Ich stelle mich schlafend - Deniz Ohde - E-Book

Ich stelle mich schlafend E-Book

Deniz Ohde

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Beschreibung

Ich stelle mich schlafend erzählt von den dunklen Seiten einer Liebe – und die Geschichte einer Befreiung. Ein eindringlicher Roman über den Versuch der Auslöschung einer Frau, und über die Frage, ob es eine Berührung gibt, die den Kern eines Menschen unwiederbringlich verändert.

Das Haus, in dem Yasemin bis vor kurzem gelebt hat, steht nicht mehr. Es musste bis auf die Grundmauern abgerissen werden. Von der Wohnung, die sie zuletzt mit ihrem Freund Vito geteilt hat, sind nur Erinnerungen übrig. Die Geschichte der beiden reicht bis in ihre Jugend zurück: Beide wachsen im selben Hochhauskomplex auf, und Yasemin verliebt sich mit dreizehn in den drei Jahre älteren Nachbarn. Von klein auf fasziniert von Glaubensfragen und Spiritualität, versucht sie durch einen Liebeszauber, Vito für sich zu gewinnen. Doch nach einem Sanatoriumsaufenthalt, wo ihre Skoliose behandelt wird, geht sie auf Distanz. Zu fremd ist ihr der eigene Körper, zu groß die Scham wegen ihres Korsetts. Erst zwanzig Jahre später, als die mühsam aufgerichtete Wirbelsäule droht sich wieder zu stauchen, begegnen sie sich erneut. Yasemin hält dieses späte Aufflammen der Jugendliebe für Schicksal. Aber dann zeigt Vito sein Inneres, das bedrohlich ist und leer.

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Seitenzahl: 332

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Cover

Titel

3Deniz Ohde

Ich stelle mich schlafend

Roman

Suhrkamp

Impressum

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Die Autorin dankt der Stadt Baden-Baden für das Baldreit-Stipendium 2020/2021, der Stadt Lüneburg für das Heinrich-Heine-Stipendium 2022 sowie InterArtes e.V. und Navid Kermani für das Gargonza-Arts Stipendium 2022.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Originalausgabe, 2024.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Miriam Bröckel, Stuttgart

Umschlagfoto: Andy N. Smith, Toronto

eISBN 978-3-518-77862-3

www.suhrkamp.de

Widmung

6Für B.

Motto

7Von solchem Glück benommen und krank vor Liebe, wusste sie nicht, was sie tun sollte; da ergoss die Lampe […] von ihrer leuchtenden Spitze einen Tropfen siedend heißen Öls über die rechte Schulter des Gottes.

Apuleius: Das Märchen von Amor und Psyche

Und siehe, eine Frau war da, die hatte seit achtzehn Jahren einen Geist, der sie krank machte; und sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten.

Das Evangelium nach Lukas 13,11

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

{ } Brache

I Kraft

II Vito

III Sanatorium

IV Nachtwächter

V Body Count

VI Aydede

VII Tiefgarage

VIII Elf Uhr Siebenundzwanzig

Zitatnachweise

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Ich stelle mich schlafend

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Brache

Lässt sich an einem Streifen Erde ablesen, was geschehen ist? War etwas zu erkennen auf diesem Grundstück, eingefasst von einem Baustellenzaun, der sich im heißen Sommerwind wiegte? Yasemin versuchte, sehr genau hinzuschauen, ob die Überreste sprachen. Ob die Backsteine sprachen, die da aus dem Sand ragten. Die Disteln und der Giersch, die bereits dazwischen sprossen. Es wirkte fast, als wäre erst vor kurzem ein bauplanerisch vernachlässigter Fleck Totland erschlossen worden, machte nicht der mit grauen Steinplatten verlegte Hinterhof die Trennlinie zum fehlenden Haus sichtbar, zeugten nicht die Spuren an der Wand des links angrenzenden Nachbargebäudes davon, dass sich dort früher eine Treppe befunden hatte. Sie war plötzlich zur Außenmauer geworden. Eine weiße Plastikplane verdeckte notdürftig den abgesprungenen Putz und hob sich im Wind wie ein Rock. Das Wurzelwerk des Götterbaums hatte sich unter die Steinplatten geschoben und verwandelte den Hinterhof in eine Hügellandschaft. Trümmerbaum hat man ihn früher genannt, weil er auf Asche gedieh, weil ihm unwegsame Landschaft und fruchtlose Böden nichts ausmachten, und jetzt wuchsen seine Ableger ungehindert, weil Ante nicht mehr wie in den Jahren zuvor die jungen Triebe aus der lehmigen Erde riss, bevor sie zu tief im Boden wurzelten.

Es war sehr still, sommerstill, nur die Plane raschelte, und Yase kam es vor, als sei es ihr eigener Rock, der da gehoben wurde. Das aschblonde Haar lag ihr als Zopf im Nacken, am 10Morgen hatte sie sich mit letzter Kraft diese früher so gewohnte Frisur geflochten, aber der Strang fühlte sich falsch auf der Haut an, als habe Yasemin sich verkleidet und spiele sich nur selbst, eine wandelnde Tote, die eigentlich irgendwo unter diesem aufgeworfenen Sand verscharrt hätte liegen sollen.

