Ich liebe dich, aber nicht heute - Gaby Hauptmann - E-Book

Ich liebe dich, aber nicht heute E-Book

Gaby Hauptmann

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Beschreibung

Liane und Marius sind sich ihrer Liebe sicher. Aber bei aller schönen Vertrautheit ist ihnen das Prickeln abhanden gekommen. Und deshalb verordnet Liane der eingerosteten Liebe zu Marius eine kleine Frischzellenkur: Sie will, dass sich beide noch einmal so richtig verlieben, Schmetterlinge im Bauch haben, sich ausprobieren können. Marius ist ein echtes Gewohnheitstier, findet aber überraschend schnell Geschmack an der Trennung auf Zeit – er fliegt nach Ibiza und lässt es dort richtig krachen. Liane dagegen kann sich nicht so schnell verlieben. Aber vielleicht genügt ja erst mal guter Sex. Der stellt sich auf ihrer Reise nach England verblüffend schnell ein – und ist der Auftakt zu einem Abenteuer ganz anderer Art … Ein wunderbar lebenskluger Roman über die viel beschworene Glut der Liebe und die Kraft des Lebens, diese Glut wieder zu entfachen.

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Für Christine, die jedem eine Heimat gab

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

11. Auflage 2015

ISBN 978-3-492-96076-2

© 2013 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign Umschlagmotiv: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von Shutterstock (Papier/ARZTSAMUI, Zettel/ouh_desire) Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Es war die Langeweile. Die Abenteuerlust. Die Suche nach etwas Neuem, der zweiten großen Liebe, irgendwas. Da musste doch noch etwas sein, da musste doch noch etwas kommen.

Sie lagen im Bett. Nicht, dass sie sich nicht geliebt hätten, es war eine tiefe Zuneigung da. Aber das Prickelnde, das Spannende, das Aufregende war verloren gegangen. Und Liane wollte es wiederfinden.

»Fandest du das jetzt gut?«, fragte sie Marius.

Er lehnte sich zurück. Liane sah ihm an, was er dachte. Was konnte er schon sagen? Die Wahrheit?

Sie betrachtete seine nackte Brust. Sie war unverändert muskulös und schön, spärlich behaart, kleine hellbraune Brustwarzen, die sich unter ihrer Zunge aufrichteten. Noch immer. Aber das war sein Körper, der reagierte. Das hatte nichts mit ihr zu tun. Nicht mehr.

»Was ist?«

Er streckte sich, dehnte seinen Oberkörper. Es war ihm unangenehm. »Gib mir Zeit.«

»Zeit? Wofür?«

Er sah ihr in die Augen, sie hielt seinem Blick Stand, seiner grünen Iris mit den braunen Sprenkeln.

»Das Richtige zu sagen.«

»Es gibt nur eine Wahrheit!«

Sie setzte sich auf, lehnte sich an den Bettladen. Jetzt sah sie auf ihn hinunter. »Ich fand es … lau. Wie Frühstückskaffee, den man jeden Morgen trinkt und nicht mehr wahrnimmt.«

Er sah zu ihr hoch. »Ist das eine Beschwerde?«

»Eine Tatsache.«

Sie sah, wie sein Herz pochte. Sein Puls erhöhte sich, er wurde schneller als vorhin beim Sex.

»Was schlägst du vor?«, wollte er wissen.

»Dass du was sagst.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Sag einfach, was du denkst.«

»Ich denke nicht. Zumindest nicht jetzt. Nicht in diesem Moment.«

Es war ihr plötzlich nach Lachen zumute.

Er spürte es. »Ich kann jetzt nicht denken«, ergänzte er.

»Na, komm«, witzelte sie, »so toll war’s auch wieder nicht.«

Er setzte sich auch auf.

»Wir sind seit über zwanzig Jahren zusammen«, sagte er. »Was erwartest du?«

»Mehr«, sagte sie einfach und strich ihre blonden Haare nach hinten. Sie waren kein bisschen verschwitzt. Noch nicht mal am Haaransatz feucht. Es war wirklich höchste Zeit.

»Wir lieben uns«, begann sie.

»Dem ist so«, bestätigte er. Er hatte seine Stirn leicht in Falten gelegt.

Ihm war die Erwartung anzusehen. Kam etwas Gutes? Etwas Schlechtes? Kam überhaupt etwas?

»Ist das alles?«, fragte sie.

»Wie meinst du das?«

Ja, wie meinte sie das? Die Idee war ihr vorhin gekommen, mitten beim Sex. Er fühlte sich gut an, alles war in Ordnung. Wie auf einer Schweizer Autobahn, hatte sie plötzlich denken müssen. Der Fahrer hat alles im Griff, weiß, wo er beschleunigen darf, wo die Blitzer stehen, kennt jeden Meter der Strecke, braucht nichts mehr zu erkunden, rechnet mit keinen Überraschungen. Nach ereignisloser Fahrt ist er irgendwann am Ziel.

»Willst du fremdgehen?«, fragte er plötzlich. »Hast du einen anderen?«

Liane fasste in seinen Schopf. Seine Haare waren noch voll und dicht, nur wenige graue Strähnchen wiesen auf sein Alter hin.

»Du wirst fünfzig«, sagte sie ruhig.

»Du auch«, antwortete er.

»Ja, in fünf Jahren. Wenn ich Glück habe.«

Er wurde hellhörig.

»Nein, ich bin nicht krank«, stellte sie klar. »Ich habe auch keine Sinnkrise, keine Midlife-Crisis und keinen anderen Mann. Ich denke nur, dass wir uns eine Chance geben sollten.«

»Uns?«

Jetzt wandte er ihr sein Gesicht zu. Sein Kinn war markant, die Nase im Ansatz gebogen, eine Adlernase. Die Augen standen weit auseinander. Selbst in diesem ratlosen Zustand war er ein gut aussehender Mann.

»Sprichst du von einer Paartherapie? So was mit Gruppendynamik und allgemeinem Anfassen unter der Tischdecke, oder was?«

Liane musste lachen. »Ja, vielleicht ist es eine Paartherapie. Unsere Paartherapie.«

Jetzt zeigte sich zu den Stirnfalten auch noch eine steile Falte über der Nasenwurzel. »Und wie soll die aussehen?«, fragte er.

»Wir geben uns frei.«

Einen Moment lang sagte er nichts. »Du willst dich von mir trennen? Nur weil unser Sex – wie hast du gesagt? – wie ein Kaffeetrinken war?«

Liane streckte ihr nacktes Bein aus und fuhr mit ihren Zehenspitzen an seinem Schienbein entlang.

»Ich will mich nicht trennen. Ich will uns eine Chance geben. Eine Chance auf ein neues, ein zweites Glück.«

»Spinnst du?«

»Auf eine neue, starke, prickelnde Liebe. Eine Chance, Schmetterlinge im Bauch zu spüren, das Bauchgefühl, fünf Stunden Auto zu fahren, nur um mit ihm oder ihr einen Kaffee zu trinken, all das, was uns verloren gegangen ist.«

Er sah sie an, dann schwang er die Beine aus dem Bett. »Ich hol uns einen Kaffee!«

Vielleicht wäre es anders, wenn wir Kinder hätten, dachte sie, während sie hörte, wie er barfüßig über die Holzdielen in die Küche ging. Aber sie konnte sie nicht herbeizaubern, dieser Zug war abgefahren. Sie war Einkäuferin einer kleinen Firma und viel im Ausland, Marius hatte ein Unternehmen aufgebaut und es gut verkauft, aber jetzt hatte er mehr Zeit, als ihm guttat. Er neigte zur Nörgelei, zu Missmut und Unzufriedenheit. Und Liane spürte, dass er sie damit ansteckte. Aber sie wollte sich nicht anstecken lassen, ihr Leben gefiel ihr. Sie hatte ein heiteres Gemüt und fand, dass es für fast jedes Problem eine Lösung gab, man musste sie nur ernsthaft suchen.

