Wenn Martha tanzt - Tom Saller - E-Book
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Tom Saller

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Beschreibung

Eine magische Kindheit in Pommern und eine wilde Zeit am Bauhaus! Ein junger Mann reist nach New York, um das Notizbuch seiner Urgroßmutter Martha bei Sotheby's versteigern zu lassen. Es enthält bislang unbekannte Skizzen und Zeichnungen von Feininger, Klee, Kandinsky und anderen Bauhaus-Künstlern. Martha wird 1900 als Tochter des Kapellmeisters eines kleinen Dorfes in Pommern geboren. Von dort geht sie ans Bauhaus in Weimar - ein gewagter Schritt. Walter Gropius wird auf sie aufmerksam, Martha entdeckt das Tanzen für sich und erringt so die Bewunderung und den Respekt der Bauhaus-Mitglieder. Bis die Nazis die Kunstschule schließen und Martha in ihre Heimat zurückkehrt. In ihrem Arm ein Kind und im Gepäck ein Notizbuch von immensem Wert - für sie persönlich und für die Nachwelt. Doch am Ende des Zweiten Weltkriegs verliert sich auf der Flucht Marthas Spur ... Von Weimar in die Welt - ein Jahrhundertroman!

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Das Buch

Ein junger Mann reist nach New York, um das Notizbuch seiner Urgroßmutter Martha bei Sotheby’s versteigern zu lassen. Es enthält bislang unbekannte Skizzen und Zeichnungen von Feininger, Klee, Kandinsky und anderen Bauhaus-Künstlern.

Martha wird 1900 als Tochter des Kapellmeisters eines kleinen Dorfes in Pommern geboren. Von dort geht sie ans Bauhaus in Weimar – ein gewagter Schritt. Walter Gropius wird auf sie aufmerksam, Martha entdeckt das Tanzen für sich und erringt so die Bewunderung und den Respekt der Bauhaus-Mitglieder. Bis die Nazis die Kunstschule schließen und Martha in ihre Heimat zurückkehrt. In ihrem Arm ein Kind und im Gepäck ein Notizbuch von immensem Wert – für sie persönlich und für die Nachwelt. Doch am Ende des Zweiten Weltkriegs verliert sich auf der Flucht Marthas Spur …

© Anett Kuerten

Der Autor

Tom Saller, geboren 1967, hat Medizin studiert und arbeitet als Psychotherapeut in der Nähe von Köln. Falls er nicht gerade schreibt, spielt er Saxophon in einer Jazzcombo. »Wenn Martha tanzt« ist sein Debütroman.

Tom Saller

Wenn Martha tanzt

Roman

List

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ISBN 978-3-8437-1709-0

2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für meine Eltern,meine SchwesterundHedi

Die Vergangenheit ist nicht tot;sie ist nicht einmal vergangen.

William Faulkner

New York

(2001)

Es ist merkwürdig. In wenigen Minuten werde ich Millionär sein. Vielfacher Millionär. Nicht dass jemand danach gefragt hätte – seit meiner Ankunft bei Sotheby’s scheine ich unsichtbar zu sein.

Das Mindestgebot liegt bei dreißig Millionen Dollar … Ein Betrag, der mir so fern ist wie der Glaube an eine feste Freundin – also Lichtjahre entfernt. Damit passt er ziemlich gut zu dem traumähnlichen Zustand, in dem ich mich seit heute Morgen, seit meiner Landung in New York, befinde.

Als der Taxifahrer den Weg vom Flughafen über die Brooklyn Bridge genommen hat, ist es wie in der Anfangsszene eines Hollywoodfilms gewesen. Je näher wir der gewaltigen Skyline Manhattans kamen, umso höher schossen Gebäude und Häuserfassaden in den Himmel. Gewannen an Wucht und Dominanz, bis jedes Fleckchen Blau verschwunden war und ich mir den Hals hätte verrenken müssen, um irgendetwas anderes zu sehen als Glas und Beton.

Ich blickte in Straßenschluchten mit gelben Taxis und pulsierenden Massen von Menschen mit Kaffeebechern in den Händen. Niemand schien bloß nur zu gehen; alle wirkten enorm zielstrebig, befanden sich auf dem Weg irgendwohin.

Plötzlich überfiel mich der Gedanke umzukehren. Mich in den nächsten Flieger zurück nach Deutschland zu setzen und die ganze Geschichte einfach zu vergessen.

Eigentlich hätte mein Vater an meiner Stelle hier sein müssen, aber er hatte abgewunken: »Du bist dichter dran, also flieg du auch rüber!«

Ein Vertrauensbeweis? Oder doch eher Ausdruck einer gutversteckten Ängstlichkeit der großen weiten Welt gegenüber?

Aber unsicher fühle ich mich auch. Schließlich bin ich zum ersten Mal raus aus Europa. Vielleicht ist New York schlicht zu groß für mich. Und die gesamte Angelegenheit sowieso.

Es wird sich zeigen.

So oder so.

Ich stamme aus ganz normalen Verhältnissen, was immer das heißen mag. Mein Vater ist gelernter Bankkaufmann, meine Mutter Lehrerin.

