Ich bin Anna - Tom Saller - E-Book
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Ich bin Anna E-Book

Tom Saller

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Beschreibung

Anna Freud und die legendärste Therapie der Welt Wien im Kriegswinter 1917/18: Sigmund Freud plant, sein analytisches Erbe an seine jüngste Tochter weiterzugeben. Doch Anna kämpft ihren eigenen Kampf. – Ein suggestiver Roman von Bestsellerautor und Tiefenpsychologe Tom Saller. Tief in ihrem Inneren strebt Anna Freud nach Unabhängigkeit vom schier übermächtigen Vater. Als Nesthäkchen lebt sie noch immer daheim, als der Erste Weltkrieg die Menschen blind macht. So etwa einen von Sigmund Freuds wenigen Patienten: Ludwig Stadlober kann nach einem Senfgasangriff nicht mehr sehen und sucht Hilfe beim berühmten Analytiker. Hinter seinem Rücken trifft sich Anna mit dem schüchternen Mann. Behutsam erkunden beide die eigenen Bedürfnisse. Doch zunehmend machen sich bei Anna verdrängte Triebe bemerkbar, sodass das Unglaubliche geschieht: Sigmund Freud nimmt die eigene Tochter in Therapie. Zwanzig Jahre später. Die Nazis marschieren 1938 in Österreich ein. Anna und Stadlober begegnen sich erneut, und plötzlich geht es um das Überleben der Familie Freud. Virtuos erzählt Tom Saller die Geschichte einer therapeutischen Dreiecksbeziehung, der Entdeckung des Todestriebes und der Selbstbehauptung von Anna Freud.

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TOMSALLER

ICH BIN ANNA

ROMAN

Mit freundlicher Genehmigung der Verlage S. Fischer und Böhlau für die Verwendung der beiden Zitate auf S. 7.

ISBN 978-3-98568-103-7eISBN 978-3-98568-104-4

1. Auflage 2024

© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2024

Umschlaggestaltung: ZeroMedia

Gemälde: © Estate of Herbert James Gunn

Einband: FinePic®, München

Bild: © 2021 Prachaya Roekdeethaweesab/Shutterstock

Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen

Satz: Marco Stölk

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Printed in Germany

www.kanon-verlag.de

Inhalt

Prolog: 20 Maresfield Gardens, London, NW3 5SX Juli 1980

ERSTER TEIL: Wien 1917/1918

Kapitel 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 10

Kapitel 11

ZWEITER TEIL: Wien 1918

Kapitel 12

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 16

DRITTER TEIL: Wien 1918

Kapitel 17

Kapitel 17

Kapitel 18

VIERTER TEIL: Wien 1919–1937

FÜNFTER TEIL: Wien 1938

Kapitel 18

EPILOG: 20 Maresfield Gardens, London, NW3 5SX Juli 1980

ANMERKUNGEN DES AUTORS

QUELLEN

DANK

Aber es ist Ihnen doch nicht verborgen geblieben, dass das Schicksal mir zur Entschädigung für manches Versagte den Besitz einer Tochter gewährt hat, die unter tragischen Verhältnissen hinter einer Antigone nicht zurückgestanden wäre.

Freud/Zweig, Briefwechsel

Härter als den Fuß die Schuh umfingenDrückten Ängste, Zwang und Trotz dein Sinnen.Fühllos, abgestoßen von den DingenKehrtest deine Sehnsucht du nach innen.

Anna Freud, Träume

PROLOG

20 Maresfield Gardens,London, NW3 5SXJuli 1980

Der Brief ist heute Morgen mit der Post gekommen, der Umschlag mit einer bundesdeutschen Marke versehen. Das Kuvert trägt einen schwarzen Rand.

Niemand erhält gern ein solches Schreiben, immer kündet es von Schmerz und Verlust. In meinem Alter aber steht es für mehr, sind es Weggefährten, Zeugen des eigenen Lebens, von denen es nur noch wenige gibt, die dahingehen, eine Lücke reißen, eine Leerstelle hinterlassen. Jenen Menschen habe ich etwas bedeutet, umgekehrt sie mir. Ihr Tod stanzt ein Loch in mein Dasein, ein weiteres, und wieder bleibe ich etwas bedeutungsärmer im Hier und Jetzt zurück.

Mit vierundachtzig Jahren fühlt man sich bisweilen wie ein Sieb. Ein Sieb, in das immer seltener etwas hineingegeben wird, und in dem das Bisschen, ohne groß Spuren zu hinterlassen, verrinnt.

Paula hat den Brief gebracht und mit der restlichen Post auf den Schreibtisch gelegt. So, wie sie es schon immer getan hat, bereits damals in der Berggasse.

»Überarbeiten sich’s net«, sagte sie.

Nein, keine Sorge, Paula, das Risiko besteht nicht. Nicht mehr. Die Arbeit ist getan, hat mein Leben bestimmt, ist mein Leben gewesen – getreu dem Vorbild Vaters.

