Zoë - Clay Carmichael - E-Book

Zoë E-Book

Clay Carmichael

4,9

Beschreibung

Die zwölfjährige Zoë ist wild, unerschrocken und eigensinnig. Sie verlässt sich am liebsten auf sich selbst, zu oft ist sie enttäuscht worden. Mit Freundschaft und Familie hat sie wenig Erfahrung. Nach dem Tod der Mutter kommt Zoë zu ihrem Onkel Henry, einem Eigenbrötler, der in einem großen Haus am Waldrand lebt. Wird es wieder eine Enttäuschung? Zoë geht ihrer eigenen Wege. Bei langen Erkundungstouren im Wald stößt sie auf einen alten Wohnwagen. Wohnt darin der geheimnisvolle Junge, den sie im Schatten der Bäume vermutet? Eines Tages ist der Wohnwagen verwüstet. Spätestens jetzt muss sie herausfinden, was es mit dem Jungen auf sich hat. Doch dazu braucht Zoë Hilfe.

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Hanser eBook

CLAY CARMICHAEL

ZOË

Aus dem Englischen von

Birgitt Kollmann

Mit Illustrationen der Autorin

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel

Wild Things bei Front Street, an Imprint of Boyds Mills Press, Inc.

in Pennsylvania

Die Schreibweise in diesem Buch entspricht

den Regeln der neuen Rechtschreibung.

ISBN 978-3-446-23841-1

© 2009 by Clay Carmichael

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© 2011 Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Stefanie Schelleis, München

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Für Mike, der so großzügig war, Henry sein geflügeltes Herz zu leihen,und Mr C'mere – Herrn Kommkomm – wildes Ding und bester Kater von allen.

Liebe ist eine Religion mit einem fehlbaren Gott.

JORGE LUIS BORGES

Baby, we can choose you know,

we ain’t no amoebas.

JOHN HIATT »THING CALLED LOVE«

Menschen, dachte der Kater – ständig müssen sie graben und vergraben, genau wie Hunde.

An dem Tag, als das Mädchen kam, waren wieder einmal Männer dabei, im Wald unterhalb des Hauses ein Loch zu graben. Geduldig wartete der Kater am Hang, in der Hoffnung auf einen Maulwurf zum Abendessen. Kaum war das Loch fertig, schob sich der lange Wagen wie eine schwarze Rattennatter in die Einfahrt, kroch in langen Windungen über die Wiese, zwischen den Wildblumen und den seltsamen Ungetümen des Mannes hindurch. Schwarz gekleidete Männer wie große Raben hoben eine lange Kiste aus dem Auto, trugen sie auf den Schultern den bewaldeten Hang hinab und stellten sie in dem kleinen Steingarten ab.

Der Kater hatte dieses Hunderitual schon früher beobachtet: Das erste Mal lag lange zurück, da war er ein Kätzchen, und die zwei alten Leute lebten noch auf dem Hof. Die alte Frau hatte ihm immer Untertassen mit Milch auf die Veranda gestellt, doch damit war Schluss, nachdem jene erste Kiste in die Erde gelassen wurde. Später, als die Raben eine zweite Kiste neben der ersten begraben hatten, war auch der alte Mann verschwunden. Dann war der Mann gekommen, der jetzt in dem Haus wohnte, und das Graben und Vergraben hörte auf, bis zum letzten Sommer, als die Raben zurückkehrten und dem Mann halfen, eine dritte Kiste in die Erde hinabzulassen.

Als er das Geräusch von knirschendem Kies hörte, drehte der Kater sich um und beobachtete, wie der schwarze Wagen ganz langsam auf der Wiese herankam. Wie schon zuvor mühten sich schwarz gekleidete Männer mit einer langen Kiste ab, schafften sie den Hang hinunter und ließen sie an Seilen in die Erde. Anschließend überließen sie es denen, die zuvor das Loch gegraben hatten, es wieder mit Erde aufzufüllen, so wie Hunde, die einen gewaltigen Knochen vergruben.

Als alle gegangen waren, schlich der Kater nach unten, duckte sich unter dem Zaun hindurch und landete mit einem Satz auf dem Erdhaufen. Über ihm sang ein Rotkardinal auf der Suche nach einem Weibchen, und hoch oben in den Baumkronen sprang ein Eichhörnchen von Ast zu Ast. Der Kater atmete tief ein und genoss die seltene Ruhe.

Der Mann – groß, brummig, mit einem Schmutzfleck auf der Nase – war schon vor Tagesanbruch weggefahren. Vor Jahren, als er angekommen war, mit seinen kreischenden Maschinen und Bergen von laut schepperndem Metall im Anhänger hinter dem Transporter, war der Kater in die Wälder geflüchtet. Doch seit er älter und langsamer geworden war, hatten die seltsamen Gewohnheiten des Mannes durchaus auch Vorteile.

Sicher, tagein tagaus störte der Mann die Stille, wenn er in seiner Werkstatt war und hämmerte und polterte, Feuer machte und Funken schlug, riesige verzerrte Figuren schmiedete, die sich im Kreis drehten, wenn der Wind sie antrieb, wenn er bei der Arbeit fluchte und schimpfte und Werkzeug über den Hof schleuderte. Leise war er nur, wenn er schlief, und das geschah eher selten.

Andererseits hielt der Mann sich fern von den geliebten Wäldern des Katers, mied den kalten, durstlöschenden Bach im Süden und machte einen Bogen um das hohe Gras, in dem der Kater jagte oder sich verbarg, wenn Waschbären, Jäger oder der wilde Junge unbefugt das private Gelände betraten. Das Beste aber war, dass der Mann den Kriechkeller unter dem Haus offen ließ, sodass der Kater im Winter bei der Heizungsanlage und in heißen Sommern auf der kühlen Erde schlafen konnte. Doch seit dem letzten Vollmond hatten der Mann und seine Helfer damit begonnen, Haus und Garten in Ordnung zu bringen, zu hämmern, zu mähen, zu schneiden, und der Kater hatte das Gefühl, dass sein Leben sich bald ändern würde.