Zugegeben, möglicherweise wäre ein bisschen mehr Glanz in Sachen Herkunft nicht schlecht, doch es ist, wie es ist. Meine ältere Schwester hat es nach dem Medizinstudium in die Schweiz verschlagen. Inzwischen arbeitet sie als Assistenzärztin an einem Kantonsspital. Ich behaupte nicht, in ihrem Schatten gestanden zu haben, dennoch ist das Leben neben einem Leuchtturm nicht immer leicht.

Das Haus meiner Eltern ist ein typischer Siebziger-Jahre-Bungalow. Weiß, würfelförmig, in den Hang gebaut. Es steht in einem der besseren Viertel der Stadt. Ursprünglich haben wir zu fünft darin gewohnt. Meine Eltern, meine Schwester, Oma und ich. Bei meiner Großmutter handelt es sich um die Mutter meines Vaters. Sie ist eine lebhafte Frau gewesen, hat gerne geredet, aber immer im letzten Moment die Hand vor den Mund gehalten, als wäre es ihr nicht erlaubt, über bestimmte Dinge zu sprechen. Über ihre Flucht aus Pommern beispielsweise und die Ereignisse damals auf der Wilhelm Gustloff.

Einen Großvater hat es nicht gegeben; jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Die Familienlegende sagt, Oma sei im Lager in Dänemark schwanger geworden. Kurz darauf, und noch vor der Geburt meines Vaters, sei mein Großvater an Tuberkulose erkrankt und verstorben. Kriegsschicksal. Oder besser – Nachkriegsschicksal.

Beides nicht gut.

Als alleinerziehende Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg, als Fremde im eigenen Land, hat Oma es nicht leicht gehabt. Als protestantischer Flüchtling in einer katholischen Kleinstadt im Rheinland schon gar nicht. Doch schon vorher, in Türnow, hatte sie lernen müssen, dem Neuen mit Vorsicht zu begegnen.

Mehr als schmerzhaft.

Als meine Schwester und ich klein waren, verbrachten wir die Vormittage bei meiner Großmutter, während unsere Eltern arbeiteten. Wenn meine Mutter mittags aus der Schule kam, wurden die Etagen gewechselt. Oma hatte unten im Haus eine kleine Wohnung, die immer irgendwie anders roch als unsere eigene darüber. Es mag am Essen gelegen haben, das sie für sich und uns kochte. Komische Gerichte mit komisch klingenden Namen: Arme Ritter, Kirschen mit Klimpern, Wruken oder Plinsen. Oben gab es stattdessen Pizza, Hähnchenschnitzel oder Mirácoli. Das sind meine Erinnerungen an die frühen Achtziger. Zumindest kulinarisch.

Oma hat häufig mit uns Karten gespielt – Rommé, Canasta und Mau-Mau. Am allerliebsten hat sie Skat gespielt. Sie meinte, das liege in der Familie. Im Alter von sechs oder sieben Jahren konnten meine Schwester und ich problemlos einen Grand Hand erkennen. Spielen und siegen waren eins. Eine Art Inselbegabung, vermute ich.

Meine Großmutter und meine Schwester haben oft über die Vergangenheit geredet; Omas Kindheit und die rätselhafte Frage ihrer Herkunft – Martha, meine Urgroßmutter, hat ihr nie erzählt, wer ihr Vater gewesen ist.

Währenddessen habe ich mich in meine Comics versenkt. Die alten Geschichten interessierten mich nicht. Etwas, das ich inzwischen bereue.

Sehr sogar. Denn Oma ist tot.

Sie ist im vergangenen Jahr gestorben, und damit fing alles an. Ihretwegen bin ich hier in New York, in einer mir völlig fremden Welt.

In ihrem Auftrag sozusagen. Und dem Marthas. Der Frau, die eigentlich meine Urgroßmutter ist, die ich aber vor allem als junges Mädchen vor mir sehe. Wegen ihres Tagebuchs.

Und die eines Tages einfach verschwand.

Hier, in den erstaunlich nüchternen Räumlichkeiten von Sotheby’s, geht’s mir nicht anders als heute Morgen in den Straßen Manhattans. Alle sind beschäftigt, keiner scheint zum Spaß da zu sein. Nie zuvor habe ich mich so fehl am Platz gefühlt. Nach Geld riechende Männer mit festem Händedruck und kräftigen Unterkiefern studieren die Displays ihrer Blackberrys und Palms. An ihrer Seite mannequinhafte Wesen mit langen, schlanken Beinen – beinah schon unwirklich schön. Wieder könnte man meinen, es handele sich um eine Szene aus einem amerikanischen Film. Nur die Hauptrolle wäre eine glatte Fehlbesetzung: Das bin nämlich ich.

Bei genauerem Hinhören erkenne ich außer Englisch weitere Sprachen – Spanisch, Französisch, Italienisch. Ein paar deutsche Stimmen. Und irgendetwas Asiatisches; ich schätze Japanisch.

Meine eigenen Sprachkenntnisse halten sich in Grenzen, was ich vor allem meiner Faulheit auf dem Gymnasium zu verdanken habe. »Have a whale of a time«, begrüßte mich unser Anwalt in der Ankunftshalle des JFK, bevor er mich ins Taxi setzte; er selber hatte noch einen anderen Termin. Have a whale of a time. Vorsicht, es bedeutet nicht das, was ich gedacht habe.