In Wien, in der Berggasse, war es vor allem seine Post, die, verlässlich wie ein Taubenschwarm, der in den Schlag zurückkehrt, ins Haus geflattert kam: Schreiben von Kollegen, Patienten, Bewunderern, aber auch Kritikern seiner Arbeit. Sein Werk, seine Ideen, seine Persönlichkeit, ließen kaum jemanden kalt, am allerwenigsten mich. So verwundert es nicht, dass ich, wie so oft, in Gedanken bei ihm weile. Doch vielleicht sollte es das: mich wundern, sogar mit Sorge erfüllen, denn Vater ist seit mehr als vierzig Jahren tot. Sieht so eine gelungene Autonomiebewegung aus?

Vor der Terrassentür erstreckt sich unser wunderschöner englischer Garten, Dorothys und meiner. Zum ersten Mal, nach all den Jahren, versorge ich ihn allein. Trauer ist ein lächerliches Gefühl: stets unzulänglich, niemals angemessen, zu keinem Zeitpunkt genug.

Hortensien, Dahlien, Begonien. Rittersporn, Mohn, Jasmin. In verschwenderischer Fülle erstrahlen ihre Farben im Sonnenlicht. Hier hat Vater den Großteil seines letzten Sommers und die sich daran anschließenden, immer kürzer werdenden Tage verbracht. Auf einem Deckchair auf dem kurzgeschorenen Rasen, in eine Decke gehüllt, den Strohhut auf dem Kopf, sah er dem Fallen der Blätter zu. Natürlich trug er den unvermeidlichen Anzug – Vater war nur selten wirklich privat.

Etwas fehlt in jenem Bild, Lün Yu, seine geliebte Hündin. Am Ende vermochte sie den Geruch des Todes nicht mehr zu ertragen, hat sich abgewandt von ihm, ihrem Herrn und Meister. Sind Tiere doch nicht die besseren Menschen? Oder ist es vielmehr Ausdruck des konsequenten Gegenteils? »Zuneigung ohne Ambivalenz«, wie Vater zu sagen pflegte. Ein Leben lang habe ich davon geträumt.

Zufall oder auch nicht, das weiße Kuvert mit dem schwarzen Rand liegt zuoberst auf dem Stapel. Ich beuge mich vor, nehme es hoch und studiere den Absender. Es geschieht ohne mein Dazutun, eine Art kosmisches Stolpern. Unversehens wandeln sich Jahre in Minuten, werden Monate zu Sekunden, schrumpfen Tage auf die Dauer eines Wimpernschlags zusammen. Als Tochter eines Mediziners vermag ich mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass plötzlich mein Herz versagt – wenigstens nicht akut, in diesem Moment –, gleichwohl fühle ich den Tod und den Mann, der dafür steht, so nah, als wäre es gestern gewesen. Mit steifen Fingern reiße ich den Briefumschlag auf.

Eine einzelne Karte, fester Karton, der kursiv gedruckte Name seltsam vertraut und fremd zugleich. Seine Lebensdauer scheinbar zufällig, einem göttlichen Zahlendreher geschuldet: (1890) – (1980). Die identische schwarze Rahmung wie auf dem Umschlag; ein dünnes Kreuz und ein Sinnspruch. Und die Wahrheit wird Euch frei machen, Johannes 8,32.

Weshalb erhalte ich diese Traueranzeige?

Hat er es so verfügt? Handelt es sich um eine Botschaft, posthum? Falls ja, welchen Inhalts? Kein Kommentar, keine Bemerkung – ich drehe die Karte um –, auch auf der Rückseite nicht. Was soll das Ganze, nach all den Jahren? Eine späte Anerkennung: Du hast gewonnen, mich überlebt? Sicher ein zweifelhaftes Ansinnen, das weitere Fragen nach sich zöge, weil – wir haben gewiss nicht miteinander gespielt. Oder doch?

Möglicherweise aber will er mich auch wissen lassen, dass er stets im Bild war, wo er mich finden konnte, wie damals jederzeit hätte Zugriff ausüben können. Ein mächtiger Mann.

Aber warum? Längst habe ich ihm nicht mehr zu schaden vermocht, in seiner neuen Position, einflussreich und unangreifbar, und später, im Ruhestand, als graue Eminenz, schon gar nicht.

Sollte er mich tatsächlich im Auge behalten haben, ist es umgekehrt genauso gewesen. Wenn auch unfreiwillig, habe ich seinen Weg verfolgt. Es ließ sich nicht vermeiden, beobachtete man auch nur einigermaßen aufmerksam die Entwicklung der jungen Bundesrepublik nach dem Krieg, die Zusammensetzung ihrer politischen und wirtschaftlichen Akteure. Wie hatte es der erste deutsche Bundeskanzler in seiner unnachahmlichen Art formuliert? »Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat.«

Doch auch wenn es nahezu dieselben Männer wie 1933 waren, hatte sich eines verändert: Es kostete einen im Deutschland nach dem tausendjährigen Grauen nicht mehr automatisch die Karriere, bei einem jüdischen Seelendoktor in Behandlung, in Beziehung zu seiner nicht minder jüdischen Tochter gestanden und vorher und nachher vorübergehend den Kopf verloren zu haben.

