Ich bin kein anderer - Clay Carmichael - E-Book

Ich bin kein anderer E-Book

Clay Carmichael

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Beschreibung

Nach dem Tod seiner Großmutter erfährt der 17-jährige Waisenjunge Billy, dass er einen Zwillingsbruder hat. Doch dieser ist der Adoptivsohn des Senators und lebt auf einer Privatinsel. Billy hat weder Geld noch ein Auto, aber er ist entschlossen, dort hinzufahren. Dass die Reise schwierig wird, ahnt er. Wie sehr ihn die Geheimnisse und die Macht der Familie beeinflussen, kann er nicht wissen. Bis er versucht, seine eigene Wahrheit gegen ihren Widerstand zu verteidigen … Ein aufregendes Roadmovie und zugleich ein einfühlsames Jugendbuch über das Erwachsenwerden, die Suche nach der eigenen Identität und dem, was wirklich wichtig ist im Leben.

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Hanser E-Book

CLAY CARMICHAEL

ICH BIN KEIN

ANDERER

Aus dem Englischen

von Birgitt Kollmann

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Brother, Brother bei Roaring Brook Press, New York.

Das Kinderlied »A Sailor Went to Sea, Sea, Sea« wird in der Übersetzung von Ingo Herzke zitiert (entnommen aus Dave Shelton: »Bär im Boot«, 2013). Mit freundlicher Genehmigung des Carlsen Verlags.

ISBN 978-3-446-24837-3

© Clay Carmichael 2013

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2015

Umschlag: Marion Blomeyer / Lowlypaper, München,

Fotos: © plainpicture / Fancy Images

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Ich liebe Hunde. Sie tun nichts aus Berechnung.

                                                                          WILL ROGERS

1

ZUM ERSTEN MAL seit Monaten träumte Bruder vom Meer.

Die große Mutter, so nannte es Mem. Sie war an der See aufgewachsen und sagte, Träume vom Meer seien in der Familie weit verbreitet. Das sei auch die Erklärung dafür, wieso ein Junge, der den Ozean noch nie gesehen hatte, im Traum Delfinen hinterherjagte, das Krachen der Wellen an unbekannten Stränden hörte und manchmal schweißgebadet aufwachte, als wäre er beinahe ertrunken.

»Als junges Mädchen bin ich mit Delfinen geschwommen«, erzählte sie. »Sie bringen Glück, weißt du.« Natürlich wusste er das – so oft schon hatte sie ihm das erzählt. Doch dieser Traum letzte Nacht war anders gewesen, nicht dieselbe stets vergebliche Jagd. Der Delfin war immer vor ihm hergeschwommen, nur knapp außer Reichweite.

Er blieb still liegen, atmete tief ein und aus und ließ den Traum abebben, bevor er die Augen aufschlug. Sein Kopf dröhnte, und das helle Licht vor dem Fenster machte ihm klar, dass er verschlafen hatte. Schon zehn, zeigte ein Blick auf die Uhr. Auch wenn sie noch so krank war, stand seine Großmutter um fünf auf, noch vor Tagesanbruch und bevor die Zeitung mit einem dumpfen Schlag vor der Haustür aufkam. Stets wurde er davon wach, dass sie den Wasserkessel füllte, dass ihr Stuhl knarrte oder über den Holzboden schrammte, dass der Duft von frischem Kaffee zu ihm hereinzog. Seit er drei war, hatte ihn all das geweckt. Bis heute.

Die Totenstille im Haus riss ihn endgültig aus dem Schlaf. Mit wenigen Schritten war er beim Zimmer der Großmutter, klopfte an, ohne eine Antwort abzuwarten, wusste Bescheid, bevor er sie sah.

Er setzte sich zu ihr aufs Bett, nahm ihre kalte Hand in seine. Es kam ihm vor, als hätte sie sich aufgeregt, doch ob Schmerz oder Zorn aus ihrer Miene sprachen, hätte er nicht sagen können. Er war am Abend erst spät nach Hause gekommen, unter ihrer Tür hatte er kein Licht mehr schimmern sehen, und so war er vorbeigegangen, ohne nach ihr zu sehen. Er war müde gewesen nach einer Doppelschicht, zu viel Alkohol und einem Streit mit Cole, und so hatte er Mems wichtigste Lebensregeln ignoriert: Verlass dich nie auf Vermutungen!Sei achtsam, achtsam, achtsam!

Im Pflegeheim The Elms, wo er und Cole arbeiteten, war der Tod häufiger zu Gast als manche Angehörigen. Sein erster Toter war Jerry gewesen. Bruder erinnerte sich noch gut, wie starr der alte Mann dagelegen hatte, und an den völlig leeren Blick. An die Namen und Gesichter der weiteren Toten erinnerte er sich nur verschwommen. »Dafür kommen sie schließlich her – um zu sterben«, hatte Cole einmal gesagt, mit Blick auf zwei demente Patienten, die tagein, tagaus Hand in Hand auf den Fluren der geschlossenen Abteilung auf und ab liefen. »Leben kann man das wirklich nicht nennen.«

Mem war anders. Sie war dem Tod schon so nahe gewesen und doch so voller Leben. Bruders Kopf war auf einmal voller Was-wäre-wenn-Fragen. Was, wenn er gleich nach der Arbeit nach Hause gekommen wäre? Oder wenigstens früh von Cole aufgebrochen wäre? Würde sie dann noch leben? Er schloss die Augen, bis die inneren Stimmen still wurden. Lange saß er da und hielt Mems Hand.

Als er zur Ruhe gekommen war, fand er zwischen den Laken das Telefon. Der Akku war leer. Er richtete die zur Seite gekippte Lampe wieder auf und suchte die Bücher aus der Leihbibliothek zusammen, die zusammen mit einem Kreuzworträtselband und der Zeitung vom Vortag am Boden lagen. Von der ersten Seite sah ihn Gideon Graysons finstere Miene an. Dieser Gangster, so nannte Mem ihn immer. Frischer Hass funkelte in seinen Augen, der Zeigefinger war anklagend auf die Kamera gerichtet. Von diesem Blick gefriert einem die Seele, hatte Mem gesagt. Ihre Mutter war Haushälterin bei den Eltern des Senators gewesen, als Mem klein war, und seitdem hatte sie seine politische Karriere verfolgt. Schon damals war er ein kleiner Tyrann, hatte sie Bruder erzählt, und seitdem hat er sich kein bisschen geändert,so wie er den Reichen immer noch mehr in den Rachen schiebt, während er arme Jungs wie dich zum Sterben in die sinnlosen Kriege seiner Klasse schickt.

Sie hatte so gehofft, noch bis zu Bruders achtzehntem Geburtstag durchzuhalten, bevor sie zu ihrem Mann Billy heimging, ihrer großen Liebe und Bruders Großvater, der lange vor Bruders Geburt in Vietnam getötet worden war. Im Krieg unserer Generation, hatte sie gesagt und mit dem Kopf auf Billys prächtige Urne auf der Kommode gewiesen. Jede Generation hat wenigstens einen.

Bruder betrachtete das kunstvoll bemalte Gefäß, Bilder von einem Meer, das so sehr dem aus seinem Traum glich. Gleich daneben stand die schlichtere Urne seiner Mutter, hellblau wie das Ei eines Rotkehlchens. Er musste an den regnerischen Abend denken, an dem sie gestorben war, an dem sie ihn verlassen und die Identität seines Vaters mit sich genommen hatte. Er war gerade erst drei gewesen, als sie ihn aus dem Auto zerrte und mitsamt seinen Habseligkeiten zu der verblüfften Fremden, seiner Großmutter, hinschob. Frag nicht so viel, Mama. Morgen erklär ich dir alles. Das war seine letzte und einzige Erinnerung an seine Mutter. Stunden später hatte ein tropfnasser Polizist in gelbem Regenmantel und schwarzem Hut vor der Tür gestanden und die schreckliche Nachricht überbracht. Noch immer sah Bruder den Mann vor sich, das ernste, längliche Gesicht, den Regen, der an ihm ablief, das kalte blaue Licht des Streifenwagens an der Straße.