Die Tatsache, dass ich erstmals in meinem Leben in den Staaten bin, hat mit den Angehörigen zu tun oder, besser gesagt, mit den Erben. Sie haben einen Prozess angestrengt. Urheberrechte, kulturelles Erbe, Rückführung – ich habe keine Ahnung. Meinetwegen hätten sie das nicht machen müssen. Ich hätte ihnen ihren Anteil auch freiwillig gegeben. Er steht ihnen zu. Aber anscheinend hat ein cleverer Anwalt ihnen geraten, das Ganze nach amerikanischem Recht auf US-Boden verhandeln zu lassen, um eine möglichst hohe Summe herauszuschlagen.

Ich werde vom Erlös der Auktion ein Drittel abgeben. So lautet der Urteilsspruch. Aber selbst für den Fall, es würde in wenigen Minuten nur das Mindestgebot aufgerufen – es bliebe immer noch ein wahnwitzig hoher Betrag übrig.

Doch das Geld ist mir egal. Wirklich. Es gehört sowieso nur indirekt meiner Schwester und mir. Vater ist der rechtmäßige Besitzer. Ich habe Marthas Tagebuch im Nachlass seiner Mutter gefunden, meiner Großmutter. Folglich ist er der Erbe.

Tatsächlich fällt es mir nicht schwer, mich von einem Vermögen zu trennen, das ich ohnehin nie besessen habe und dessen Dimensionen mir unvorstellbar sind.

Wesentlich schwieriger finde ich es, mich von der Geschichte zu trennen. Von Martha, Otto und den anderen. Bislang haben sie mir gehört. Mir ganz allein.

Ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle.

Ihre kleinen und großen Geheimnisse.

Monatelang habe ich Marthas Notizen studiert. Immer und immer wieder. Habe Namen, Orte und Daten recherchiert; im Internet Karten aufgerufen, bis mir die Augen brannten. Ich habe Geschichtsbücher und Kunstbände gewälzt, nach regionalen Besonderheiten geforscht. Versucht, ein Gefühl für ihre Welt zu bekommen.

Dann habe ich begonnen zu schreiben. Obsessiv.

Es ist nicht leicht gewesen, einen Anfang zu finden, denn es gibt keinen. Marthas Aufzeichnungen beginnen mittendrin. Also habe ich ihn erfunden.

Den Anfang.

Ich musste es tun. Hatte keine Wahl.

Marthas Erlebnisse haben mich gepackt, ergriffen, mich an den Schreibtisch vor ein leeres Blatt Papier gezwungen und mir einen Stift in die Hand gedrückt. Wegen ihr habe ich mein Germanistikstudium unterbrochen und ihre Geschichte zu meiner gemacht.

Weil sie es ist.

Doch darf ich das Leben meiner Urgroßmutter nehmen und mir dessen Beginn einfach erdenken? Den Auftakt, in Türnow?

Natürlich möchte ich Marthas Erfahrungen und die Menschen, die damit zu tun haben, der Vergangenheit entreißen. Mit einem kräftigen Ruck den Mantel des Vergessens wegziehen. Nicht zuletzt wegen des Dramas, das sich auf der Flucht zugetragen hat.

Doch möglicherweise spielen auch egoistischere Motive eine Rolle, und ich will mir vor allem Wurzeln verschaffen. Ausgerechnet ich, dem Herkunft, Familiengeschichte und Vergangenheit bislang vollkommen egal gewesen sind. Aber mit Martha ist plötzlich der fehlende Glanz in mein Leben getreten und damit die Chance – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll –, die Dinge irgendwie anders anzugehen? Ein wenig vom vorgezeichneten Weg abzuweichen?

Die energische Stimme eines Angestellten von Sotheby’s unterbricht mich in meinen Tagträumen. Wir werden aufgefordert, uns in den Auktionsraum zu begeben und Platz zu nehmen.

Als ich durch die Tür trete, fällt mein Blick auf das Pult des Auktionators; etwas über Hüfthöhe hoch. Ein Glas Wasser. Ein zierlicher brauner Hammer. Daneben, auf einem Beistelltisch, Marthas Tagebuch. Millionenschwer. Es hat die Zeit überdauert. Ein einzigartiges Zeugnis – einschließlich seines kühnen Beiwerks.

Das Heft ist in der Mitte aufgeschlagen und auf einer schräg stehenden Unterlage aufgebahrt. Ein Scheinwerfer taucht es in helles Licht. Jeder kann es sehen.

Es wirft einen langen Schatten.

Türnow

(1900–1919)

Hundert Jahre sind eine lange Zeit. Innerhalb eines jeden Jahrhunderts genau gleich lang. Manch einer behauptet, das vergangene Jahrhundert, das zwanzigste, sei länger gewesen.

Andernfalls hätte nicht so viel geschehen können.

Man schreibt das Jahr 1900. Thomas Mann sitzt an seinem ersten Roman. Im Sommer hält Kaiser Wilhelm II. in Bremerhaven seine berüchtigte »Hunnenrede«: »Pardon wird nicht gegeben!« Felix Hoffmann sei Dank kennt man bereits Aspirin.

In drei Jahren wird Walter Gropius sein Architekturstudium an der Technischen Hochschule in München aufnehmen – und bald darauf wieder abbrechen.

In Türnow wird Martha geboren. Oben, im Schlafzimmer des großen Hauses. Unten gibt Otto den Einsatz für die Musik. Zufall oder auch nicht – Marthas Eintritt in die Welt begleitet ein Dreivierteltakt.