Sie hörte die Kaffeemühle mahlen, und kurz darauf kam Marius zurück.

»Das hast du nicht ernst gemeint«, sagte er, während er ihr die Kaffeetasse hinhielt.

»Ich möchte, dass du dir eine möblierte kleine Wohnung nimmst, am besten am anderen Ende der Stadt. Noch besser am anderen Ende des Sees.« Sie nahm ihm die Tasse aus der Hand.

»Und zu was sollte das gut sein?«

»Zu unserem Experiment. Du wirst sehen, du blühst wieder auf«, sagte sie beschwingt. Und ich auch, dachte sie, sagte es aber nicht.

»Ich hasse Veränderungen.«

»Du steckst mittendrin«, entgegnete Liane. »Und du willst es doch auch. Du gestehst es dir nur nicht ein.«

Marius setzte sich aufs Bett, griff nach ihrem nackten Bein und streichelte es. »Experimente können auch schiefgehen«, sagte er nachdenklich.

»Müssen aber nicht.« Liane lächelte. »Schau, es ist wie beim Bücherlesen. Wir schlagen einfach ein neues auf. Vielleicht gefällt es uns, dann lesen wir weiter, wenn es uns nicht gefällt, schlagen wir es wieder zu. Und nach jedem Buch erfolgt die Rezension.«

Marius kratzte sich an der Schulter. »Du willst allen Ernstes, dass wir fremdgehen und uns gegenseitig unsere Fremdgehabenteuer erzählen?«

»Wir gehen ja nicht fremd. Wir geben uns frei. Vielleicht finden wir uns nach einiger Zeit so prickelnd wie nie zuvor, weil wir einfach zueinandergehören.«

Zum ersten Mal schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht. »Das ist eine typisch verrückte Liane-Idee. Was ist, wenn wir einen zweiten Partner fürs Leben finden und uns ernsthaft verlieben?«

»No risk, no fun!«

»Und – noch eins …«

»Ja?«

»Warum muss ich in ein möbliertes Zimmer, und du bleibst in unserer Wohnung? Warum nicht umgekehrt?«

»Weil ich die Idee hatte. Belohnung muss sein.«

Marius war schneller auf ihren Plan eingegangen, als Liane gedacht hatte. Es war doch ein bisschen seltsam, so allein in der Wohnung zu sitzen und auf die neue große Liebe zu warten. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Nur weil der Sex nicht mehr war, wie sie ihn von den Anfängen ihrer Liebe in Erinnerung hatte?

Sie kuschelte sich auf dem Sofa ein und fand, dass dies ein wunderbarer Sonntag war. Endlich mal Zeit für sich und ein gutes Buch, keiner wollte etwas von ihr, keiner kam mit einem Vorschlag, zu dem sie keine Lust hatte, und keiner störte sie bei wichtigen Gedanken. Doch nun stellten sich keine wichtigen Gedanken ein, und auf das Buch konnte sie sich auch nicht konzentrieren. Nachdem sie einen Absatz bereits vier Mal gelesen hatte, klappte sie es zu und schwang die Beine vom Sofa. Was Marius jetzt wohl machte? Sicher hatte er die Sache pragmatischer angefangen als sie. Wahrscheinlich über eine Singlebörse oder auf Facebook. Sollte sie mal auf seine Seite schauen, um zu sehen, wie viele neue Freundschaftsanfragen er gestellt hatte? Oder bekommen?

Nein, kam nicht in Frage.

Marius würde suchen, das war klar. Aktiv suchen. Ihr dagegen würde dieses prickelnde Gefühl einfach zulaufen. Irgendwo wartete es bereits auf sie, das spürte sie genau. Die Frage war nur: wo?

Liane beschloss, das Ganze bei einem Cappuccino zu überdenken. Irgendwo musste sie ja anfangen.

Auf dem Weg in die Küche blieb sie an der offenen Balkontür stehen. Die hereinfallenden Sonnenstrahlen leuchteten hell auf dem Parkett. Liane schob ihren nackten Zeh aus dem Schatten ins gleißende Licht. Der rote Nagellack begann zu leuchten, und das Holz unter dem Fuß fühlte sich warm an. Es war ein Sommertag, wie es sich gehörte. Eigentlich war es eine Sünde, an einem solchen Tag im Haus zu sitzen. Aber auch das gehörte zur Auszeit. Weg von den ständigen Aktivitäten, die nie so richtig Ruhe aufkommen ließen. Sicher saß Marius schon wieder auf einem Rennrad oder ruderte über den See. Ständig war er in Bewegung. Jetzt wollte sie mal keine Bewegung. Einfach faul sein. Nichts tun, den schönen Tag an sich vorbeiziehen lassen, alle Möglichkeiten ignorieren.

Sie zog ihren Zeh aus der Sonne zurück und ging in die Küche. Die hatten sie sich vor zehn Jahren gegönnt: aus tomatenrotem Lack. Sie gefiel ihr noch immer, vor allem der Küchenblock in der Mitte hatte es ihr angetan. Eine Küche für gemütliche Zusammenkünfte, gemeinsames Kochen, Herumstehen, Schnippeln und Quatschen. Und alles bei einem Glas Wein.

Sie blieb vor dem Küchenblock stehen und strich mit der Hand über die glatte Oberfläche. Prädestiniert für exzessiven Sex. Aber das war nie passiert. Wie langweilig sie doch geworden waren. Eine Küche nur zum Kochen. Hatte das etwas mit dem Alter zu tun?

Sie entschied sich um. Keinen Cappuccino, lieber ein Glas Weißwein. Und dann auf dem Balkon sitzen, die Füße aufs schmiedeeiserne Geländer legen und die Menschen unter sich vorbeiflanieren lassen. Das machte sie am Sonntag sonst nie. Ihr schmaler Altbaubalkon lag im zweiten Stock und war am nie versiegenden Menschenstrom der Fußgängerzone zu nah dran. Sie saßen wie auf dem Präsentierteller, und Marius hatte das immer grauenhaft gefunden. Er hat sich höchstens abends hinausgesetzt, wenn die Geschäfte schlossen, die Dämmerung kam und er mit seinem Glas Wein oder Bier unsichtbar geworden war.

Dann setze ich mich halt auf den Präsentierteller, dachte Liane jetzt und sah an sich hinunter. Sie hatte nach dem Aufstehen einfach nur ein Hängerchen übergeworfen, ein weites Kleid mit Spaghettiträgern, das ideale Hauskleid zum Herumgammeln. Marius hasste es. Es sieht aus wie ein Militärzelt, hatte er gemault, wenn sie es mal anhatte. Dabei waren seine Freizeitschlabberhosen auch nicht besser.