»Bruder, Bruder«, hatte Mem kopfschüttelnd zu ihm gesagt, als der Polizist gegangen war. Eigentlich hieß er Billy, so wie schon seine Mutter und sein Großvater, doch damit es keine Verwechslungen gab, nannten alle ihn nur Bruder. »Bruder, Bruder«, sagte Mem noch einmal, so wie sie es von da an noch öfter sagte, wann immer das Leben Enttäuschungen bereithielt und Worte versagten. Jetzt sagte er es selbst, während er sie ansah.

Sie hatten gewusst, dass sie sterben würde – eine Frage von Wochen, hatte der Arzt beim letzten Besuch gemeint. Trotzdem saß Bruder jetzt geschockt auf der Bettkante, und düstere Gedanken trieben durch seinen Kopf. Er wünschte, er hätte sie mehr gedrängt, mit ihm über die Familie zu sprechen, vor allem über seine Mutter. Doch wann immer er gefragt hatte, musste sie weinen, und so hatte er früh gelernt, nicht zu fragen. Als der Krebs dann zurückkam, war er selbst ganz alltäglichen Fragen aus dem Weg gegangen. »Wie geht es dir?« führte zu Antworten, die er nicht hören wollte, wohingegen »Heute siehst du besser aus« ihm erlaubte, sich selbst etwas vorzumachen. Darin war er ein Genie.

»Was zum Teufel ist eigentlich los mit dir?«, hatte Cole ihn am Abend angefahren. »Vor einem Jahr warst du noch der schlaueste Typ, den ich kannte, voller Pläne und Energie. Und jetzt bist du wie die Zombies vom Pflegeheim. Liefer dich doch gleich selbst in die geschlossene Abteilung ein! Du bist so ein verdammter Schlaffi geworden.«

Widersprechen konnte Bruder nicht, schließlich hatte er sich das schon selbst gesagt. Trotzdem sah es Cole gar nicht ähnlich, so negativ zu sein, seinen besten und einzigen Freund derart brutal zur Schnecke zu machen. Er maulte zwar hin und wieder, aber eigentlich war es immer ganz entspannt, wenn sie spätabends noch zusammen abhingen, und auch eine Gelegenheit zum Dampf-ablassen.

Genau wie Bruder hatte auch Cole die Schule mit sechzehn verlassen. Bis dahin waren sie in unterschiedlichen Cliquen unterwegs gewesen, erst als sie später gemeinsam für den höheren Abschluss büffelten, lernten sie einander besser kennen. Ein betrunkener Autofahrer hatte Coles Eltern auf dem Gewissen und Cole und dessen kleinen Bruder Jack zu Waisen gemacht. Aber auch wenn Coles familiäre Tragödie der von Bruder durchaus ähnelte, so hatte er doch nie aufgegeben und hatte sich, anders als sein Freund, nicht unterkriegen lassen. Cole war trotz allem stets optimistisch und ehrgeizig – falls man das Ehrgeiz nennen wollte, seinen Plan, beim Zocken oder im Lotto groß abzuräumen und dann »nix wie weg aus diesem verschlafenen Nest«. Aber gestern war er irgendwie anders gewesen, irgendeine größere Sache schien ihn zu beschäftigen, aber er wollte nicht damit rausrücken.

Vermutlich sollte er jemanden anrufen wegen Mem, dachte Bruder, doch er konnte sich nicht dazu aufraffen. So war es das ganze letzte Jahr bei ihm gewesen. Er zwang sich, in die Küche zu gehen. Mems Teller mit dem Abendessen unter Plastikfolie stand unangerührt im Kühlschrank – ein kleiner Trost. Denn das bedeutete, sie war schon vor dem Abend gestorben, als er noch bei der Arbeit war und ohnehin nicht zu Hause hätte sein können. Im Gedenken an Mem kochte er erst einmal Kaffee. Stark und schwarz goss er ihn auf, mit einer Prise Salz gegen die Bitterstoffe, genau so, wie sie ihn immer gemocht hatte. So würde er ihn jetzt trinken.

Anschließend duschte er, zog sich an und lief die halbe Meile den Sutter Highway hinauf bis zum Haus von Warren Alfred. Die flache, stoppelige Landschaft, in der er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte, schien ihm fremd. Irgendetwas stimmte nicht mit der Uhrzeit, der Tag war viel zu hell. Und so rot, wie die Erde war, konnte dies genauso gut der Mars sein.

An Warrens Briefkasten blieb er stehen und starrte darauf, es kostete ihn Überwindung, die Nachricht zu überbringen. Warren war ein netter alter Kerl. Der Witwer war zwanzig Jahre älter als Mem und schon lange in sie verliebt, auch wenn sie diese Gefühle nie erwidert hatte. Warren hatte sich mit ihrer Freundschaft zufriedengegeben und, solange Bruder zurückdenken konnte, ein Auge auf sie beide gehabt. Mems Jobs – Kellnerin, Kassiererin – waren immer schlecht bezahlt gewesen, doch Warren hatte vierzig Jahre für die Distriktbehörden gearbeitet und bezog eine Pension und Sozialleistungen. Er hatte Mem zu einer Erwerbsunfähigkeitsrente verholfen und manches bezahlt, was sie sich nicht leisten konnten: Medikamente, Pflanzen für den Garten, die Tageszeitung. Außerdem ließ er Bruder mit seinem Auto fahren.

Bruder musste an Mem denken, die jetzt tot im Haus lag, ganz allein, und fast wäre er umgekehrt, doch in dem Moment hörte er Trooper im Haus bellen und an der Tür kratzen. Zu Troopers großer Freude machte Warren auf. Wie ein Pfeil kam der Hund herausgeschossen, ein grau-weiß verschwommenes Etwas, das Bruder fast umwarf. Trooper war Bruders Hund, doch wegen Mems Allergien hatte er immer bei Warren gelebt. Trotzdem liebte Trooper Bruder über alles, und an diesem Vormittag war Bruder besonders froh, dass sein Hund sich so freute und so randvoll war mit purem Hundeglück. Lächelnd hockte er sich hin und ließ sich von Trooper übers Gesicht schlecken.

»Hey, True, guter Junge.«

Der weißhaarige Warren trat bedächtig vor die Tür und lud Bruder samt Hund mit einer Kopfbewegung ins Haus.

Trooper war ein Australian-Shepherd-Mischling, und als guter Hütehund blieb er dicht bei Bruder und sorgte dafür, dass ihm zwischen Briefkasten und Haustür auch ja nichts zustieß. Wie an jedem Tag, seit Bruder neun war, hütete er seine Ein-Mann-Herde und umrundete sie so oft, dass sich Bruder der Kopf drehte. Als sie das Haus betraten, hatte Warren bereits Feuer im Kamin gemacht. Jetzt saß er in seinem Schaukelstuhl und zog an seiner Pfeife, während der Duft von Kirschtabak durchs Zimmer zog. Warren war jemand, der auf freundliche Weise schweigen konnte, und Bruder mochte das sehr an ihm. Trooper lief auf dem Kaminvorleger zwischen den beiden hin und her und fixierte sie aus seinen eisblauen Augen, so als stellte er ihnen eine dringende Frage.

»Trooper ist schon die ganze Nacht auf und ab gelaufen«, sagte Warren, und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Mem ist tot, stimmt’s?«

Die Leute im Ort sagten, Warren habe »das zweite Gesicht«. Niemand nahm das allerdings besonders ernst oder redete deswegen schlecht von ihm. Das lag zum einen daran, dass Warren selbst völlig nüchtern damit umging, und zum anderen an seiner Stellung als ältester der Kirchenältesten in der Baptistengemeinde von Schuyler. Wenn je die Rede darauf kam, sagte Warren nur, wenn er irgendwelche Vorahnungen habe, dann nur deswegen, weil Trooper so auffällig unruhig werde, sobald irgendetwas von großer Wichtigkeit bevorstehe. »Dieser Hund«, sagte er, »spürt instinktiv, wenn Veränderungen im Gange sind.«

»Irgendwann gestern Abend«, sagte Bruder und setzte sich in den zweiten Schaukelstuhl.

