Husky-Winter - Christopher Ross - E-Book

Husky-Winter E-Book

Christopher Ross

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Beschreibung

Sie droht alles zu verlieren – auch ihr Herz. Reise mit uns in die Vergangenheit und erlebe eine Liebe, die auch die größten Stürme übersteht. Das neue Romantikabenteuer von Erfolgsautor Christopher Ross! Alaska, 1929: Josie hat der Postbehörde gerade bewiesen, dass auch sie als junge Frau die langen Post-Routen mit dem Huskyschlitten schafft. Da bewirbt sich der Postflieger Jimmy mit seinem Flugzeug für genau die gleichen Strecken! Zur Entscheidung sollen die beiden in einem Wettlauf gegeneinander antreten. Aber als Jimmy im Schneesturm verschwindet, wird der Sieg immer unwichtiger. Besorgt macht sich Josie mit ihren Huskys auf die Suche nach dem Piloten. Denn auch wenn sie droht alles an ihn zu verlieren … ihr Herz ist längst schon sein. Eine mutige Frau vor der wilden Kulisse Alaskas im Wettlauf gegen die Zeit!

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Über das Buch

Alaska, 1929: Josie hat der Postbehörde gerade bewiesen, dass auch sie als junge Frau die langen Post-Routen mit dem Huskyschlitten schafft. Da bewirbt sich der Postflieger Jimmy mit seinem Flugzeug für genau die gleichen Strecken! Zur Entscheidung sollen die beiden in einem »Wettlauf« gegeneinander antreten. Aber als Jimmy im Schneesturm verschwindet, wird der Sieg immer unwichtiger. Besorgt macht sich Josie mit ihren Huskys auf die Suche nach dem Piloten, in den sie sich verliebt hat … Eine mutige Frau, ihre Huskys und ein gefährliches Abenteuer: der neue Alaska-Roman von Christopher Ross!

Inhalt

Über das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

1

Als Josie am frühen Morgen aus dem Blockhaus trat, spürte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Eigentlich war alles wie immer. Nordlicht flackerte in allen Farben über den Himmel und färbte den Neuschnee auf der Lichtung. Frischer Wind verfing sich in den Schwarzfichten und trieb ihr die eisige Kälte ins Gesicht. Die Huskys waren unruhig und heulten und jaulten um die Wette, begierig darauf, ihren Hunger zu stillen. Selbst die Tür des Schuppens war wieder mal aufgesprungen und klapperte nervös. Ein Morgen wie jeder andere in Alaska.

Doch sie lebte schon zu lange in der Wildnis, um sich davon täuschen zu lassen. Seit ihr Vater auf seinen Hundeschlitten gestiegen war, nagte dieses quälende Gefühl an ihr, ihm könnte etwas passieren. Vor der Abfahrt war er nervöser als sonst gewesen, nicht nur wegen seiner kranken Mutter, die sich ständig darüber beklagte, dass er sie während seiner Touren so lange allein ließ. Irgendetwas anderes beschäftigte ihn.

Ihr Vater besaß einen Vertrag mit dem US Post Office Department, brachte einmal im Monat die Post in die abgelegenen Dörfer der Goldgräber und Fallensteller am Lake Minchumina. »Und wenn du zu Hause bist, hängst du in der Stadt rum und kümmerst dich nicht um mich«, beschwerte sich seine Mutter. Seit ihre Gelenkschmerzen schlimmer geworden waren, saß sie meist im Rollstuhl und war auf fremde Hilfe angewiesen. Auch jetzt schimpfte sie wieder. »Beeil dich gefälligst mit den Hunden!«, rief sie Josie zu. »Höchste Zeit, mich anzuziehen und zu waschen. Nach dem Frühstück brauch ich eine Massage. Ich hab wieder Schmerzen!«

»In ein paar Minuten bin ich bei dir, Grandma«, erwiderte sie.

Die Huskys waren noch ungeduldiger als ihre Großmutter und schnappten gierig nach ihr, als sie mit dem Futtereimer erschien. Gekochter Lachs mit Reis, mit lauwarmem Wasser vermischt, damit sie auch in der Kälte genug Flüssigkeit bekamen. Ihr Vater war mit acht Huskys unterwegs, zurückgeblieben waren sechs Huskys, die sie nicht als »zweites Team«, sondern als »gleichwertige Back-ups« bezeichnete, ein Gespann, um das sie zahlreiche Musher beneidet hätten. Allen voran der verlässliche Buddy. Josie war öfter mit den Back-ups unterwegs und verstand sich besonders gut mit dem Leader.

Wie alle Leithunde bekam Buddy sein Fressen zuerst. Wohl auch um seine Würde als Anführer zu unterstreichen, fraß er nicht ganz so gierig wie Bear und Niko, zwei ausgewachsene Kraftpakete, die sich sogar mit einem Elch anlegen würden. »Immer mit der Ruhe«, sagte Josie, als sie die Futtertröge der beiden füllte. »Es nimmt euch keiner was weg! Das gilt auch für dich, Blacky!« Blacky lief im Gespann hinter Buddy und hielt sich für was Besseres, würde in einer Gefahrensituation aber niemals so ruhig wie Buddy bleiben.