In der Tat gibt es erstaunliche Wege, in einen seelischen Ausnahmezustand zu geraten.

Allerdings – was ist, wenn dem Versand der Todesanzeige gar kein Kalkül zu Grunde liegt, es sich bloß um einen jener unwahrscheinlichen Zufälle handelt, die das Leben ironischerweise für uns vorhält? Womöglich haben die Hinterbliebenen einfach sein Adressbuch abgearbeitet und schlicht jedem Eintrag eine Trauerkarte zukommen lassen. Dennoch bleibt die Frage: Weshalb stehe ich überhaupt dort drin? Ganz bestimmt haben wir keine Brieffreundschaft unterhalten – nicht mehr.

Unwillkürlich höre ich Vaters Stimme, die sagt, unser Tun und Handeln lasse sich häufig auf unvollständig unterdrücktes psychisches Material zurückführen, vom Bewusstsein abgedrängt, aber nicht jeder Fähigkeit, sich zu äußern, beraubt. Ist der Mann, dessen Name auf der Karte steht, ungewollt ein Beweis für diese Theorie?

Vater, der über einen gesunden Sinn für Ironie verfügte, wäre von der Anzeige, besser gesagt, von dem Bibelzitat darauf, durchaus angetan gewesen. Und die Wahrheit wird Euch frei machen. Lässt sich das Prinzip der Psychoanalyse besser zusammenfassen?

Für einen Moment sehe ich sein amüsiertes Lächeln vor mir, höre seine ruhige Stimme. Ich rieche den Zigarrenrauch an seinem Anzug sowie den Duft seines Bartöls. Jeden Morgen an jedem Tag ging er zum Barbier. Wie oft habe ich als Kind, aber auch später, als erwachsene Frau, versucht, ihm einen Kuss auf die wohlriechende Wange zu drücken, und wie oft hat er sich abgewandt ob dieses vermeintlichen »Schmarrns«?

»Lass das, Annerl«, sagte er, »wir bedürfen keiner Gefühlsduseleien. Es reicht, wenn sich unsere Patienten damit herumplagen.«

Ich beuge mich hinab, öffne die mittlere Schublade in der linken Schreibtischhälfte. Da ist es, der tiefrote Leineneinband vom häufigen Benutzen abgegriffen. Ich hole es hervor, lege es auf die Schreibtischunterlage, ohne es aufzuschlagen.

Schon immer habe ich geschrieben, bereits als junges Mädchen. Behutsam tastend, sorgsam suchend, in der Hoffnung, einen Pfad in das unbekannte Land zu finden, das Vater als »das Unbewusste« bezeichnete. Jenes vermeintlich innere Ausland, in dem gleichwohl das Eigene entsteht und dessen Vermessung er sein gesamtes Arzt- und Forscherleben gewidmet hat. Ich habe Gedichte verfasst, »schöne Geschichten«, wie ich sie für mich nannte. Einmal habe ich mich sogar an einem Roman versucht, immer im Bemühen, den Schritt vom ›äußeren Du zum inneren Ich‹ zu vollziehen, wie es heißt. Am gründlichsten aber bin ich als Journalschreiberin gewesen, wobei Journal im ursprünglichen Sinn gemeint ist, als Sammlung thematisch verbundener Einfälle.

Das Thema?

Ich.

Ich und meine »Gefühlsduseleien«.

In unbewusster Vorwegnahme nutzte ich die Mittel der Psychoanalyse, arbeitete frei, assoziativ. Nicht jeden Tag brachte ich etwas zu Papier, nur dann, wenn mich Gefühle und Gedanken unbestimmter Art beunruhigten, in meinem Bauch und meinem Kopf kreisten. Ich sie zu fassen, zu erfassen, in Worte zu fassen versuchte, um sie so zu ordnen und zu verstehen.

Es existiert nur dieses eine, einzige Journal. Aber es genügt, erfüllt seinen Zweck, ist eine Art Beethoven’sches Konversationsheft, in dem ich – anders als das ertaubte Genie – meine Worte, meinen Anteil des Dialogs, den ich mit Vater geführt, verschriftlicht habe. Damals, als ich mich im Übergang befand: vom Mädchen zur Frau, von der Lehrerin zur Analytikerin, von der Ahnenden zur Wissenden. Meine Aufzeichnungen haben mir das Leben gerettet – nicht zuletzt in Bezug auf ihn, den Mann, von dessen Tod ich heute erfahren habe.

Erneut beuge ich mich hinunter, diesmal zur rechten, zu Vaters Seite, ziehe eine andere Schublade auf und hole eine weitere Kladde hervor, mit Ausnahme der Farbe des Einbandes identisch mit der ersten. Dieser Band ist dunkelblau, wirkt nahezu jungfräulich, er stellt Vaters Hälfte unseres Gedankenaustausches dar. Ich lege ihn neben den anderen.