Warren schloss die Augen, als betete er, und Bruder schmiegte sich in die Wärme des Feuers. Er lauschte dem Knacken des Holzes und dem Klingeln von Troopers Hundemarken. Noch immer schaute der Hund ängstlich von einem zum anderen.

»Es gibt noch mehr Veränderungen«, sagte der alte Mann leise. »Das war noch nicht alles.«

Bruder betrachtete Trooper beunruhigt. Immer hatte Warren behauptet, Troopers Ruhelosigkeit sei ein Hinweis auf Ereignisse wie unerwarteter Hagel, rekordverdächtige Schneemengen, einen Geldfund oder einen Reifenschaden, doch soweit Bruder wusste, hatte Warren bis zu diesem Tag das Verhalten des Hundes noch nie mit dem Tod eines Menschen zusammengebracht.

»Ich weiß«, sagte Warren, der Bruders Gedanken erraten hatte. »Das war nur ein dummer Gedanke eines alten Mannes.«

»Das finde ich nicht«, sagte Bruder, doch mehr oder weniger tat er es doch.

»Normaler Instinkt von Tieren, liegt in ihrer Natur. Lässt sich sogar wissenschaftlich nachweisen. Erinnerst du dich an den Tsunami, als die Tiere schon vorher auf höher gelegenes Gelände geflüchtet sind?«

Bruder nickte höflich. Er hatte davon gehört, und er wusste auch, dass Tiere ganz allgemein ein feineres Gespür hatten als Menschen, aber Warren entwickelte bei diesem Thema schon missionarischen Eifer.

»Zweihunderttausend Menschen kamen in den Wellen um«, fuhr Warren fort, »aber keine Tiere. Sie hatten gespürt, was kommen würde, und hatten sich vor der Welle ins Landesinnere gerettet. Tiere spüren auch Erdbeben noch vor den Menschen, und dass Tiere bessere Ohren und eine feinere Nase haben als Menschen, weiß jedes Kind. Genauso ist es auch mit Troopers Instinkten – sie sind eine Art Frühwarnsystem, das uns sagt, dass die Zeit reif ist für einen Wechsel, dass es eine Zeit der Instabilität und der Umwälzungen ist. Ich vermute, darauf reagiert Trooper irgendwie. Und wir können uns dann schon mal warm anziehen.«

»Warm anziehen?«, fragte Bruder. Der Teil war jetzt neu.

Warren nickte. »Du weißt, was ich von Reverend Harveys Predigten halte?«

Bruder verzog das Gesicht. »Ungefähr dasselbe wie Mem.« Dass er den flammenden Predigten des Pfarrers entging, dafür lohnten sich seine sonntäglichen Doppelschichten im Pflegeheim schon fast.

»Aber letzte Woche hat er etwas gesagt, da saß ich mit einem Mal kerzengerade in meiner Bank. Er meinte, die meisten Ereignisse im Leben seien schon vorüber, bevor wir sie überhaupt bemerkten. Und weil sie schon Vergangenheit sind, bevor wir wissen, was da über uns gekommen ist, erleben wir sie nicht, solange sie uns geschehen. Zu viele Leute lassen sich durchs Leben treiben, erleben die Dinge nur im Nachhinein, in der Erinnerung, aber das ist nicht dasselbe, wie wenn man im Moment des Geschehens mit vollem Bewusstsein dabei ist. Das war Troopers Geschenk an mich. Wacher zu sein, während das Leben stattfindet. Wenn er diesen starren Blick bekommt und auf und ab tigert, dann lausche ich genauer, dann mache ich die Augen weiter auf und nehme mehr wahr als sonst. Ich mache mir nicht so große Sorgen über das, was kommt, ich versuche nur zu bemerken, was passiert.«

»Sei achtsam, achtsam, achtsam«, sagte Bruder.

Warren seufzte. »Deine Großmutter wird mir fehlen.«

»Aber du hast es gewusst. ›Mem ist tot, stimmt’s?‹, hast du gesagt.«

»Ich habe es vermutet. Erst hält Trooper mich mit seinem Hin- und-her-Gelaufe die halbe Nacht wach, und dann stehst du auf einmal vor der Tür mit einem Gesicht, als wäre dir die ganze Welt abhanden gekommen. Außerdem war Mem schwer krank. Da muss man nur eins und eins zusammenzählen.«

Bruder nickte, als hätte er verstanden, doch in Wirklichkeit war es nicht so.

Warren legte seine Pfeife auf der Kaminbank ab und stand auf. »Ich rufe Bayliss an.«

Melvin Bayliss war der Inhaber des örtlichen Beerdigungsinstituts, eines der wenigen kleinen Unternehmen, die die Schließung der Mühlen und die Eröffnung der Kettenläden am Highway überlebt hatten. Mit seinem rabenschwarzen Haar, der bleichen Haut und dem immergleichen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte war Bayliss die Strenge in Person. Auch seine Art zu reden war schwarz-weiß, jeder bildliche Vergleich hätte aus seinem Mund wie Aramäisch geklungen, wie Mem einmal bemerkt hatte.

Warren telefonierte ein paar Minuten in der Küche, dann setzte er sich wieder an den Kamin. »Er ruft an, wenn er so weit ist. Hast du noch andere Verwandte?«

»Mem sagte, außer ihr und mir gebe es ihres Wissens niemanden.« Bruder dachte an seinen Vater, der, falls er noch lebte, vermutlich keine Ahnung hatte, dass er einen Sohn hatte.

»Wir fragen Bayliss. Der kennt sich mit Familiengeschichten aus und hat Erfahrung darin, Angehörige ausfindig zu machen. In Momenten wie diesem hat so ein spröder Charakter auch sein Gutes. Hast du heute schon was gegessen?«

Während sie auf den Anruf warteten, machte Warren Rühreier mit Käse und Worcestersoße, dazu röstete er dicke Scheiben seines selbst gebackenen Brotes und bestrich sie mit Butter – kein Vergleich mit Mems Tiefkühlmahlzeiten und Bruders eigenen Kochkünsten. Mems Mutter hatte ihrer Tochter nichts beigebracht. Selbst als sie noch gesund war, hatte Mem mit Kochen absolut nichts am Hut gehabt, und auch die sonstige Hausarbeit lag ihr nicht besonders. Das meiste, was im Haus anfiel, erledigte Bruder. Du bist um deine Jugend betrogen worden, hatte sie oft zu ihm gesagt. Du hast sie an eine kranke alte Frau verschwendet. Vielleicht war es ja so, doch der Gedanke, in Zukunft ohne sie weiterzumachen, bereitete ihm keine Freude.

Als sie fertig waren mit essen, legte Warren neues Holz auf. Dann nahm er Die kleinste Mundharmonika der Welt aus einer winzigen Schachtel mit ebendieser Aufschrift.Sie war tatsächlich nicht größer als ein halber Streifen Kaugummi. Warren nahm sie zwischen die Lippen, bewegte sie ohne Hilfe der Hände zwischen den Mundwinkeln hin und her und spielte Amazing Grace. Er spielte einfach großartig. Wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte – Bruder hätte es nicht geglaubt. Besser hätte man seiner Großmutter nicht gedenken können, fand er. Warren ließ keine einzige Note aus, und Troopers Hundemarken klingelten dazu wie ein Tamburin.

»Ein schönes Duett, True«, sagte Warren, als er geendet hatte. Er tätschelte dem Hund den Kopf, und Bruder musste an den Tag denken, als Warren und er Trooper auf dem Parkplatz vor dem Eisenwarenladen gefunden hatten und Warren es Bruder überließ, einen Namen für das Tier zu finden. Die grauen Anteile des Fells hatten genau die Farbe des Streifenwagens, mit dem der Polizist, ein State Trooper, gekommen war, der die Nachricht vom Tod der Mutter brachte.

