … Ich mein ja nur. Wenn du mal was hörst, denk einfach an mich.«

Hendrik lachte wieder. Sein Freund Dennis war manchmal unfreiwillig komisch.

»Junge, du hängst doch jeden Tag im Fitness-Studio ab. Sind da nicht genug von den Ballerköpfen?«

»Ach, hör auf« empörte sich Dennis. »Ricky hat mir grade voll den Vortrag gehalten. Öh, ungesund und so« äffte er ihn nach.

»Hat er ja auch nicht Unrecht mit, oder?«

»Unrecht, Munrecht …« Dennis grinste. »Darum geht’s doch jetzt gar nicht. Es geht um das hier« und zeigte auf seinen angespannten Bizeps.

»Okay, okay, ich hab’ verstanden. Ja, wenn ich irgendjemanden treffe, der mir auf der Straße Anabolika verkaufen will, dann sage ich ›Ja, immer her damit!‹«

»Alles klar!« Beide schüttelten lachend den Kopf über ihren Blödsinn.

Dennis wechselte das Thema. »Was ist mit morgen Abend?«

»Da ist House Party im Zoes Club. Ich muss unbedingt feiern gehen, egal was morgen bei dem Meeting passiert.«

»Sauber« Dennis kniff ihm ein Auge zu. »Sollen wir mal wieder ein bisschen naschen?«

»Keine Ahnung, sollen wir?«

»Klar, die guten alten Diamanten« womit er auf die Ecstasy-Pillen anspielte, die eine diamantförmige Prägung hatten.

»Boah, ich weiß nicht …« rieb Hendrik sich angespannt die Hände. »Kann ich das spontan entscheiden?«

»Ich hol’ einfach welche, dann guckst du morgen mal.« Wieder kniff er ihm ein Auge zu.

»Ja, das hört sich nach einem Plan an.«

Seit Hendrik das Studium beendet hatte und einer geregelten Arbeit nachging, führte er ein eher solides Leben. Seine letzte Pillen-Party lag etwa zwei Jahre zurück – im Gegensatz zu Dennis, der als Fliesenleger von der Hand in den Mund lebte und sich mit Schwarzarbeit über Wasser hielt. Er kiffte fast täglich und war auch ansonsten nicht abgeneigt, wenn sich die Gelegenheit bot. Dennis feierte gern, genau wie Hendrik, der aber selten die Zeit dazu fand. Heute aber war es ihm egal, er musste einfach mal wieder Dampf ablassen. Ganz egal, was die nächsten Tage brachten, morgen war Spaß angesagt. Und mit Dennis an seiner Seite war mit äußerster Sicherheit dafür gesorgt.

»Okay, wann treffen wir uns morgen?«, fragte er Dennis.

»Hm, ich weiß nicht. Wann geht’s denn los?«

»Ach, ich denke mal, vor 23 Uhr brauchen wir da nicht auflaufen.«

»Alles klar, dann lass uns doch um elf vor dem Club treffen.«

»Was machst du vorher? Wenn du Lust hast, komm bei mir vorbei.«

»Ähhh … ich muss mal gucken.« Angestrengt tat Dennis so, als würde er nachdenken. »Ey, vielleicht treffe ich mich vorher noch mit Bianca.«

»Ja, guck einfach mal.« Hendrik wusste nur zu gut, dass Dennis sich auf jeden Fall mit dieser Bianca treffen würde, aber er traute sich nicht, ihm das so zu sagen. Also ließ er es bei dieser vagen Andeutung.

»Ach, Alter, kannst du mir fünf Euro leihen? Ich hab’ mein Portemonnaie zu Hause vergessen.« Erstaunt blickte Hendrik ihn an.

»Wofür?«

»Ich bin gleich auch noch mit Bianca verabredet.«

Hendrik lachte. »Wer ist eigentlich Bianca? Deine neue Perle?«

»Mann, das ist so eine Nutte von gestern Abend. Da war ich oben am Puff, weißte?«

»Und die lässt dich für fünf Euro ran?« Ungläubig blickte Hendrik ihn an.