Tiefrot. Dunkelblau.

Stets habe ich sie als Zeichen verstanden, als Symbol für Jung und Alt, für Frage und Antwort. Für das Suchende und das Erklärende, das Unvollständige und das Vollständige, als Sinnbild für Frau und Mann. Sie gehören zusammen wie Yin und Yang. Auch wenn ich des Chinesischen weder in Schrift noch Sprache mächtig bin, habe ich mir sagen lassen, die Zeichen bedeuten Südufer des Flusses und Nordhang eines Berges. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, wofür Vater und ich stehen.

Während ich die beiden Hefte betrachte, erklingen vor meinem inneren Ohr unsere Stimmen, abwechselnd, im Zwiegespräch. Erstehen vor meinem inneren Auge – dem Auge meiner Erinnerungen – Geschehnisse, Szenen, Ereignisse wieder auf. Ich muss die Hefte nicht öffnen, kenne sie auswendig, habe mir die Worte unzählige Male vorgesagt.

Mit Beginn meiner Analytikerinnentätigkeit hörte ich auf, Gedichte zu schreiben. Alles hat seinen Preis. Unsere Gespräche beendete ich nie – gedanklich jedenfalls nicht.

Warum?

In Vaters Gegenwart ist man klüger, konzentriert sich besser, wählt seine Worte mit mehr Bedacht. Darum habe ich in steter Wiederholung den Blick zurückgewandt, mir das mit ihm gemeinsam Erlebte, das mit ihm Besprochene wieder und wieder ins Gedächtnis gerufen und gleichzeitig neu erfunden. Ein Akt der Vergewisserung. Der Anpassung. Der ständigen Erneuerung. Mein Weg, mit Vater in Kontakt zu bleiben, über das Diesseits hinaus, und so ist unsere Verbindung stärker als unsere Trennung.

Doch während ich unseren Stimmen lausche, wird ein Missklang laut, drängt sich ein fremder Ton zwischen uns: die Stimme des Mannes, von der ich gehofft hatte, sie nie wieder hören zu müssen.

Nachdenklich betrachte ich die Karte. Eine Traueranzeige, gewiss, aber zu viel der Ehr, Anzeige muss reichen, es wäre sicher unpassend zu trauern. Um ihn, Thanatos, den Tod, der mir vor so vielen Jahren gewaltsam die Lippen verschloss, ein Redeverbot aufzwang im Hinblick auf die eigene Geschichte. Aber jetzt ist er tot, seine Macht erloschen. Endgültig.

Kann der Tod sterben?

In der Tat, ich habe gewonnen, durchgehalten, lebe, bin frei, frei zu sprechen, und so breche ich mein Schweigen. Mein Schweigen über den Mann, den ich einst gefürchtet habe wie keinen anderen und dem ich gleichzeitig zu Dank verpflichtet bin wie niemand sonst. Die Art Dank, den man jemandem schuldet, der einem das Dach über dem Kopf angezündet und das Feuer erst im letzten Moment wieder gelöscht hat.

Im Unterschied zu mir interessierte Vater sich nie für Musik. »Etwas sträubt sich in mir dagegen, von etwas ergriffen zu sein, ohne zu wissen, was mich ergreift«, sagte er. Und dennoch, fugengleich, begleiten mich seine Worte wie eine zweite Stimme.

ERSTER TEIL

Wien1917/1918

1

Wir waren pünktlich. Überpünktlich. Um genau zu sein, waren wir fünf Minuten vor der Zeit.

»Ich hole mir ein Glas Milch«, sagte ich.

»Wir haben Krieg. Es gibt keine Milch«, entgegnete Mutter.

»Aber ich habe vorhin welche in der Küche gesehen.«

»Die ist für die Melange deines Vaters, nicht für dich.«

Tante Minna tätschelte mir die Hand. »Sei nicht traurig, Annerl, es kommen wieder bessere Zeiten.«

Sie war Mutters jüngere Schwester, gleichzeitig deren molligere und freundlichere Ausgabe. Nach meiner Geburt, vor mehr als zwanzig Jahren, war sie zu uns gezogen, um Mutter bei der Versorgung ihrer Kinder zu unterstützen, und geblieben. Ich lächelte ihr zu. Bessere Zeiten. Natürlich. Aber wann, und für wen?

Wir warteten auf Papa – Mutter, Tante Minna und ich, die verstaubten Reste unserer einst so vielköpfigen, lebhaften Familie –, so wie wir jeden Mittag auf ihn warteten: fünf Minuten vor der Zeit, damit das Essen um Punkt eins aufgetragen werden konnte. Auf keinen Fall durfte es zu einer Verzögerung kommen, durfte Papas Tagesablauf durcheinandergeraten. Er war heilig. Sein Tagesablauf. Und er selbst.