»Nachdem ich mit Bayliss gesprochen habe, habe ich mir noch erlaubt, im Pflegeheim anzurufen. Ich hab ihnen gesagt, du musst aus familiären Gründen Urlaub nehmen.«

»Danke«, sagte Bruder. An seine Schicht hatte er gar nicht mehr gedacht. Sein Hirn war noch völlig benebelt.

»Hast du mal an deine Zukunft gedacht? Was wäre – nachher?«

Bruder schüttelte den Kopf.

»Triff keine übereilten Entscheidungen. Du hast deinen Schulabschluss und eine feste Arbeit, mehr als die meisten hier. Du bist ein freier Mann. Ein freier Mann mit einem guten Hund. Die Miete ist noch für eine Woche bezahlt. Danach kannst du erst mal hier unterkriechen, bis du weißt, was du machen willst.«

»Danke.« Warrens Fürsorge beruhigte Bruder. Noch hatte er nicht die geringste Ahnung, was er machen sollte. Er war einfach nur müde, so müde wie noch nie.

Das Telefon läutete. Bayliss meldete, er habe Mem abgeholt. »Zu ihrem Date mit dem Allmächtigen«, fügte Warren hinzu. Bruder stellte sich ein rotes Cabrio vor und einen langhaarigen Jesus im weißen Gewand, der die Beifahrertür für Mem aufhielt, während sie wie ein junges Mädchen lachte. Sie war immer noch eine auffallend schöne Frau gewesen, das sagte jeder, mit ihrem silbernen Zopf, den großen, hellwachen Augen und ihrem unbekümmerten Lachen.

Mem hatte vorgesorgt. Schon vor Jahren, als ihre Tochter Billie eingeäschert wurde, hatte sie Bayliss im Voraus auch für sich selbst bezahlt. Und unerbittlich festgelegt: Keinen Gottesdienst! Nach ihrer Diagnose hatte sie diesen Punkt immer wieder mit Bruder und Warren besprochen, damit sie auch ganz sicher begriffen hatten, wie schlicht sie sich den Ablauf der Dinge nach ihrem »Ableben« wünschte.

»Ich hab eine dringende Verabredung in der Sakristei«, sagte Warren, »es geht um Termiten. Aber du und Trooper, ihr könnt gern hier beim Feuer sitzen bleiben.«

Bruder sah zu Trooper hinüber, der sich inzwischen beruhigt hatte. »Danke«, sagte er und erhob sich. »Für alles. Aber ich glaube, ich gehe jetzt lieber nach Hause.«

Bei Bruders letztem Wort spitzte Trooper die Ohren. Voller Vorfreude war er mit einem Satz bei der Tür.

»Unmöglich, ihn jetzt zu enttäuschen«, sagte Warren. Er ging in die Küche und kam mit Troopers Napf, zwei Dosen Hundenahrung und einer Tüte Trockenfutter. »Ruf an, wenn du mich brauchst.«

Auf dem Heimweg fühlte Bruder sich wie benommen. Trooper lief glücklich hechelnd neben ihm her. Im Haus füllte Bruder den Napf mit Hundefutter und einen alten Kochtopf mit Wasser. Die Küchentür ließ er halb offen stehen, damit Trooper nach Belieben hin und her wechseln konnte. Dann nahm er Mems Brandy aus dem Küchenschrank, stellte sich in die Tür zu ihrem Zimmer und trank große Schlucke, während er auf das jetzt leere Bett starrte, in dem nur noch die nackte Matratze lag.

Aus seinem eigenen Zimmer drang ein Geräusch, wie wenn jemand die letzten Reste eines Getränks durch einen Strohhalm schlürft. Er drehte sich um. In seinem Bett fand er Jack, Coles fünfjährigen Bruder, zusammen mit der fettstarrenden Verpackung eines Hamburgers mit Pommes.

»Was machst du denn hier?«

Mit dem Strohhalm aus seinem leeren Pappbecher zeigte Jack auf seine vollen Backen.

»Ich meine, außer essen.«

Der Junge zuckte nur mit den Schultern.

Bruder versuchte sich zu erinnern, ob er Cole am Vorabend irgendeine Zusage gegeben hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass da nichts war, aber es war typisch Cole, Jack einfach bei Bruder oder Mem vorbeizubringen, für einen Nachmittag oder auch für ein, zwei Tage. Am Abend war Cole so in Rage gewesen, wie Bruder ihn noch nie erlebt hatte. Zuerst hatte er sich über Bruder selbst ausgelassen, aber als er sich erst mal in Fahrt geredet hatte, kam er auf Jack: Er liebe ihn wirklich sehr, aber er habe auch das Recht auf ein eigenes Leben. Er sei ja verdammt noch mal nicht daran schuld, dass ihre Eltern tot seien. Eines Tages würde das kleine Monster morgens wach werden und er, Cole, wäre über alle Berge. Vielleicht würde er einfach seinen Kram zusammenpacken und den Zwerg bei Bruder parken – der machte doch sowieso nichts aus seinem Leben! Das wäre dann auch schon egal. Das alles hatte er in voller Lautstärke herausposaunt, während der kleine Jack nebenan lag. Normalerweise schlief der Junge wie ein Stein, egal, wie laut sie waren, was ein Glück war, denn die Wände im Haus waren so dünn wie Coles brüderliche Hingabe. Doch als Bruder sich an diesem Abend umdrehte, stand Jack in der Tür, hellwach, und machte sich gerade in die Hose.

»Schluck runter, Jack, und dann sag mir, wo Cole ist.«

Jack schluckte, biss aber gleich wieder in seinen Burger.

Bruder wartete. Jack war ein liebes Kerlchen, aber genau wie Cole machte er sofort dicht, wenn jemand eine Antwort von ihm forderte, die er nicht geben wollte.

»Was hat er gesagt, wo er hinwollte?«

Wieder zuckte Jack mit den Schultern.

»Jack?«

»Was?«

»Sag mir jetzt, wo Cole steckt.«

»Oder du kitzelst mich, bis das ganze Essen oben rauskommt?«, fragte Jack kichernd.

Bruder stellte die Brandyflasche am Boden ab. Dann ging er zum Bett und packte Jack an den Knöcheln. »Ich mein’s ernst!«

Jack quiekte wie bei einem lustigen Spiel – was es sonst ja auch oft war, eins, das Jack liebte –, aber Bruder war nicht nach Spielen zumute.

»Mach jetzt, Kumpel.«

»Ich erstick gleich«, sagte Jack und lachte noch mehr.

»Man erstickt nicht, nur weil jemand einen an den Füßen hält!« Bruder verstärkte seinen Griff und sah Jack direkt ins Gesicht. »Hör mir mal zu. Ich will heute nicht spielen, kapiert?«

Jack hielt sich beide Ohren zu, kniff die Augen zusammen und fing zu allem Überfluss auch noch an zu summen.

»Jack, ich mein’s ernst. Nimm die Hände von den Ohren und sieh mich an. Etwas ist passiert. Etwas Schlimmes.«

Jack liebte Geheimnisse. Sofort riss er die Augen auf und ließ die Hände sinken.

»Mem ist tot.«

Eine Weile starrte Jack nur vor sich hin und versuchte, Bruders Worte zu begreifen. »Du meinst – so wie Jeepers?«

Bruder erinnerte sich noch an den Goldfisch, der eines Tages mit dem Bauch nach oben in seinem Glas gelegen hatte, und auch daran, wie Jack Bruder und Cole weinend angefleht hatte – »Macht was!« –, obwohl da nichts mehr zu machen war.

Er nickte. »So wie Jeepers.«

Jack schien darüber nachzudenken. »Beerdigen wir Mem auch im Garten?«

Bruder dachte an die kleine Beisetzungszeremonie. Er selbst, Mem, Cole, Jack und Trooper waren dabei gewesen, als Jeepers in einem Bonbondosensarg aus Blech im Garten zur letzten Ruhe gebettet wurde. Mem hatte die biblische Geschichte von den Fischen und den Brotlaiben vorgelesen.

»Mr. Bayliss vom Beerdigungsinstitut kümmert sich um alles. Er war schon im Haus und hat sie geholt.«

Jetzt war Jack wirklich interessiert. Er setzte sich auf, während Bruder sich auf dem Bett ausstreckte und einen Arm über die Augen legte.