»Nein, aber die Fahrt mit dem Taxi dahin kostet nur fünf Euro.«

Hendrik schüttelte nur noch den Kopf. »Und dann haste immer noch kein Geld zum Ficken.«

Jetzt grinste Dennis. »Die Alte lässt mich umsonst rüber rutschen.«

»Na klar …«

Als Dennis gegangen war, schüttelte Hendrik immer noch den Kopf über seinen Freund. Er war definitiv unterhaltsam, aber auch hochgradig verrückt.

Mit geöffneten Fenstern legte Hendrik sich auf sein Bett und genoss den aufkommenden Abendwind, der die Hitze aus dem Gebäude trieb. Er versuchte einzuschlafen, aber seine Gedanken wechselten immer zwischen der morgigen Party und der Präsentation bei Asap Management hin und her. Fuck, Dennis hätte ihm etwas Gras da lassen sollen. So schlief er erst weit nach Mitternacht ein.

06

Laut wummerte der Bass durch Zoes Club. Hendrik stand an der Bar und nahm seinen Weinbrand-Cola entgegen. Der Club war brechend voll, die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Nachdem er am Morgen das Meeting bei Asap Management hinter sich gebracht hatte, nahm er sich einen halben Tag frei und bereitet sich auf den Abend vor. Dennis war natürlich erst um elf Uhr vor dem Club erschienen, aber das machte Hendrik nichts aus. Schließlich hatte er es vorher gewusst. Jetzt beobachtete er seinen Freund wild feiernd auf der Tanzfläche. Um seinen Hals hatte sich eine zierliche Blonde geklammert. Dennis grinste zu Hendrik rüber. Im selben Moment spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Es war Alessio, der plötzlich neben ihm stand.

»Hallo, mein Freund!« Überschwänglich lächelte Alessio ihn an.

»Alessio, wie geht’s dir?«

»Schön, dich zu sehen. Heute mal nicht Business-Like?«

Die zwei kannten sich aus ›La Madre Maria‹, wo Hendrik in der Regel seine berufliche Kleidung kaufte.

»Ach, hör auf. Mit ein bisschen Pech hat sich das bald erledigt.«

»Warum? Willst du dich anders orientieren?«

»Nee, unser wichtigster Kunde springt vielleicht ab. Aber egal, lass uns heute Abend nicht darüber sprechen.«

»Ganz wie du willst. Mit wem bist du hier?«

Hendrik deutete auf Dennis, der just in diesem Moment mit der Blonden von der Tanzfläche verschwand.

»Mit dem Verrückten da«, kommentierte Hendrik das Geschehen.

Alessio lachte. Er kannte die kleine Blonde. Sie war Aushilfe in seiner Boutique.

»Siehst du die andere dort? Etwas größer als die von deinem Freund?«

Hendrik ließ seinen Blick durch die Menge schweifen und entdeckte eine vollbusige Brünette, die ihrer Freundin schmunzelnd hinterherschaute.

»Das ist Nicole, Jessys Freundin.« Anscheinend war Jessy Dennis’ neue Eroberung.

»Die ist geil. Ist die genauso einfach zu haben wie Jessy?« Hendrik lachte höhnisch.

»Du, das musst du schon selbst rausfinden.« Alessio hob eine Augenbraue und blickte Hendrik herausfordernd an. Hendrik blickte zurück und schaute Alessio lang in die Augen. Es war ein stilles Duell, das nur auf eine Sache hinauslaufen konnte. Hendrik trank sein Glas in einem Zug leer und verschwand auf der Tanzfläche.

Als er sich durch die Masse der Tanzenden zu Nicole durchgezwängt hatte, war sie in ein Gespräch mit einem anderen Typ verwickelt. Doch diesmal hatte Hendrik nicht vor, kampflos aufzugeben.

Er stellte sich zwischen ihn und Nicole, schaute sie an und fragte, ob sie tanzen wolle. Erstaunt und sprachlos blickte sie ihn an. »Sag mal, geht’s noch?« Ihr Gesprächspartner schrie ihm von hinten ins Ohr, kam aber nicht an Hendrik vorbei.