Als hätte er auf sein Stichwort gewartet, hörte ich, wie die Tür des Durchgangs zum Behandlungszimmer aufging, und im nächsten Moment erschien Papa im Türrahmen. Wohnung und Praxis lagen auf derselben Etage, aber genauso gut hätten es zwei verschiedene Planeten sein können. Stumm nahm Papa am Kopfende des Tisches Platz. Er öffnete die unteren Knöpfe der Weste, stützte den Ellenbogen ab und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.

»Wir freuen uns ebenfalls, dich zu sehen«, äußerte Mutter in ihrer unnachahmlichen Art. Irritiert hob Papa den Kopf, als bemerkte er erst jetzt unsere Anwesenheit.

»Ähem, gewiss«, sagte er.

Die Wohnung war mit wuchtigen dunklen Möbeln eingerichtet, dazu schwere Vorhänge und Stofftapeten, als hätte es die Wiener Werkstätte oder den Secessionsstil nie gegeben. Drüben, bei Papa, sah es nicht anders aus. Derselbe muffige Charme aus dem vorigen Jahrhundert. Solange ich mich erinnern konnte, hatte sich die Einrichtung in beiden Räumlichkeiten nicht verändert. Ebenso wenig wie Papa. Es war erstaunlich: Der Mann, der als der Arzt der Moderne galt, war gleichzeitig der unmodernste Mensch überhaupt.

Die Tür öffnete sich, und Fanni, unsere Haushälterin, trug den Hauptgang auf. Direkt. Keine Vorsuppe. Wir befanden uns im vierten Kriegsjahr. Mangels Einlage hätte die Suppe ohnehin nur aus heißem Wasser bestanden. So betrachtet, war es nicht von Nachteil, dass der Hausstand geschrumpft war. Es gab weniger hungrige Mäuler zu stopfen.

Mathilde und Sophie waren verheiratet. Lebten bei ihren Ehemännern, mit ihren Ehemännern und für ihre Ehemänner. Frauen tun so etwas. Mutter beispielsweise. Meine Brüder hingegen – Martin, Oliver und Ernst – befanden sich im Krieg. Blut statt Blutsbande. Furchterregend.

Auch wenn ich um alle gleichermaßen bangte, Ernsts Weggang hatte mich am meisten getroffen. Nicht nur altersmäßig stand er mir von den Brüdern am nächsten. Er war es, der darauf geachtet hatte, dass die jüngste Schwester mittun durfte, wenn die anderen im Park Verstecken spielten, wenn in der Sommerfrische eine Wanderung oder ein Tag am See geplant waren. »Das Annerl kommt mit, basta!«

Stundenlang lag er mit mir auf dem Parkett im Herrenzimmer, in dem Papa seine wöchentliche Tarockrunde empfing. Ich hatte nie gern mit Puppen gespielt, stattdessen errichteten wir aus Bauklötzen Türme von schwindelerregender Höhe, konstruierten Hausdächer in gewagten Winkeln und Schlösser, die sich nur ein Märchenprinz ausgedacht haben konnte. Es nahm kein Wunder, dass Ernst Architektur studierte, erst hier in Wien, später dann in München. Bis der Krieg kam.

Papa griff nach dem Besteck, wünschte allen ein »Wohl bekomm’s« und führte den ersten Bissen zum Mund – er war angekommen. Auf ein Tischgebet oder einen Segensspruch wurde verzichtet. Papa bezeichnete sich gern als »gottlosen Juden«, und das einzige Gebot, an das er sich hielt, war, dass er sich an kein Gebot hielt. Gerade setzte er zu einer seiner Geschichten an – seiner bereits vielfach gehörten Geschichten.

»Heute Nacht habe ich von mir als Bub geträumt, außerdem von Mutter. Dass sie mich stets ihren ›goldenen Sigi‹ genannt und anders als all meine Geschwister behandelt hat. Sogar die Mahlzeiten nahm ich abseits von ihnen ein. Allein, um Punkt eins, keine Minute früher, keine später.«

Ich blickte von Papa zu Mutter, dann zu Tante Minna und wieder zurück. Letztlich hatte sich nicht viel verändert. Weiter stand das Essen täglich um ein Uhr auf dem Tisch: pünktlich, keine Minute früher, keine später. Papa aß zwar nicht mehr allein, aber ich fragte mich, ob das einen Unterschied machte – oder bedurfte es zum Monologisieren eines Publikums?

»Zweifellos hegte Mutter die Hoffnung«, ein mildes Lächeln erhellte seine Züge, »ihr unbestrittener Liebling werde sich einmal einen Namen machen.«

Mutter und Tante Minna, neben ihm, kauten mit gleichmäßigen Bewegungen das zerfaserte Lauch- und Selleriegemüse, das in diesen Tagen fast täglich auf dem Speisezettel stand. Kauten, schluckten und schwiegen.