»Beerdigt er sie im Garten?«

»Nein, das nicht.«

»Nämlich wenn du willst, könntest du sie gleich neben Jeepers begraben.«

»Danke, Kumpel. Lieb von dir. Und weil du so lieb bist, wirst du mir jetzt auch bestimmt einen großen Gefallen tun.«

»Was für einen?«

»Weißt du noch, wie du dich gefühlt hast, als Jeepers gestorben war?«

Jack nickte und ließ den Kopf sinken. »Ja.«

»Weißt du noch, wie doll du geweint hast?«

»Ganz doll.«

»Und weißt du noch, wie wir uns in dein Bett gelegt und gekuschelt haben und einfach traurig sein durften?«

Wieder nickte Jack.

»Meinst du, das könnten wir jetzt auch machen? Ein kleines trauriges Nickerchen halten?«

»Kaufst du mir dann noch einen Cheeseburger?«

»Aber sicher. Später, okay? Wenn Cole zurück ist.«

Jack schien etwas sagen zu wollen, ließ es dann aber sein. Er drehte nur den Kopf und schaute auf etwas, das bei der Tür stand. Bruder folgte Jacks Blick. Ein kleiner Koffer. Was für ein Tag!

*

Als Bruder aufwachte, war es schon dunkel. Wie ein gewaltiger Geier stand Bayliss neben seinem Bett. »Ich hab sechsmal hier angerufen und keinen erreicht. Da habe ich mir Sorgen gemacht und bin hergekommen.«

»Ich muss vergessen haben, das Gerät in die Ladestation zu tun. Wie spät ist es?«

Bayliss sah auf die Uhr. »Zwanzig Uhr zwanzig.«

»Was für ein Tag?«

Bayliss warf einen kurzen Blick auf die leere Brandyflasche am Boden und knipste die Nachttischlampe an. »Immer noch Mittwoch. Wer ist der Junge?«

Schlagartig erinnerte Bruder sich an Jack und fuhr hoch.

»Alles in Ordnung, der ist draußen. Spielt mit dem Hund«, sagte Bayliss.

Jetzt hörte Bruder Jacks hohe Stimme und Troopers Bellen.

Bayliss zog leicht die Augenbrauen hoch. »Als ich kam, machten sie sich gerade gemeinsam über das Hundefutter her.«

Bruder seufzte. »Ist Warren mitgekommen?«

»Warren sitzt zu Hause, mit einem verstauchten Knöchel.«

»Wie ist das passiert?«

»Von der Leiter gefallen, in der Kirche. Er hat mich gebeten, nach dir zu sehen.«

»Wie geht’s ihm?«

»Der wird schon wieder. Wie wär’s, wenn du dir mal ein bisschen Wasser ins Gesicht spritzt, während ich uns Kaffee koche? Es gibt ein paar Dinge zu besprechen.«

Als Bruder zu Bayliss in das kleine Wohnzimmer kam, warteten schon zwei Becher mit dampfendem Kaffee auf dem Tisch. Dazwischen stand die Urne mit den Meermotiven, die Bruders Großvater gehörte.

»Es gibt da ein paar Probleme«, sagte Bayliss.

»Was für Probleme?«

»Dazu kommen wir gleich. Erst noch eine Frage: Bist du sicher, dass du keine Andacht willst? Reverend Harvey möchte es wissen.«

»Mem wollte keine.«

»Entschuldige, aber Mem ist tot, und du lebst. Manchmal hilft so ein Gottesdienst den Hinterbliebenen, Abschied zu nehmen. Sie haben dann das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Würde dich auch nichts extra kosten.«

Bruder konnte sich den bornierten Nachruf des Pfarrers lebhaft vorstellen. Wenn Harvey in seinen Predigten Dinge gesagt hatte, mit denen Mem absolut nicht einverstanden war, hatte sie das oft nicht einfach still hingenommen. Sie hatte abgewartet, bis Harvey zum Ende gekommen war, um ihn dann zu seinem Leidwesen höflich zu widerlegen. »Sei nicht einfach ein Zuschauer, Bruder: Sei Augenzeuge, stell Dinge infrage, denk selbst!« Besonders gut erinnerte Bruder sich an den Sonntag, an dem Reverend Harvey vor einer zustimmend nickenden Gemeinde über die Sünde der Abtreibung gepredigt hatte. Am Ende der Predigt erhob sich Mem in ihrer Bank und erklärte vor allen Anwesenden, sie sei überzeugt, dass nach allem, was sie hier gehört hätten, die Adoptionsraten in kirchlichen Kreisen im kommenden Jahr um das Zehnfache ansteigen würden. Sie selbst könne bezeugen, wie viel Freude so eine Adoption mit sich bringe, sagte sie, und ohne sich um Harveys wütenden Blick zu kümmern, setzte sie sich wieder und wischte Bruder den Rotz von der Nase.

»Großer Gott, nein«, antwortete er jetzt. »Sie würde mir als Geist erscheinen, wenn ich Harvey das letzte Wort haben ließe.«

Bayliss nickte. »Ich habe mir erlaubt, die Nachricht an beide Zeitungen weiterzugeben.« Er zog ein Blatt aus der Brusttasche und reichte es Bruder, der laut vorlas, was da mit Maschine geschrieben stand: »Mem Grace, Witwe des verstorbenen Billy Grace und Mutter der ebenfalls verstorbenen Billie Grace, starb am 23.  März in ihrem Haus. Sie hinterlässt ihren Enkel Billy Grace.«

»Keine Ahnung, ob ich nun lebe, tot bin oder mein eigener Großvater«, sagte Bruder.

»Genau so hat sie es haben wollen«, erwiderte Bayliss. »Ich ändere nie etwas.«

»War nur ein Scherz«, sagte Bruder.

Bayliss runzelte die Stirn, so als wollte er andeuten, dass jetzt nicht der passende Moment für Scherze sei. »Wenn ihr nicht alle denselben Namen hättet …«

»Danke«, fiel ihm Bruder ins Wort. »Ist schon in Ordnung. In Zukunft gibt’s mich jedenfalls nur noch im Singular. Keine Verwechslung möglich.«

»Entschuldige, aber Verwandte haben die Neigung, urplötzlich aufzutauchen, sobald jemand gestorben ist«, sagte Bayliss. »Und wenn es nur darum geht, herauszufinden, ob es was zu erben gibt.«

»Da wären sie in diesem Fall aber enttäuscht.« Bruder dachte an den Zehner in seiner Tasche, alles, was ihm geblieben war bis zum nächsten Zahltag, und auch das neue Gehalt schuldete er schon jemandem.

»Trotzdem, aus langer Erfahrung weiß ich: Bei so großen Lücken in der Vergangenheit einer Familie gibt es immer irgendwo eine Geschichte. Was mich zu dem bringt, worüber ich mit dir reden muss.«

Bruder nickte Bayliss aufmunternd zu.

»Bevor ich heute Morgen herkam, habe ich in den Unterlagen noch einmal nachgelesen, welche Anweisungen Mem hinterlassen hat. Sie wollte, dass ihre Asche in einer Urne ähnlich der deines Großvaters aufbewahrt wird. Daher habe ich mir erlaubt, diese Urne vorhin mitzunehmen. Ich hoffe, du hast dir deswegen keine Sorgen gemacht.«

Bruder schüttelte den Kopf. Er hatte gar nicht gemerkt, dass die Urne fehlte.

Bayliss betrachtete die Urne auf dem Couchtisch, als wäre sie ein hübsches Mädchen. »Porzellan«, sagte er. Er kippte das Gefäß leicht, um Bruder ein Datum und eine unleserliche Signatur am Boden zu zeigen. »Italien. 1672. Handbemalt. Vermutlich nicht dafür gemacht, als Urne zu dienen, sondern für allgemeinere, dekorative Zwecke.«

»Das heißt, Mem hatte sie nicht bei Ihnen gekauft?«

»O nein, solche Modelle habe ich nicht auf Lager. Und du hast keine Ahnung, woher sie sie haben könnte?«

»Keinen Schimmer.«

Bayliss schwieg und sah sich im Raum um. »Ich weiß ja nichts über deine finanziellen Möglichkeiten, aber ich habe mir auch erlaubt, ein Foto der Urne an einen Kollegen zu schicken, der sich mit Antiquitäten ein bisschen auskennt. Er hat gemeint, er könne etwas in ähnlichem Stil und ähnlicher Qualität für nur zweitausend Dollar auftreiben.«

Bruder schnaubte nur höhnisch.