»Ja oder nein?« Er ignorierte seinen Konkurrenten und fixierte weiter Nicole.

»Ja, okay« grinste sie. »Bin gleich wieder da, Hase!«

Triumphierend nahm Hendrik ihre Hand und führte sie in die Mitte der Halle. Als sie vor ihm ihren Körper bewegte, betrachtete Hendrik Nicole. Sie war etwas älter als ihre Freundin Jessy, hatte schöne glänzende Haare und große Brüste. Er konnte einfach nicht anders und legte seine Hände auf ihre Hüften. Sie lächelte ihn an. Nach kurzer Zeit fragte Hendrik »Kommst du mit zur Bar? Ich muss dringend etwas trinken.«

Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und flüsterte »Hast du nichts anderes außer Drinks drauf?«

Erstaunt schaute er sie an, dann grinste er. »Was suchst du denn?«

Sie streckte den Busen heraus, senkte den Kopf und formte das Wort »Speed« mit ihren Lippen.

Hendrik lächelte verschwörerisch. »Ich steh’ heute eher auf Liebe.«

Nicole zog einen Schmollmund und erwiderte »Pillen tun es natürlich auch.«

»Okay, dann warte an der Bar auf mich, bin sofort wieder da.«

»Lass mich nicht zu lange warten …«, rief sie ihm hinterher, als Hendrik sich auf die Suche nach Dennis machte.

Auf dem Weg zur Herrentoilette lief er in ihn hinein. Im Schlepptau zog er Jessy hinter sich her.

»Alles fit, Junge?« Dennis grinste über das ganze Gesicht.

»Klar.« Hendrik blickte kurz zu Jessy rüber, dann wieder fragend zurück zu Dennis.

Der kniff ihm ein Auge zu. Das war Antwort genug.

»Sauber«, lobte Hendrik ihn, »Gib mal zwei Pillen, bitte.«

»Na logo.« Dennis griff in seine Tasche und reichte Hendrik die Hand. Schon hatten die Drogen den Besitzer gewechselt.

»Wohin?«, fragte Dennis.

»Nicole war so einsam ohne sie.« Hendrik deutete zur Bar rüber und dann zu Jessy. Beide lachten. »Bis gleich.«

Als Hendrik zurück an der Bar war, suchte er nach Nicole. Hatte sie nicht grade eben noch hier gesessen? Doch dann stand sie wie aus dem Nichts wieder vor ihm. Sie prostete ihm mit einem Longdrink zu, dann nahm sie einen tiefen Schluck.

»Hast du was für mich?« Kokett grinste sie ihn an.

Wortlos legte sich Hendrik eine Pille auf die Zunge, nahm ihr Glas und spülte sie runter. Es kribbelte wie früher. Der Geschmack einer 9-Volt-Batterie machte sich in seinem Mund breit. Gleich würde sich die Energie der Liebe in ihm und Nicole ausbreiten und er würde fliegen. Doch als sie die Pille geschluckt hatte, küsste sie ihn auf die Wange und verabschiedete sich mit den Worten »Ich bin wieder bei meinem Freund. Danke, Süßer!«

Er konnte es nicht fassen. Sprachlos stand er an der Bar und schaute Nicole hinterher, die ihren Freund innig küsste.

Plötzlich stand Alessio neben ihm. »Anscheinend nicht.«

»Hä?« Hendrik war völlig verwirrt.

»Anscheinend ist sie nicht so leicht rumzukriegen wie Jessy.«

Hendrik gewann die Fassung zurück. »Ja, das ist wohl wahr.«

»Komm, lass uns nach oben gehen.«

Der obere Bereich des Clubs war mit riesigen Himmelbetten ausgestattet. Hier tummelten sich Pärchen oder Cliquen, die zusammen tranken und chillten. Es war so etwas wie der Ruhebereich der Diskothek. Sie bestellten weitere Longdrinks und setzten sich auf ein freies Bett am Rand der Empore. »Wie geht’s dir, Alessio?«

»Bestens. Könnte nicht besser laufen. Aber was ist bei dir los?«

»Wir hatten heute Morgen eine Präsentation bei einem der wichtigsten Kunden der Agentur. Wenn wir den verlieren, dann werden Stellen gestrichen.« Hendrik hatte die Situation in zwei Sätzen zusammengefasst.