An diesem Morgen sprach Josie nur wenig mit den Hunden. Immer wieder glitt ihr Blick über die Lichtung und die Wälder zu den Bergen der Alaska Range, die im Licht des halben Mondes noch geheimnisvoller aussahen. Vierzehn Tage brauchte ihr Vater normalerweise für eine Tour. Fünfzehn waren bereits seit seinem Aufbruch vergangen. Noch kein Grund, unruhig zu werden, auf so einer langen Tour konnte immer etwas Unvorhergesehenes geschehen und für eine Verzögerung sorgen, doch ihr Vater hatte erst einmal länger als vierzehn Tage gebraucht, und damals hatte ihn ein gewaltiger Blizzard gezwungen, drei Tage in einer der Siedlungen zu verbringen. Während der letzten drei Wochen war das Wetter stabil gewesen, auch in den Bergen.

Josie schob ihre Kapuze nach hinten und strich einige ihrer braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Unter der Kapuze lösten sie sich öfter aus dem Knoten, den sie im Nacken band. Ihre Haut war von der Kälte gerötet, ihre Augen kniff sie leicht zusammen, wie immer, wenn sie in die Ferne spähte. Die Kapuze ihres weinroten Anoraks, mit Vielfraßpelz abgesetzt, weil der in der eisigen Kälte nicht verkrustete, bauschte sich im frischen Wind auf.

»Bis später!«, rief sie den Hunden zu, alles Huskys, besonders widerstandsfähige Schlittenhunde mit dickem Fell und kräftigen Beinen. »Sobald ich Grandma versorgt habe, gehen wir auf Tour, einverstanden?« Nur weil die Hunde mit Fressen beschäftigt waren, kam keine Zustimmung.

Josie kehrte ins Haus zurück und zog ihren Anorak aus. Darunter trug sie Wollhosen und einen Pullover, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sie wusste selbst, dass sie darin wenig attraktiv wirkte, aber solange sie im Haus arbeitete oder mit den Huskys unterwegs war, ließ sie ihre beiden Kleider im Schrank. Ein einfaches Hauskleid und ein hübsches für Festtage.

»Da bist du ja endlich«, sagte ihre Großmutter. Sie hatte ihr eigenes Zimmer neben dem Wohnraum, um jederzeit von einem Zimmer ins andere rollen zu können. »Bist du endlich mit den Hunden fertig? Lässt dir viel Zeit mit ihnen. Ich wäre schon froh, wenn du halb so viel Zeit für mich übrig hättest.«

»Eins nach dem anderen, Grandma. Ich geb mir alle Mühe.«

»Hilf mir auf den Nachtstuhl, sonst gibt’s ein Unglück!«

Josie machte sich an die Arbeit. Sie mochte ihre Großmutter, eine immer noch stämmige Frau mit grauen Augen, die sich misstrauisch in ihrem verwitterten Gesicht bewegten, und mit ihrem leichten Buckel, der sie wie eine Hexe aus dem Märchen aussehen ließ – wenn Josie das auch niemals gesagt hätte. Ihr reichte schon, sich ständig vor ihrer Großmutter rechtfertigen zu müssen. Seit sie an den Rollstuhl gebunden war, glaubte sie, sich alles erlauben zu können. Josie ließ ihr vieles durchgehen, auch weil sie wusste, dass ihr Großvater im Krieg gegen die Spanier gefallen war und ihre Großmutter mit dem Verlust nicht zurechtkam. Ähnlich wie Josies Vater, der nicht verstanden hatte, warum ausgerechnet seine Frau der Spanischen Grippe zum Opfer gefallen war. Josie war damals fünfzehn gewesen und hatte erst sehr viel später begreifen können, wie stark diese Grippe, wie sie jeder genannt hatte, in den Staaten und auch im Territorium von Alaska gewütet hatte. Über zwanzig Millionen Menschen waren gestorben.

Josie vermisste ihre Mutter, eine warmherzige Frau, die während des Großen Krieges und in den Jahren danach als Krankenschwester gearbeitet und sich wohl deshalb angesteckt hatte. Josies Großeltern mütterlicherseits lebten noch, waren aber nach dem Tod ihrer Tochter nach Kalifornien zurückgekehrt. Josie hatte nie mehr von ihnen gehört. Anscheinend hatten sie versucht, alle Brücken hinter sich abzubrechen. Der Tod ihres geliebten Kinds hatte sie bis ins Mark erschüttert.

»Eine starke Frau mit großem Herzen« stand auf dem Grabstein von Josies Mutter, das Motto, nach dem auch sie ihr Leben ausrichtete. Nur deshalb hatte sie ihren Vater und ihre Großmutter auch als Erwachsene nicht verlassen. An ihr eigenes Glück hatte sie dabei weniger gedacht. Sie hatte noch nie einen Heiratsantrag bekommen, hätte aber jedem Mann, der es versuchte, einen Korb gegeben.

Grandma war erstaunlich schwer, und obwohl sie sich zwischen ihren Schüben einigermaßen bewegen konnte – allerdings nur unter großen Schmerzen –, unterstützte sie Josie kaum dabei, ihr auf den Nachtstuhl zu helfen. Josie zog den Vorhang zu, füllte eine Schüssel mit heißem Wasser vom Herd und machte das Bett, bis ihre Großmutter nach ihr rief und sie mit dem Waschen und Anziehen begann. Selbst beim Kämmen und Knoten ihrer weißen Haare musste sie ihr helfen. Wieder im Rollstuhl, schob sie Grandma an den Tisch im Wohnraum und reichte ihr einen Becher mit heißem Tee.