»Mutters Motive waren nicht gänzlich uneigennützig«, fuhr Papa fort, »unverschuldet war die Familie in finanzielle Nöte geraten, und mir oblag die ehrenvolle Aufgabe, sie aus dem gesellschaftlichen Abseits zurück ins Sonnenlicht gutbürgerlicher Anerkennung zu führen. Darum nahm man sehr viel Rücksicht auf mich. Sogar das Klavier deiner Tante Anna«, er nickte mir zu, seine nächstjüngere Schwester und ich trugen denselben Namen, »wurde aus der Wohnung entfernt, weil man der Meinung war, der Übungslärm könnte mich bei der Erledigung meiner schulischen Pflichten stören.«

»Setz dich gerade hin, Anna.« Mutters Stimme unterbrach Papas Ausführungen. »Ein krummer Rücken macht keinen hübscheren Menschen aus dir.«

Für einen Moment herrschte Stille. Nur das Ticken der Uhr auf dem Vertiko war zu hören. Zweifelsohne war ich nicht ihr »goldenes Annerl«. War es nie gewesen und würde es niemals sein. Nach mir war Mutter nicht mehr schwanger geworden. Ich war naiv genug gewesen, sie danach zu fragen. Sie hatte das Handtuch, das sie gerade faltete, zur Seite gelegt und mich direkt angeblickt. »Irgendwer kommt immer zu spät«, hatte sie gesagt. Nein, Mutter wollte schon vor mir nicht mehr schwanger werden.

Ich fragte mich, ob ich es besser oder weniger gut als Papa angetroffen hatte. Er war der König, von klein auf. Falls ich je Prinzessin werden wollte, müsste ich es aus eigener Kraft schaffen, meinen eigenen Weg gehen – ich zuckte mit den Schultern –, wie immer der aussehen mochte.

»Herrje, der sieht ja zum Fürchten aus!« Fanni war hereingekommen, um den Hauptgang ab- und die Nachspeise, Tante Minnas legendäre Topfenknödel, aufzutragen. Das Esszimmer ging nach vorn, zur Berggasse, hinaus, und sie hatte einen Blick aus dem Fenster geworfen.

»Wer?«, fragten Mutter und Tante Minna unisono. Alles, was das Haus, die Wohnung, die Nachbarn und den Haushalt anging, fiel in ihren Bereich.

»Der komische Kerl, drüben, auf der anderen Straßenseite. Es schaut aus, als würd’ er Löcher in die Luft starren.«

Papa runzelte die Stirn. Der Dienstbotenklatsch interessierte ihn nicht. Das Mittagsmahl mit uns drei Frauen auch nur bedingt. Ich wusste, er sehnte sich nach der nachmittäglichen Zigarre und seinem Arbeitszimmer – nach seinem Bereich –, bevor er sich zu seinem täglichen Spaziergang aufmachte. Um Punkt drei säße er wieder im Behandlungszimmer, um mit dem nächsten Patienten zu sprechen: keine Minute früher, keine später. Als Mutter und Tante Minna die Stühle zurückschoben und ans Fenster traten, nutzte er die Gelegenheit, murmelte »Ihr entschuldigt mich« und verschwand.

»Den hab’ ich noch nie gesehen«, sagte Tante Minna. Auch Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, der wär’ mir aufgefallen, mit dieser seltsamen schwarzen Brille.«

Ich merkte auf. Niemand trug im Winter eine schwarze Brille – die Zeiten waren ohnehin düster genug –, es sei denn, er litt unter einer Augenerkrankung. Ich stand auf und stellte mich ebenfalls ans Fenster. Die Fensterbank, zwischen innerer und äußerer Scheibe, war mit Kissen ausgestopft gegen den eisigen Wind.

Unten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, tippte ein Mann in langem Mantel, nur wenig älter als ich, schmal, dunkelhaarig, mit seinem Stock an die Bordsteinkante. Anscheinend wollte er die Straße überqueren. Selbst auf die Entfernung fiel seine alabasterne Blässe auf. Sie stand in deutlichem Kontrast zu seinem scharf gescheitelten Haar und dem Oberlippenbart. Er drehte die Schultern nach rechts und horchte konzentriert in die andere Richtung, lauschte auf ein nahendes Automobil oder eine Droschke. Aber dann schien ihn etwas abgelenkt zu haben, denn anstatt die Straße zu überqueren, legte er den Kopf in den Nacken, das Gesicht zu uns gewandt. Langsam nahm er die Brille mit den getönten Gläsern ab. Narbengewebe umgab seine Augen wie ein Strahlenkranz. Ich wich einen Schritt zurück.

Er war blind, aber seltsamerweise nur zeitweilig. Papa hatte es mir erzählt, als er mir ein paar Wochen zuvor sein … sein »Angebot« unterbreitet hatte, von dem ich immer noch nicht recht wusste, was ich davon halten sollte.

Der Mann auf dem Trottoir hieß Stadlober und war sein Patient und wohl auch meiner – inzwischen berichtete Papa mir regelmäßig von ihm, von seiner Blindheit, sodass ich bereits eine Menge über ihn gehört, ihn aber noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Genauso wenig wie er mich. Selbst wenn in diesem Moment seine Sehkraft zurückgekehrt wäre – etwas, was laut Papa jederzeit geschehen konnte: »Man weiß nie genau, wann er sieht und wann nicht« –, er konnte mich durch die spiegelnde Scheibe unmöglich bemerkt haben. Dennoch beschlich mich das Gefühl, ertappt worden zu sein.