»Oh, das tut mir leid zu hören, mein Freund. Hast du einen Plan B?«

»Bisher nicht. Aber ganz ehrlich kotzt mich dieser Job auch irgendwie an.«

»Wie lange machst du den denn schon?« Zweifelnd schaute Alessio ihn an.

»Ein paar Jahre. Aber ich suche etwas anderes. Irgendwas, wo ich mich selbst verwirklichen kann. Nicht dieses von 9-bis-5-Rumgehure.«

»Dann mach dich selbstständig, so wie ich.«

»Wie denn, ohne Startkapital und ohne Kunden?«

»Na ja, das Startkapital kriegt einer wie du doch von Papi, oder?« Frech grinste er.

»Blödmann.« Hendrik lachte zurück. »Aber irgendwie weiß ich auch nicht, ob ich diesen Job weiter machen will.«

Schweigend saßen sie nebeneinander und tranken ihre Longdrinks. Dann ergriff Alessio wieder das Wort. »Hast du jetzt schon eine Sinnkrise? Du bist doch grade mal Mitte zwanzig.«

»Ich weiß auch nicht … im Moment kotzt mich alles nur noch an.«

»Okay, aber dann frag dich doch mal, was du wirklich willst.«

»Das kann ich dir sagen.« Hendrik trank sein Glas leer. »Ich will das machen, was mir Spaß macht, und keinem Rechenschaft ablegen. Ich will für mich selbst verantwortlich sein, ohne diese ganzen Schmarotzer um mich herum.«

»Wow, das klingt nach einem Plan.« Alessio wurde sarkastisch.

»Ich habe auch nicht behauptet, einen zu haben. Aber geht’s dir nicht besser, wo du doch selbstständig bist?«

»Ja, vielleicht. Aber der Stress bleibt immer der Gleiche. Gestern zum Beispiel …«

Als Alessio die Geschichte der drei Kundinnen erzählt hatte, war Hendrik immer noch nicht schlauer.

»Der Punkt ist, ich hätte ihr das Teil günstiger geben können. Aber ich verkaufe mich doch nicht unter Wert.«

Hendrik wurde warm. Er spürte förmlich, wie die Wirkung der Droge einsetzte. Lächelnd schaute er Alessio an.

»Danke, dass du mir das alles erzählst.«

Alessio grinste und musste dann lachen. »Du bist ja voll drauf.«

»Ja, und ich liebe es!«, rief er laut aus. Dann umarmte er seinen Freund und küsste ihn auf den Kopf.

Im selben Moment tauchte Dennis auf.

»Na, ihr zwei Homos, fickt ihr euch gleich gegenseitig in den Arsch?« Dreckig grinste er die beiden an.

»Ja, und dich will ich auch ficken, du Schwulette!« Er umarmte auch Dennis.

Sie lachten laut »Du hast so einen an der Klatsche, Alter!«

»Das ist übrigens Alessio, Alessio, das ist Dennis.«

»Das ist toll, Jungs«, bemerkte Alessio. »Ich hoffe, ich bleibe bei eurem Techtelmechtel außen vor, ja?«

»Hey, lass uns alle tanzen gehen!«

»Eine Sache noch«, unterbrach Alessio Hendrik. »Wenn du dich wirklich selbstständig machen willst, dann wirst du früher oder später alles in eine Waagschale werfen müssen. Und dann fängt dich keiner auf, wenn du fällst. Das ist die Sicherheit, die du verlierst. Willst du das wirklich?«

»Na klar, Alessio, du wirst da sein. Und Dennis und Nicole. Und Jessy!« Er umarmte Alessio noch mal und stürmte dann mit Dennis im Schlepptau nach unten auf die Tanzfläche.