Das Blockhaus, in dem sie wohnten, hatte zwei Stockwerke. Im Erdgeschoss lagen der Wohnraum, Grandmas Zimmer und die Küche, im ersten Stock das Schlafzimmer ihres Vaters und ihr eigenes Zimmer sowie ein Gästeraum, den Josie gern vermietet hätte, schon wegen des Geldes, aber ihr Vater war dagegen. Außerhalb vom Haus lagen ein Schuppen und das Toilettenhaus sowie die Schlafplätze der Hunde. Die Huskys brauchten keine Hütten, sie schliefen am liebsten im Freien und fühlten sich sogar in extremer Kälte wohl.

»Du sollst doch nicht so viel Laudanum trinken«, sagte Josie, als sie das Rührei vom Herd nahm und sah, wie Grandma einen Schluck aus der Flasche nahm. »Laudanum ist Opium mit Alkohol, sagt Doc Snyder, giftiges Zeug!«

»Es hilft mir aber. Und wie du siehst, lebe ich noch.«

»Aber sei vorsichtig damit. Ein Schluck reicht für den ganzen Tag.«

»Mach dich nicht lächerlich! Der Doc hat gesagt, ich soll das Zeug schlucken, wenn die Schmerzen zu stark sind, und heute Morgen sind sie zu stark.«

»Ich meine es doch nur gut mit dir, Grandma.«

»Gib mir lieber das Rührei. Und Weißbrot. Du hast doch Weißbrot?«

»Nur Sauerteigbrot. Das schmeckt sowieso besser als Weißbrot.«

»Mein Wonderbread lass ich mir nicht nehmen.«

Die geschnittenen Weißbrotscheiben waren erst seit einigen Jahren auf dem Markt und in Alaska schwer zu bekommen. »Ich fahre nachher in die Stadt und schaue mal nach, ob Northern Commerce was vorrätig hat. Neue Erdnussbutter besorge ich auch, okay?« Erdnussbutterbrote mit Marmelade gehörten zu Grandmas Lieblingsspeisen.

»Nimm am besten zwei Gläser. Wo bleibt eigentlich dein Vater?«

»Keine Ahnung … er müsste längst hier sein.«

»Wie lange ist er schon weg? Fünfzehn Tage?«

»Fünfzehn«, bestätigte Josie.

»Dann kommt er sicher heute. Spätestens morgen.«

»Ich höre mich mal um. Vielleicht hat ihn jemand gesehen.«

Nach dem Frühstück hüllte Josie ihre Großmutter in eine warme Wolldecke und spülte ab. Obwohl der Herd genügend Hitze ausstrahlte, schürte sie das Feuer im offenen Kamin an und legte einige Holzscheite auf einen Hocker, den Grandma bequem von ihrem Rollstuhl erreichen konnte. Auf dem Tisch brannte die Petroleumlampe. Ihr Blockhaus lag nur eine Meile vom Stadtrand entfernt, war aber nicht an das Stromnetz der Stadt angeschlossen.

Grandma trank von ihrem Laudanum. »Am besten fährst du gleich los«, sagte sie. »Und vergiss nicht, mir eine neue Flasche Laudanum mitzubringen. Das Zeug hält leider nicht lange.« Als hätten sie nie darüber gesprochen.

Josie wollte keine weitere Diskussion. »Ich nehme den Schlitten. Die Hunde brauchen dringend Auslauf. Bis heute Nachmittag bin ich wieder hier.«

»So lange willst du wegbleiben?«

»Du hast alles, was du brauchst, Grandma.«

»Vergiss nicht, nach Ben zu fragen!«

Ben war der Name ihres Vaters. »Old Ben Haskell« nannten ihn die Einheimischen, die ihn noch als erfolgreichen Fallensteller und Waldläufer kannten. Er stammte aus Oregon, war wegen des Goldrauschs zum Klondike in Kanada gekommen, hatte dort gerade so viel verdient, wie man zum Leben brauchte, hatte es in Nome ebenso erfolglos versucht und war um 1903 in Fairbanks aufgetaucht. Dort war er endlich fündig geworden, aber hauptsächlich als Jäger und Fallensteller. Die Goldnuggets, die in seiner Schüssel geblieben waren, hatte er in acht Huskys und einen Schlitten investiert und sich einen Namen als Musher gemacht. So nannte man in Alaska die Hundeschlittenführer.

Beim Anblick ihrer Hunde besserte sich Josies Laune zusehends. »Hab ich’s euch nicht gesagt? Wir gehen auf Tour!« Sie holte den zweiten Schlitten aus dem Schuppen und spannte die Hunde an, jeweils drei auf beiden Seiten der Führungsleine. Noch bevor es losging, zerrten die Hunde an den Geschirren, und als sie den Anker aus dem Schnee zog und »Vorwärts! Go! Go!« rief, zogen sie so heftig an, dass Josie beinahe von den Kufen fiel. Im flotten Tempo ging es zur Straße nach Fairbanks hinauf. Eigentlich mehr ein Trail, gerade mal breit genug für einen Hundeschlitten. Bisher hatten sich nur wenige Autofahrer zu ihnen gewagt. Wenn, dann natürlich im Sommer, wenn kein Schnee lag, dafür Schlamm, in dem sie beinahe versanken.