Er hörte den röhrenden Motor des Transporters, der dem Mann gehörte, und bald danach raschelte das Laub über ihm. Er duckte sich hinter einen Stein. Ein Kind, ein Mädchen – schmal, mit wilden Haaren und großen, neugierigen Augen –, stand oben am Hang, und die grelle Sonne bildete einen hellen Ring um seinen Kopf. Es stand dort ein Weilchen und blickte hinunter, doch als der Mann rief, lief es über die Wiese zum Haus.

In gehörigem Abstand und immer im hohen Gras verborgen, folgte ihm der Kater. Das Mädchen winkte dem Mann auf der Veranda des Bauernhauses zu, und ein Schwarm Goldzeisige, der gerade zwischen den Wildblumen auf Futtersuche war, flog erschrocken auf. Laut zwitschernd schwangen sich die Vögel in die Luft, und mit erstauntem Blick sah das Mädchen ihnen nach. Auf die gleiche Art wie der Kater nahm es die Umgebung in sich auf: den auffrischenden Wind, die dichter werdenden Wolken, einen neuen Geruch in der Luft. Äußerlich war ihm kaum anzumerken, dass es diese Dinge zur Kenntnis nahm, doch dem Kater entging es nicht: das Beben eines Nasenflügels, das Zucken eines Ohrs, eine leichte Bewegung der weit offenen Augen. Herrenlos schien das Mädchen dem Kater, so als wäre es allein auf der Welt, gerade so wie er selbst. Es gefiel ihm, wie das Mädchen den Mann zwar im Auge behielt, gleichzeitig aber Abstand wahrte. Wie sie das macht, dachte er, wie katzenhaft!

Schwitzend und ächzend verschwand der Mann im Haus. Bald darauf drang aus den offen stehenden Fenstern im oberen Stock ein Schlagen und Klopfen, ein Surren und Sirren und störte die Stille des Tages. Der Mann schritt hinter den Fenstern auf und ab, schnaufend und keuchend, fluchend, lange Holzstücke auf der Schulter. Es schien, als würde er mitten im Haus einen ganzen Wald fällen.

Alles in Ordnung, Onkel Henry?, rief das Mädchen hinauf. Soll ich den Rettungswagen rufen?

Alles okay, antwortete der Mann kurz angebunden. Ein einziger Schrotthaufen, dieser alte Kasten. Kaum was für einen Mann, geschweige denn für ein Kind!

Ich könnte dir helfen, wenn du willst. Ich versteh was vom Reparieren.

Red kein dummes Zeug, rief der Mann von oben und machte sich wieder an die Arbeit.

Das Mädchen stampfte durch die Wiese, riss mit beiden Fäusten Wildblumen ab und schimpfte vor sich hin: So ein Blödmann! Fast zwölf bin ich, und immer noch muss ich mich mit Erwachsenen herumärgern, die zu dumm sind zu begreifen, dass ich alleine klarkomme! Mit einer verrückten Mama und ohne Papa hat es schließlich auch gut geklappt, und den da oben brauch ich nun wirklich nicht!

Mit allen Poren nahm der Kater die Bedeutung dieser Worte auf und folgte dem Mädchen zurück über die Wiese, so wie ein Durstiger vom Wasser angezogen wird. Der Wind frischte auf und wehte ihr die Haare vors mürrische Gesicht. Sie rannte mit großen Schritten die kleine Steigung hinauf und dann den Abhang hinunter in den Wald, doch als sie in der kleinen Einfriedung stand, wurde sie still und ernst. Die Blumen, die sie mit der einen Hand umklammert hatte, legte sie auf dem Erdhügel ab, die anderen lehnte sie an einen gemeißelten Stein daneben.

Hey, Daddy, sagte sie zu dem Stein. Schade, dass wir uns nie kennengelernt haben. Und zu der frisch aufgehäuften Erde sagte sie: Tschüss, Mama. Du hast deinen Willen bekommen.

Die Luft war schwer und kühl und roch nach Regen. Windböen trieben die Baumspitzen hin und her, Donner grollte, Blitze zuckten über den Himmel. Ohne Angst streifte das Mädchen weiter über die offene Wiese und warf jedem der Ungetüme, die der Mann gemacht hatte, einen finsteren Blick zu. Der Kater folgte heimlich. Als das Mädchen nahe beim Haus war, hob es die Nase, als hätte es den Geruch des Katers aufgefangen. Sie richtete den Blick genau auf sein Versteck, dann wandte sie sich plötzlich ab und rannte ins Haus. Das Fliegengitter knallte hinter ihr ins Schloss, und im selben Moment setzte ein Platzregen ein.

1

Von einem Onkel, der Herzchirurg ist, hatte ich mir eigentlich mehr erhofft. Bei so einem Beruf sollte man doch meinen, derjenige hätte auch selbst so was wie ein Herz.

Aber wie üblich schob ich den Einkaufswagen allein durch die Gänge und nahm, was ich brauchte, aus den Regalen. Dieser neue Erwachsene in meinem Leben war genauso nutzlos wie alle anderen vor ihm. Negative Hilfe, wie Mamas Freund Manny das nannte. Negativ heißt weniger als null. Kein Problem. Einkaufen und ich, wir sind alte Freunde, genauso wie Kloputzen, Staubsaugen, Waschen.

Besagter Erwachsener – mein Onkel Henry, von dem bis letzten Montag noch nie die Rede gewesen war – trottete mürrisch hinter mir her, brummte irgendwas in seinen Bart und hatte anscheinend keine Ahnung, was er eigentlich machen sollte. Mal blieb er fünf oder sechs Schritte zurück, mal war er mir so dicht auf den Fersen, dass ich seinen Atem im Nacken spürte, wohl für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich ihn für irgendwas brauchen sollte. Ich hab mich gefragt, wieso er mich überhaupt zu sich nehmen wollte.