Am Abend bevor das Haus verschwand, saßen Yasemin und Lydia hier vor dem KlickKlack auf dem Gehsteig. Ante hatte die wackligen Aluminiumstühle rausgestellt, ihnen Limonade gebracht, die Gläser fingen sofort zu schwitzen an, der Himmel war seltsam bleiern, wie von der brennenden Sonne ausgeblichen. Yasemin war zuletzt übernächtigt gewesen. Die sonst so reine und leuchtende Haut schien fahl, erstmals fielen ihr im Spiegel die feinen Linien um die Augen auf, die für eine Frau von fünfunddreißig Jahren nicht ungewöhnlich waren, in den letzten Wochen aber auf eine Art zutage traten, die anzeigte, dass sie mit etwas beschäftigt war. In sich zusammengefallen saß sie auf diesem Stuhl, sie konnte sich kaum mehr aufrecht halten vor Müdigkeit. Hinter Lydia sah sie die Häuser der Vogesenstraße aufragen. Ein Komplex aus zusammenhängenden Hochhäusern, in Schlangenlinie angeordnet, nachträglich an den Rand des Parks gesetzt, ein Karree Wiese mit Kiesweg drum herum, die in diesem Jahr gelb geworden war, der Kanal floss daneben durch ein Flussbett aus alten Kopfsteinen. An einer Stelle wurde er breiter und bildete einen gefährlichen Strudel. Die Vogesenstraße 45 bis 50 waren die einzigen hohen Häuser in der Gegend. Manche waren sechs, manche zehn Stockwerke hoch, die Blechverschalungen der Balkone reihten sich übereinander, und von ihrem Schlafzimmerfenster über dem weiß erleuchteten KlickKlack-Schild hatte Yase Lydias mit roten Gera11nien bepflanzten Balkon im Erdgeschoss der 45 sehen können, sechs Stockwerke darüber die Balkontür ihrer Kindheit, aber im Wohnzimmer dahinter wohnten längst andere Leute. Die Betonfassade war einmal in einem pastellfarbenen Apricot gestrichen worden, um sie freundlicher wirken zu lassen, aber mit der Zeit hatte sie einen Grauschleier bekommen.

»Eine große Illusion war das, habe ich es dir doch gesagt, Schatz.« Lydias graues Haar rahmte ihr Gesicht in einem geraden Bob-Schnitt, die Lippen lila geschminkt, sie drehte die Limonade in den Händen. Allem, was sie sagte, hätte eine Geste folgen können, bei der sie Asche von einer Zigarettenspitze schnippte, aber Lydia rauchte schon lang nicht mehr, schon mindestens dreißig Jahre. »Das ist nicht gut für die Haut«, mahnte sie ihre Klientinnen, wenn diese sich auf ihren Behandlungsstuhl legten und sie den kalten Rauch in ihren Haaren roch. Es stimmte, von einer Illusion hatte Lydia von Beginn an gesprochen, und noch einige andere Ansprachen hatte sie versucht, aber nichts war zu Yasemin durchgedrungen. Wer rauchte, wollte es ja auch nicht verstehen. Fand immer eine Ausrede, warum es nun doch schön war. Sooft Lydia den Spruch vom Sargnagel im Mund brachte, die Antwort war immer, dass die Kaffeepause mit der Zigarette gemütlicher sei. Genauso gut hätte sie zu einem der Trinker in Antes Kneipe gehen können und ihm erklären, dass er sich seinen Alkoholismus nur einbilde. Der Trinker hätte durch sie hindurchgeschaut und den Schluck Schnaps heruntergewürgt, weil er es musste, nicht weil er es wollte. Es war eine Sucht, kein freudiges Saufen. Er litt darunter, aber er konnte nicht anders. Wie sollte man einem solchen Mann sagen, dass er das Glas einfach nur wieder hinzustellen bräuchte. Sich umdrehen und gehen, weil alles gar nicht echt war.

12So musste Yasemin in der letzten Zeit auf Lydia gewirkt haben. Wie von einem alten Geist berührt, war sie durch die Räume gehastet und hatte alles in Frage gestellt. Ein Einbruch, den sie jetzt, im Rückblick, unerklärlich fand. Sie sah dieses Zerrbild ihrer selbst, wie es Lydia atemlose Vorträge hielt, fast manisch versuchte, ihr die Zeichen zu erklären, die sie gelesen haben wollte, in den Sternen, in Nummernschildern, in diesem heißen Sommer, der denjenigen vor zwanzig Jahren spiegelte, aber das allererste Zeichen las sie natürlich im Mond.

Yasemin fragte sich, ob einer der Backsteine, die da aus der Erde ragten, Teil der Einfahrt gewesen war, durch die sie täglich getreten war. Ein offener Gang, gerade breit genug für ein Auto, der auf den Hinterhof führte, wo jetzt die Mülltonnenverschläge still dalagen und der Baum seine Zweige in die Luft reckte, gebogen wie knochige Rutschen. Hier hatte sich früher die schwarze Nachbarskatze im schmalen Beet nah der Grundstücksmauer ausgestreckt, weil die Erde kühler war als die Steinplatten, der Baum warf seine Blüten ab, und die kleinen gelblichen, fast giftgrünen Dolden rieselten wie schwerer Schnee zu Boden und bedeckten ihr Fell. Die Katze hatte die Augen geschlossen, nur manchmal zuckte die Haut, wenn eine Blüte die Haarspitzen berührte, aber sie war nicht besorgt.

Das war die letzte Ruhe.

Yasemin sah sich an die Rückseite des Hauses treten, wo neben dem angebauten Schuppen der Eingang gelegen hatte. Hier führte eine Treppe am Hinterausgang des KlickKlack vorbei zu ihrer Wohnung im Dachgeschoss, das gleichzeitig der erste Stock war. Sie sah sich ihre Tür aufschließen, die über die Jahre auch Hermanns Tür geworden war, aus 13dickem Holz, das sich in der Sommerhitze ausdehnte, sie musste sie mit mehr Kraft ins Schloss drücken als gewöhnlich. Diese Tür war ihre Sicherheit. Es störte sie nie, sie mit Hermann zu teilen, es war ganz selbstverständlich, er wuchs in ihr Leben hinein, und ihre Tür wurde zu seiner, ihr Bett zu seinem, ihre karge Einrichtung – weil sie es ruhig brauchte, weil ihre Augen sonst so rasten, weil ihre Gedanken mit ihr durchgingen – wurde zu seiner, auch die Wände, leer bis auf die Lichterkette über dem Bett, aber nicht so, dass er ihr Gebiet feindlich besetzte und unter seine Kontrolle bringen wollte. Er fügte den Gegenständen sanft welche hinzu.