Vom Balkon aus hatte sie einen wunderschönen Blick auf den See. Heute sah das Wasser fast türkisfarben aus, wurde mit der Entfernung heller und verlor sich blassblau in der Ferne. Etliche Segelboote waren unterwegs, und auch eines der Ausflugsboote verließ gerade hupend den Hafen. Die Kulisse hatte immer etwas von Urlaub: die Menschen, die Möwen, die Eisverkäufer, sie hätte auch an einem italienischen See sitzen können, irgendwo weit weg, aber sie hatte das Paradies direkt vor ihren Füßen an der Grenze zu Österreich und der Schweiz.

Liane mischte sich eine leichte Schorle, tat zwei Eiswürfel ins Glas, schaute auf die Uhr und stellte befriedigt fest, dass es fast zwölf war. Mittagszeit. Und sie hatte noch nichts Sinnvolles getan. Es war phantastisch! Sie legte zwei Kissen auf die beiden Holzstühle, stellte ihr Glas auf den kleinen runden Eisentisch, setzte sich bequem hin und ließ ihren Blick schweifen. Die Sonne wärmte sie, und Liane legte ihre Beine auf den anderen Stuhl. Es war Juli, und es wurde Zeit, dass sie endlich den Sommer einläutete. Sie hatte einige Geschäftsreisen hinter sich, davon allein drei nach Hongkong, zwei nach Schanghai und eine nach Peking, aber Sommerfeeling hatte sich bei ihr noch nicht eingestellt.

»Huhu, Lianchen …«

Oje, war ihr erster Gedanke. Sie schaute an ihren Füßen vorbei nach unten auf die Straße. Biggi winkte ihr zu. Biggi war eine echte alte Konstanzerin. Sie kannte hier jeden, zu jedem jede Geschichte, war bei der Fasnet und im Segelverein engagiert, backte Kuchen für das Kinderhospiz, hatte selbst vier Kinder, war rundlich, immer gut drauf, keine vierzig und Ehefrau aus Überzeugung.

»Was machst denn du da oben?«, rief sie durch die Menge, und natürlich drehten sich Köpfe zu ihr hoch, die vorher noch nicht einmal gewusst hatten, dass es dort im zweiten Stock überhaupt einen Balkon gab.

Liane wehrte mit einer Geste ab, aber es war schon zu spät. »Rudi richtet schon das Boot!«, rief sie. »Ich habe nur noch ein bisschen eingekauft.«

Okay, dachte Liane, das erklärte die drei prallen Einkaufstüten.

»Wollt ihr mitkommen?«

Ihr? Also war Biggi noch nicht im Bilde.

»Ich bin allein«, versuchte Liane so diskret wie möglich zu antworten.

»Wieso? Was ist passiert?«

Jetzt war Diskretion nicht mehr möglich. Einige der Passanten waren schon stehen geblieben. Die Deutschen hatten einfach eine verdammte Gaffermentalität.

Liane winkte ab.

»Dann kommst du allein mit!«

Es war klar, der Ton duldete keine Widerrede. Mit Biggi und Rudi auf dem Segelboot, vier Kinder dabei und unendlich viel Essen, das Biggi in der Pantry unentwegt in großem Stil herrichtete – Liane schüttelte sich innerlich. Ihr stand der Sinn nach leichten Genüssen, wenig Erklärungen und neuen Eroberungen. Aber nicht nach Rudi. Und schon gar nicht nach den vier Halbwüchsigen, die gerade sämtliche Pubertätsphasen durchliefen.

»Freunde aus der Schweiz sind auch dabei, mit einer echten Rennziege.«

Machte das die Sache jetzt attraktiver? Schweizer? Womöglich war das dann die vollendete Katastrophe zwischen Ricola und gehisster Nationalflagge.

Biggi legte ihre Hände wie einen Trichter um ihren Mund. »Also, was ist jetzt?«, trötete sie. »Wir sind drei Boote, und es sind zu viele Männer!«

Zu viele Männer? Das war jetzt endlich eine gute Ansage!

Liane lehnte sich nach vorn, versuchte ihre desinteressierte Mimik beizubehalten, nickte verhalten und rief: »Okay, ist gut! Bei euch am Liegeplatz?«

»In zwanzig Minuten. Schaffst du das?«

Und ob! Wenn es um etwas ging, konnte sie unglaublich schnell sein. »Schaffe ich.« Sie sammelte die Sitzkissen wieder ein, trank ihr Glas beim Hineingehen aus, zog sich einen Bikini an, stopfte drei weitere in eine Badetasche, dazu ein Badetuch und zur Vorsicht noch hochhackige Sandalen, man wusste ja nie. Dann schlüpfte sie in ein enges Strandkleid, suchte helle Leinenschuhe für das Boot heraus, und schon zog sie die Tür hinter sich zu. Oh, halt, ein Gastgeschenk, also wieder aufgeschlossen und im Kühlschrank nach der Flasche Champagner gesucht, die ihr Marius als freundliche Abschiedsgeste dagelassen hatte.

Zwanzig Minuten später lief sie durch die Bahnunterführung zum Hafen. Sie liebte den Blick auf die sich drehende Imperia, das Konstanzer Wahrzeichen an der Hafeneinfahrt, ein Geniestreich des heimischen Bildhauers Peter Lenk. Sie betrachtete im Vorbeieilen die schönen Blumenbeete und die voll besetzte Terrasse des Restaurants am ehrwürdigen Konzil. Einige Ausflugsschiffe würden gleich starten, die Hafenmole war voller Menschen. Liane drängte sich mit ihrer Badetasche hindurch, lief an den kleinen Restaurants vorbei, der Hafenmeisterei und der Hafenhalle, und genoss wie immer das südliche Flair der Promenade.

Dann öffnete sich der Blick auf die Sportboote, die an ihren Stegen dümpelten, und Liane blieb kurz stehen. Biggis Boot erkannte sie sofort, es wimmelte von Menschen und Geschäftigkeit.

Was wollte sie hier eigentlich? Sich in ein Segelabenteuer stürzen, zu dem sie vor dreißig Minuten noch überhaupt keine Lust gehabt hatte? Und das nur, weil sie auf ihre zweite große Liebe hoffte? So ein Quatsch! Sie war fünfundvierzig Jahre alt, beruflich erfolgreich, kam in der Welt herum, fand sich noch recht ansehnlich, war nicht besonders sportlich und hatte auch gar nicht den Ehrgeiz, es zu werden, liebte gepflegte Gespräche, ein gutes Buch, ein bisschen Kultur, davon aber auch nicht zu viel, und eben das Kribbeln im Bauch, das ihr leider verloren gegangen war. Aber hier danach zu suchen war doch purer Blödsinn.

Sie hatte gerade einen kleinen Schritt rückwärts gemacht, als Biggi sie entdeckte.

»Das Tor ist offen!«, rief sie und deutete auf das kleine Eisentor, das den Rest der Menschheit von den Bootseigentümern trennte.