Zuerst dachte ich, das sei einfach ein Akt der Nächstenliebe gewesen, mich zu adoptieren, wo sie mich doch fast schon ins Waisenhaus gesteckt hatten; und es war ja auch nett von ihm, Mama zu beerdigen, schließlich war sie nicht mal mit ihm verwandt. Ich meine, davon träumt doch wohl jedes Waisenkind, oder? Dass ein großer, starker, bedeutender Mann im allerletzten Moment hereinstürmt und sagt: »Mach dir keine Sorgen, Schätzchen, von jetzt ab bin ich dein neuer Daddy. Und ich kümmere mich um alles und jedes.« Klar doch.

Gerade mal zwei Tage kannte ich ihn, Henry Augustus Royster, meinen Halbonkel väterlicherseits, und schon ging er mir ohne Ende auf den Geist – nie saß er still, immer war er mürrisch, kaum hatte er die großen, immer schmutzigen Hände in die Taschen seiner noch schmutzigeren Jeans geschoben, zog er sie wieder hervor, mal strich er sich durch den rot-grauen Bart, mal über das rote Kopftuch auf seinem kahlen Kopf, dann rückte er sein Brillengestell aus Draht zurecht, immer war er auf dem Sprung, und wenn ich ihn irgendwo aufspürte, guckte er genervt. Suchte sofort nach Fluchtmöglichkeiten, das sah ich. Nicht anders als Lester oder Manny, Charlie, Harlan oder Ray. Keiner von denen hatte es lange ausgehalten. Bei diesem würde es nicht anders sein.

»Nimm, was du möchtest«, sagte er gerade zum dreiundvierzigsten Mal. Immerhin. Die Erwachsenen, die ich sonst so kannte, waren beim Einkaufen alle ziemlich zugeknöpft. »Egal, was.«

»Okay« sagte ich und machte einen Versuch. »Dann reich mir doch mal zwei Six-Packs Bier und eine Stange Zigaretten. Light«, fügte ich hinzu. »Ich muss ein bisschen kürzertreten.«

»Du rauchst und trinkst doch wohl nicht«, blaffte er mich an. »Du bist doch erst elf.«

»Fast zwölf. Und tatsächlich rauche ich kaum noch«, sagte ich, während ich eingehend die Regale mit den Cornflakes-Packungen betrachtete. »Mit sechs hab ich gequalmt wie ein Schlot.«

Ich vermutete, dass er sich das Lachen verkneifen musste, aber man sah nichts davon, der Mund verschwand ganz hinter diesem Kaktusstachelbart. Er starrte mich bloß an.

Ich starrte zurück. »Du bemerkst einen Witz wohl nicht mal, wenn er dich in den Hintern beißt.«

»Meinst du?«

»Wetten, du bist Krebs?«

»Ich bin was?«

»Dein Sternzeichen. Krebs.«

»Aha.«

»Die großen Schweiger. Sag ich doch.«

Er war breit gebaut, muskulös, und für so ein Fossil von über fünfzig sah er ganz gut aus. Allerdings – für einen alten Mann war er eher merkwürdig gekleidet: Muskelshirt, dreckige Jeans, schwere Stiefel, ein Kopftuch oder irgendeinen Stofffetzen um die Glatze gewickelt, dazu auf einer Seite einen roten Ohrstecker wie ein Pirat. Seine Oberarme hatten den Umfang von Zaunpfosten, seine Hände die Größe von Baseballhandschuhen, mit einer allein hätte er mich mit Leichtigkeit hochheben können. Einen Bauch hatte er auch, aber an ihm machte sich das irgendwie gut, dadurch sah er aus wie jemand, den nichts umwerfen kann. Allerdings sähe er besser aus, wenn er mal lachen würde, und so machte ich es mir zu meiner persönlichen Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er ein bisschen lockerer wurde.

Ich kam wieder auf mein Thema zurück. »Mit acht war ich richtige Kettenraucherin. Aber das ging mir auf die Lungen und machte sich beim Kickball bemerkbar.«

Henry grinste.

»Reich mir doch mal die Rosinen-Flocken vom oberen Regal«, sagte ich und zeigte auf die Müslipackungen. Er war erträglicher, wenn er was zu tun hatte, wenn seine Hände beschäftigt waren. Bei Mama war das auch so, als sie im Krankenhaus war: Solange sie Topflappen häkelte oder Aschenbecher machte, lenkte sie das wenigstens vom Verrücktsein ab.

»Sonst noch was?«, fragte er ungeduldig.

Ich schob den Wagen durch den Gang mit dem ganzen Wellness- und Kosmetikkram in Richtung Shampoos und spürte, wie er meine magere Gestalt musterte: Jeans, T-Shirt, Flip-Flops, die wüste Mähne aus roten Locken, die sich nicht zähmen ließen, ganz egal, wie viel Pflegespülung ich benutzte. Sie hatten dieselbe Farbe wie die roten Teile von Henrys Bart. Na schön, immerhin etwas, was wir gemein hatten.

»Ich nehm das bessere, wenn du schon bezahlst.«

»Mach, was du willst.«

Ich nahm das teure Markenshampoo aus dem Regal und sah mich um. Henry hatte noch sechs bis acht Schachteln von den Frühstücksflocken in den Wagen geworfen, alles dieselbe Sorte. Ich hatte zwar irgendwo gelesen, dass Künstler merkwürdig sind, aber so langsam machte ich mir wegen Henry Sorgen. Das Letzte, was ich brauchen konnte, war noch so ein Fall wie Mama.

Eine Kundin kam durch den Gang und lächelte ihm im Vorbeigehen kokett zu. Henrys einzige Reaktion war ein Knurren. Echt.