Sie fuhr an der Stadt vorbei und über einen schmalen Trail nach Nordosten, bis fast in die Ausläufer der White Mountains, die sich jenseits des Chatanika River erhoben. Über den Bergen zeigte sich bereits ein heller Schimmer und vertrieb die Sterne. Der Schnee reflektierte jedes bisschen Helligkeit und schuf ein scheinbar künstliches Licht, das viele Leute als arktisches Zwielicht bezeichneten. Die Hunde waren froh, sich wieder bewegen zu können, genossen die rasante Fahrt über den geebneten Trail. Eine Rundstrecke, die bis zum Ufer des Chatanika River und in einem großen Bogen nach Fairbanks zurückführte. Abseits der Stadt waren das Scharren der Schlittenkufen und das Knarren der Geschirre die einzigen Geräusche, nur der Wind sang leise dazu und fegte in Böen über die schneebedeckten Äste und Zweige.

Josie war eine gute Musherin. Sie war fast jeden Tag mit den Hunden unterwegs, im Sommer schraubten sie Räder an die Schlitten, um die Huskys bei Laune zu halten. Ihr Bewegungsdrang war groß, und sie fühlten sich nur so richtig wohl, wenn sie einen Schlitten ziehen durften. »Brav, Buddy, brav!«, rief sie, als ihr Leithund einem herabgefallenen Ast auswich. Er zeigte auch auf diesem kurzen Ausflug, was in ihm steckte und wie stark sein Instinkt ausgeprägt war. Er bestimmte den Rhythmus, in dem das Gespann lief.

Die täglichen Fahrten bedeuteten für Josie auch, für wenigstens zwei Stunden nicht die Launen ihrer Großmutter ertragen zu müssen. Grandma, die eigentlich Catherine hieß und die Siebzig bereits überschritten hatte, war nach dem Tod ihres Mannes zu einer griesgrämigen, stets missgelaunten Frau geworden, die nicht nur ihre Verwandten spüren ließ, wie unzufrieden sie mit sich und der Welt war. Selbst an Thanksgiving und Weihnachten hatte sie was zu meckern und zog sich beleidigt in ihr Zimmer zurück, oder es kam zu einem handfesten Krach. Josies Vater konnte ebenso stur wie sie sein und dachte gar nicht daran, klein beizugeben. Er hatte gut reden. Er war den halben Monat nicht zu Hause, wenn er mit dem Postschlitten unterwegs war.

Sie erreichte Fairbanks gegen Mittag. Die Stadt war eine »Überlebenskünstlerin«, sagten die Einheimischen. Nach dem Ende des Goldrauschs fast zur Geisterstadt geschrumpft, hatte sie ein verheerendes Feuer, eine Überschwemmung, die Einberufung der jungen Männer während des Großen Krieges und die Grippeepidemie überstanden und war seit der Fertigstellung der Alaska Railroad vor sieben Jahren wieder zu einer respektablen Siedlung mit über dreitausend Einwohnern angewachsen. Die Wirtschaftskrise, die besonders an der Ostküste wie eine Bombe eingeschlagen hatte und dabei war, zahlreiche Karrieren und Existenzen zu vernichten, war in Alaska weniger zu spüren, und man hatte das dritte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit einem großen Feuerwerk und dem sprichwörtlichen Optimismus des Nordens begonnen.

Über der Stadt hingen Nebelschwaden. In den meisten Häusern, die nur schattenhaft zu erkennen waren, brannte Licht, dazwischen die Scheinwerfer der wenigen Automobile, die sich bei diesem Wetter zu behaupten wussten. Der Telegraph Tower der Armee ragte wie ein mahnender Finger aus dem Nebel heraus, ein Wahrzeichen, an dem sich die meisten Musher orientierten.

Josie lenkte ihren Schlitten über die Brücke auf die First Avenue und parkte vor dem lang gestreckten Gebäude der Northern Commerce Company, einem riesigen Kaufhaus, in dem es von Schnürsenkeln bis zu Lebensmitteln und Automobilen so ziemlich alles zu kaufen gab, was man sich vorstellen konnte. Sogar eine Kutschenlinie betrieb das Unternehmen. Ihr erster Weg führte sie jedoch in die Praxis des Arztes, die einen Block weiter über einer Apotheke und einer Versicherung lag. Doc Snyder, ein älterer Mann mit Halbglatze, der seine Nickelbrille weit vorn auf der Nase trug, hatte gerade einen kleinen Jungen behandelt und verabschiedete ihn und seine Mutter.

»Josie«, begrüßte er sie. Er kannte sie seit ihrer Geburt. »Ist dein Vater schon zurück?« Fast jeder in Fairbanks kannte die Zeitpläne der Postfahrer. Sie brachten Briefe und Päckchen von Freunden und Bekannten in der Wildnis zurück.