Kein Marschrhythmus.

Das kommt später.

□△○

Da ist der Fluss. Und die Brücke über den Fluss. Als der Nebel sich lichtet, erscheint das Haus. Behutsam, Schicht um Schicht, enthüllen sich seine Konturen. Schimmernde Laken gleiten lautlos zu Boden.

Eine sanfte Brise bläht die Vorhänge im Schlafzimmer.

Martha liegt in ihrer Wiege, die Augen weit geöffnet. Eine frisch glänzende Münze, hineingegossen in die Welt. Wer wird sie prägen? Was gibt ihr Wert?

Elfriede ist da gewesen und hat sie gestillt. Der Duft von Milch und Mutterliebe hängt in der Luft.

Sanft schaukelt die Wiege hin und her.

Von links nach rechts.

Von rechts nach links.

Wie von Feenhand bewegt.

Im ganzen Haus hört man Musik.

□△○

Sie haben es von jeher das große Haus genannt. Trutzig bietet es der Welt die Stirn. Zwei Dutzend Männer und Frauen leben darin, sicher wie in einer Burg.

Hauptsächlich Männer. Und nur wenige Frauen.

Zwei Kinder.

Ein Junge. Ein Mädchen.

Martha.

Vieles hängt davon ab, ob die Menschen in der Umgebung Geld haben. Und einen Anlass. Und in der Stimmung sind.

Musiker spielen nicht im luftleeren Raum. Und schon gar nicht ohne Honorar. Eine stehende Kapelle ist wie ein lebender Organismus. Dynamisch. Immer in Bewegung. Nichts bleibt, wie es ist – nur die Musik. Sie ist fest verankert. In jeder Zeit.

Otto sagt: »Wenn die Menschen keine Musik mehr hören, sind sie tot.« Das stimmt.

Andererseits bedeuten Beerdigungen für seine Kapelle und ihn eine wichtige Einnahmequelle.

□△○

»Elfriede, wann ist das Essen fertig?« Ottos Stimme ist eines Musikdirektors würdig, dröhnt wie eine Kesselpauke, schmettert wie eine Posaune.

Jericho liegt stets um die nächste Ecke.

Geduldig verdreht seine Gattin die Augen gen Himmel. Sie ruft: »Wie immer steht das Essen um Punkt zwölf auf dem Tisch!«

Das Essen ist eine mildtätige Untertreibung. Eigentlich müsste es die Fütterung heißen. Es gibt Stampfkartoffeln mit Buttermilch. Üppig und nahrhaft. Günstig noch dazu.

Derzeit befinden sich mehr als zwanzig Musiker in Ausbildung, Kost und Logis im Hause Wetzlaff. Hinzu kommen das Dienstmädchen, der Knecht, Martha, Otto und Elfriede. Und Heinzchen.

Heinzchen ist der Erstgeborene. Er ist kurz nach der Geburt verstorben. Im Wochenbett. Hirnhautentzündung, hat der Arzt gesagt.

Für Martha sitzt er immer mit am Tisch.

Er isst allerdings nicht viel.

□△○

Was fühlt eine Mutter, deren Kind gestorben ist? Ein Kind, das sie nicht in der Schwangerschaft verloren, sondern zweihundertachtzig endlose Tage und Nächte unter dem Herzen getragen hat. Das das Licht der Welt erblickt und sich daran entzündet hat.

Seine Haut, sein Hirn.

Elfriede ist erst nach vier Jahren Ehe schwanger geworden. Eines der wenigen Themen, zu denen Otto erschöpfend schweigt.

Bauch und Busen haben sich gerundet, ihre Wangen gerötet. Ihr Haar hat den Glanz einer Kastanie angenommen.

Nie ist Elfriede schöner gewesen.

Als Heinzchen geboren wird, zeigt er die gleichen fein gezeichneten Züge. Doch Körper und Antlitz sind blass. Erst als sein Blut brennt, bekommt seine Haut Farbe.

Heinzchens Lebensflamme erlischt stumm wie eine Kerze. Drei Tage lang verbreitet sie ihr sanftes Licht. Dann ist es vorbei. Still und leise geht er davon – ohne ein einziges Mal geweint zu haben.

Elfriedes Tränen hingegen versiegen nicht.

Bis sie erneut schwanger wird.

Genau ein Jahr und einen Tag nach Heinzchens Tod.

□△○

Ein vertrautes Ritual am Abendtisch. Otto sagt: »Elfriede, gib dem dünnen Hansel nach. Er hat auf seinen Reisen viel Kraft gelassen.« Und mit ruhiger Hand nimmt Elfriede Wolfgangs Teller und legt ihm nach. Ihm, dessen hungrige Augen sich niemals trauen würden, etwas zu sagen.

Später, als sie allein sind, fragt Martha: »Wann bist du gereist?« Sie geht noch nicht zur Schule, ist außerstande, sich vorzustellen, jemals ohne ihn gewesen zu sein. In ihrer Erinnerung ist Wolfgang immer da, hat stets im großen Haus gelebt.

Nachdenklich mustert er sie, so lange, dass sie denkt, er habe ihre Frage vergessen.

Doch er vergisst sie nicht.