1

Lieben und Arbeiten – wenn das so einfach wäre. Nur allzu häufig, fürchte ich, bin ich ein abwesender Vater und Ehemann gewesen. Obgleich bloß durch eine einzige Wand von der Familie getrennt – Wohnung und Praxis lagen sich direkt gegenüber –, schien diese zuweilen undurchdringlich. So war ich da und gleichzeitig nicht da. Ein Zustand, dem ich nach all der Zeit etwas entgegenzusetzen gedachte.

Tatsächlich ist den vielfältigen Bewegungen des Unbewussten gemein, dass sie lange Zeit unentdeckt bleiben, sich nur langsam, schier unmerklich, an die Grenze zum Bewusstsein vorarbeiten, und so vermag ich nicht präzise festzustellen, wann ich den Entschluss gefasst hatte, Anna mein Angebot zu unterbreiten. Genauso wenig weiß ich zu sagen, ob es ausschließlich um ihretwillen geschah oder nicht auch Ausdruck eines mir verbliebenen primären Narzissmus war, der sich bereits früh verfestigt hatte. So hieß Mutter mich nicht nur ihren »goldenen Sigi«, in der Hoffnung, ich werde ihr und der Familie eine nicht minder goldene Zukunft bescheren, sie behandelte mich auch so: Als Einzigem der Geschwister wurde mir ein eigenes Kabinett zugestanden – die anderen sechs mussten sich eins teilen. Später dann, zum jungen Mann gereift, verlobt und fest versprochen, pries meine treue Martha mich als ihren »löwenähnlichen Freund«, dessen Abbild sie in ihrem Herzen verwahre – zweifellos der Ritterschlag für den romantisch Werbenden, den ich damals gab. Von daher wäre es trotz der Schwierigkeit allen Urteilens in eigener Sache nicht allzu abwegig, mir ebenso in Bezug auf meine Jüngste den unbewussten Wunsch nach Anerkennung zu unterstellen.

Doch unter Umständen bin nicht ich es gewesen, von dem der Impuls ausging. Nicht auszuschließen, dass meine Gattin mich beiseite genommen und, mit gewohnt strengem hanseatischem Blick auf den Haushalt sowie dessen wenige verbliebenen Mitglieder, auf den Casus aufmerksam gemacht hat:

»Die schiere Unvernunft, und wie immer eine viel zu rege Phantasie! Weshalb bloß nimmt sie die Dinge so heiß? Gerade einmal frischgebackene Klassenlehrerin, und schon sind da nur noch Eltern und Schüler und deren Angelegenheiten in ihrem Kopf. Stattdessen sollte sie lieber vernünftig essen!«

Eine wahre Therapeutin, die an meiner Martha verlorengegangen ist: rechtschaffen, bodenständig, im Unterschied zu mir eine Person des gesunden Menschenverstandes. Es schien wahr, wusste das Annerl doch Eigenes von Fremdem nicht hinreichend zu scheiden, rieb sich am Lyzeum wie das Schwedenholz an der Schachtel, leicht entflammbar und schnell verglüht.

Ist der Gedanke erst einmal in der Welt, lässt er sich nicht so einfach beiseiteschieben. Zweifellos war mir die Vorstellung, mein Kind nicht richtig versorgt zu wissen, zutiefst unbehaglich, wo doch ein jüdischer Vater zum Leben wie zum Sterben des genauen Gegenteils bedarf, und so bestellte ich meine Tochter nicht rein zufällig an jenem Tag in mein Arbeitszimmer ein.

»Annerl«, setzte ich an, »ich mache mir Sorgen um dich.«

2

Als Kind war ich der festen Überzeugung, Papa lebte in der Praxis. Sein Arbeits-, Behandlungs- und Wartezimmer wären seine Wohnung, und er besuchte uns, die Familie, bloß zwischendurch einmal – praktischerweise jeweils um die Mittagszeit und zum Nachtmahl. Danach ging er wieder hinüber, in sein Reich, in seine Welt, bei der es sich laut den ungeschriebenen Gesetzen der Analyse vor allem um eine Männerwelt handelte, auch wenn mehr als die Hälfte der Patienten Patientinnen waren. Seltsam, aber wahr.

Immerhin genoss ich, seit ich kleinere Aufgaben für die psychoanalytische Vereinigung übernommen hatte, beispielsweise Übersetzungen von Vorträgen und Abhandlungen anfertigte, freien Zugang zu seinen Räumen. Ein Privileg, das keinem meiner Geschwister zuteilgeworden war.

So ging ich davon aus, es handele sich um einen weiteren Arbeitsauftrag, als Papa mich in sein Zimmer rief. Aber kaum hatte ich auf dem Lederfauteuil neben seinem Schreibtisch Platz genommen, wurde ich eines Besseren belehrt.