»Es geht um Grandma«, erwiderte Josie. »Ich soll neues Laudanum für sie holen. Zwei Flaschen, wenn es geht. Die Tinktur hilft ihr gegen die Schmerzen, sagt sie, aber wenn sie es genommen hat, sitzt sie wie bewusstlos in ihrem Rollstuhl, und ich dachte neulich schon, sie wäre …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. »Sie nimmt immer mehr davon, und ich mache mir Sorgen, dass sie süchtig wird.«

Doc Snyder war bereits dabei, ein Rezept zu schreiben. »So schlimm wird es hoffentlich nicht kommen. Sag deiner Großmutter, zwei Löffel jeden Tag müssten reichen und auch nur dann, wenn die Schmerzen zu stark sind.«

»Sie kann nicht davon sterben?«

»Man kann von allem sterben, sogar von harmlosen Schmerztabletten, wenn man es übertreibt.« Der Arzt lächelte. »Es soll schon Menschen gegeben haben, die an zu vielen Süßigkeiten gestorben sind. Aber keine Angst, wenn sie verantwortungsvoll mit der Medizin umgeht, kann nichts passieren.«

»Ich tue mich sehr schwer mit Grandma, Doc.«

»Das kann ich verstehen, Josie. Jeder, der sich um eine schwer erkrankte Patientin kümmern muss, kennt das, auch weil solche Menschen sehr oft Stimmungsschwankungen unterworfen sind. Ich kannte ihren Mann noch und erinnere mich sehr genau, wie gut die beiden harmoniert haben. Obwohl beide auch sehr griesgrämig sein konnten. Die Großmutter vermisst ihn sicher sehr, und wenn dann noch eine solche Behinderung dazukommt … sei nachsichtig mit ihr. Ich sehe in den nächsten Tagen mal bei ihr vorbei, einverstanden?«

Josie bedankte sich, besorgte das Laudanum in der Apotheke und betrat das Kaufhaus, um Wonderbread, Erdnussbutter und einige andere Lebensmittel zu kaufen. Wie jedes Mal war sie von dem Angebot in den schmucklosen Hallen beeindruckt. An mehreren Türen hing ein Plakat mit dem Foto eines Buschflugzeugs, das einen »Magic Flying Circus« mit Jimmy Ferguson am nächsten Wochenende ankündigte. »Jimmy Ferguson aus North Dakota zeigt tollkühne Stunts mit seiner Stinson SB-1 – ein unvergessliches Erlebnis für alle Freunde der Fliegerei. Freie Eiscreme für alle Kinder bis zehn Jahre!«

Die Veranstaltung würde Josie auf keinen Fall versäumen. In der Einsamkeit des Nordens war jede Abwechslung willkommen, auch wenn sie für ihre Eiscreme bezahlen musste. Sie verdienten nicht schlecht, ihr Vater mit den Postfahrten und sie mit der Hundezucht. Erst vor ein paar Wochen hatten sie einen Husky an einen Musher verkauft, der bei großen Rennen mitmachte.

Vor dem Kaufhaus packte sie ihren Einkauf in den Schlittensack und verteilte Leckerli an ihre Hunde, bevor sie auf die Kufen stieg und nach Hause fuhr. Doch ihr Blick ging nach Südwesten, wo sich die Kuskokwim Mountains aus dem Nebel erhoben. Irgendwo in den Bergen musste ihr Vater sein.

2

Mit wachsendem Unbehagen fuhr Josie zurück. Ihre Großmutter wartete bereits ungeduldig. »Wo bleibst du denn so lange? Du weißt doch, was alles passieren kann, wenn ich allein bin.« Sie rollte vom Kamin weg und blickte ihr erwartungsvoll entgegen. »Hast du das Laudanum? Und Wonderbread? Und die Erdnussbutter? Sag mir nicht, dass die Sachen ausverkauft waren.«

»Ich hab alles bekommen, Grandma.« Josie nahm ihren Einkauf aus dem Schlittensack und stellte die Flaschen mit dem Laudanum ins oberste Fach des Küchenschranks, wo ihre Großmutter nicht hinkam. »Das Laudanum in der alten Flasche reicht noch mindestens drei Tage. Du musst vernünftig sein.«

»Du bist nicht meine Amme!«

Irgendwie schon, dachte Josie. »Das weiß ich doch«, sagte sie, »ich wiederhole nur, was Doc Snyder gesagt hat. Wenn du zu viel nimmst, kannst du daran sterben. Erst vor ein paar Wochen ist einer beim Chinesen gestorben.«

»Du bist nicht meine Amme, und ich bin nicht im Heim!«

»Wie wär’s mit einem Erdnussbutter-Sandwich mit Marmelade?«

»Und Tee! Mit viel Zucker!«, sagte Grandma.

Josie brachte keinen Bissen herunter. Der Gedanke, dass ihrem Vater etwas passiert sein konnte, ließ sie nicht los. »So lange hat Vater noch nie gebraucht«, sagte sie, »ich fahre ihm besser entgegen. Weit kann er nicht sein.«

»Wann? Jetzt?«

»Jetzt gleich, Grandma. Hast du denn keine Angst?«

»Warum denn? Dein Vater kann auf sich aufpassen. Ihm ist noch nie was passiert. Er kennt sich besser als jeder andere Musher in der Wildnis aus, das weißt du doch. Bevor ihm was zustößt, muss schon der Himmel einstürzen.«

Josie schüttelte den Kopf. »Ich fahre jetzt. Du hast alles, was du brauchst, sogar Wonderbread und Erdnussbutter, und das Laudanum in deiner alten Flasche reicht noch aus. Länger als zwei, drei Tage bleibe ich nicht weg.«