Wolfgang antwortet: »Vor deiner Geburt bin ich bei den Tänzerinnen auf Bali gewesen und habe den Trommlern in Kyoto gelauscht. Ich bin auf einen hohen Berg gestiegen, um den Klang eines Alphorns zu hören, und habe die Morin chuur der Mongolen gestrichen, deren oberes Ende ein hölzerner Pferdekopf ziert.«

Martha kann mit all diesen Namen nichts anfangen. Sie sind ihr egal. Wolfgang ist ihr nicht egal. »Warum bist du dort gewesen?«

»Ich bin der Musik gefolgt.«

»Hast du sie gefunden?«

Wieder betrachtet Wolfgang sie lange; diesmal mit dem Blick des Wanderers, der nach langem Suchen endlich sein Ziel erreicht hat. »Auf dem Rückweg aus dem Osten bin ich durch Türnow gekommen. Ich bin durstig gewesen und habe am Brunnen am Marktplatz haltgemacht. Die Frauen haben mit ihren Eimern Wasser geschöpft. Einer von ihnen bin ich gefolgt.«

»Weshalb?«

»Sie hat geweint.«

Martha runzelt die Stirn. »Und was hat das mit der Musik zu tun?«

»Ich bin der Frau vom Marktplatz bis hierhin, ins große Haus, hinterhergegangen. Ein dunkler Klang hat mich geführt.«

»Die Kapelle hat gespielt?«

»Nein. Ich habe ihn bereits am Brunnen wahrgenommen, den dunklen Klang. Elfriede hat getrauert. Um Heinzchen.«

□△○

Der staubige Holzboden im Proberaum, der Geruch von Schuhleder und die Namen der Instrumente – ihre frühesten Erinnerungen. Wie ein kleines Tier krabbelt Martha zwischen den Beinen der Musiker und ihren Notenständern hindurch.

Unversehens wird sie unter den Achseln gepackt und hochgehoben. Plötzlich sind da Licht und freie Sicht. Sie erblickt Otto, den Taktstock in der Hand. Vor ihm zwei Dutzend Männer mit ihren Instrumenten. Hinter ihr atmet jemand sanft in ihren Nacken. Wolfgang. Es ist immer Wolfgang. Vertrauensvoll lehnt sie sich zurück.

Wolfgang sitzt am Rand. Mit dem Rücken zur Welt spielt er im Proberaum des großen Hauses Klavier. Niemand kennt seinen Nachnamen. Niemand hat ihn je danach gefragt.

Wolfgang genügt.

Otto erzählt, Marthas erstes Wort sei weder »Mama« noch »Papa« gewesen. Geschweige denn »Vater« oder »Mutter«.

»Sie hat ›Pianoforte‹ gesagt«, prustet er und wischt sich mit seinem handtuchgroßen weißen Taschentuch die Tränen aus den Augenwinkeln.

□△○

Die Fenster zur Flussseite sind klein und schmal. In dicke Mauern hineingeschnitten.

Martha sitzt am Flussufer und lässt selbstgebaute Schiffchen zu Wasser. Rindenstücke, beladen mit Eicheln. Kurze Stöcke, denen ein abgebrochener Ast als Mastbaum dient. Große grüne Blätter bilden die Segel. Während ihr Blick dem Schlingerkurs der kleinen Flotte folgt, dringen vertraute Klänge an ihr Ohr.

Sie schaut auf.

Wie Kuchenteig, der beim Plätzchenbacken durch die Mühle gedreht wird, quillt Musik aus dem großen Haus. Durch jede Öffnung quetschen sich bunte Kringel, Schlangen, Stäbchen.

Martha lacht.

Heinzchen neben ihr lacht ebenfalls.

Sie mögen die Bewegung der Musik.

□△○

Ein Wald voller Hosenbeine. Lange, kurze, hochgerutschte. Manchmal ein heller Streifen Haut. Mehr oder weniger behaartes Unterholz. Dazwischen schmale, dünne Stecken. Immer drei gebündelt. Winzige Indianerzelte ohne Wände. Zu eng, um durchzukrabbeln.

»Marthchen, lass die Notenständer stehen!«, ruft Otto. »Sie sollen sich nicht drehen!« Er bemerkt den Reim. Er gefällt ihm. Aus voller Kehle singt er: »Ste-hen, nicht dre-hen!«

Otto ist Musik. Laute Musik. Immer. Und überall. Und ganz bestimmt seit der Geburt seiner Tochter.

Elfriede hingegen steht für Ruhe. Für zwei starke Arme, die einen halten, drücken, in die man sich hineinschmiegen kann. Elfriede ist braune Augen und dunkles Haar, das immer ein wenig nach Karamell duftet.

Elfriede ist die Liebe der Mutter zu ihrem Kind.

Martha fühlt beides – die Liebe zu Otto und zu Elfriede.

Sie wird sie nie verlassen.

Die Liebe.

□△○

Um sie herum Buntstifte, auf dem Boden verstreut. Die Zunge in den Mundwinkel geklemmt, führt ihre kleine Hand den Stift. Formen, Figuren, phantastische Gebilde fließen aufs Papier. Martha sieht, was sie hört, und hört, was sie sieht. Augen, Herz und Ohren weit geöffnet, folgt sie der Musik.