So, jetzt, dachte Liane. Noch hast du die Wahl. Sag ihr einfach, dass du es dir anders überlegt hast, dass du heute sicher seekrank wirst, dass dein Horoskop dir verboten hat, aufs Wasser zu gehen. In diesem Augenblick piepte ihr Handy. Vielleicht kommt da ja die Rettung, dachte Liane und zog es aus ihrer Tasche. Eine SMS von Marius:

»Hi dear, alles klar? Schon verliebt? Fliege nachher mit Freunden für ein paar Tage nach Ibiza. Mal schauen … wünsche Dir viel Spaß, Kuss, Dein Mann.«

Ibiza, dachte Liane, na, das konnte sie sich gut vorstellen. Die Partymeile. Sicher war, dass Marius dort nichts anbrennen ließ. Typisch, dass er diesen Weg wählte.

»Ich komme!«, rief sie Biggi zu und stieß das kleine Hafentor auf. Ibiza, dachte sie. Und die Freunde, die dazu passten, waren auch klar. Marius hatte in jungen Jahren als Reiseredakteur neben seinem Job ein kleines Reisebüro eröffnet. Er hatte einen guten Riecher dafür, was die Leute wollten – die einen die schnelle Kost, einmal Mallorca hin und zurück, ohne viel Geld auszugeben, die anderen waren die Genießer, die Individualreisen liebten und sich ganz genau mit einem Reiseberater darauf vorbereiten wollten. Marius deckte die unterschiedlichsten Wünsche ab, das Reisebüro wurde größer, es kam ein zweites hinzu, ein drittes in einer anderen Stadt, und schließlich waren es zehn, die er verkaufte, als der Reisemarkt noch so richtig boomte. Das Geld hatte er geschickt angelegt, einige Immobilien, eine Teilhaberschaft in der Firma eines Freundes – und so war er zum Privatier mit sporadischen Arbeitseinsätzen geworden.

Eigentlich der perfekte Mann, dachte Liane, während sie den Steg zu Biggis Boot entlanglief. Finanziell unabhängig, gut aussehend, zugänglicher Charakter – was will ich eigentlich mehr?

Ja, was wollte sie noch? Fever, dachte sie. Leidenschaft. Verliebt sein. Wild sein. Ausflippen vor Sehnsucht und Begierde. Verrückt sein und die vernünftige Liane vergessen.

Okay, dachte sie. Ibiza. Da wird er schnell eine haben.

»Sind das die tollen Schweizer Jungs?«, fragte sie, als sie vor dem Bug des Segelboots auf dem Steg stand und Biggi ihr auf Deck entgegenkam.

»Wo?«, fragte Biggi sofort, und Liane zeigte auf ein kleines Boot, in dem gerade vier Männer auf den Steg zuschaukelten.

Biggi musste lachen. »Nee, die warten draußen auf uns. Du musst dann zu ihnen umsteigen, wir sind so schon zu viele …«

Liane konnte ein ironisches »Oh, wie schade« gerade noch unterdrücken. »Danke für die Einladung«, sagte sie stattdessen und ergriff Biggis Hand, um aufs Boot zu steigen.

Biggi und Rudi hatten ein komfortables Familienboot, aber jetzt, mit den vier fast erwachsenen Kindern und einer Tante, die gerade auf Besuch von »unbestimmter Dauer« da war, wie Biggi flüsternd verriet, gab es kaum noch ein Durchkommen.

»Jetzt setzt euch mal alle hin!«, donnerte Rudi, der nass geschwitzt hinten im Heck stand und mit den Leinen hantierte.

»Soll ich vorne schon losmachen?«, fragte Biggi.

»Wir können auch noch bis morgen warten«, gab Rudi zurück. »Und schmeiß die Leinen bitte nicht wieder ins Wasser!«

Biggi warf Liane einen Blick zu. Gut, dachte Liane, jetzt geht die Segelehekrise wieder los. Wahrscheinlich gab es ein paar Sportarten wie Segeln, Doppeltennis und Golf, die man als Paar einfach meiden sollte.

»Kann ich was helfen?«, fragte sie freundlich, erntete von Rudi aber nur einen strafenden Blick. »Ist schon gut.« Liane winkte ab, ging die drei Stufen in die Plicht hinunter, begrüßte die Tante und die vier Jugendlichen per Handschlag und quetschte sich dann zu ihnen auf die Bank.

»Ich verlasse euch gleich wieder«, beruhigte sie die Tante, die sicher bereits über die Notfallausrüstung nachdachte, so kritisch, wie sie schaute.

»Du Glückliche«, sagte Biggis Tochter Katrin neben ihr, ein hübsches Mädchen mit langem dunklem Haar.

»Wolltest du nicht mit?«, wollte Liane wissen.

»Familienausflug«, sagte ihr Bruder Tim gedehnt.

»Fröhlicher Familienausflug«, korrigierte sein Bruder, der schon größer war als Rudi selbst, und das wollte was heißen.

»Wird bestimmt noch fröhlich«, tröstete Liane ihn.

»Ganz bestimmt!«

»Oh!« Sie hörten einen kurzen Aufschrei von dem Bug des Bootes. Dann platschte es.

»Wieso wirfst du sie nicht einfach über die Dalben, dahin, wo sie hingehören?« Das war Rudi.

»Soll ich nicht helfen?«, bot Tim an.

»Bleib sitzen!«

»Der Übervater«, kicherte Sinja, die Jüngste.

»Pst, sonst wird es noch schlimmer!«

Die Tante sagte nichts. Wahrscheinlich betet sie schon, dachte Liane.

Rudi zog das Boot zwischen den engen Dalben nach hinten hinaus, während der kleine Viertaktmotor vor sich hin tuckerte.

Na prima, dachte Liane, klappt doch. Was machte es schon, wenn die Leinen vorn irgendwo im Wasser herumschwammen, konnte ja mal passieren. Biggi hielt den Schiffsrumpf auf Abstand von den Dalben, während Rudi Pinne und Motor bediente.

Sie hatten sich aus dem Liegeplatz befreit, nun musste Biggi nur noch aufpassen, dass sie beim Wendemanöver nirgends anstießen.

»Vorsicht!«, rief Rudi, und Biggi lief zur Bootsspitze. Wenn Rudi nicht so stark eingeschlagen hätte, gäb’s da vorn kein Problem, dachte Liane, hütete aber ihre Zunge. Rudi schaltete vom Rückwärts- auf den Vorwärtsgang, und wieder wurde es vorn knapp.

»Pass doch auf!«, brüllte er nach vorn.

Pass auf, dass sie dich nicht eines Tages über Bord wirft, dachte Liane nur und beobachtete Biggi, wie sie die Bootsspitze von den Dalben und Schiffsrümpfen abhielt.

»Segeln macht Spaß«, kommentierte Tim trocken, und dafür hätte Liane ihn direkt küssen können.

Liane war froh, als sie die enge Hafeneinfahrt hinter sich gelassen hatten. Ein entgegenkommendes Passagierschiff hätte noch mal für Stress sorgen können, aber sie waren allein in der Einfahrt gewesen, und Biggi kam gut gelaunt nach hinten, küsste Rudi und verschwand in der Kajüte.

»Sie denkt nur ans Essen«, äußerte die Tante missbilligend.

»Gott sei Dank«, sagte Leon lachend.

»Das musst gerade du sagen«, spottete Katrin, die im Gegensatz zu ihrem jüngeren Bruder gertenschlank war.

»Da vorn ist die Angeberflotte«, knurrte Rudi in diesem Augenblick.