»Verstehe. Normalerweise, da die beiden ja verheiratet waren, würde ich vielleicht vorschlagen, die Asche der beiden in ein und demselben Gefäß aufzubewahren, das machen viele Ehepaare so …«

Bruder blickte ihn hoffnungsvoll an.

»Aber deine Großmutter hat ausdrücklich festgelegt, es sollten getrennte Urnen sein. Abgesehen davon ist die Urne auch zu klein.«

»Klar«, sagte Bruder seufzend.

»Aber ich stelle gern eine schlichte Urne zur Verfügung, kostenlos, als Teil der ursprünglichen Vereinbarung.«

»Danke, Bayliss, das ist nett. Zumindest als vorübergehende Lösung, bis ich etwas anderes aufbringen kann.«

Die rückwärtige Tür knallte zu, und Jack und Trooper stürmten geräuschvoll ins Haus. Jack legte eine Vollbremsung vor Bruder hin und betrachtete interessiert die Urne. Auch Trooper kam näher und schnüffelte daran.

»Ich hab Hunger. Was ist da drin – Kekse?«, fragte Jack.

»Asche«, antwortete Bruder.

»Von einem Feuer?«

»So ungefähr.«

»Kann ich mal reingucken?«

»Nein«, antwortete Bayliss.

»Ich glaube, das versteht er noch nicht«, sagte Bruder.

»Ich verstehe eine ganze Menge«, protestierte Jack wütend.

Bayliss räusperte sich. »Genau genommen bist du derjenige, der etwas nicht versteht, Bruder. Der Deckel ist mit einer Art Leim festgemacht. Wenn er sich überhaupt entfernen lässt, ohne die Urne zu beschädigen, dann nur von einem Fachmann.«

»Ha!«, triumphierte Jack mit einem Siehst-du-mal-Blick in Bruders Richtung.

»Für deine Großmutter hätte ich eine schlichte, aschefarbene Urne«, sagte Bayliss ohne jede Ironie. »Gratis, wie gesagt. Und ich bitte meinen Freund gern, die Augen nach einem ähnlichen Modell wie diesem hier offen zu halten. Zu einem vernünftigen Preis.«

»Danke, Bayliss. War das alles?«

»Ehrlich gesagt, ist das noch das geringste deiner Probleme.«

»Wie viele gibt’s denn noch?«

»Das wird sich zeigen«, antwortete Bayliss, und hätte Bruder nicht gewusst, dass Bayliss immer todernst war, hätte er geglaubt, er mache sich lustig. Jetzt zog Bayliss einige zerknitterte Zeitungsseiten aus der Tasche und legte sie sich zusammengefaltet aufs Knie.

»Als ich heute Vormittag hier war, um deine Großmutter zu holen, lag eine Zeitung auf ihrem Bett.«

»Ich hab’s gesehen«, sagte Bruder.

»Aber ich vermute, du hast sie dir nicht näher angesehen.«

Er reichte Bruder die Zeitung mit dem Foto des Senators, der unzufrieden und ärgerlich dreinblickte.

»Das hab ich auch gesehen.«

»Aber ich nehme an, du hast nicht den ganzen Artikel gelesen, oder?«

Bruder schüttelte den Kopf.

»Ich hab ihn auch nur deshalb gelesen, weil ich die Zeitung aufgeschlagen habe, um die Urne deines Großvaters für den Transport darin einzuwickeln.«

»Und?«

»Sieh selbst.«

Erst jetzt entdeckte Bruder die Bildunterschrift. Senator Grayson kritisiert Berichterstattung zur Überdosis seines Sohnes. S. Artikel, Regionalteil, S. 1.

»Und?«

»Lies weiter. Erste Seite Regionalteil.«

Bruder blätterte weiter. Unter der Überschrift Zustand von Graysons Sohn kritisch, aber stabil war das Foto eines Jungen zu sehen – offensichtlich eins aus einem Schuljahrbuch. Abgesehen davon, dass dieser Junge ausgeruht und glatt rasiert war und Jackett und Krawatte trug, war er Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten. Jemand hatte mit Kugelschreiber den Kopf des Jungen umkringelt.

»Haben Sie den Kreis um das Bild gemalt?«, fragte Bruder, aber im Grunde wusste er die Antwort schon.

Bayliss sah gekränkt aus. »Natürlich nicht! Der Kugelschreiber lag noch auf der Bettdecke. Sie muss einen Schock bekommen haben, und krank, wie sie war …« Bayliss brach ab, aber Bruder wusste auch so, was er meinte.

Trooper hatte geduldig stillgehalten, während Jack ihm immer mehr Trockenfutter auf den Kopf legte, doch dann schüttelte er sich, als käme er aus dem Regen, und Jack wandte seine Aufmerksamkeit der Zeitung zu. »Bruder!«, rief er und bewies damit, dass selbst ein Fünfjähriger die schlagende Ähnlichkeit erkennen konnte. »Wieso bist du in der Zeitung? Hast du im Lotto gewonnen?«

»Nein, Kumpel, und das bin ich auch nicht.« Bruder starrte auf die Bildunterschrift: Gabriel Gideon Grayson III. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das mein Bruder ist.«

2

»COLE!«, BRÜLLTE BRUDER. »Mach die verdammte Tür auf!«

Es war inzwischen klar, dass Cole nicht da war, doch Bruder rief immer weiter nach ihm und hämmerte abwechselnd an beide Türen, bis ihm die Faust wehtat. Er hatte keine Ahnung, wo er einen Schlüssel finden könnte – zum Glück für Jack. Bruder war nämlich mit dem festen Entschluss hergekommen, den Jungen und seine Tüte mit Burritos im Haus zu parken, egal, ob Cole da wäre oder nicht. Jack müsste eben allein klarkommen, bis Cole zurückkam. Seine Entschlossenheit hatte so lange vorgehalten, bis er das Haus fest verschlossen fand. Dann meldete sich – mit Mems Stimme – auch sein Gewissen wieder. Bruder, du kannst den kleinen Kerl doch nicht allein lassen! Was, wenn er Streichhölzer findet und das ganze Haus abfackelt, mit ihm darin?

»Idiot!«, fuhr er sich selbst an. Er wusste, wenn er Jack tatsächlich allein zurückließ, würde diese Stimme ihn so lange verfolgen, bis er irgendwann sowieso kehrtmachte. »Ich kann das jetzt nicht brauchen, Cole. Nicht jetzt. Ich kann mich nicht um deinen Bruder kümmern, ich muss meinen eigenen finden.«

Trooper bellte, und Bruder sah sich nach Warrens altem schwarzen Ford Galaxie um, den er an der Straße geparkt hatte. Eine gebückte Gestalt, die er nicht erkannte, spähte ins Auto hinein. Trooper sprang aufgeregt auf dem Beifahrersitz herum. Der Hund hatte die Nacht friedlich schnarchend Seite an Seite mit Jack verbracht – er hatte sofort begriffen, dass der Junge jetzt Teil seiner Herde war, dass er ihn bewachen musste. Was war passiert, fragte Bruder sich ärgerlich, dass Cole diesen Instinkt verloren hatte?

»Nein!«, rief Jack. »Ich darf nicht mit Fremden reden!«

»Kann ich Ihnen helfen?«, rief Bruder, und der Mann richtete sich auf. Seufzend erkannte Bruder, wer es war.

»Wer ist der Kleine?«, wollte Reverend Harvey wissen.