»Du willst da draußen kampieren?«

»Wäre nicht das erste Mal, Grandma. Du kommst zurecht?«

»Ich weiß nicht. Wenn ich einen Schub bekomme …«

»Ich sage Doc Snyder Bescheid«, beruhigte Josie sie, »und meiner Freundin Mary, sie soll mal nach dir sehen.« Mit der gleichaltrigen Mary, die als Verkäuferin in einem Eisenwarenladen arbeitete, ging sie öfter aus, allerdings hatte sie vor einigen Wochen einen jungen Mann kennengelernt und sich etwas zurückgezogen. »Und du?«, hatte Mary gesagt, »wenn du nicht bald mit einem Mann ausgehst, endest du noch als alte Jungfer! Trau dich, Josie!«

»Und Grandma? Und Vater? Der wird auch langsam älter«, hatte Josie entgegnet.

»Willst du ihnen dein ganzes Leben opfern?«

Darüber hatte Josie schon öfter nachgedacht, auch jetzt wieder, als sie ein paar Sandwiches mit Käse und Elchschinken, eine Thermosflasche mit heißem Tee und eine Tüte mit Gummibären in ihren Schlittensack packte. Zu ihrer Ausrüstung gehörten Extrakleidung, Messer, eine Axt, ein Gaskocher, Schneeschuhe, ein Schlafsack, Zeltplanen, eine Taschenlampe, Streichhölzer und ein alter Colt-Revolver aus dem Erbe ihres Großvaters. Den neueren Colt hatte ihr Vater dabei. Ohne Waffe ging kein Musher auf größere Touren, nicht so sehr wegen hungriger Wölfe oder aus dem Schlaf geschreckter Grizzlys, sondern wegen aufgebrachter Elche, die gern auf Huskys losgingen und mit ihren Hufen ausschlugen, wenn sie in Panik gerieten. Noch wichtiger war der Erste-Hilfe-Kasten, falls man sich in der Wildnis verletzte.

Die Huskys spürten, dass es auf eine längere Tour ging, und jaulten aufgeregt, als Josie sie vor den Schlitten spannte. Damit sie sich an Eis oder verharschtem Schnee nicht die Pfoten aufrissen, zog sie ihnen booties aus Rentierhaut an, leichte Überschuhe, die jeder Musher mitführte. Den Schlittensack schnallte sie an den Rahmen, den Behälter mit dem Hundefutter wickelte sie in eine Plane und schnallte sie mit einem Riemen fest. Ihr Schlitten war kleiner als der Transportschlitten ihres Vaters, der speziell für die Posttouren gebaut worden war, und ließ sich leichter steuern. Auch deshalb kam sie mit sechs Hunden aus. Das Gespann ihres Vaters bestand aus acht Hunden.

Natürlich betonte ihre Großmutter noch einmal, wie wenig es ihr Sohn nötig hätte, dass seine Tochter nach ihm suchte, und unterdrückte nur mühsam einen Fluch. Ihr Egoismus war mit der Dauer ihrer Krankheit gewachsen, und Josie war ziemlich sicher, dass Grandma gesünder war, als sie vorgab, und sich an die Fürsorge ihrer Enkelin so gewöhnt hatte, dass sie sich ein selbstständiges Leben nicht mehr vorstellen konnte. »Bis bald!«, verabschiedete sich Josie. »Du hast alles, was du brauchst, also mach dir keine Sorgen!«

»Du hast gut reden«, erwiderte ihre Großmutter. »Beeil dich, hörst du?«

Ihr erster Weg führte Josie in die Stadt hinab. Sie sah noch einmal bei Doc Snyder vorbei, der versprach, nach ihrer Großmutter zu sehen, und sprach mit Mary im Eisenwarenladen. Ihre Freundin trug ihre Haare kurz geschnitten, auch wenn ihre moderne Frisur nicht so recht zu ihrem einfachen Kattunkleid passen wollte. Sie wünschte Josie viel Glück bei ihrer Suche. »Und mach dir keine Sorgen wegen deiner Großmutter«, fügte sie hinzu, »ich werde der alten Kratzbürste schon beibringen, dass sich nicht alles um sie drehen kann.«

»Sei nett zu ihr! Sie hat viel mitgemacht in ihrem Leben.«

Mary war rigoros, wenn von Josies Großmutter die Rede war. »Das gibt ihr noch lange nicht das Recht, dir die Zukunft zu verbauen. Such dir einen Mann, so wie ich. Du glaubst gar nicht, wie schön das Leben zu zweit ist.«

»Wenn man den richtigen gefunden hat.«

»Das habe ich, Josie. Paul ist einfach wunderbar!«

»Ich lasse das Leben auf mich zukommen«, sagte Josie. »Und glaube ja nicht, dass ich mir von Grandma alles gefallen lasse. Irgendwann ist auch bei mir Schluss. Manchmal glaube ich, sie braucht gar keinen Rollstuhl mehr.«

»Schön wär’s. Kommst du am Samstag mit zum Flying Circus?«

»Klar doch, das lasse ich mir nicht entgehen. Kommst du mit … Paul?«

»Mit wem denn sonst? Paul liebt Flugmaschinen.«

»Dann störe ich doch nur. Vielleicht sollte ich doch …« Sie überlegte kurz. »Ich sag dir Bescheid falls ich es mir anders überlege, und wenn nicht, sehen wir uns auf dem Weeks Field.« So hieß der neue Flughafen von Fairbanks, ein ehemaliger Baseballplatz.