Als Yasemin nach einem langen Tag nach Hause kam, stand er an der Spüle und trocknete Teller ab. »Ich brauche einen Tee«, sagte sie erschöpft, und Hermann sagte beiläufig: »Nimm doch meine neue Teekanne.« Es war die Kanne aus Glas, die sie gesehen hatten, als er sie anderntags von der Arbeit abgeholt hatte und sie über die Verkaufsflächen des Kaufhofs gegangen waren. »Komm, wir fahren noch in die Haushaltsabteilung«, hatte Hermann gesagt, weil er wusste, dass die sauberen Handtücher sie beruhigten, und sie hatten sich auf der Rolltreppe gegenübergestanden, Yase eine Stufe über ihm, sodass sie fast gleich groß waren. Sie umarmten sich nach zehn Jahren als innige Vertraute, während der schwarze Handlauf neben ihnen herglitt, etwas schneller als die Stufen, weil die Mechanik es unmöglich machte, sie exakt aufeinander abzustimmen. »Diese Kanne ist schön«, hatte Yase gesagt und übers Glas gestrichen. Sie fand sie schön, weil man hindurchsehen konnte. Stünde sie auf der Fensterbank, würde sie die Aussicht auf die Vogesenstraße nicht verstellen, das Glas war nicht anfällig für Verfärbungen, weil man jeden Winkel mit einer Drahtbürste von Teein säubern könnte. Wie klares Wasser sah die Kanne aus, und 14das wollte Yasemin sein: klares, reines Wasser. Kein Speichel, der es kontaminierte, keine Fingerspitze, die eintauchte und Bakterien übertrug, keine Hautpartikel, die am Glas klebten. Sie waren so zäh, dass sie an allem haften blieben, was man berührte, so hartnäckig, dass nur eine Spur genügte, eine Streifung, um mit der darin enthaltenen DNA einen Mörder zu überführen.

»Nimm doch meine neue Teekanne«, Hermann sagte es mit seiner Yasemin vertrauten Witzstimme, so nannte sie es, wenn er diesen Tonfall anschlug, diesen gespielten Ernst. Yase drehte den Kopf und sah die durchsichtige Kanne auf dem Abtropfgestell, Hermann hatte sie schon abgewaschen, mit heißem Wasser jeden Keim erstickt, der in ihrem Bauch aus der Produktion hätte herübergeschleppt werden können.

Yasemin küsste Hermann fest auf den Mund.

Diese Wohnung gab es nicht mehr. Das Durchgangs- und das Schlafzimmer, den kleinen Flur, der zu Küche und Gasofen führte, das schlauchförmige Bad mit den alten glasierten Fliesen, mit dem Fenster zum Hinterhof, das flache Schuppendach schloss mit dem Fenstersims ab. Hier war Yasemin immer wieder zu sich zurückgekehrt. Das Bad war von jeher der Ort ihrer Ich-Werdung, schon in der elterlichen Wohnung hatte sie ihre Duschen in die Länge gezogen, bis jemand an der Tür klopfte. Es ging weniger um Eitelkeit als um den Vorgang: die routinierte Bewegung ihrer Hände beim Shampoonieren des Haars, die Linien, die der Rasierer auf ihrem Bein zog, die Gesichtsmasken, die sie seit frühen Teenagerjahren von Lydia bekam. Aus Glycerin bestanden sie oder aus Silica, aus Heilerde und Ölen, je nachdem, was Yases Haut brauchte, je nach Alter. Was von einer ganzen Industrie als Lockmittel gedacht war, um äußerliche Makellosigkeit zu erreichen, deutete Yasemin um, ohne sich damals darüber bewusst zu sein, es war für sie eine Art alchemistisches Ritual geworden, bei dem sie als die eine ins Badezimmer hinein- und als eine andere wieder heraustrat. Es ging um das Abschließen der Tür und die blickdichten Fenster, hinter denen sie ihren Bademantel ablegen konnte, ohne zu frieren, hinter denen sich ihre Gedanken endlich beruhigten, während sie bei gedimmtem Licht die Körperhaut abrieb und hyaluronhaltige Paste auf dem Gesicht verteilte. Klar, jemand hätte sagen können, dass dies nur eine Ausrede war, dass sie trotzdem hereinfiel auf die Idee einer Schönheit, die es zu erreichen galt. Aber Yasemin fühlte sich bereits schön in dem Sinne, dass sie nichts an ihrem Erscheinungsbild ändern wollte, bis auf ihre Größe vielleicht, über die sich ihre Mitschüler manchmal lustig machten. Yasemin war groß, fast ein Meter achtzig. Ihre Haarfarbe war von einem ungewöhnlich kühlen Blond, die Augen blau, die Lippen voll, die Nase klein wie eine Drillingskartoffel und leicht nach oben gebogen. Trotzdem verdrehte sie nicht die Köpfe, wenn sie auf der Straße unterwegs war. Es war ihrem Kleidungsstil geschuldet, der sie farblos erscheinen ließ und bewirkte, dass sie mit dem Hintergrund verschwamm. Ihre Garderobe bestand nahezu ausschließlich aus Jeans und Baumwollshirts mit langen oder kurzen Ärmeln, in Weiß, Oliv oder Taubenblau. »Du bist ein kühler Sommertyp«, ermahnte sie Lydia, »trag doch mal ein paar Beerenfarben«, und Yasemins Antwort darauf war ein dunkellila Samthut, den sie auf einem Weihnachtsmarkt gefunden hatte, der Form nach eher ein verbeulter Zylinder mit breiter Krempe, die sich umschlagen ließ, und an der Borte einer Stoffblume aus demselben Material. »So habe ich das nicht gemeint«, sagte Lydia und drehte die Mütze unzufrieden in der Hand, aber Yase gefiel 16sie, es war das einzig Exzentrische an ihr, und sie trug sie jeden Winter, bis die Mütze mitsamt ihrem Zuhause diesen Sommer dem Erdboden gleichgemacht worden war.