Liane versuchte, seinem ausgestreckten Zeigefinger zu folgen und die Flotte zu entdecken, aber es waren bei dem strahlenden Wetter zu viele Schiffe unterwegs.

»Dürfen wir da auch mit?«, fragte Katrin hoffnungsfroh.

»Wir haben ein eigenes Boot«, wiegelte Rudi ab.

»Und zwar ein sehr schönes«, fügte Liane schnell hinzu.

»Auf dem du ja nicht bleiben musst«, schmollte Katrin.

»Genug davon!« Rudi hielt Kurs auf eine Gruppe von Booten, die aus der Entfernung wie eine Ansammlung von Segelmasten aussahen.

»Und wann segeln wir?«, wollte Tim wissen.

»Wenn Wind kommt.«

Aus der Kajüte kam Biggis Hand mit einem gefüllten Sektglas hervor. »Reicht das schon mal an Liane weiter«, sagte Biggi, »die anderen kommen gleich.«

»Für mich nicht«, wehrte die Tante sofort ab.

»Für mich?« Katrin reckte sich vor.

»Du bist erst fünfzehn!« Rudi runzelte die Stirn. Liane musterte ihn. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass seine Grobheit nur ein Schutzmechanismus war. Wahrscheinlich war er in Wahrheit ein verspielter großer Junge, der um männliche Anerkennung rang.

»Ich hab bald Geburtstag!«

»Dann bist du sechzehn. Was ändert das?«

»Viel!«, sagte Katrin. »Laut Jugendschutzgesetz …«

»Ahh«, spottete Leon, »unsere zukünftige Anwältin!«

»Halt die Klappe!« Katrin stieß ihm mit dem Ellbogen in die Rippen. »Und außerdem profitierst du doch davon. In zwei Jahren bist du auch sechzehn, willst du dann noch in die Windeln machen und Buttermilch trinken?«

»Streitet nicht!« Biggi erschien in der Luke, zwei weitere Sektgläser in der Hand.

»Ich habe doch gesagt …«, fing die Tante an.

»Ich will ein Bier«, erklärte Rudi.

Alle Kinder grinsten.

Biggi lächelte unverdrossen. »Kein Problem«, sagte sie, »das ist dann für Neptun«, und goss den Inhalt eines Glases im hohen Bogen über Bord.

Es waren drei Segeljachten, die vor dem Schweizer Ufer aneinander festgemacht vor Anker lagen.

»Eine wundersame Vermehrung«, sagte Rudi, während er längsseits einer Segeljacht ging.

»Hoi«, machte ein glatzköpfiger Mann, der sie beobachtet hatte. »Willst du auch anlegen?«

»Eigentlich sind wir mit Niklas verabredet«, rief Rudi, während er versuchte, sein Boot trotz der Wellen vorsichtig heranzumanövrieren.

»Der liegt drüben!«

»Ja, gut, dann geben wir dich nur ab.« Rudi drehte sich zu Liane um.

»Wie, mich abgeben?« Liane blieb sitzen. »Bin ich ein Paket oder so was?«

»Wir müssen auf die andere Seite«, schlug Biggi vor. »Das ist doch kein Problem.«

Inzwischen hatten auch ihre Freunde bemerkt, dass ein neues Schiff gekommen war, und kamen von den anderen Booten neugierig näher.

»Na, da seid ihr ja! Legt doch an! Ueli, bringst du die Fender aus?«

»Das ist Niklas«, sagte Biggi bedeutsam und deutete auf den Mann, der nun offensichtlich das Kommando übernahm.

Liane taxierte ihn schnell. Er war groß, schlank, hatte schütteres blondes Haar und sah bei Weitem nicht so gut aus wie Marius.

»Schatz! Die Fender!« Das war Rudi.

»Aber ja doch«, gab Liane spaßeshalber zur Antwort, während die Kinder schon aufgesprungen waren, froh etwas tun zu können. Sie holten die länglichen Kunststoffkörper aus den Stauräumen und banden sie schnell an die Außenwand. Von der anderen Jacht flogen zwei Leinen herüber, und gleich darauf war das Bootspäckchen um ein weiteres Schiff gewachsen.

»Wir haben noch nicht Anker geworfen«, fiel Rudi plötzlich ein.

»Es sind zwei draußen, das genügt!« Der Glatzkopf reichte Biggi die Hand, damit sie über die beiden Relinge steigen konnte. »Kommt rüber.«

Das Vorstellen und Kennenlernen ging los, und Liane verlor schnell den Überblick. Wer war nun wer? Und da auch Paare dabei waren: Wer gehörte zu wem? Und zu wem gehörten die drei kleineren Kinder? Liane sehnte sich nach ihrem Balkon zurück.

»Das ist spitze!« Tim zeigte auf eine große Jacht. Sie war länger als die anderen und wirkte irgendwie aufgeräumter, nüchterner. Aber auch sportlicher und edler.

Liane nickte und kletterte über die Reling hinüber. Das Holz fühlte sich warm und gut unter ihren Füßen an. Hier gefiel es ihr. Drei Männer, die gerade noch diskutierend die Köpfe zusammengesteckt hatten, blickten zu ihr hoch. Einer stand auf, reichte ihr die Hand, und Liane stieg zu ihnen hinunter.

»Hallo«, sagte sie in die Runde. »Ich bin Liane. Wir sind gerade mit dem Familiendampfer angekommen.« Sie zeigte hinter sich, da stand Tim, der sehnsüchtig zu ihnen hersah.

»Komm doch«, forderte ihn einer der Männer auf. »Wir haben genügend Platz!« Er hielt seine Bierdose hoch. »Und Munition.«

Tim kletterte dankbar herüber, und die Männer stellten sich als Hans-Ueli, Dario und Leandro vor. Liane schätzte sie auf höchstens vierzig, eher Mitte dreißig. Dario war recht gut gebaut, ihm sah man das regelmäßige Fitnessstudio an. Hans-Ueli schien seiner schwammigen Figur nach eher ein Lebemann mit wenig Bewegungsfreude zu sein. Leandro dagegen war der Inbegriff eines schlaksigen Menschen; wenn er überhaupt Sport treibt, dann sicherlich nur Ausdauersport, dachte Liane, aber vielleicht täusche ich mich auch, und er macht auf einem Arm hundert Liegestütze.

»Magst du ein Bier?«, fragte Hans-Ueli sie und rückte etwas zur Seite.

»Oder was anderes?« Dario schaute sie aufmerksam an. Aha, er scannt, dachte Liane. Figur, Gesicht, Alter.

»Was gibt es denn anderes?«, fragte sie.

»Und dein Sohn? Der aber sicher ein Bier, oder?«, hakte Hans-Ueli nach.

»Ich bin nicht ihr Sohn«, berichtigte Tim schnell und setzte sich auf den frei gewordenen Platz neben Hans-Ueli.

»So einen erwachsenen Sohn kann sie doch noch gar nicht haben.« Dario lächelte Liane zu.

Aha, das Spiel beginnt, dachte sie.

»Trotzdem ein Bier?«, wollte Hans-Ueli wissen.

»Mein Vater …«, begann Tim.

»Kennen wir den?«, unterbrach ihn Leandro.

»Wohl nicht.« Tim zuckte mit den Schultern, und Dario, der direkt am Niedergang saß, stand auf.