Als sie fertig ist mit ihrem Werk, steht sie auf und verlässt ihren Platz zu Füßen der Musiker. Sie geht nach vorn und legt Otto ihre Mitschrift vor.

»Was ist das, Marthchen?«

»Musik!«

Otto schaut. Und schaut noch einmal. »Du wolltest Noten malen, nicht wahr?«

»Nein, ich habe die Musik aufgeschrieben!«

Otto weiß, die Frauen in seinem Haushalt irren nur selten. Kleine wie große. Behutsam erkundigt er sich: »Kannst du sie singen – deine Musik?«

Martha legt den Kopf ein wenig schief und lässt Otto und die Musiker teilhaben. Teilhaben an dem, was ihr begegnet ist. In ihrem Kopf. In ihrem Bauch. Was sie in ihrem musikalischen Gedächtnis abgelegt hat.

Nach wenigen Sekunden winkt Otto verdattert ab. »Marthchen, das ist keine Melodie! Es klingt nicht einmal wie Musik. Vielleicht meinst du das?« Er singt ihr eine Tonfolge aus dem zuvor geprobten Stück vor.

Martha wiederholt, was sie gesehen hat. Diesmal in Ottos Stimme. Das Ergebnis ist das gleiche.

»Nun, wir halten fest, Marthchen«, feierlich streckt Otto den Zeigefinger in die Höhe, »eine Gießkanne verfügt über ein besseres Gehör als du!«

□△○

Martha geht hinaus in den Garten. Frisches Grün, der Duft von Flieder. Die Natur erweist sich als wohlriechendes Labor.

Sie beugt sich über die alte, verbeulte Gartenkanne. Kalt liegt das Metall ihren Lippen an, als ihr Mund die Tülle umschließt. Sie atmet tief ein. Und aus. Laut und deutlich singt sie ein »La«. Der Klang wird fortgeleitet, wandert ins Innere der Kanne, deren Bauch einen vollen Wohlklang erzeugt.

»Laah.«

Eine Klangkugel steigt empor.

Martha besitzt nur eine vage Vorstellung vom Aufbau des menschlichen Ohres – sie denkt ihn sich wie bei einer Gießkanne. Die Töne dringen in die Tülle ein, von wo aus sie ins Innere des Ohres, sprich, in die Kanne selber gelangen.

Selbstverständlich hat Otto recht. Jede Gießkanne, die etwas auf sich hält, hat ein besseres Gehör als sie. Weil – viel größer.

Wer wollte das bezweifeln?

□△○

Vormittags erteilt Otto den Auszubildenden Unterricht. An sämtlichen Blasinstrumenten und an Geige, Bratsche und Bass. Das ist der Grund, weshalb die jungen Leute zu ihm kommen. Sie wollen Berufsmusiker werden. Sie erlernen bei ihm ein zweites oder drittes Instrument, das Ensemblespiel sowie das präzise Beibehalten von Tempo und Rhythmus unter allen Umständen.

Darüber hinaus erarbeiten sie sich ein Repertoire, bestehend aus Walzern, Märschen, beliebten Volksliedern und einfachen klassischen Stücken. Nach drei Jahren in der Kapelle können sie die Stücke vorwärts, rückwärts, betrunken, nüchtern und mit geschlossenen Augen spielen. Bei Regen, Schnee, sengender Hitze und Sturm. In überfüllten Sälen und unter freiem Himmel.

Nach drei Jahren, in denen sie im Musikinternat Wetzlaff Kost, Logis und Unterricht erhalten und Ottos musikalischem Kollektiv ihr Talent zur Verfügung gestellt haben, sind sie Musiker.

Manche bleiben in der Kapelle, andere gehen auf Wanderschaft. Noch andere spielen in verschiedenen Combos und helfen nur noch gelegentlich aus, wenn eine große Besetzung benötigt wird.

Nur einer bleibt.

Wolfgang.

Er ist immer da.

□△○

Am liebsten spielt Otto Bass. Kontrabass. Und Tuba. Natürlich, was sonst? Jeder sollte das Instrument spielen, das zu ihm passt. Oder zu dem er passt.

Otto ist eins fünfundachtzig groß und kräftig gebaut. Er ist definitiv kein Flötist.

Neben der Musik besteht seine liebste Beschäftigung im Kartenspiel. Geberskat mit deutschem Blatt.

»Schellen Solo!«

»Null Ouvert!«

»Grand Hand!«

Otto und seine Mitspieler treffen sich abwechselnd in der Gastwirtschaft und zu Hause. Im großen Haus sitzt Martha unter dem Spieltisch, mit einem eigenen Kartenspiel und eigenen Regeln. Fasziniert lauscht sie den Ansagen, die wie eine fremde Sprache klingen. Ab und an zuckt sie zusammen, wenn eine Karte vehement auf den Tisch gedroschen wird.

Erstaunlicherweise ist die Luft unter dem Tisch am besten. Otto und die Honoratioren rauchen dicke Zigarren, deren Qualm sich um ihre Köpfe legt. Dennoch verliert keiner den Durchblick.

Sie spielen um hohe Einsätze.

Manchmal, nach ein paar Bier und ebenso vielen Schnäpsen, erhöhen sie den Punktwert.

Dann wird es sehr still am Tisch, und Martha, darunter, hält den Atem an.