Sie stand ihrem Aussehen indifferent gegenüber, weil sie es konnte. Dass sie ihre Behandlungen und Intensivkuren manchmal mit dieser Verbissenheit vollzog, hatte mit etwas anderem zu tun. Dass sich manchmal ihre Kiefermuskulatur verkrampfte, wenn sie sich im Spiegel betrachtete, dass sie beim Kämmen an ihrem Haar riss wie an dem einer unfolgsamen Puppe, so wie sie es auch bei Lydias Klientinnen oft beobachtet hatte, bis diese ihnen sanft die Bürste aus der Hand nahm.

Was Yasemin mit ihren Badezimmerritualen verband, war die Idee einer Reinigung, die über das Körperliche hinausging. Ganz zu entkoppeln waren ihre Routinen vom Wunsch nach Makellosigkeit dann doch nicht, von der Assoziation von Schönheit mit Tugend, mit Reinheit im Sinne der Unschuld. Als könnte eine störende Erfahrung mit jedem Strich des Waschlappens über die nasse Haut ausgetrieben werden, als hätte sie einen versteckten Schmutz auf ihrem Körper hinterlassen.

»Schlaf doch ein paar Nächte bei mir«, schlug Lydia vor dem KlickKlack vor und nahm einen Schluck von ihrer Limonade.

Ante trat aus der Kneipentür. Es war ein langsamer Abend, da Dienstag, und noch nicht besonders spät. Die Trinker würden erst ab neun aufschlagen. Ein dichter dunkelbrauner Bart umrahmte Antes Gesicht, an den Schläfen ging er nahtlos in sein ebenso dunkles Haupthaar über, das an den Seiten kürzer geschnitten war. Sein Kopf bekam dadurch eine Kastenform, die seine weichen Züge ausglich; die Wangen, der volle Mund und die runden Augen, die gelegentlich etwas 17wässrig wurden, und die Lachfalten drum herum. Trotz der ungesunden Arbeitszeiten sah er auf eine Weise frisch aus, die nicht zur Folge hatte, dass man sein Alter falsch schätzte, sondern, dass man seinen Geist als junggeblieben erkannte.

»Alles gut?« Ante trat an ihren Tisch, trocknete sich die Hände mit einem Geschirrtuch und betonte wie immer die letzte Silbe: Alles gutt? »Heute Bauerneintopf«, kündigte er das Gericht an, das er für die Nachtgäste schon auf dem Herd stehen hatte und von dem er Yase, wenn etwas übrig bliebe, bei Ladenschluss eine Portion vorbeibringen würde.

Eine Rückkehr zur Normalität schien möglich. Ante klopfte ihr auf die Schulter, bevor er wieder in der Kneipe verschwand. Yasemin war froh, von den Leuten, die ihr geblieben waren, angenommen zu sein. Glücklich darüber, dass sie zurückkehren konnte in die Welt, in die sie gehörte. Die Episode mit Vito war schon dabei, sich zu verflüchtigen wie ein schlechter Traum. Ein nachlassender Schmerz, auf den Entspannung und dann eine himmlische Müdigkeit folgen würden.

Das letzte Zeichen, das Yasemin noch rechtzeitig zur Besinnung gebracht hatte, war eine Ikone gewesen. Aufgestellt an einem Sommerabend vor drei Wochen auf einer Fensterbank im Erdgeschoss der Vogesenstraße 50, die Yase von ihrem Fenster über dem KlickKlack aus sehen konnte. Sie erkannte schemenhaft vier Gestalten, eine davon, in einen langen Rock gekleidet, stellte einen Holzrahmen auf den Vorsprung. Jede der vier zündete ein Windlicht an. So standen sie vor diesem Fensterbankaltar, zwischen dem undefinierten Gebüsch, das dort an der Hausmauer wuchs, und den Steinstufen zum Eingang. Sie drückten sich Taschentücher vor die Augen und schauten dieses Bild an. Yasemin wusste, wen es 18zeigte. Sie wusste, dass Immacolata ihnen entgegenlächelte, ihr Gesichtsausdruck derselbe wie vor all den Jahren, als sie sich als Jugendliche, eigentlich als Kinder noch, angefreundet hatten. Die Zähne mussten nicht mehr von einer Zahnspange geradegerückt werden, aber die Mundwinkel gruben sich noch immer tief in die Wangen, der Pony fiel ihr auch als erwachsener Frau noch in die Augen.

Und was siehst du jetzt, Yasemin? Sie sprach es zu sich, vor der Brache stehend: Du kannst dich noch so weit vorbeugen, noch so sehr deine Stirn gegen den Drahtzaun drücken, als schautest du durch ein Schlüsselloch, in den verstaubten Mülltonnenverschlägen wirst du nichts erkennen, die Steine sprechen nicht, wofür soll ein zerstörtes Haus ein Zeichen sein? Pass auf, dass du dir keinen Zug am Auge holst. Du hast doch immer nur nach Positivem gesucht und nie die bösen Omen gesehen. Eine Gabe hast du, dir alles so zurechtzulegen, dass es passt. Eine Gabe, den Standpunkt zu wechseln, die Perspektive. Und schau, wo es dich hingebracht hat. Was siehst du jetzt hier? Was kannst du anderes als Zerstörung sehen? Die Ruhe deiner Wohnung gibt es nicht mehr. Deine Glasteekanne gibt es nicht mehr.