»Also, jetzt setz dich«, sagte er zu Liane und stieg die Stufen zur Pantry hinab. »Weißwein?«, kam es gedämpft von unten herauf. »Rotwein ist auch da, eine Flasche Champagner für besondere Anlässe. Der wäre doch jetzt wohl gegeben.«

Liane fiel ihre eigene Flasche ein. Die lag noch in ihrer Tasche, und die Tasche stand bei Biggi auf dem Boot.

»Nein«, wehrte sie ab. »So besonders ist der Anlass noch nicht, ich trinke ein Bier.«

»Noch nicht«, echote Darios Stimme von unten. »Hört, hört. Das gibt ja Anlass zur Hoffnung.«

Leandro winkte ab. »Hör nicht hin, der redet ständig solches Zeug!«

»Segelt ihr immer gemeinsam?«, fragte Liane, um abzulenken. »Seid ihr so was wie eine Crew?«

Hans-Ueli grinste. »Das hier ist Niklas’ Familiendroschke. Wenn er richtig segelt, sieht das anders aus. Aber die hier ist für den Bodensee perfekt und geht auch ganz ordentlich ab.«

Liane schaute nach oben. »Heute soll es ja schön bleiben.«

Der Wetterbericht hatte erst für den Abend zunehmende Windböen vorausgesagt. Aber es war noch lang nicht Abend, und Windböen waren noch lang kein Sturm.

»Keine Sorge.« Dario stieg mit zwei gekühlten Bierdosen aus der Luke. »Bei uns seid ihr sicher. Die Admiral von Schneider hat noch keinen im Stich gelassen.«

»Admiral von Schneider?« Tim sah ihn an. »So heißt das Schiff? Wie kommt man denn auf so einen Namen? War sein Vater Admiral?«

Hans-Ueli prustete los. »Klar, wenn man immer an Silvester unterwegs ist, kann man das nicht kennen.«

»Mister Pommeroy«, kramte Liane lachend aus ihrem Gedächtnis hervor.

»Mister Winterbottom«, fügte Hans-Ueli mit einem Kopfnicken an.

»Gestatten, Sir Toby«, ergänzte Leandro.

»Und hier Ihr Sherry, Miss Sophie.« Dario stolperte auf Liane zu.

Tim versuchte ihn aufzufangen, aber Liane wusste, was gespielt wurde.

»Oh, James!« Sie streckte sich Dario entgegen, und er zwinkerte dem ratlosen Tim zu. »The same procedure as every year, Miss Sophie?« Er stellte sich vor Liane und streckte ihr die Bierdose hin.

»Yes, James, the same procedure as every year!«

»Skol!« Dario schlug die Haken zusammen, und alle lachten.

»Versteh ich nicht«, sagte Tim.

»Läuft immer an Silvester. Seit 1963 und heißt Dinner for One«, klärte Hans-Ueli ihn auf. »Miss Sophie feiert ihren neunzigsten Geburtstag und hat ihre alten Freunde eingeladen, die aber alle schon tot sind. So muss ihr Butler James jede einzelne Rolle übernehmen. Admiral von Schneider knallte immer die Hacken zusammen und rief ›skol!‹. Und unser Butler wird natürlich immer betrunkener, weil er für die vier anderen mittrinken muss.«

»Aha«, machte Tim.

»Ja, und zum Schluss muss er natürlich auch noch mit ihr ins Bett.«

Tim verzog das Gesicht. »Kann er denn noch?«

»Miss Sophie sagt: ›The same procedure as every year‹«, sagte Dario, »und dann antwortet er: ›Well, I’ll do my very best!‹« Dario sah dabei Liane an.

Sie nahm ihm die Bierdose ab und hielt sie hoch. »Na denn, Jungs, danke für die freundliche Aufnahme. Skol!«

»Wollt ihr nicht rüberkommen? Biggi deckt gerade unseren Tisch mit tausend Köstlichkeiten!« Eine Stimme, die Liane noch nicht gehört hatte. Und da stand eine blonde Schönheit, die Liane bis jetzt entgangen war. Sie trug ein gehäkeltes weißes Strandkleid, das auf ihrem braunen Körper ausgesprochen sexy wirkte.

»Wenn du das sagst?« Dario sprang sofort auf, und mit einem Seitenblick auf Liane klopfte er sich kurz auf seinen muskulösen Bauch. »Der Hunger treibt mich hin.«

Auch Hans-Ueli stand auf. »Klasse. Dachte schon, wir müssten auf der Rennziege hier verhungern.«

Nur Leandro ließ sich Zeit.

»Keinen Hunger?« Liane schaute den beiden Männern nach, denen Tim auf dem Fuß folgte. Behände stiegen sie über die schmale Reling auf das andere Boot. Die Blonde ging graziös voraus. Bestimmt ist sie als kleines Mädchen die Ballerina mit dem Krönchen auf dem goldenen Haar gewesen, dachte Liane und spürte ein unbestimmtes Ziehen im Bauch. Außerdem war sie jünger. Aber was machte das schon, Liane hatte hier sowieso keinen im Visier.

»Jetzt stürzt sich ohnehin alles auf die Wurst, den Käse und was noch alles.«

»So, wie ich Biggi kenne, hat sie sicherlich für allerlei Schmankerl gesorgt …« Liane betrachtete die Bierdose in ihrer Hand und versuchte, in sich hineinzuhorchen. Hatte sie Hunger? Hatte sie Lust, sich in das Getümmel zu werfen? Konnte sie einfach hier allein mit Leandro sitzen bleiben? Oder sollte sie ins Wasser springen und eine Runde baden?

Sie hatte noch immer ihr Kleid an, auch die anderen Frauen liefen nicht im Bikini herum. Und die Männer trugen, bis auf Dario und Hans-Ueli, ein T-Shirt zur Badehose.

Liane seufzte. Was machte sie hier bloß?

»Sollen wir zu den anderen rübergehen?«, fragte Leandro, der sie beobachtet hatte und offensichtlich spürte, wie ihre Laune sank.

»Ich weiß nicht«, sagte Liane. »Ich kenne hier ja keinen. Und weiß überhaupt nicht, wer hier mit wem zusammenhängt. Dieses Boot hier gehört Niklas?«

»Ja …« Leandro zögerte.

Liane betrachtete ihn. Seinem Äußeren nach war er ein Asket. Seine Gesichtszüge waren schmal, fast verhärmt, und seine zentimeterkurzen braunen Haare unterstrichen das noch. Weil sie so nahe beieinandersaßen, fielen ihr seine schönen Augen mit den fast unmännlich langen, dichten Wimpern auf. Beinahe hätte sie ihm das gesagt, aber dann schwieg sie doch.

»Ja?«, fragte sie stattdessen aufmunternd.

Leandro holte Luft, und es war ihm anzusehen, dass er kurz nachdenken musste.

»Er hat Liebeskummer«, sagte er dann.

»Oje!« Liane drehte unwillkürlich den Kopf und schaute zu dem anderen Schiff hinüber.

Dort war nun tatsächlich jeder Platz belegt. Offensichtlich hatte Biggi wirklich gut aufgetischt, alle hatten etwas in der Hand, und die gute Laune schwappte förmlich herüber.

»Wir sollten vielleicht auch hingehen«, überlegte Leandro.