»Die reine Fleischbeschau hier«, sagte ich so laut, dass sie es noch hören musste. »Das war jetzt schon die Vierte.«

Selbst wenn es ihm vielleicht nicht passte, Henry zog die Aufmerksamkeit der Leute auf sich. Er musste sich gar nicht darum bemühen. Das war mir gleich aufgefallen, als er ins Büro der Sozialarbeiterin im Krankenhaus von Farmville kam, um mich abzuholen. Irgendetwas an ihm zog die Leute an, ob sie es wollten oder nicht. Und zwar nicht nur Frauen, sondern jeden. Sogar die beiden zugedröhnten Patienten hatten die Oprah-Show im Fernsehen vergessen und Henry angeglotzt, als er hereinkam. Schlagartig war die Atmosphäre im Raum völlig verändert, alle waren irgendwie aufgeregt, so als würde gleich etwas Wichtiges, vielleicht sogar ein kleines bisschen Gefährliches passieren. Wenn er den Mund aufmachte, lauschte man seiner tiefen Stimme ganz automatisch, selbst wenn er bloß einen Kaffee bestellte oder fragte, wo er seine Nichte finden könne, Ms Zoë Royster. Ms sagte er, das gefiel mir. Aber sein eindrucksvolles Auftreten in Verbindung mit seiner mürrischen Art hatte etwas von einer tickenden Zeitbombe, und mehr als einmal habe ich seit gestern überlegt, einfach wegzulaufen und mich zu verstecken.

»In People, dieser Zeitschrift, habe ich gelesen, dass gut aussehende Ärzte auf der Liste der besten Partien auf Platz 1 stehen«, sagte ich, um die Unterhaltung ein bisschen aufzulockern. Aber Henrys Miene wurde nur noch finsterer, und mir wurde klar, dass meine Bemerkung anscheinend unpassend war.

»Ich praktiziere kaum noch«, sagte er, und es hörte sich an, als würde er irgendwas Ekliges ausspucken.

»Schade. Du wärst bestimmt ein guter Arzt. Beim ersten Blick auf dich würde jede Krankheit doch sofort die Flucht ergreifen.«

»Tatsache?«

»Allein dieser Blick eben könnte Krebs heilen. Ich hab gelesen, dass die Stimmung eines Menschen darüber entscheiden kann, ob er stirbt oder überlebt.«

Er kniff die Augen zusammen, so als hätte ich ins Schwarze getroffen. »Gibt es irgendetwas, was du nicht weißt oder nicht gelesen hast?«

»Ich lese eine Menge. Aber das meiste, was in diesen Zeitschriften steht, ist Quatsch. Billigfraß fürs Gehirn. Hubble-Teleskop sichtet Elvis auf dem Mars, so was in der Art.«

»Warum liest du sie dann?«

»Ich lese sie nicht«, sagte ich, während ich mich zwischen zwei Sorten Bodylotion zu entscheiden versuchte – Jasmin oder Honig. »Ich guck mir die Überschriften an, wenn ich an der Kasse anstehe. So vergeht die Zeit schneller. Es ist witzig, und man erfährt was über die Leute.«

Er sah mich zweifelnd an. »Was zum Beispiel?«

»Na ja, was sie glücklich macht. Was ihnen Sorgen macht. Wovor sie Angst haben.«

»Was macht sie denn glücklich?«

»Wahre Liebe.«

»Was macht ihnen Sorgen?«

»Dass sie sie womöglich nie finden.«

»Und was macht ihnen Angst?«

»Dass sie sie womöglich doch finden.«

Ich griff nach der Jasmin-Lotion und warf einen Blick über die Schulter. Henry musterte mich, wie das Erwachsene oft tun, so als wäre ich cleverer, als er gedacht hatte, als wüsste ich für ein Kind zu viel. Ich dachte daran, was die Sozialarbeiterin im Krankenhaus zu ihm gesagt hatte, als sie glaubte, ich bekäme es nicht mit.

»Zoës coole Art ist so eine Art Panzer, mit dem sie sich schützt«, hatte sie gemeint, und ich war mir wie ein Gürteltier vorgekommen. »Sie musste für sich selbst sorgen, seit sie laufen konnte. Ihre Mutter hat mehr Zeit in psychiatrischen Anstalten verbracht als draußen, Zoës Vater – Ihr Halbbruder, wenn ich richtig informiert bin – hat sich gleich nach der Zeugung aus dem Staub gemacht. Im Laufe der Jahre hat Zoë unter der Obhut der verschiedenen Freunde ihrer Mutter gelebt, die sich allerdings kaum gekümmert haben und sie einfach gewähren ließen. Manchmal war sie auch ganz auf sich allein gestellt. Man muss schon sagen, dafür hat sie sich zu einem ganz außergewöhnlichen Kind entwickelt.«

Wer hätte das gedacht: Ich – außergewöhnlich.

»Was guckst du so komisch?«, fragte ich Henry. Ich war es leid, dass jeder mich anstarrte wie irgendwas unterm Mikroskop.

»Ich dachte gerade darüber nach, ob da vielleicht ein winziger Erwachsener mit einer großen Klappe in deinem fast zwölfjährigen Körper eingesperrt ist.«

»Ach ja? Willst du mir vielleicht mit deiner Arztlampe in die Ohren gucken, wenn wir zu Hause sind?«

»Kann sein.«

Er folgte mir in den Gang mit dem Tierfutter, und während ich überlegte, welches Katzenfutter ich kaufen sollte, glotzte er mich schon wieder so an. Ich nahm die Packung mit vier unterschiedlichen Geschmacksrichtungen und legte sie in den Wagen. Er sah mich an, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf.

»Was?«, sagte ich, so höflich es ging.

»Wofür soll das Katzenfutter sein?«, fragte er, so als hätte ich es für mich gedacht.

»Oje, lass mal überlegen.« Ich trommelte mir mit den Fingerspitzen auf die Backe und verdrehte die Augen zum Himmel. »Wofür könnte Katzenfutter sein? Schwierige Frage. Katzenfutter … Ich hab’s – für die Katze«, sagte ich mit einem strahlenden, gekünstelten Lächeln. Gleichzeitig gab ich mir Mühe, dass man mir nicht anhörte, für was für einen Schwachkopf ich ihn hielt.