Hinter ihr parkte ein Auto. Ante stieg aus; er trug einen grauen Anzug, der ihm etwas zu groß war, ein ungewohnter Anblick, Yase kannte ihn nur in Jeans, einem weißen T-Shirt, mit einer Schürze oder einem Geschirrtuch über der Schulter. Es war viel zu heiß für diesen Aufzug, Ante standen schon nach den wenigen Metern über die Straße die Schweißperlen auf der Stirn. Er stellte sich neben sie, und nach einem kurzen Blickwechsel schaute er mit ihr auf die Brache, als stünden sie auf einer Aussichtsplattform, als gäbe es da zwischen den Steinen und dem Unkraut etwas zu entdecken. 19»Nichts mehr. Alles weg«, sagte er und strich sich durch den Bart. Er sah Yase an und suchte in ihrem Gesicht nach einer Reaktion. Sie nickte: »Alles weg.« Aus der Innentasche seines Sackos zog Ante eine Flasche hervor. »Rakija«, erklärte er, »von meinem Onkel gebrannt.« Er schraubte die Flasche auf und streckte den Arm durch eine der Zaunmaschen. Ein Tropfen Schnaps traf auf die heiße Erde. »Möge Gott für ihn sorgen«, sagte Ante und gab die Flasche an Yase weiter. »Du hast überlebt.«

20I

Kraft

»Aydede!«, rief Yasemin voller Begeisterung, wenn sie als Kind den Vollmond sah; eins der wenigen türkischen Wörter, die man ihr beigebracht hatte. Sie rief es nachts auf dem Rücksitz des Autos, zeigte durch die Heckscheibe nach draußen, wandte den Kopf zu ihren Eltern um, schwarze Silhouetten auf den vorderen Sitzen, beide lachten amüsiert über Yasemins Eifer. Die Landstraße war nur durch die Scheinwerfer beleuchtet, alles andere lag im Dunkeln, rechts und links flogen Nadelbäume vorbei, eine kalte Nacht. Hinter dem Wagen zog der rote Widerschein der Rücklichter eine Spur wie auf einer lang belichteten Fotografie. Ab und zu flammte der Zigarettenanzünder auf. »Aydede!« Yasemin hatte Dunstwolken vor dem Mund, ihr glückliches Lächeln – sie wusste nicht, was sie da sagte.

Sie war überzeugt, dass es schlicht Mond heiße, und ahnte nicht, dass sie ein Verwandtschaftsverhältnis aufrief damit. Der Mond bekam ein Gesicht, das sie an eine schreiende Frau erinnerte.

Yasemin war aus einem gebrochenen Willen gezeugt worden.

Sie war durch einen Kaiserschnitt auf die Welt gekommen. Als Ungeborene hatte sie sich nicht drehen wollen und steckte im Geburtskanal fest. Man hatte sie an den Füßen herausgezogen.

21In der Wohnung ging alles gesittet vonstatten. Die Wohnwand im Fernsehzimmer glänzte, weil Yases Mutter die Möbel mit einer eigens angemischten Politur aus Olivenöl und Zitronensaft bearbeitete, das Licht fiel durch die gestärkten Gardinen vor der Balkontür auf das Schachspiel, das Yasemin immer zur Verfügung stand. Sie vertrieb sich die Zeit, indem sie dem Geräusch der Filznoppen am Fuß der Figuren auf dem Spielbrett lauschte. Kein harscher Laut war in der Wohnung zu hören, weil der Teppich die Höhen schluckte und die Setzkästen an den Wänden den Schall im Zimmer streuten. Yasemins Eltern waren meist abwesend. Wenn sie denn je zu Hause waren, kamen sie ihr wie Wachsfiguren vor. Kam der Vater alle paar Wochen von seinen Montagefahrten heim, zog er sich zurück, schloss die Jalousien, um Schlaf nachzuholen, den Rücken immer zur Tür gedreht.

Die Mutter war beschäftigt mit Bügeln, ob der Vater zu Hause war oder nicht, sie schaute weder ihn noch Yasemin dabei an, immer dieses Bügeln, ihr endloses Thema. Manchmal fing sie mit dem ganzen Stapel nochmal von vorn an, wenn sie meinte, dass sich doch wieder eine Falte eingeschlichen hatte. Dieselbe Strenge legte sie auch im Umgang mit Yase an den Tag. »Das Kind sitzt immer so krumm!«, rief sie, als wäre Yase nicht mit ihnen im Wohnzimmer. Der Vater nickte, ohne aufzublicken, die Hände hielten schlaff vor Müdigkeit eine Zeitung. Über die Jahre hatte er gelernt, dass seine Einschätzung der Dinge überflüssig war. Wenn er in seinem weißen, mit Farbspritzern bedeckten Overall zurückkam, gab es einen förmlichen Kuss. Es war keine richtige Lieblosigkeit, mehr eine Art Geschwisterlichkeit, die sich zwischen den Eltern eingestellt hatte, sie bildeten eine Zweckgemeinschaft, die bestehen musste, weil es Yasemin gab. Ihr Vater blieb ihr fremd wie ein entfernter Onkel, von 22dem sie nicht richtig sagen konnte, wie sein Leben eigentlich aussah. Seine Freude über ihr »Aydede!« war die einzige Aufmerksamkeit, die sie ihm entlocken konnte. Von diesen flüchtigen Momenten hatte sie zu zehren und akzeptierte das. So, wie sie auch die forschen Berührungen der Mutter akzeptierte, ihre Finger wie aus Draht, die Yasemins Rücken gerade zu richten versuchten. Ihre militärischen Bewegungen am Bügelbrett, neben sich ein Glas Orangensaft, das oft bis zum Nachmittag ihre einzige Mahlzeit blieb. Manchmal verordnete sie sich auch Haferkuren. »Morgens, mittags, abends«, betete sie ihre Pläne vor, »nur Haferschleim, das entschlackt und härtet ab.« Ein paar Monate später war es schon wieder ein anderes Lebensmittel, von dem sie sich diese magisch reinigende Wirkung versprach. Allem anheim war ein garstiger Umgang mit sich und der Welt; sie versuchte, alles Schlechte und Unangenehme auszutreiben und alles Angenehme auf ein Minimum zu beschränken, aus Angst, es wieder zu verlieren. Lautlos trug sie die gebügelten Geschirrtücher durch die Räume. Waren sie nicht akkurat auf Kante gestapelt, verhärteten sich ihre Gesichtszüge noch weiter, sie trug sie zurück zum Brett und fing mit dem Falten von vorne an. »Daran gewöhnen wir uns erst gar nicht«, war ihre Antwort auf den ausgesuchten losen Tee, den Lydia ihr zum Geburtstag schenken wollte, und auf die Bemühungen des Vaters, während seiner Anwesenheit eine unschuldige Zärtlichkeit wie ein Streichen über ihr Haar an sie heranzutragen. Nachts sank sie in einen bleiernen Schlaf, aus Erschöpfung nach all der selbstverordneten Perfektion.