»Liebeskummer ist furchtbar«, sagte Liane. »Hat seine Frau einen anderen?«

»Er ist verliebt. Aber er konnte nicht an sie ran. Das ist er nicht gewohnt – bisher konnte er immer alle haben, die er wollte.«

Liane überlegte, woran das liegen konnte. So furchtbar anziehend war er ihr auf den ersten Blick nicht vorgekommen. Wahrscheinlich hatte er richtig Geld.

»Vielleicht schadet ihm so etwas ja gar nicht?«

»Uns schon!« Leandro stand auf. »Wir warten, dass es wieder vorbeigeht.«

»Und wo ist das Problem? Wieso klappt es nicht?«, fragte Liane und stellte mitten in der Frage fest, dass es doch ein ziemlich intimes Thema war – und sie war eben erst an Bord gekommen.

»Sie ist liiert. Mit seinem besten Freund!«, sagte Leandro.

Das muss Leandro furchtbar auf der Seele liegen, dachte Liane, während sie ebenfalls aufstand. Offensichtlich musste er es an irgendjemanden loswerden.

»Tja, das geht natürlich nicht.« Sie folgte Leandro, und während er ihr über die Reling half, sagte er leise: »Er ist mein Freund. Wir sind alle Freunde. Ich leide mit ihm.«

»Fein, dass ihr kommt!« Das war Biggi. »Du musst ja sowieso was essen«, fuhr sie gleich fort, sodass sich alle Köpfe nach Liane umdrehten.

»Blödsinn!« Liane winkte ab, sie stand ungern im Mittelpunkt. »Ich habe genug Reserven …«

»Auf der Bank. Nicht schlecht!« Das war eine männliche Stimme, und alle lachten. Das Eis war gebrochen, und Liane ergriff eine Hand, die jemand ihr entgegenstreckte. »Komm mal runter, an den Tisch!« Den Mann zu der Hand kannte sie noch nicht, aber er lächelte sie an, und gleich darauf saß sie eingekeilt zwischen ihm und Rudi.

»Magst du ein hart gekochtes Ei?« Biggi wachte über allem wie die Meereshexe Ursula bei Arielle. »Mit einer handgeschlagenen Mayonnaise?«

»Die hast du uns nicht angeboten«, sagte einer beleidigt.

So viele neue Gesichter, dachte Liane, so viele neue Namen. Handgeschlagene Mayonnaise? Der kleine Teller mit den zwei Eihälften und einem üppigen Klecks Mayonnaise kam schneller als ihre Antwort.

»Ein Glas Weißwein?« Das war ihr Nachbar.

Wenn das in diesem Tempo weiterging, würde sie den Alkohol bald spüren. »Nur ein bisschen«, wehrte sie ab. »Zum Anstoßen.«

Das Glas, das ihr sofort in die Hand gedrückt wurde, war gut gefüllt, und Dario, der ihr schräg gegenübersaß, prostete ihr zu: »Auf unseren Neuzugang, auf Liane!«

Alle hoben ihre Gläser, und Lianes Blick fiel auf Niklas, der sie nachdenklich anschaute. Oder galt dieser Blick gar nicht ihr? Sie hätte sich gern umgedreht, aber das wäre dann doch zu auffällig gewesen. An Niklas vorbei sah sie zum Boot von Rudi und Biggi. Die Tante saß noch immer auf ihrem Platz, las in einem Buch und ignorierte den Trubel um sie herum. Wahrscheinlich hat sie sich den Ausflug anders vorgestellt, dachte Liane. Wie sie selbst ja auch. Sie hatte an schnelles, lautloses Dahingleiten unter weißen Segeln gedacht, an das Rauschen des Windes im gestärkten Tuch und an ein gemeinsames Bad, irgendwo zum Abkühlen, bevor es weitergehen würde. Es war die Vorstellung einer richtigen Rennjacht gewesen, die sie angezogen hatte. Vier Männer, der Wind und sie. Und jetzt lagen sie bei Flaute auf einer überfüllten Bootsinsel.

»Magst du?« Eine braun gebrannte Frau mit kastanienrotem Haar reichte ihr ein belegtes Brötchen weiter, das Biggi im Hintergrund für sie gerichtet hatte. Typisch Biggi. Nicht einfach ein Brötchen und dazwischen zwei Scheiben Wurst, nein, die Schwäbische Seele war ein Kunstwerk aus Tomatenscheiben, Gurkenhälften, Schinken und einer feinen Scheibe Käse.

»Danke!« Liane kannte die Tücken dieser baguetteartigen Spezialität, wenn sie dick belegt war. Biss man auf der einen Seite hinein, quoll auf der anderen alles heraus. »Biggi, du bist unschlagbar!« Liane sah sich nach einem Messer um. Wieder war ihr Nachbar aufmerksam und schob ihr eines zu.

»Ich habe mich gar nicht vorgestellt«, sagte Liane und sah ihn zum ersten Mal richtig an. »Ich heiße Liane und bin mit Biggi und Rudi hier.«

»Ich weiß. Ich bin Jürgen. Mir gehört dieser Kahn hier, außerdem einige der hier herumspringenden Kinder.« Er lächelte. Aber er lächelte traurig.

Was ist hier nur los, dachte Liane. Reichte es nicht, wenn sie heute komisch drauf war? Da konnten doch wenigstens die anderen für gute Stimmung sorgen!

»Schönes Boot«, sagte sie anerkennend. Und es war wirklich ein schönes Schiff. Eine schnittige Familienjacht.

»Segeln Sie auch?«, wollte Jürgen wissen.

»Ich bin eine begnadete Mitseglerin«, gab Liane zur Antwort.

Er lachte und zeigte seine weißen, ebenmäßigen Zähne. Liane betrachtete seine Lippen, die schön geschwungen und voll waren. Sensibel, dachte sie. Dieser Mann ist sicherlich sehr sensibel.

»Spielen Sie ein Instrument?«, fragte sie ihn spontan.

»Ja«, sagte er. Es klang erstaunt. »Wie kommen Sie darauf?«

»Sie haben irgendetwas Musisches an sich.« Liane lächelte. »Hätte auch malen, zeichnen sein können, ich weiß nicht, nur so eine Eingebung.«

»Gute Eingebung. Aber warum siezen wir uns eigentlich?«

Ja, warum? Er hatte etwas an sich, das einen trotz aller Freundlichkeit auf Distanz hielt. Er war kein Typ wie Dario, der einem gleich den Arm umlegte.

»Ich weiß es auch nicht. Muss Gewohnheit sein, im normalen Leben siezt man Fremde ja auch«, sagte sie.

Jürgen nickte. »Dann lassen Sie uns mit dem Du den ersten Schritt zum Kennenlernen tun.« Er hob sein Glas und stieß mit ihr an.

»He, gibt das hier jetzt eine Privatparty?« Dario schnippte mit den Fingern, und Rudi hob ebenfalls sein Glas.

»Schön hier«, sagte er. »Endlich mal weg von dem Gewusel zu Hause!«

Hans-Ueli lachte. Und Liane schaute sich jetzt doch um. Wo waren eigentlich Tim, Katrin, Leon und Sinja? Sie entdeckte sie im Wasser. Leon lag bäuchlings auf einem Surfbrett, und die andern hatten sich angehängt. Die Glücklichen, dachte sie. Gleich würde sie ihnen hinterherspringen.