Ein Kunde betrat den Laden, und Josie verabschiedete sich. Sie folgte dem Chena River nach Westen, musste etwas langsamer fahren als sonst, damit sie keine Spuren übersah. Falls ihr Vater aus irgendeinem Grund vom Trail abgekommen und gestürzt war, konnte er bewusstlos in einem Dickicht liegen und nur wenige Schritte vom Trail entfernt in Lebensgefahr geraten sein. Als es dunkler wurde, leuchtete sie an besonders kritischen Stellen mit ihrer Taschenlampe in die Büsche, ohne etwas zu entdecken. Sie kannte den Trail, war schon öfter im fünfzig Meilen entfernten Nenana gewesen, auch vor fünfzehn Jahren, als Präsident Harding nach Alaska gekommen war und den goldenen Nagel in die letzte Schwelle der Alaska Railroad geschlagen hatte. Sie war damals zehn gewesen und hatte einen roten Luftballon fliegen lassen.

Nur zu gerne hätte sie sich auf den Posttouren mit ihrem Vater abgewechselt. Sie war eine gute Musherin, kannte sich mit Huskys aus und liebte es, mit der Wildnis allein zu sein. Doch ihr Vater dachte nicht daran, ihr diese »Männerarbeit« anzuvertrauen, kam gar nicht auf die Idee, sie könnte mit der Hausarbeit und der Pflege ihrer Großmutter unglücklich sein. Selbst wenn er zu Hause war, half er ihr nicht und begnügte sich damit, im Sessel zu sitzen und mit Grandma über alte Zeiten zu reden. Die beiden ließen sich gern von ihr bedienen. Sie konnten nicht wissen, dass Josie von einer anderen Zukunft träumte, besonders wenn sie mit den Hunden unterwegs war und ihre Freiheit in der ungestümen Wildnis genoss. Sie war für das Leben in dieser Wildnis geboren, wenn auch anders als Mary, die ein gepflegtes Häuschen in der Stadt bevorzugte und von einem Automobil träumte.

Auf halber Strecke nach Nenana traf Josie einen Fallensteller, der nach Fairbanks unterwegs war. Auf seinem Schlitten lag ein dicker Packen mit Fellen. Die Hunde beider Gespanne stimmten sofort ein wildes Jaulkonzert an und drohten aufeinander loszugehen, aber als erfahrene Musher waren beide darauf vorbereitet und hielten so, dass die Schlitten sie daran hinderten. Er stellte sich als Jeremiah O’Rourke vor. Ein bärtiger Mann, der älter als ihr Vater wirkte und ihr verriet, dass er in einem Tal der White Mountains in einer Blockhütte lebte.

»Wusste gar nicht, dass sich Ladys wie Sie auf den Trail wagen.«

»Erstens, ich bin keine Lady«, konterte sie. »Zweitens, ich bin in der Wildnis zu Hause. Und drittens, Sie dürfen mich Josie nennen. Ich bin mit Huskys aufgewachsen, und weiß, wie man einen Schlitten steuert.«

»Das sehe ich, Josie. Wo soll’s denn hingehen?«

»Ich suche meinen Vater«, erklärte sie. »Old Ben Haskell, der Musher, der die Post zum Lake Minchumina bringt. Sind Sie ihm zufällig begegnet?«

Der Fallensteller brauchte nicht zu überlegen. »Zwischen Nenana und hier ist er nicht, sonst hätte ich ihn gesehen. Ich hab immer noch Augen wie ein Berglöwe, und wenn ich was übersehe, entdeckt es Barney für mich, mein Leithund.«

»Ich hab Angst, dass mein Vater einen Unfall hatte.«

»Old Ben Haskell?« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin ihm nie begegnet, hab aber von ihm gehört. Er ist so was wie ’ne Legende in dieser Gegend, stimmt’s? Ein Mann wie er hat keinen Unfall. Wahrscheinlich sitzt er irgendwo auf seinem Schlitten und knabbert an einer Elchkeule. Oder er sitzt in einem Roadhouse und trinkt Feuerwasser. Sie finden ihn, Josie, bestimmt.«

»Danke, Mister. Bringen Sie die Felle zur NCC?«

»Die zahlen die besten Preise.«

»Na, dann viel Glück!«

»Ihnen auch, Josie! Ihnen auch!«

Josie trieb die Huskys an. Nachdem feststand, dass sich ihr Vater noch jenseits von Nenana aufhielt, konnte sie volles Tempo gehen und erreichte die Stadt am späten Nachmittag. Sie widerstand der Verlockung, sich in einem der Lokale aufzuwärmen und eine warme Suppe zu essen, blieb auf den Kufen ihres Schlittens und überquerte den zu Eis erstarrten Tenana River im Westen der Stadt. Über einen geräumten Trail fuhr sie den Bergen entgegen.