An den meisten Tagen beugte sich Yase über ihre Bücher und nahm nichts wahr als Worte und Gedanken. »Sitz gerade!«, die ständige Ermahnung ihrer Mutter, weil ihre Haltung 23dabei so ungesund war. Schließlich meldeten die Eltern sie auf Empfehlung des Sportlehrers zum Reitunterricht an. Es war der Versuch, sie irgendwie in ihren Körper zu bekommen. »Da bist du an der frischen Luft, da machst du dich ein bisschen schmutzig«, sagte ihr Vater, und Yase ließ sich darauf ein. Sie war dankbar, dass sie wenigstens nicht zu einem Mannschaftssport gezwungen wurde. So gut kannten ihre Eltern sie zumindest und wussten, dass sie nur allein funktionierte, das Zwiegespräch mit einem Tier traute sie sich gerade noch zu. Jeden Dienstag trug das Pferd die Kinder ihrer Gruppe im Kreis. Ein dunkelbrauner Wallach war es, fast schwarz, dessen Schultermuskulatur sich unter dem Fell abzeichnete, Yasemin strich mit einer Bürste darüber, er vertrieb ein paar Fliegen mit dem Schweif, und Yase sagte nichts, während die anderen Mädchen ihm unter Gekicher kleine Zöpfe in die Mähne flochten und über Haaröl diskutierten, das sie sich selbst in die Spitzen kneteten. Sie beugte sich herab, um ihm die Hufe auszukratzen. Ein vollends gefestigtes Vertrauen, wie es zum Reiten notwendig war, fasste sie nicht zu dem Tier, auch wenn sie die Hufschlagfiguren lernte und schnell heraushatte, in welchem Rhythmus sie aufsitzen musste, als das Traben an die Reihe kam. Dem gesunden Respekt vor der Größe und Kraft des Pferdes war immer ein wenig Angst beigemischt, sodass sie oft zögerte, wenn es darum ging, die Führung zu übernehmen. Es warf seinen Kopf hoch, diesen seltsam geformten Kopf, lang und knochig, an dem die Augen zur Seite wegstanden. Auch gerader wurde Yasemin nicht. Immacolata, die zu einer der Stunden gekommen war und ihr von der Balustrade aus zusah, wie sie die Schlangenlinie durch die Bahn mit drei Bögen ritt, bescheinigte ihr zwar, dass sie auf dem Pferd sitze »wie eine Eins!«, aber zu Hause sackte sie doch wieder zusammen. Sie bekam 24Muskelkater an der Innenseite der Schenkel, wenigstens ein Körpergefühl, das sich unterhalb ihres Kopfes abspielte.

Oft wurden Yasemin und Immacolata gefragt, ob sie Schwestern seien, obwohl sie sich nicht ähnlich sahen. Imma war klein, breithüftig, römisch, sie hatte dunklere Haut als Yase, und die hellen Strähnen in ihrem Haar waren gefärbt. Sie waren das einzige Ausscheren aus der Norm, das Immas Mutter ihr erlaubte, allerdings unter der Bedingung, dass es professionell beim Friseur geschah, aufwändig mit Hilfe von Alufolie und einer Wärmehaube, dabei waren diese Strähnen das Normalste, was ein Mädchen mit seinen Haaren tun konnte.

Immacolata wohnte in der 47, und ihre Eltern ließen sie nur stundenweise und zu konkreten Anlässen nach draußen. Nicht immer war ihnen ein Treffen mit Yasemin Grund genug. »Ich brauche einen neuen Pullover«, argumentierte Imma und zeigte einen ihrer hellrosa Cardigans, dessen Ärmelsaum sich auflöste. »Das geht so nicht«, stimmte ihr die Mutter zu und erlaubte ihnen einen zweistündigen Ausflug ins Einkaufszentrum. Hier liefen sie Arm in Arm über die Flaniermeile, kleine gelbe Tüten von Nanu-Nana am Handgelenk, darin Bleistifte mit Glitzerfolie und Freundschaftsschlüsselanhänger. Imma hatte sich für eine Strickjacke entschieden, in derselben Farbe wie ihre alte, nur flauschiger war sie, aus Merinowolle, und die Perlmuttknöpfe waren etwas größer. »Meine Mutter erlaubt mir nur Pastellfarben«, sagte sie, »es ist ihr wichtig, dass die Sachen Qualität haben.«

Schon Nagellack war Imma verboten, selbst der durchsichtige, der bloß für Glanz sorgen sollte. »Meine Mutter sagt, ich bin noch zu jung dafür«, erklärte sie, als Yase und sie bei Schlecker vor dem Kosmetikregal standen. Imma hielt sich an alles, auch wenn Yasemin oft eine Sehnsucht in ih25rem Gesicht zu sehen meinte. Sie machte große Augen, wenn sie jemand über erste Partys sprechen hörte, und wurde sehr still, weil sie kein Wort verpassen wollte. Es war, als lebte sie durch die Berichte anderer und akzeptierte trotz ihrer Faszination, dass all diese Erfahrungen des Heranwachsens für sie nicht in Frage kamen. Sie durfte keine kurzen Röcke tragen, nackte Schultern nur, wenn das Dekolleté bedeckt blieb, ausgenommen sonntags, wenn die Familie den katholischen Gottesdienst besuchte. Dann saß sie im hochgeschlossenen, langärmeligen Kleid zwischen ihren Geschwistern und den Eltern in der Kirchenbank, senkte den Kopf und faltete die Hände – wie jedes Mal, wenn sie sich im Religionsunterricht zu Wort meldete. Wegen ihres großen Wissensschatzes war sie die Lieblingsschülerin von Theodor, dem Jesuiten, der die Stunden hielt. »Meine Familie war auch immer sehr fromm«, sagte er brüderlich zu Immacolata, »mein Vorname bedeutet Gottesgeschenk.« Immer ging ein starker Duft von Aftershave von ihm aus, jeden Morgen betrat er mit frisch rasierten rosigen Wangen das Schulgelände und richtete sich die Krawatte. Er blickte wohlwollend auf Immas Kruzifixkette, ein Geschenk zum Firmunterricht, und Imma strich sich den Pony aus den Augen, der ihr ständig hinter den eckigen Brillengläsern in die Wimpern fiel.