□△○

Nachmittags, von drei bis fünf, ist Orchesterprobe. Neue Stücke werden einstudiert, alte aufpoliert. Alle ordnen sich Otto und seinem Dirigat unter. Er ist der Kapellmeister.

Nicht zuletzt dank jener Eigenschaft gilt er als angesehener Bürger Türnows. Er darf mit den Honoratioren am Tisch sitzen und Skat spielen. Dem Gutsherrn, dem Bürgermeister und Doktor Goldstein, dem jüdischen Arzt. Sie spielen zu viert. Der Geber setzt aus.

Sie spielen täglich; verfügen alle über ein Übermaß an Zeit. Zumindest tun sie so.

Eines Tages kommt Otto aus dem Wirtshaus nach Hause. »Elfriede«, ruft er und zeigt auf die Wände ringsherum, »was siehst du?«

Elfriede kennt Otto und seine Fragen, weiß, dass sie mit einem Künstler verheiratet ist. Geduldig antwortet sie: »Ich sehe die Mauern des großen Hauses.«

»Und was siehst du hier?« Otto deutet auf einen unscheinbaren weißen Zettel in seiner Hand.

»Einen nicht ganz sauberen weißen Zettel, mein Lieber.«

»Das ist richtig und falsch zugleich«, schmettert Otto. »Dieses unschuldige Stück Papier ist ein Schuldschein. Unterschrieben von Doktor Goldstein. Von nun an besitzen wir nicht nur das große, sondern auch ein kleines Haus. Ich habe es beim Skat gewonnen!« Er räuspert sich. »Wir haben vorübergehend die Einsätze erhöht.«

□△○

Im Herbst rücken auf den abgeernteten Feldern die Stoppelgänse an. Die Bauern treiben ihr Federvieh auf die Äcker, wo es die übriggebliebenen Körner pickt. Martha weiß, die meisten Weidegänse werden in wenigen Monaten als Weihnachtsbraten oder Spickbrust enden. Sie selber isst nicht viel Fleisch; ihr Lieblingsessen sind Wruken.

Otto und die Musiker verziehen das Gesicht, sobald die hellen Knollen auf den Tisch kommen. Aber Elfriede bleibt eisern – einmal in der Woche gibt es Steckrüben. Als Beilage oder Hauptgericht; als Gemüse, Suppe und manchmal sogar gemahlen als selbstgebackenes Brot. Ihr Haushaltsbuch ist ihre Bibel. Noch nie hat sie ihren Gatten um zusätzliches Geld bitten müssen.

Marthas Augen strahlen, sobald sie die in dicke Stifte oder Würfel geschnittenen Rüben entdecken. Auch Wolfgang isst mit Appetit. Er mag gar kein Fleisch. Und keine Eier. Außerdem meidet er Wolle.

Er erklärt Otto und den anderen, einer der berühmtesten Musiker der Antike sei Orpheus gewesen. Er habe seinen Schülern Erlösung durch Reinigung und Askese versprochen.

»Das ist gut«, antwortet Otto, »aber hat er deshalb Wruken essen müssen?«

□△○

Im Herbst werden nicht nur die Gänse auf die Felder getrieben. Für die Erstklässler beginnt die zweite Hälfte des Schuljahres. Nach den Osterferien haben sie stolz ihre neuen Ranzen aufgeschnallt, sich an den Händen gefasst und eine Kette gebildet – quer über die Straße. Sobald ein Fuhrwerk vorbeigekommen ist, sind sie auf dessen Ladefläche auf- und wenige Meter weiter wieder von ihr abgesprungen. Wenn sie eines Automobils ansichtig geworden sind, haben sie in die Hände geklatscht und laut »Oooh!« gerufen.

Es sind deutlich mehr Fuhrwerke als Automobile auf der staubigen Straße an ihnen vorbeigerattert.

Mit Hilfe ihrer Fibel hat Martha in den zurückliegenden Monaten die meisten Buchstaben und ein wenig lesen und schreiben gelernt. Papier und Bleistift sind ihr ohnehin vertraut.

Zahllose musikalische Mitschriften legen Zeugnis davon ab.

□△○

Lehrer Pauels hat sein Bein im Krieg verloren. Erstaunt hört Martha, dass deutsche Soldaten gemeinsam mit anderen Truppen gegen störrische Boxer gekämpft haben. Pauels deutet mit seinem Gehstock auf einen Punkt auf dem großen hölzernen Globus. »Da liegt es nun und verrottet!« Ein Tier scheint ihm ins Auge geraten; er reibt es heftig.

Martha weiß nicht, wo da ist, traut sich aber nicht zu fragen.

Als Nächstes zieht Lehrer Pauels eine gewaltige Landkarte vor der Tafel herunter. Braun, grün, blau. Mit Hilfe seines Stockes zeigt er seinen Schützlingen die Heimat.

»Hier wohnen wir, im Land am Meer.«

Martha hat das Meer noch nie gesehen. Sie wird zu Hause danach fragen. Die Schiefertafeln quietschen, als die älteren Schüler zehnmal schreiben: Ich wohne im Land am Meer.