»Ich habe keine Katze.«

Ich musterte ihn gründlich. Er war wirklich ahnungslos. Keine sechs Meter vor seiner Haustür schlief, jagte und fraß ein Tier, und Henry hatte keinen blassen Schimmer. Was war bloß mit diesen Erwachsenen los? Das Leben raste einfach an ihnen vorbei. »Und ob es da eine gibt«, sagte ich. »Einen Kater. Draußen. In Lebensgröße.«

»Wo draußen?«

»In deinem Garten«, sagte ich. Nicht zu glauben, dass der Präsident der Vereinigten Staaten sich allen Ernstes bei Dr. Henry Royster unters Messer gelegt hatte. Der Artikel, den ich darüber in der Bücherei gelesen hatte, war zwar schon alt, aber es hieß darin, dass Henry sein Studium an der berühmten medizinischen Fakultät der John Hopkins University als Bester seines Jahrgangs abgeschlossen hatte, dass er ein angesehener Chirurg bei der U. S. Marine gewesen war und sogar den Präsidenten operiert hatte, bevor er die Medizin aufgab, um »einer der überragenden Künstler Amerikas« zu werden – und so was schafft keiner, der eher unterbelichtet ist. Henry sah mich wieder so seltsam an, vermutlich fragte er sich, ob ich vielleicht nach allem, was ich durchgemacht hatte, einen Sprung in der Schüssel hatte. Genau so hatten die Leute auch Mama angesehen. Ich mochte diesen Blick nicht. Ganz und gar nicht.

»Du hast diese Katze tatsächlich gesehen?«

Ich schob den Wagen in den Gang mit den Schreibwaren und überlegte dabei, wie ich ihm das erklären sollte – dass ich die Anwesenheit von etwas Lebendigem spüren konnte, auch wenn ich manchmal nicht wirklich etwas sah. Aber wie sollte ich das jemandem, der dermaßen ahnungslos war, klarmachen? Unmöglich. »Da gibt’s einen Kater, ganz sicher. Wollen wir wetten? Fünfzig Dollar.« Erwachsene nehmen Dinge eher ernst, wenn Geld im Spiel ist.

»Wie bitte?«

»Ich hab das Geld!«

»Das meinte ich nicht.«

»Sondern?«

»Du zockst?«

»Manchmal«, sagte ich. »Jeder zockt mal.«

»Ich nicht.«

»Klar«, sagte ich. »Als du noch Leute unters Messer genommen hast, früher, da hast du wohl immer gewusst, dass alles gut geht.«

Henry wollte schon etwas sagen, doch dann brach er ab und meinte nur: »Kapiert.«

»Also – die Wette gilt?«

»Natürlich nicht.«

»Ach, komm. Keinen Sinn für Abenteuer? Kein bisschen Sinn für Risiko?«, fragte ich und stieg aufs zweite Regalbrett, um an die Kleenex-Schachtel mit den gelben Schmetterlingen zu kommen.

Henry hob mich runter, stellte mich auf den Boden, nahm mir die Schachtel aus der Hand und legte sie in den Einkaufswagen. »Lässt du dir auch mal helfen?«

»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.«

»Und wieso nicht?«

»Weil ich mich lieber auf mich selbst verlasse«, antwortete ich, »und jetzt lenk nicht ab. Ich hab schon mit sieben fünfhundert Dollar beim Rennen gewonnen.«

»Was für einem Rennen?«

»Pferde. Das war, als ich mit Mama und Manny in New York wohnte. Manny sagte immer, ich hätte den Blick dafür. Alles in allem hab ich fast zweitausend Dollar gewonnen, die Dreierwette sogar zweimal. Natürlich musste Manny für mich setzen, ich war ja noch nicht alt genug.«

»Nicht mal groß genug, um an das Fenster vom Wettschalter zu reichen«, sagte er. »Und Kinder – hast du die vielleicht auch?«

»Damit warte ich noch, bis ich verheiratet bin.«

»Das freut mich.«

»Also – die Wette gilt?«

»Was hast du mit dem ganzen Geld gemacht?«

»Ausgegeben.«

»Wofür?«

»Alles Mögliche«, sagte ich. Der größte Teil meiner Gewinne war draufgegangen für überfällige Rechnungen, ausstehende Mieten für Wohnungen, die kaum bessere Müllkippen waren. Ganz zu schweigen davon, dass Mama und ihre Freunde sich immer wieder etwas von mir »geliehen« hatten, bevor ich lernte, mein Geld besser zu verstecken. »Ich hab immer für mich selbst bezahlt, keine Sorge.«

Henry starrte mich an, als versuchte er erfolglos dahinterzukommen, wie ich ticke. »Du hast gesagt, diese Fünfzigdollar-Katze sei ein Kater. Woher willst du das wissen?«

»Doppelt oder nichts?«

Er ließ nicht locker. »Woher?«

»Dafür muss man nicht nah rangehen. An einen Mann oder eine Frau muss man ja auch nicht erst nah rangehen, um zu wissen, was sie sind.«

»Da hab ich mich gelegentlich schon getäuscht.« Er zog die Augenbrauen hoch und machte ein Du-glaubst-nicht-was ich-schon-alles-gesehen-habe-Gesicht. Ich musste kichern.

Inzwischen waren andere Kunden auf unsere Unterhaltung aufmerksam geworden. Am Ende des Gangs hatte sich eine regelrechte Menschenansammlung gebildet. Sie verrenkten sich die Hälse, um an den Konserven vorbeischauen zu können, und flüsterten miteinander. Den mitleidigen Blick, der mir galt, kannte ich nur zu gut, aber was sie von Henry halten sollten, wussten sie anscheinend überhaupt nicht.

»Wieso glotzen die so?«, flüsterte ich.

»Typisch Kleinstadt«, sagte Henry. »Normalerweise erledigt Fred die Einkäufe.«

»Wer ist Fred?«

»Morgen lernst du ihn kennen. Er hilft mir ein bisschen mit allem, was so rund ums Haus anfällt.«

Ich drehte mich zu den Leuten am Ende des Gangs um und rief: »Machen Sie sich keine Sorgen, tagsüber ist er völlig harmlos.«

Zum ersten Mal, seit ich Henry Royster kannte, lächelte er, und ich sah, dass er zwischen den oberen Schneidezähnen eine Lücke hatte, ganz genau wie ich.