An einem Seitenausgang des Einkaufszentrums stand ein Fotoautomat mit blauem Samtvorhang. Sie wählten die Spaßfotos mit einem Rahmen aus Herzchen und Engeln. Viermal blitzte der Apparat auf, sie streckten die Zunge heraus, Immacolatas feste Zahnspange funkelte aus ihrem breiten Grinsen, auf dem nächsten Bild schauten sie betont ernst, auf dem letzten brachen sie in Gelächter aus.

Während sie auf die entwickelten Bilder warteten, wurde Imma schon unruhig. »Ich muss zum Malkurs«, sagte sie, 26blickte auf die schmale Esprit-Uhr an ihrem Handgelenk, und verschwunden war die kurze Gelöstheit, mit der sie eben noch in die Kamera geschaut hatte, zurück ihr Pflichtbewusstsein, mit dem sie sich in den Stundenplan der von ihrer Mutter durchgetakteten Tage fügte.

Yases Familie war nicht sehr fromm. Den Hinweis auf ihren Ursprung fand sie in einer dunkelgrünen Bibel, die im Regal einstaubte und die nie einer herausnahm, bis sie es eines Tages tat. Auf der ersten Seite hatte jemand eine Widmung hinterlassen. Hier stehe ich und klopfe an! Für Dich – im Februar 1989. Yasemin erkannte den lila Filzstift ihres Vaters, ein Stift, der eigentlich dazu gedacht war, vor Operationen die Schnittstellen für das Skalpell auf der Haut zu markieren. Yasemin ahnte, dass es eine Bitte um Vergebung war. Dieses dicke und mittlerweile vergilbte Buch voller Ermahnungen zum Verzeihen. Und damit eigentlich eine Erpressung.

Yasemin war aus einem Willensbruch gezeugt worden. Die späte Heirat ihrer Eltern war nur der Kitt, mit dem sie darüber hinwegtäuschen wollten. Sie waren zu dritt im Standesamt. »Keine Trauzeugen? Keine Gäste?«, wunderte sich der Beamte. Die Mutter schüttelte den Kopf, als schäme sie sich. Sie hatte sich kurz zuvor das lange Haar abgeschnitten, ein letzter Rettungsversuch. Der Vater versteckte den Sekt hinterm Rücken, als Yasemin draußen das Foto schießen sollte.

Die Heirat erfolgte elf Jahre nach ihrer Geburt per Kaiserschnitt, elf Jahre und neun Monate nach ihrer Zeugung im Mai, in einer dunklen Nacht, deren Mondphase Yasemin hätte nachschlagen müssen. Sie wusste nur, dass sie ein Sonntagskind war. Sie ahnte, dass sie einem Willensbruch ent27sprungen war, der auch nach der späten Heirat kein Gesetzesbruch gewesen wäre. »Ich war betrunken«, lachte ihre Mutter manchmal, wenn sie in ihren Runden saßen und Yasemin mit den anderen Kindern am Feuer im Garten eines elterlichen Freundes mit den Spitzen glühender Zweige Wörter in die Dunkelheit schrieb. »Ich war so betrunken, ich erinnere mich an nichts! Ich glaube, ich wollte erst gar nicht. Das war ein Versehen. Ich habe die Pille nicht genommen. Im Überschwang deiner Gefühle. Wir kamen von einer Feier.«

»Du hast sofort danach geschlafen.«

Sofort danach oder noch währenddessen? War es Schlaf oder Ohnmacht?

Wenn sie schnell genug war, konnte Yasemin mit der Glut eine Acht in der Luft erscheinen lassen.

Der Zigarettenanzünder im Auto auf der Rückfahrt hatte dieselbe Farbe. Ein seltsam glimmendes Orange.

Yasemin war aus einem Willensbruch gezeugt.

Eine Bibel wurde zur Entschuldigung überreicht.

Eine Heirat täuschte darüber hinweg.

Von da an las sie abends im Bett in der Bibel; lernte das Vaterunser auswendig, das in kursiven roten Lettern gedruckt war, sprach es vor sich hin, am Fenster stehend auf den staubigen Horizont zu, grünlich und leer war der Himmel, ihre Stimme hallte von der Scheibe wider, und auf dem Glas bildete sich Kondenswasser, genauso schnell, wie es sich wieder verflüchtigte.