Das geht Sie einen verdammten Dreck an, hörte er Coles Stimme in seinem Kopf. Stattdessen antwortete er: »Ein Freund der Familie«, und schwieg dann, so wie er es von Mem gelernt hatte. »Schweigen verunsichert Menschen«, hatte sie immer gesagt. »Meist sagen sie dann etwas, um die Stille zu füllen, und dabei geben sie sich zu erkennen.«

Mems guter Rat zeigte Wirkung, auf einmal schien Harvey sich an seine Manieren zu erinnern. »Ich war erst bei dir zu Hause, dann bei Warren. Ich wollte dir Trost und seelischen Beistand anbieten, was immer du brauchst. Mein herzliches Beileid, Junge.« Dabei wirkte er eher hochmütig als mitleidig. Bruder erinnerte sich noch gut an den Sonntag, an dem Harvey ihnen mitgeteilt hatte, falls Mem und Bruder sich nicht umgehend von ihm taufen ließen, seien ihre Seelen, so leid es ihm tue, zu ewigem Höllenfeuer verdammt. Auch jetzt wieder machte Harvey ein Gesicht, als läge ihm ein Hab ich’s euch nicht gesagt? auf der Zunge. Damals hatte Mem ihm einfach ins Gesicht gelacht. »Satan ist viel zu stolz, um zwei so unbedeutende Seelen wie unsere einzufordern«, hatte sie Harvey gesagt. »Jesus scharte die Verlierer dieser Welt um sich. Das sollten die auf der Gewinnerseite mal zur Kenntnis nehmen!«

»Danke, Reverend. Ich weiß Ihre Anteilnahme zu schätzen«, sagte Bruder mit einem der vielen höflichen Sätze, die Mem ihm beigebracht hatte. Gutes Benehmen sei eine Zuflucht, hatte sie gesagt, ein Schutzschild gegen Schicksalsschläge ebenso wie gegen unangenehme Menschen. Sie hatte ihm beigebracht, wie man stets die Form wahrt und Fragen elegant ausweicht, damit er sich nicht von Situationen überrumpelt fühlen sollte und kein Wort herausbekam. Wie froh wäre sie, wenn sie jetzt erlebt hätte, wie ihre Höflichkeitsregeln ihm sofort präsent waren, einsatzbereit wie gut trainierte Reservisten. »Ihr Angebot ist sehr freundlich, aber ich komme gut zurecht.«

Bruder schwieg wieder, während der Reverend unbehaglich zögerte. »Wenn du dir sicher bist.«

»Das bin ich, Sir, danke.« Dann stand er wieder stumm da, bis Harvey nichts anderes übrig blieb, als zu seinem Auto zu gehen.

»Ich werde regelmäßig nach euch schauen«, rief er noch. »Nach dir und dem Jungen.«

Na super, dachte Bruder. Er stieg in Warrens Auto, knallte die Tür zu und krallte die Finger ums Lenkrad. Trooper schleckte ihm das Ohr ab.

»Ich hab deinen Burrito gegessen«, gestand ihm Jack von der Rückbank.

»Schon okay. Ich hab keinen Hunger.«

»Ich glaub, ich muss brechen.«

Bruder holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Aber nicht in Warrens Auto!«

»Und wenn es einfach passiert?«

»Dann steig vorher aus und spuck ins Gras.«

»Dann wird Cole aber sauer.«

»Cole ist nicht hier.«

»Aber wenn er zurückkommt und mich anbrüllt und ich davon noch mehr brechen muss?«

Bruder blickte in den Rückspiegel. Der Bengel grinste ihn an.

»Jack?«

»Was?«

»Du weißt schon.« Bruder kraulte Trooper den Kopf. Noch nie hatte er sich so über etwas gefreut wie jetzt darüber, dass der Hund bei ihm war. Wenigstens ein Erwachsener im Auto.

Auf der ganzen Fahrt zu Warren hüpfte Jack im Auto auf und ab und sang unablässig: »Kotz, kotz, kotz, kotz motz, kotz motz …« So lange, bis er auf der letzten halben Meile in ein Post-Burrito-Koma fiel. Bruder ließ ein Fenster einen Spalt offen, bevor er Jack und den Hund im Auto einschloss. »Gut Wache halten«, schärfte er Trooper ein, der gleich auf den Rücksitz sprang und sich aufmerksam neben den Jungen setzte.

Warren saß dösend im Haus, den rechten Fuß hatte er auf mehreren Kissen auf einem Schemel abgelegt. Dankbar ließ sich Bruder in einen Sessel fallen und schloss die Augen. Angst und Wut hatten ihn die ganze Nacht lang wach gehalten, wie auf Amphetamin war er gewesen. Gedanken über die Veränderungen in seinem Leben rasten ihm durch den Kopf. Seine Großmutter war tot. Er hatte einen Zwillingsbruder, von dem er bisher nichts gewusst hatte, und eine prominente Familie obendrein. Ausgerechnet diesen Moment hatte Cole gewählt, um sich abzusetzen und ihm Jack aufzuhalsen. Und zu allem Überfluss hatte sich jetzt auch noch Warren den Fuß verstaucht und humpelte. Als es Bruder gegen Morgen endlich gelungen war einzuschlafen, träumte er, etwas sei in ihm explodiert und habe ihn fein säuberlich in zwei Teile geteilt. Sein Spiegelbild starrte ihn an und lachte. Von diesem Gelächter wachte er auf und war mit einem Mal wieder zurück in seinem chaotischen Leben, aufgewühlt und vom Schlafmangel zermürbt.

Er nahm die Zeitungsseite mit dem Bild seines Bruders aus der Tasche und betrachtete das Gesicht, das seins war und wiederum nicht seins. Nicht der perfekte Haarschnitt, nicht das selbstsicher gereckte Kinn, nicht das leicht hämische Grinsen um Mund und Augen.

Warren wachte auf. »Seit wann bist du schon hier?«, fragte er.

»Noch nicht so lange. Wie fühlst du dich?«

»Wie ein Volltrottel, weil mich Mems Tod so durcheinandergebracht hat, dass ich die Leitersprosse verfehlt habe. Und von dem verdammten Schmerzmittel schlafe ich immer wieder ein. Wo ist Trooper?«

»Im Auto. Guckt Jack beim Schlafen zu.«

»Cole ist noch nicht zurück?«

Bruder schüttelte den Kopf.

»Hat er ein Handy?«

»Nicht im Traum. Da ist er wie ich.«

»Jemand sollte ihm Prügel verpassen.«

»Das hat das Leben schon übernommen«, sagte Bruder. Warren seufzte und nickte widerwillig. Er fand schon lange, dass Cole Bruder und Mem ausnutzte, und im Moment konnte Bruder ihm schwer widersprechen. »Der taucht schon wieder auf. So wie immer.«

»Verflucht blöder Zeitpunkt, um den Verstand abzugeben.«

Bruder grinste. Noch nie hatte er Warren fluchen hören. »Du solltest ruhig öfter Drogen nehmen.«

»Das ist nicht witzig. Kindesaussetzung ist eine ernste Sache.«

»Er hat Jack nicht ausgesetzt. Er hat ja nicht gedacht, dass …«

»Ganz recht. Er hat nicht gedacht«, blaffte Warren. Er schloss die Augen, schien sich beruhigen zu wollen. »Tut mir leid. Das mit deiner Großmutter geht mir wirklich an die Nieren. Seit gestern ist nichts mehr, wie es war, Bruder. Gar nichts. Lass mir ein bisschen Zeit.«

Warren schloss die Augen, und nur Sekunden später war er wieder eingeschlafen. Während Bruder wartete, ging er im Kopf noch mal das wenige durch, was er von Mem über die Familie wusste. Viele Male hatte sie ihm von ihrer und Billys »Vertreibung aus dem Paradies« erzählt, eine Geschichte mit sehr viel Liebe und wenig Fakten. Billy und Mem waren gemeinsam auf einer Insel vor der Küste North Carolinas aufgewachsen. Sie teilten alle ihre Geheimnisse, soweit sie überhaupt welche hatten, unzertrennlich, wie sie waren. Billy war der Typ Junge, vor dem Väter ihre Töchter warnen, und Mem, ein hübsches, eigensinniges Mädchen, flog sofort auf ihn. Wenn er in der Nähe war, funktionierte die Leitung zwischen Hirn und Herz nicht mehr, so wie später die zwischen dem Gehirn und den unteren Körperregionen, und so kam es, dass Mem mit sechzehn schwanger wurde mit Billys Kind, Bruders Mutter.