»Na so was«, sagte ich und starrte ihn an. »Wir sind tatsächlich verwandt.«

Die anderen Kunden schauten weg oder gingen weiter, mit eingekniffenem Schwanz sozusagen, nur eine alte Dame in einem schwarz-weiß gestreiften Kleid, das wie ein Stinktierfell aussah, rührte sich nicht vom Fleck.

Henry fluchte leise, jetzt war er wieder völlig ernst.

Ich wendete den Einkaufswagen und marschierte in Richtung Waschmittel. Henry blieb mir auf den Fersen. »Extra stark«, sagte ich, mit Blick auf seine versifften Jeans.

Er griff aufs Geratewohl nach einer orangeroten Plastikflasche auf dem mittleren Bord. »Die machen Tierversuche. Nimm die blaue«, flüsterte ich und zeigte auf eine Flasche auf einem der unteren Borde. Henry tat mir den Gefallen.

»Du magst Tiere«, sagte er, und seine Stimme klang etwas wärmer.

»Ihre Liebe ist ehrlicher«, sagte ich.

»Als?«

»Als die der Menschen. Das hat Mrs King immer gesagt.«

»Mrs King?«

»Das war die, von der ich Lesen und Schreiben gelernt habe und auch noch andere Sachen, aber irgendwann hat ihr Herz nicht mehr mitgemacht. Sie wohnte nebenan, neben Lester und mir.«

»Lester?«

»Lester hat sich um mich und Mama gekümmert, bevor Manny kam. Kommt alles demnächst in meinen Memoiren.«

»Bist du nicht noch ein bisschen jung, um die Geschichte deines Lebens aufzuschreiben?«

»Ich hab schon eine ganze Menge erlebt! Außerdem hab ich Charlies Mama dauernd irgendwelche Memoiren vorgelesen. Sie war blind. Von Mrs King habe ich zwar Lesen gelernt, aber durch Charlies Mama bin ich erst richtig gut darin geworden. Am liebsten mochte sie Memoiren und Geschichten über Mord und Totschlag. Ihr eigenes Leben sei stinklangweilig, sagte sie immer, sie lebte durch Leute in Büchern.«

»Wer ist Charlie?«

»Charlie hat bei anderen Leuten den Rasen gemäht. Er war Mamas Freund, der zwischen Manny und Harlan, dem vorletzten. Harlan hat Autos repariert und mir Fahren beigebracht – Knüppelschaltung, Lenkradschaltung und Automatik. Soll ich auf dem Rückweg fahren? Ich mach das gut.«

»Der Vorletzte?«, fragte Henry.

»Vor Ray. Ray war Mamas letzter Freund. Mein Aufpasser vor dir.«

Als ich Ray erwähnte, guckte Henry finster. Viele Leute reagierten so, vor allem ich selbst. Ich war froh, dass Henry keine weiteren Fragen stellte.

Wir verließen den Gang und sahen die anderen Kunden an der Kasse anstehen und schwätzen, allen voran die Stinktierfrau. Neugierig wie Nachbars Lumpi, dachte ich, die ist doch garantiert die Vorsitzende vom Schnüfflerverein.

»Geht’s Ihnen gut, Herr Doktor?«, fragte sie munter, mit besonderer Betonung auf dem Wort Doktor. »Sie haben sich ja schon lange nicht mehr in der Stadt blicken lassen.« Sie musterte uns von Kopf bis Fuß, so wie eine Monstermutter ihre Kinder anguckt. »Unser herzliches Beileid, mein Lieber«, fuhr sie dann fort, wobei sie zwar nur noch mich missbilligend ansah, aber kein bisschen mitleidig wirkte.

»Mrs Wilson«, sagte Henry steif. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und drückte einmal fest. »Dies ist meine Nichte Zoë. Sie lebt jetzt bei mir.«

Mrs Wilson machte ein Gesicht, als hielte sie das für eine ausgesprochen fragwürdige Idee.

»Und das ist echt nett von ihm«, sagte ich, »wo ich doch direkt aus dem Knast komme.«

Henry kniff mich in die Schulter, dasdie schulters es richtig weh tat, aber ich ließ mir nichts anmerken. Diese Genugtuung gönnte ich weder ihm noch der Stinktiertante.

»Wie ich sehe, sind eine spitze Zunge und die Neigung zu Aufschneiderei bei den Roysters weit verbreitet«, bemerkte Mrs Wilson, »nicht anders als Promiskuität und sonstiges ruchloses Verhalten.«

Ich hätte vor Wut Feuer spucken können. »Ich weiß durchaus, was diese Ausdrücke bedeuten, Sie bösartige alte …«, sagte ich, und wollte ihr gerade klarmachen, wo sie sich ihre Ansichten hinstecken könne, doch Henry fiel mir ins Wort.

»Wir müssen weiter, Mrs Wilson. Grüßen Sie Dr. Wilson von mir«, sagte er, dann klemmte er mich unter eine stinkende Achselhöhle und sah zu, dass er mit mir und dem Wagen zu den Kassen kam.

»Willst du dir das etwa gefallen lassen?«, brüllte ich. »Die hat uns übelst beschimpft!«

»Hältst du jetzt mal den Mund!« Mehr sagte er nicht.

Zwing mich doch, wollte ich schon antworten, aber sein scharfer Tonfall kam mir vor wie die Zündschnur an einer Stange Dynamit, und an die wollte ich lieber doch kein Streichholz halten.

Im Auto schmollten wir beide, und so fuhren wir schweigend zum Haus zurück. Ich war zu sauer und zu müde, um mir groß Gedanken zu machen, in welcher seiner schlechten Stimmungen Henry war und warum. Er war mit Sicherheit der launenhafteste Mensch, der mir je begegnet war, Mama und ihre Freunde eingeschlossen.

Ich dachte an all die Mrs Wilsons, die ich kennengelernt hatte, die vielen Wichtigtuer, die alle am besten zu wissen glaubten, wer geeignet sei, mich aufzuziehen, und wer nicht, und die über mich und mein Leben nur die Nase rümpften. Falls Henry genauso dachte, behielt er es wenigstens für sich. Jetzt legte er eine CD ein – eine langsame, traurige Musik ohne Gesang. Er drehte sie voll auf.