Kurz vor der Hochzeit ihrer Eltern hatte sie angefangen zu wachsen. Sie überragte alle Mädchen und die meisten Jungen und interessierte sich nicht für die Raufereien, die sie 28zu jeder Pause veranstalteten, als Vorwand, um sich berühren zu können. Yasemin blieb im Klassenraum sitzen und las, bis sie von der Aufsicht nach draußen gescheucht wurde. Wenn sie über den Hof ging, rief ihr manchmal einer hinterher: »Du bist so groß wie ein Pferd!«, aber Yasemin zuckte nur mit den Schultern. Sie zog den Anorak fester um sich und die Samtmütze in die Stirn. Ihre Abgeklärtheit wäre ein Grund gewesen, um von gleichaltrigen Jungen unter der dummen Prämisse, nicht wie die anderen Mädchen zu sein, belagert zu werden, aber selbst dazu waren sie noch zu feige, noch zu eingeschüchtert von echten Personen. Sie begnügten sich damit, Brennnesseln an die Mädchen zu verteilen, bis die Haut an den Unterarmen brannte. Sonst hielten sie sich an die zweidimensionalen Projektionsflächen aus dem Unterwäschekatalog. Wahrscheinlich hatten sie Angst, dass Yasemin keine Trophäe, sondern Grund zu Lästereien wäre. Den meisten war sie doch zu groß. Dazu nicht diese Art von Traummädchen, das ihre Interessen teilte, sie aber nie übertrumpfte, und sich in eine scheue Blume verwandeln würde, wenn sie es anrührten – nicht so wie Immacolata, die sprach, als ob sie nur flüstern wollte, weil sie dazu erzogen worden war.

Imma rebellierte zu dieser Zeit nur im Verborgenen, und eigentlich war es gar keine wirkliche Rebellion, die paar Gummibärchen zu viel, die sie heimlich bei Yasemin aß, kamen ihr schon vor wie Völlerei. Über den Nagel des kleinen Fingers, den sie sich von ihr mit glitzerndem Lack bestreichen ließ, geriet sie in Panik, als Yasemin auffiel, dass sie kein Aceton mehr hatte. Imma war fasziniert von den magischen Ritualen, mit denen Yase zu der Zeit zu experimentieren begann, und wagte es doch nicht, mitzumachen. Alles hatte angefangen mit einem Artikel, den Yase in Lydias Flur 29aus einer Zeitschrift gerissen hatte. Das Bild dazu zeigte eine junge Frau mit zurückgegeltem schwarzem Haar, wie sie im Wald saß und eine Räucherschale lüftete.

Lydia war ausgebildete Krankenpflegerin. Erst mit Mitte zwanzig, nach zehn Jahren Berufserfahrung, hatte sie umgeschult und allen Mut zusammengenommen, um das Studio in ihrer Wohnung zu eröffnen. Kosmetik und Fußpflege stand in geschwungener Schrift an ihrem Klingelschild. Vormittags empfing sie Rentnerinnen, denen sie die Füße knetete, den Nagelpilz mit Tinkturen bestrich und die Hornhaut von den Fersen hobelte. Am Nachmittag kamen berufstätige Frauen, um sich das Gesicht massieren zu lassen, die Hände steckten in Cremepackungen und weißen Baumwollhandschuhen, während das Wimpernfärbemittel einwirkte. Lydias Haar war damals noch nicht ganz ergraut, sondern durchsetzt von schwarzen Strähnen, aber schon zu diesem Bob geschnitten, der glatt ihr rundes Gesicht umrahmte. Sie trug Wollpullover und dazu Leggins, dicke Haussocken aus rosa Plüsch, die in klappernden Plastiklatschen steckten. Wenn sie Urlaub hatte, gönnte sie sich selbst einen Besuch im Nagelstudio und ließ sich Strass oder Schmetterlinge aus Metallfolie auf die Gelnägel setzen, was sie sonst nicht konnte, weil sie sich ständig die Hände waschen und desinfizieren musste – die Unebenheiten des Lacks waren ein Versteck für Bakterien, und die langen Nägel hätten die Latexhandschuhe durchstochen. Lydia war eine Frau der Hygiene. Die Behandlungsliege wischte sie nach jeder Kundin mit Desinfektionstüchern sauber, die Gerätschaften zum Ausdrücken von Pickeln waren sogar steril, obwohl ein kalter Spülmaschinengang gereicht hätte. Es waren ihre gehobenen Standards aus Krankenschwesternzeiten. Darüber 30hinaus wusste sie, dass die Frauen bei ihr etwas suchten, was über die Extraktion von Mitessern hinausging. Es war auch Psychohygiene, die sie in ihrem Behandlungsraum betrieb. Alle möglichen Sorgen wurden ihr erzählt, während sie mit zwei Fäden die Augenbrauen in Form brachte. Beauty leuchtete an der rechten Wand in gebogenen rosa Neonröhren, einer Konstruktion vor der Erfindung von LEDs, die leise brummte, wenn Lydia am Ende des Tages die Spa-Musik ausstellte, die ihre Kundinnen in Stereo aus den hinteren Ecken einlullte.

Yasemin verbrachte manche Nachmittage bei ihr, Nächte auch, wenn die Eltern abends noch zu Freunden fahren wollten und Yase langsam zu alt wurde, um auf der Rückbank zu sitzen und dem Mond nachzurufen. Sie saß auf den Korbstühlen im Flur und blätterte in den Zeitschriften, hörte das Glockenspiel aus Bambusröhrchen aus dem Behandlungszimmer, aus einer Duftlampe verdampfte Zitronengrasöl. Als die letzte Kundin gegangen war, zog Lydia einen Strauß Salbei aus einer Schublade in der Küche. »Gegen schlechte Energien«, sagte sie und ging mit dem glimmenden Bündel durch die Räume.

Yasemin wusste nicht, ob Lydia wirklich daran glaubte, dass der Salbei in der Lage wäre, Energien zu vertreiben. Für gewöhnlich blieb sie auf dem Boden der Tatsachen. Sie hatte diese Pragmatik an sich, die vielleicht angeboren und durch die langen Arbeitsjahre noch verstärkt worden war. Als Pflegerin war es notwendig, einen kühlen Kopf zu bewahren. Lydia führte ihr Werkzeug ruhig, ob es Operationsbesteck war oder der Schlauch des brummenden Geräts, mit dem sie Talg aus der Haut saugte. Genauso bedacht ging sie vor, wenn ihre Kundinnen sich Ratschläge für ihr Leben erhofften. »Männer brauchen klare Ansagen«, war einer ihrer Leit31sätze. Sie handelte auch selbst nach diesem Kredo, und dennoch gab es diese seltsame Ergebenheit an ihr.