Auf Billys Motorrad flohen sie nach Westen. Sie lebten in Obdachlosenasylen und verdienten sich etwas Geld mit Gelegenheitsjobs. Doch dann wurde Billy eingezogen. Das geschah häufig bei Jungen, die nicht zur Schule gingen und deren Losnummern niedrig waren. Mem flehte Billy an, noch vor der Geburt des Kindes mit ihr nach Kanada zu fliehen, aber er hatte ein ausgeprägtes Ehrgefühl, und da genau darauf auch seine Loyalität ihr gegenüber beruhte, konnte sie schlecht etwas dagegen sagen. Billy zog in den Krieg und starb. Mem zog Billie, die Tochter der beiden und Bruders Mutter, alleine groß, bis Billie mit siebzehn mit einem Jungen durchbrannte.

»War dieser Junge mein Vater?«, hatte Bruder Mem gefragt.

»Zumindest hat sie das behauptet.«

»Wie hieß er?«

»Frag mich was Leichteres.«

»Wie sah er aus?«

»Auch das weiß ich nicht. Alles, was ich von ihm zu sehen bekommen habe, war die Rückseite seines Kopfes, als die beiden hier aus der Einfahrt fuhren. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie ihm gesagt hat, dass sie schwanger war, oder ob es ihn interessiert hat. Lass dich nie mit Drogen ein, Bruder. Sie bringen die Menschen nur dazu, Dinge zu tun, die sie normalerweise nicht täten.«

Mehr war sie nicht bereit, ihm über seine Mutter zu sagen. Allerdings warf sie ihm gelegentlich kleinere Brocken an Informationen zu, die mit ihrer Vergangenheit zu tun hatten: ein Haus am Wasser, die Überfahrt mit der Fähre, Schwimmen mit Delfinen. Wenn er sie fragte, warum sie nie mit ihm dorthin fuhr, reagierte sie gereizt und antwortete nur knapp: »Unmöglich«, so als wäre der Ort ihrer Kindheit so etwas wie ein fernes, verbotenes Land, zu dem ihr der Zutritt für immer versperrt sei.

Warren erwachte mit einem Ruck. »Verfluchte Pillen – wo war ich stehen geblieben?« Er versuchte, sich in seinem Sessel umzusetzen, und zuckte vor Schmerz zusammen.

»Kann ich dir irgendwas holen?«

»Nein. Lass mich dir lieber ein paar Sachen sagen, bevor ich wieder wegdämmere. Also wo war ich?«

»Nichts ist mehr, wie es war.«

Warren nickte nachdrücklich. »So ist es, Bruder, und das weißt du auch. Du hast einen Bruder, einen Zwilling, den Nachkommen eines gewissen Herrn. Ich habe immer gewusst, dass die Frau ihre Geheimnisse hatte. Vielleicht sogar verflucht viele. Hat Mem dir je erzählt, wie wir uns kennengelernt haben?«

»Davon hat sie nie was erwähnt.«

»Vor meiner Pensionierung habe ich für das Einwohnermeldeamt des Bezirks gearbeitet. Eines Tages kam Mem und wollte wissen, wie man eine Geburtsurkunde für ein verwaistes Kind bekommt, bei dem diese Unterlagen fehlen. Ich habe ihr dabei und später auch bei ein paar anderen Sachen geholfen. Damit will ich nicht gesagt haben, dass sie mich dazu angestiftet hätte, etwas zu tun, was nicht korrekt oder sogar illegal gewesen wäre. Andererseits – sie hat mir schon den Kopf verdreht, so ganz ausschließen würde ich es also nicht. Jedenfalls fehlten ihr alle möglichen Papiere, und so hatte ich immer das Gefühl, dass sie mehr wusste, als sie zugab.«

Dasselbe Gefühl kannte auch Bruder, aber es war ihm schwergefallen, die Ehrlichkeit ausgerechnet des Menschen, den er am meisten liebte, anzuzweifeln. Zumal dieser Mensch seine ganze Familie war. War.

Warren schüttelte heftig den Kopf, so als wollte er seine Zweifel verscheuchen. »Ich weiß, du hast hier noch ein paar Dinge zu Ende zu bringen, bevor du gehst, aber ich weiß auch, dass es Zeit ist, dass du von hier weggehst und klärst, wer deine Verwandten sind.«

Das war Bruder im selben Moment klar gewesen, als er das Bild seines Zwillings in der Zeitung sah. Im Grunde noch bevor die ganze Wahrheit wirklich eingesickert war. Jetzt musste er nur noch in Gang kommen.

Warren langte nach einem Briefumschlag, der auf einem Beistelltischchen lag. »Ich habe Bayliss heute Morgen gebeten, mir mit ein paar Dingen behilflich zu sein. Außerdem habe ich im Pflegeheim angerufen und ihnen mitgeteilt, dass du aufhörst. Du kommst morgen und holst den ausstehenden Lohn ab, habe ich gesagt.«

Das mit dem Pflegeheim sollte ihm doch eigentlich leidtun, dachte Bruder, aber so war es nicht. Er hatte den Job nur Mem zuliebe angenommen, und von den Bewohnern der Demenzstation würde es niemandem auffallen, wenn er nicht mehr kam.

Warren hielt ihm den Umschlag hin. »Hier drin ist der Fahrzeugbrief für mein Auto, ich hab ihn auf deinen Namen umschreiben lassen. Die Karre ist schon alt, ich weiß nicht, wie weit du noch damit kommst, aber im Umschlag sind fünfhundert Dollar – für Benzin, Essen und Übernachtung, und vielleicht für die restliche Strecke, falls das Auto streikt.«

»Das kann ich nicht annehmen.«

»Das kannst du, und das wirst du«, sagte Warren.

»Aber wie kommst du ohne Auto klar?«

»Die nächsten Tage bin ich sowieso nicht mobil, da wird mich die Kirchengemeinde schon mit allem Nötigen versorgen. Außerdem war es längst Zeit, dass ich mir ein neues Auto zulege. Aber zerbrich du dir darüber nicht den Kopf.« Warren sah Bruder streng an, um ihm zu zeigen, dass er es ernst meinte, und Bruder nahm den Umschlag widerstrebend entgegen.

»Falls Cole immer noch nicht zurück ist, nimm Jack mit und hinterlass Cole eine Nachricht, er soll bei mir vorbeikommen. Wenn jemand mich oder Bayliss fragt, werden wir sagen, du und Jack müsstet familiäre Angelegenheiten erledigen. Was ja gar nicht so weit entfernt ist von der Wahrheit.« Bruder fühlte sich von Warrens Blick aufgespießt wie ein Insekt von einer Nadel. »Also – meinst du, ich konnte die nächsten Schritte für dich klären?«

»Ich wünschte, ich sähe selbst auch so klar.«

»Das letzte Jahr war schrecklich für dich, ich weiß, aber das Leben hat dir eine Tür aufgemacht, Bruder. Jetzt starre nicht einfach auf den Türknauf. Versprich mir das. Versprich es Mem.«

»Versprochen«, sagte Bruder, allerdings mehr aus Höflichkeit als aus Überzeugung. Er hielt den Briefumschlag hoch. »Danke hierfür!« Damit war es ihm wirklich ernst.

»Gern geschehen«, sagte Warren. »Und nun zieh los und such deinen Zwilling.«

3

»PATSCH!« JUBELND ZEIGTE Jack auf ein totes Opossum am Straßenrand.

Das ging etwa während der ersten hundert Meilen so. Jedes überfahrene Tier kommentierte der Junge fröhlich, bis Bruder schließlich das Gefühl hatte, von nichts als Tod umgeben zu sein. Tod als das bestimmende Thema seines Lebens.