»Annerl«, sagte er, »ich mache mir Sorgen um dich. Von Monat zu Monat wirst du blasser, werden deine Bewegungen fahriger. Du wirkst unruhig und verlierst – wie schon früher – an Gewicht. Nachts höre ich dich durch die Wohnung geistern«, scherzhaft drohend hob er den Zeigefinger, »du störst deines alten Vaters kostbaren Schlaf. Offenbar ist das Lehrerinnendasein kein einfaches, zumal für eine junge Frau mit einem gewissen Hang zur … Unvernunft.«

Er hielt inne und lauschte dem Klang des letzten Wortes nach, als erinnerte es ihn an etwas, gleichzeitig beobachtete er dessen Wirkung auf mich. Ob ich verärgert reagierte oder zustimmend, aber ich hielt mich zurück, wusste nicht, worauf er hinauswollte.

»Trotz deiner anstrengenden Tätigkeit am Lyzeum besuchst du meine Vorlesungen«, fuhr er fort, »übersetzt in deinen freien Stunden meine und die Arbeiten meiner Analytikerkollegen ins Englische. Seit Jahren interessierst du dich für meine Arbeit. Wäre es nicht an der Zeit, ein wenig mehr Einblick in deren praktische Aspekte zu gewinnen?«

Mein Blick wanderte durch den Raum, über die abgetretenen Teppiche mit den orientalischen Ornamenten, die mit Figurinen und Statuen überfüllten Glasvitrinen sowie die deckenhohen, mit Büchern vollgestopften Regale. Wie gewohnt saß ich auf dem ledernen Besuchersessel: rechter Hand der von Papieren und weiteren Altertümern übersäte Schreibtisch, mir gegenüber, das Hoffenster im Rücken, Papa. Die unzähligen Kunstgegenstände im Raum zeugten von seiner hemmungslosen Sammelwut. Aber so spontan er sich zum Kauf seiner Antika hinreißen ließ, so zurückhaltend zeigte er sich im Hinblick auf irgendwelche unbedachten Einlassungen. Er hatte unser Gespräch geplant, soviel war klar. »Wie stellst du dir das vor?«, entgegnete ich.

Er beugte sich nach vorn, entnahm dem Humidor auf dem Schreibtisch die obligate Zigarre, schnitt sie an und entzündete sie umständlich. Dann sagte er: »Nun, mir schwebt ein Szenario vor, bei dem du gewissermaßen aus der Kulisse das Geschehen auf der Bühne beobachten könntest – da, wo für gewöhnlich Es und Über-Ich miteinander ringen, während das Ich im Publikum sitzt. Anders gesagt: Ich würde dich regelmäßig an der Behandlung eines neuen Patienten teilhaben lassen. Dir nach den jeweiligen Sitzungen, noch am selben Abend, deren Verlauf schildern. So hättest du Gelegenheit, die Technik der Psychoanalyse aus nächster Nähe zu studieren, Fragen zu stellen und Einblick zu nehmen, ohne dich zu exponieren.« Er lehnte sich zurück. »Ich denke, ein wenig Ablenkung vom Schulischen tut Not.«

Unwillkürlich dachte ich an die Arbeit. An die Freude und das Leid, das sie mir bereitete. Ich hatte nicht mit Papa darüber gesprochen. Trotzdem schien er darum zu wissen – beeindruckend und beängstigend zugleich.

Dann berichtete er mir von Stadlober.

Papa redete häufig über seine Patienten mit mir. Ob es tatsächlich mir und meiner Person oder nicht eher meiner Position in der Geschwisterreihe geschuldet war, sei dahingestellt. Als Einzige war ich noch da, zu Hause, die Letzte von sechs, und Tatsache war: Nur ich zeigte mich an seiner Arbeit interessiert.

Weil ich mich interessiert zeigen musste?

Halb zog er mich, halb sank ich hin. In Abwandlung einer seiner Lieblingsgeschichten konnte man Papa durchaus als männliche Sirene betrachten, die nicht direkt und offensichtlich meine Aufmerksamkeit einforderte, deren Vorhandensein aber dennoch zu genießen schien.

Papa hielt sich nicht sklavisch an die ärztliche Schweigepflicht. In seinen Veröffentlichungen gebrauchte er zwar erfundene Namen, aber meist sprach sich recht schnell herum, um wen es sich handelte. Wien ist ein Dorf!

Ich war vierzehn, als ich erstmals – auf einer kleinen Bibliothekstreppe in der Ecke hockend – seiner regelmäßig stattfindenden Kollegenrunde beiwohnte. Jeden Mittwochabend füllte sich das Wartezimmer der Praxis mit seinen Mitstreitern. Sobald die Diskussion um Ideen, Theorien und Störungen, um Patienten und deren Behandlung Fahrt aufnahm, fielen zunehmend Klarnamen. In meine Richtung deutend, sagte er dann: »Es bleibt ja in der Familie!«

Und das blieb es.

Es ist immer in der Familie geblieben.

Ich bin in der Familie geblieben.