»Geschickt«, sagte Jürgen neben ihr.

»Geschickt?«

Er wies auf ihre Schwäbische Seele, die sie in kleine Bissen geschnitten hatte.

»Bitte …« Liane wies auf ihren Teller. »Nimm. Nur so lässt sich das unfallfrei essen.«

»Perfekt. Eine praktisch veranlagte Frau!« Er griff zu und steckte sich einen Happen in den Mund. »Klasse!«

»Ich nehme mal an, wenn du Kinder hast, ist deine Frau auch praktisch veranlagt …«

»Meine Liebste ist einzigartig.« Er schaute ihr in die Augen. »Sie ist wunderbar!«

Liane gab den Blick zurück. Eine wunderbare Frau, dachte sie. Ob Marius so einen Satz schon jemals über sie gesagt hatte?

»Will denn keiner ins Wasser?«

Der weibliche Ruf kam von Niklas’ Jacht und gleich darauf ein lautes Platschen.

»Ines hat recht!« Rudi schaute auf. »Wir haben jetzt auch genug gegessen!« Das galt Biggi, die noch immer Häppchen produzierte, jetzt allerdings war sie schon an süßen Teilchen für den Kaffee.

»Ja, eine gute Idee!« Dario stellte seine Bierdose ab, ging mit ein paar Schritten zur Reling und war mit einem eleganten Kopfsprung im Wasser.

Jürgen schob sich noch schnell eine Schnitte in den Mund, dann nickte er Liane zu. »Auf geht’s!«

Auf diesen Moment hatte Liane nur gewartet. Sie zog ihre Beine unter dem Tisch hervor. Einige stiegen bereits über die Schiffsbadeleitern hinunter, andere sprangen vom Bug, und Hans-Ueli bescherte dem Heck mit seiner Arschbombe eine Wasserfontäne.

Biggi warf einen kurzen Blick auf ihre nass gewordenen Köstlichkeiten, zuckte aber nur mit den Achseln. »War das nicht eine super Idee?«, fragte sie Liane strahlend, zog sich ihr Kleid über den Kopf und sprang in ihrem knallroten Badeanzug ins Wasser.

Sie scheint wirklich glücklich und mit ihrem Leben zufrieden zu sein, dachte Liane und sprang ihr hinterher.

Es war das erste wirkliche Glücksgefühl an diesem Tag. Das kühle Wasser auf der Haut, die Schwerelosigkeit, die lachenden Menschen und die Boote, erhaben und fast mächtig lagen die Schiffe vor ihr. Eigentlich ist doch alles wunderbar, dachte sie, während sie mit kräftigen Zügen in Richtung Ufer schwamm. Ich genieße das Leben, ich habe keine Verpflichtungen, ich habe mir eine neue Freiheit erkämpft, ich kann einfach alles auf mich zukommen lassen. Ich bin buchstäblich frei wie ein Fisch im Wasser. Über den Vergleich musste sie lächeln und spürte ihre Kraft in sich. Sie kraulte, bis die Arme ermüdeten und die langen Haare sie beim Atmen störten. Ich hätte sie zusammenbinden sollen, dachte sie, während sie sich auf den Rücken legte und den Himmel betrachtete. Tatsächlich, dort hinten vom Hegau her kam eine dunklere Wolkenfront. Aber die war weit weg, und die Sonne am Obersee glitzerte noch, setzte sich als kleiner, gleißender Stern auf jede einzelne Wellenspitze und blendete die Augen. Es war wunderschön. Und die Strömungen spannend. Mal war das Wasser fast zu warm, einen Meter weiter spürte man einen kalten Zug am Bein. Und wenn sie ins dunkle Nichts unter sich abtauchte, wurde es sehr schnell kälter.

Liane ließ sich eine Weile treiben und schaute sich nach den Schiffen um. Die Jugendlichen balgten um das Surfbrett, und einige Luftmatratzen und bunte Schwimmstangen lagen inzwischen im Wasser. Einige hatten damit einen großen Kreis bei den Booten gebildet. Sie lachten und redeten und hatten offensichtlich viel Spaß. Sollte sie nicht zu den anderen zurück? War es unhöflich, als Gast so auf Abstand zu bleiben? Oder machte sie sich Gedanken, die sich außer ihr keiner machte? Liane versuchte, in sich hineinzuhorchen. Ihr Bauchgefühl schwieg.

Nun gut, sie schwamm halbherzig zu den Booten zurück.

»Hey, die hübsche Liane kommt.« Das war Dario. Sosehr einem seine Art vielleicht auf den Nerv gehen konnte, jetzt war es einfach nur nett. »Häng dich an meine Stange«, sagte er laut. Alle lachten und sahen sich nach ihr um. Er nahm das eine Ende seiner schwimmenden Kunststoffstange und hielt ihr das andere entgegen. Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt. Sei nicht so dünnhäutig, Liane, es sind nur alle gut drauf, weiter nichts.

»Perfektes Ding«, sagte sie, während sie nach der Kunststoffstange griff.

Dario grinste. »Das ist die Kunst der Untertreibung«, sagte er in die Runde und blinzelte ihr zu.

War er charmant oder einfach nur blöd? Liane hakte ihn ab. Ihr gegenüber machte die Blonde graziöse Beinübungen wie an der Ballettstange. Tatsächlich, dachte Liane, totales Mädchen, echte Kindfrau. Sie setzt auf Wirkung, und natürlich zog sie damit sofort die Blicke der Männer auf sich. Liane sah zu der Frau mit den kastanienbraunen Haaren, die neben der Blonden relaxed auf ihrer Stange hing. Sie spürte Lianes Blick und lächelte ihr zu. Einverständnis unter Frauen. Links neben Liane hielt sich Jürgen an seiner Stange fest und daneben Niklas. Sie unterhielten sich gerade über Fußball. Da waren Frauenbeine, egal, wie geartet, nebensächlich. Dafür waren Hans-Ueli und Leandro von der Blonden völlig fasziniert. Und auch Rudi starrte wortlos zu ihr.

»Ja, ein bisschen Wasseraerobic kann nicht schaden!«, rief Biggi und fing direkt neben Rudi an zu strampeln. »Los, ihr Bewegungslegastheniker, macht mit!« Aber den Männern war das offensichtlich zu albern.

»Unsere Beine sind in Ordnung, wir brauchen das nicht«, sagte Rudi und zog damit sofort Biggis Zorn auf sich.

»Ach so, ja? Was soll das heißen?«

»Nichts«, sagte Rudi.

Und Hans-Ueli echote beschwichtigend: »Nichts. Wir sind einfach viel zu alt zum Rumzappeln.«

Die Blonde lächelte und drehte sich im Wasser auf den Bauch.

»Wo ist denn eigentlich Anika?«, fragte jemand.

»Bei den Kindern«, sagte einer der Männer. »Eine muss ja Aufsicht führen.«

Jürgen sah sofort hoch. »Ich kümmere mich«, erklärte er.

Liane warf ihm einen Blick zu. Er war irgendwie besonders. Nicht auf den ersten, aber auf den zweiten Blick. War Anika seine Frau? Die Frau, von der er so geschwärmt hatte? Wie war das gewesen: einzigartig und wunderbar?

Ende der Leseprobe