Danach steht Rechnen auf dem Stundenplan. Die Großen in der letzten Reihe lösen Textaufgaben. »Ein Bauer hat vierzig Hühner. Jedes von ihnen legt pro Tag ein Ei …«

Martha und die anderen Kleinen ziehen ab. Sie sagen nicht »weniger« oder »minus«. Sie sagen »ab«: »Vier ab zwei ist zwei.«

Martha mag Rechnen. Sie kann gut mit Zahlen umgehen. Sie erinnern sie an die geheimnisvollen Zeichen in der Musik, die sie zu Hause, im Proberaum, zu Papier bringt. Sie staunt, als Lehrer Pauels jetzt an die Tafel schreibt: Zwei ab eins ist null.

Diesmal reibt er sich durch beide Augen. Ein weiteres Tier?

Er schnäuzt sich in sein dünnes, bereits ein wenig angegriffenes Taschentuch.

□△○

In der Schule wird gesungen. Alle singen, von der ersten bis zur achten Klasse. Gemischter Chor, ob Stimmbruch oder nicht.

Martha bekommt einen Brief mit nach Hause. Es gehe nicht an, schreibt Lehrer Pauels, dass die Tochter des Herrn Musikdirektors kein Volkslied singen könne. Gerade!, fügt er, sicherheitshalber mit einem Ausrufezeichen versehen, hinzu.

Otto ruft Martha zu sich. »Es geht nicht an«, sagt er, »dass mein Marthchen kein Volkslied singen kann. Gerade!«, fügt er, sicherheitshalber mit einem Ausrufezeichen versehen, hinzu.

Martha nickt.

Sie freut sich, als Otto erklärt, er werde von nun an mit ihr üben.

Sie gehen in den Proberaum, wo der staubige Holzboden und eine versprengte Herde Notenständer auf sie warten.

Otto setzt sich ans Klavier. »Zuerst die Tonhöhe«, doziert er mit gewichtiger Miene. Er drückt eine weiße Taste. Ein Ton erklingt. »Und nun aufgepasst!« Er drückt eine andere Taste. »Höher oder tiefer?«

Martha blickt ihn fragend an.

»Höher oder tiefer?«, fragt Otto mit Musikdirektorenstimme.

Martha versucht es mit: »Höher?«

»Noch einmal«, sagt Otto. Wieder drückt er zwei Tasten hintereinander. »Welcher der beiden Töne ist höher, Marthchen? Der erste oder der zweite?«

Diesmal entscheidet Martha sich für: »Der erste?«

»Nun ja, knapp daneben ist auch vorbei!« Otto besinnt sich auf seine pädagogischen Fähigkeiten. »Wir versuchen etwas anderes.« Er drückt drei Tasten gleichzeitig. »Klingt dieser Akkord eher traurig oder fröhlich?«

Martha findet es grundsätzlich schön, wenn Musik gemacht wird, und antwortet: »Fröhlich!«

Otto räuspert sich. »Zweiter Versuch. Fröhlich oder traurig?«

Martha bemerkt den Ausdruck in seinen Augen. »Traurig?«

Otto versieht sie mit einem tapferen Lächeln. »Du hast recht, Marthchen. Was ist schon ein Halbton unter Freunden?«

□△○

Otto fragt Elfriede um Rat.

Allein daran spürt sie seine Not.

Neben ihr im Bett liegend, spricht er ungewohnt leise. »Niemand ist so unmusikalisch. Schon gar nicht die Tochter eines Musikdirektors. Was ist zu tun?«

Elfriede denkt nach, ihr Blick geht nach innen. »Wolfgang fragen?«, schlägt sie in sanftem Ton vor. »Er hat viel gesehen und sieht immer noch viel.«

»Recht hast du, Weib!« Die gewohnte Energie kehrt in Ottos Stimme zurück. »Wer die Mongolen kennt, kommt auch mit den Frauen zurecht. Selbst wenn sie noch klein sind.«

Elfriede schätzt Otto. Über alle Maßen. Dennoch ist sie froh, dass es im Schlafzimmer dunkel ist. So kann er ihr Gesicht nicht sehen.

Ihr Seufzen hört er ohnehin nicht.

Egal, ob hell oder dunkel.

□△○

Wolfgang sitzt am Klavier. Ausnahmsweise nicht mit dem Rücken zur Kapelle, sondern zu Martha. Er schlägt eine Taste an.

»Was hörst du?«

»Musik.«

Wolfgang lächelt. »Ein guter Anfang.« Er schlägt eine weitere Taste an. »Und was fühlst du?«

»Es ist schön.«

Wolfgang oktaviert den Ton. »Merkst du einen Unterschied?«

»Er ist kleiner.«

»Wie bitte?«

»Der zweite Ton ist kleiner als der erste.«

»Woher weißt du das?«

»Das sieht doch jeder …«

Wolfgang runzelt die Stirn.

»… dass der zweite Ton kleiner ist als der erste.«

Wolfgang oktaviert erneut nach oben. »Und jetzt?«

»Noch viel kleiner.«

Er drückt eine Taste ganz weit links, im tiefen Register. »Groß?«

Martha lächelt. »Riesig!«

Wolfgangs Blick wandert in die Ferne. Auf seinen Reisen ist er Menschen begegnet, die Musik in Farben gesehen haben. Er schlägt ein C an. »Welche Farbe?«

»Nicht so wichtig …«

Schade. Es wäre interessant gewesen.

»… aber auf jeden Fall rund.«

»Was sagst du da?«

»Du hast einen Kreis gespielt.«

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