Ich verstand den Wink und sah zum Fenster hinaus. Sugar Hill war ein trostloses Kaff, nichts Erfreuliches weit und breit. Mama und ich hatten in einem Dutzend solcher Städte gelebt, Städte, in denen man nur an dem einen oder anderen Schnellimbiss oder Autohändler merkte, dass sie im 21. Jahrhundert angekommen waren. Jede Menge Läden standen leer, Schilder mit der Aufschrift Zu vermieten hingen schief und eingestaubt in Schaufenstern oder an Türen. Zwischen den windschiefen Häusern und staubigen Hinterhöfen der bettelarmen, immermüden Bewohner kämpften hier und da ein Waschsalon oder ein Pfandleiher oder ein Alkoholladen ums Überleben. Inhaber von kleinen Lebensmittelläden hatten ihre Sonderangebote von Hand an die Fensterscheiben geschrieben. Kinder rannten zur Abkühlung durch den Wasserstrahl der Sprinkler oder zum Spielen auf die Straße, sobald die Autos vorüber waren, ältere Leute warteten in Grüppchen an Hausecken oder auf Veranden darauf, dass die Sonne unterging und die ärgste Hitze mit sich nahm. Eine ganze Reihe Leute lächelten und winkten fröhlich, als sie Henry erkannten, aber er war so in Gedanken, dass er das gar nicht bemerkte. Obwohl ich so sauer war auf Henry, gefiel es mir doch, dass er offenbar gut Freund war mit denen auf der anderen Seite der Stadt, den Habenichtsen.

Das Viertel der Rechtsanwälte bildete die Grenze zwischen der armen und der reichen Gegend. Dahinter waren die Häuser größer und hatten schattige Innenhöfe und Wintergärten. Blumen quollen aus Hängeampeln, die Büsche waren perfekt in Form geschnitten, manche rund, manche eckig. Noch gut einen Kilometer, dann waren wir auf dem Land und bald darauf zurück im Haus.

Gott sei Dank klingelte das Telefon, als wir gerade dabei waren, die Lebensmittel einzuräumen, und Henry stürmte durch den Flur in sein Arbeitszimmer, um zu antworten. Ich kletterte die Trittleiter in der Küche hoch, nahm zwei Schälchen aus dem Schrank und füllte eines mit Katzenfutter, das andere mit Wasser. Dann klemmte ich mir eine runde Kuchenform aus Aluminium wie eine Frisbeescheibe unter den Arm und trug alles nach draußen. Die Dunkelheit des Sommerabends lag wie zäher Sirup über dem Garten. Ich war froh, dass dieser spezielle Tag zu Ende war.

Ich stellte die Näpfe auf der Schwelle ab und füllte die Kuchenform am Hahn an der Hauswand mit Wasser. Dann trug ich sie vorsichtig zu einer Holzkiste, die ich an den äußersten Rand des Gartens gestellt hatte. Ich holte mir die beiden Näpfe und stellte den mit dem Katzenfutter in die Kuchenform, so wie Mrs King es mir gezeigt hatte. Auf die Weise bildete das Wasser einen Wassergraben um den Napf, und die Ameisen kamen nicht heran.

»Wenn dir diese Sorte nicht schmeckt, bring ich dir eine andere«, sagte ich in Richtung auf das hohe Gestrüpp. »Lass es einfach stehen, dann weiß ich Bescheid.« Ich sprach mit leiser Stimme und bewegte mich langsam. Wenn ich den Kater jetzt erschreckte oder vertrieb, würde er vielleicht nie Zutrauen zu mir bekommen. Ich spürte, dass er mich beobachtete, konnte ihn aber in der Dunkelheit nicht entdecken. »Du weißt, wie man sich versteckt. Das ist wichtig.«

»Zoë!«

Henrys schwere Stiefel donnerten über die Holzdielen der Veranda. Die Glühbirne an der Decke flammte auf, und sofort war der Garten hell erleuchtet. Henry Royster, die Ein-Mann-Nashornherde. Er stand auf den Stufen, die Hände in den Hüften, und rief mir zu, im Kühlschrank seien Sandwiches. Nachdem meine Augen sich an das grelle Licht gewöhnt hatten, trat ich ins Helle und schwenkte beide Arme über dem Kopf zum Zeichen, dass mit mir alles in Ordnung war. Ich wollte verhindern, dass er mit seiner dröhnenden Art sämtliche Tiere im Umkreis von zwanzig Meilen verscheuchte. Zum Glück läutete wieder das Telefon, und er ging zurück ins Haus.

»Keine Sorge, den nehme ich mir noch vor«, flüsterte ich in Richtung Gestrüpp, bevor ich zum Haus hinüberlief, um das nervende Licht wieder zu löschen.

Ich knipste den Schalter aus, und gleich war die Nacht zurück, sanft und friedlich. Als meine Augen sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich zum Himmel auf und entdeckte lauter strahlende Sterne. Sterne beobachten würde zu den guten Seiten des Lebens bei Onkel Henry auf dem Land gehören, dachte ich und stellte mir vor, wie Orion seinen funkelnden Gürtel umschnallte, bevor er sich auf seine nächtliche Jagd begab, und wie der Große und der Kleine Bär zusammen um die Planeten herumschwammen.

Als ich ins Haus kam, telefonierte Henry in seinem Arbeitszimmer.