Der Trail hatte sich wenig geändert seit dem November, als sie ihren Vater zum letzten Mal begleitet hatte, die meiste Zeit als Passagier auf dem Schlitten, und nur wenige Male auf den Kufen. Ihr Vater konnte es nicht ertragen, auf der Ladefläche zu sitzen, während ein anderer den Schlitten steuerte. Selbst oder gerade dann nicht, wenn es seine eigene Tochter war. Er gehörte zu den Männern, die nicht loslassen konnten, glaubte sie, deshalb hatte ihn auch der Tod seiner Frau besonders schmerzhaft getroffen, mehr noch als sie, obwohl sie ein sehr inniges Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt hatte. Er wollte, dass alles so blieb, wie es war: seine Familie, seine Umgebung, das ganze Leben.

Eine Meile südwestlich von Nenana erreichte Josie mehrere mit Schwarzfichten bewachsene Hügel, die sich bis zum Ufer des Kantishna River zogen. Der Trail schlängelte sich durch dichte Bestände von Schwarzfichten, die im Norden wesentlich kleiner als im Süden waren und kaum Schutz boten. Die Sonne, die sich während der langen Winter ohnehin nur selten sehen ließ, war bereits hinter den Hügeln im Westen verschwunden, doch die hellen Spuren, die sie hinterlassen hatte, waren noch immer zu sehen und tauchten die verschneiten Hügel in goldfarbenes Licht. Sie hatte kaum Augen für das Naturschauspiel, suchte angestrengt nach ihrem Vater und wollte nicht daran denken, was passieren würde, wenn sie ihn gar nicht oder nur noch tot auffand.

Als das Licht verblasste, begann es zu schneien. Dicke Flocken, die ziellos im böigen Wind herumwirbelten, zwangen sie, wieder langsamer zu fahren und darauf zu achten, nicht vom Trail abzukommen. »Vorwärts, Buddy!«, rief sie ihrem Leithund zu. »Du machst das ganz toll! Wir finden Vater. Mit eurer Hilfe finden wir ihn!« Überzeugend klang das nicht, eher hoffnungsvoll oder wie ein Hilferuf, an den man selbst nicht mehr ganz glaubte. Aber hatte der Fallensteller nicht gesagt, dass eine Legende wie ihr Vater gar nicht verunglücken konnte?

Eine der leer stehenden Blockhütten, die den Trail zum Lake Minchumina in weiten Abständen säumten, lag am Ufer des Kantishna River. So weit wollte sie noch fahren, bevor sie den Hunden und sich eine Ruhepause gönnen musste. Um ihren Vater zu finden, musste sie hellwach sein und sich auf ihre Huskys verlassen können. Erschöpft über den Trail zu taumeln und dabei unfähig zu sein, einen klaren Gedanken zu fassen, würde sie keinen Schritt voranbringen.

Die Hütte war noch zwei Meilen entfernt, als sie lautes Jaulen und Bellen vernahm. Sie beschleunigte ihr Tempo und entdeckte den Schlitten und das Hundegespann ihres Vaters zwischen den Bäumen. Der Schlitten war umgekippt, und die Hunde hatten sich in den Leinen verheddert. Von ihrem Vater keine Spur. »Whoaa!«, rief sie ihren Hunden zu. »Das ist Vaters Schlitten!«

Sie bremste den Schlitten und verankerte ihn, lief zu dem anderen Gespann, löste die Leinen und stellte den Schlitten auf. »Wie ist das passiert, Skip?«, rief sie dem Leithund zu. »Ist euch ein Elch in die Quere gekommen?« Sie zog das Gespann auf den Trail zurück, weit genug von ihren Hunden entfernt, obwohl sie sich kannten, und rammte den Anker in den Schnee.

Sie schnallte ihre Schneeschuhe an, um in dem verschneiten Unterholz einen festeren Halt zu haben, schaltete ihre Taschenlampe ein und machte sich auf die Suche. Den Erste-Hilfe-Kasten nahm sie mit, um ihn im Notfall gleich parat zu haben. »Ihr wartet hier!«, rief sie beiden Gespannen zu. »Ich beeile mich.«

Die Huskys schienen sie zu verstehen und verhielten sich einigermaßen ruhig. Sie suchte parallel zum Trail im Unterholz, ließ ständig den Lichtkegel ihrer Taschenlampe wandern und rief nach ihrem Vater. »Vater! Ich bin’s, Josie! Bist du hier irgendwo?« Auch zwischen den Bäumen reflektierte der Schnee das Licht des halben Mondes und der Sterne, aber es war nicht hell genug, und sie wäre ohne die Lampe verloren gewesen. Sie war Schneeschuhe gewöhnt und fand festen Halt, selbst im Tiefschnee vereinzelter Senken.

Ihren Vater hörte sie, bevor sie ihn sah. Es war nur ein leises Stöhnen, das in der klaren Luft und der Stille aber deutlich zu hören war und ihr den Weg wies. »Vater!«, rief sie, als sie ihn zwischen einigen umgestürzten Bäumen liegen sah. »Gott sei Dank, ich habe dich gefunden!« Sie kniete neben ihm, umarmte ihn und ließ ihn schnell wieder los, als er vor Schmerzen jammerte.

»Josie! Wo kommst du denn her?«

Sie richtete die Taschenlampe auf ihren Vater und sah, dass er sich einige blutige Schrammen geholt hatte und aus einer Wunde an der Stirn blutete.