»Sie ist draußen und füttert eine Katze, die es da angeblich gibt, im Gestrüpp, um fünfzig Dollar hat sie mit mir gewettet, dass sie recht hat … Meinst du nicht, ich wüsste es, wenn es da draußen eine Katze gäbe? … Wie meinst du das? … Also wirklich, Fred, ich wusste ja gar nicht, dass du mich für so alt und schwachsinnig hältst …«

Ich musste lächeln, als ich das hörte. Von der Treppe aus konnte ich einen Blick auf Henry werfen; er stand an einem mit Papieren übersäten Schreibtisch, deckenhohe Bücherregale bedeckten die Wände ringsherum. Abgesehen von Tieren liebte ich nichts so sehr wie Bücher, und einen Moment lang stellte ich mir vor, wie es sein würde, für immer hierzubleiben, in diesem Haus, das so groß war und so anders als die muffigen Wohnungen, die beengten Häuser, die Blechdosenwohnwagen, in denen ich bisher gewohnt hatte. Ich stellte mir vor, wie es wäre, ein Zimmer ganz für mich allein zu haben und nicht nur einen Schlafsack oder ein Sofa mit einer Bettdecke, wie es wäre, Bücher länger als zwei Wochen behalten zu dürfen, wenn mir danach war, und mit einem Erwachsenen zusammenzuleben, der mehr auf dem Kasten hatte als ich. Eine ganze Minute lang malte ich mir das aus, bevor mir wieder einfiel, wie es sich anfühlte, auf Dinge zu hoffen, die ich sowieso nie bekommen würde. Mit aller Kraft schob ich den Wunsch weit weg.

»Nacht, Onkel Henry«, rief ich.

Ich war zu müde, um mich erst auszuziehen, also legte ich mich angezogen in mein neues Bett. Ich nahm mein Spiralheft aus der Tischschublade und machte mir ein paar Notizen für meine Memoiren. Kaputt wie ich war, konnte ich nicht groß an meinem Stil rumfeilen, also schrieb ich bloß: »Onkel Henry hat wirklich einen Spleen, aber seiner ist immerhin interessanter als der der meisten anderen Leute.«

Henry klopfte an meine Tür.

»Komm ruhig rein«, rief ich und schob das Heft unter meine Bettdecke. Es war ein seltsames Gefühl, eine Tür ganz für mich zu haben – und einen Erwachsenen, der höflich genug war anzuklopfen, trotz schlechter Laune.

»Ich wollte dir eine gute Nacht wünschen«, sagte er von der Tür her. Da war er wieder, dieser tiefernste Tonfall, der sich immer in die Stimmen der Erwachsenen schlich, wenn ihnen langsam dämmerte, was es hieß, Eltern zu sein, wenn sie sich vorstellten, wie viel Arbeit und Verantwortung ein Kind bedeutete, wie viel ihrer kostbaren Zeit ich ihnen stehlen würde, wie ich ihnen im Weg stehen und ihre Pläne durchkreuzen würde, wenn ihnen klar wurde, dass ich keinen Schalter hatte, mit dem sie mich einfach ausschalten konnten, wenn sie ihr verkorkstes Leben weiterleben wollten. Normalerweise dauerte es so eine Woche, bis ihre Stimmen diesen schweren Ernst annahmen, aber die letzten zwei Tage hatten es schließlich auch in sich gehabt – unsere Begegnung in der Psychiatrie, Mamas Beerdigung und dann noch das Zusammentreffen mit der Stinktierfrau.

»Nacht, Onkel Henry«, sagte ich noch einmal.

»Ich muss morgen ein paar Dinge erledigen«, sagte er. »Ich fahr ganz früh los, lange bevor du auf bist, und komme erst spät zurück.«

Mein Herz fing an zu flattern. Ich atmete tief durch, um es zu beruhigen, aber wenn ein Herz die Wahrheit erst einmal kennt, lässt es sich nicht mehr belügen. Irgendwas in der Art sagten sie alle, bevor sie sich aus dem Staub machten, es war die erste Stufe im Countdown zum Abhauen. Drei: Die lahme Ausrede, sie müssten irgendwas erledigen, und zwar einen ganzen Tag oder eine ganze Nacht lang. Zwei: Sie müssten einem Freund helfen, der in Schwierigkeiten sei, oder einen sterbenden Verwandten betreuen, eine Woche lang. Eins: Ein neuer Job in einem anderen Bundesstaat, Dauer unbestimmt. Danach: Abschuss.

»Es muss sein«, sagte Henry und sah durch mein Fenster in die Nacht hinaus.

Er kann mir nicht in die Augen sehen, dachte ich. Lässt ja tief blicken. »Wie du meinst«, sagte ich.

»Fred kommt morgen früh her, sobald er kann. Seine Frau Bessie und er wohnen ganz in der Nähe, nur ein Stück die Straße hoch, und Fred hilft mir mit allem, was hier so zu erledigen ist. Ich leg dir seine Telefonnummer auf den Küchentisch.«

Klar doch, dachte ich.

Henry blieb in der Tür stehen, das Flurlicht fiel von hinten auf ihn. Anscheinend suchte er noch nach Worten, nach irgendetwas, das es uns beiden leichter machen würde.

»Ich bin daran gewöhnt«, sagte ich.

»Woran?«

»Daran, dass Menschen kommen und gehen. Dass ich allein bin. Mein ganzes Leben lang bin ich die meiste Zeit allein gewesen. Nach einer Weile gewöhnt man sich dran, irgendwann gefällt es einem sogar.«

Wieder blieb es lange still. Henry senkte den Kopf, ich hörte seinen Atem, spürte, wie er nachdachte über das, was ich gesagt hatte.

»Blödsinn«, sagte er und schloss die Tür hinter sich.

2

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf, aber nicht früh genug. Ich flitzte sofort zu den Fenstern an der Treppe, von denen aus man den Platz vor dem Haus überblickt. Die Sonne schaute kaum über die Baumspitzen, doch Henrys Wagen war bereits fort.

Noch in den Sachen, in denen ich geschlafen hatte, lief ich im Halbdunkel durch die feuchte Luft nach unten. Die Stufen waren in der Mitte ausgetreten von den vielen Menschen, die im Laufe der Jahre darübergelaufen waren, und ich schloss die Augen und stellte mir ihre Geschichte vor. Henrys Eltern hatten hier gewohnt und vor ihnen noch andere Mitglieder unserer Familie. Ich sah Generationen unserer Familie vor mir, wie sie die Treppe hoch- oder herunterstiegen: junge und alte, alle rothaarig, stur und mit Zahnlücke.