Streulicht - Deniz Ohde - E-Book
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Streulicht E-Book

Deniz Ohde

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Beschreibung

Wahrhaftig und einfühlsam erkundet Deniz Ohde in ihrem gefeierten Debütroman die feinen Unterschiede in unserer Gesellschaft. Sie spürt den Sollbruchstellen im Leben ihrer Erzählerin nach, den Zuschreibungen und Erwartungen an sie als Arbeiterkind, der Kluft zwischen Bildungsversprechen und erfahrener Ungleichheit, der verinnerlichten Abwertung und dem Versuch, sich davon zu befreien.

Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen, wo der Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt. Hier ist die Erzählerin aufgewachsen, hierher kommt sie zurück, als ihre Kindheitsfreunde heiraten. Und während sie die alten Wege geht, erinnert sie sich: an den Vater und den erblindeten Großvater, die kaum sprachen, die keine Veränderungen wollten und nichts wegwerfen konnten, bis der Hausrat aus allen Schränken quoll. An die Mutter, deren Freiheitsdrang in der Enge einer westdeutschen Arbeiterwohnung erstickte, ehe sie in einem kurzen Aufbegehren die Koffer packte und die Tochter beim trinkenden Vater ließ. An den frühen Schulabbruch und die Anstrengung, im zweiten Anlauf Versäumtes nachzuholen, an die Scham und die Angst – zuerst davor, nicht zu bestehen, dann davor, als Aufsteigerin auf ihren Platz zurückverwiesen zu werden.

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Seitenzahl: 362

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Cover for EPUB

Titel

Deniz Ohde

Streulicht

Roman

Mit einem Nachwort der Autorin

Suhrkamp

Impressum

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Für meine Eltern & meine Familie

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

Erste Auflage dieser Ausgabe 2022© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2020Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: mauritius images / Sven Otte / Alamy

eISBN 978-3-518-75349-1

www.suhrkamp.de

Streulicht

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

D

ie Luft verändert sich

N

achdem ich mich

E

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E

s war mir verboten

W

enn ich meine Mutter

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as ganze Leben

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s ist ein Hörsturz

V

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in paar Geschichten

V

ielleicht hatte Herr Kaiser

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eine Mutter

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W

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eim ersten Mal

M

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n meinem ersten Jahr

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erzlichen Glückwunsch

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eine Mutter

M

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M

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in nicht lokalisierbarer Schmerz

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ie Vorstellung

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S

eit 1996

Nachwort

Informationen zum Buch

Die Luft verändert sich

Die Luft verändert sich, wenn man über die Schwelle des Ortes tritt. Eine feine Säure liegt darin, etwas dicker ist sie, als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte. Niemandem hier fällt das mehr auf, und auch mir wird es nach ein paar Stunden wieder vorkommen wie die einzig mögliche Konsistenz, die Luft haben kann. Jede andere wäre eine fremde. Auch mein Gesicht verändert sich am Ortsschild, versteinert zu dem Ausdruck, den mein Vater mir beigebracht hat und mit dem er noch immer selbst durch die Straßen geht. Eine ängstliche Teilnahmslosigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht. Ich übertrete die Schwelle an der Endhaltestelle, wo die Busse eine Schleife fahren und dann vor dem Haupteingang des Friedhofs eine Pause einlegen. Hier verändert sich das Licht, wie gestrichener Ton spannen sich mir die Wangen über den Knochen, und mit jedem Schritt ragt eine der Laternen aus der Dunkelheit. Die Dächer der neben dem Weg zur Großen Eiche aufgereihten Einfamilienhäuser heben sich so scharf vom dahinterliegenden Himmel ab, dass ich sie selbst dann noch sehe, wenn ich für kurze Zeit die Augen schließe, als hätte ich zu lang in die Sonne gestarrt. Als ich an der Großen Eiche ankomme, ist mein Blick schon zu meinem alten geworden, ich bemühe mich, keinen bestimmten Punkt zu fixieren, obwohl mich niemand dabei sehen kann, sich niemand auf der Straße befindet, dem meine Blicke auffallen könnten, nur hinter einzelnen Fenstern ist noch Licht, und Schattenrisse bewegen sich in den Räumen, stehen von ihren Fernsehsesseln auf, um sich bettfertig zu machen oder das Tablett mit dem Abendessen wegzubringen. Es kommt mir vor, als müsste hinter jeder Fassade der Tod lungern, müssten hinter den dunklen Fenstern Krankenbetten mit Dahinsiechenden verborgen sein. Kein Geräusch dringt durch die Straßen bis auf das leise Brummen, das den Ort zu jeder Zeit erfüllt, nachts fällt es besonders auf. Ein weißes Rauschen, das von der anderen Seite des Flusses herrührt und sich schon in meine Ohrmuschel gräbt, weich und rau zugleich, wie ein vertrauter Deckenbezug sich auf der Haut anfühlt. Auch das ist eine Eigenart des Ortes, die mir wie allen anderen hier schon nach wenigen Stunden nicht mehr ungewöhnlich vorkommen wird. Einzig an der letzten Kreuzung vor dem Haus begegnet mir doch jemand, ein Vater mit seiner kleinen Tochter, die an seiner Hand geht und unter einer der Laternen ihren eigenen Schatten entdeckt, er fächert sich um sie herum auf, mit ausgewaschenem Rand. Sie versucht im Spiel auf ihm herumzuspringen. »Stirb, du Schatten!«, ruft sie begeistert, und der Vater lächelt mich stolz an. Ich lächle zurück und erwarte, dass mir dabei die Wangen von den Knochen bröckeln wie ausgedörrte Erde.

Der Schlüssel dreht sich leichtgängig im Schloss der maroden Holztür, sie gibt das gleiche Geräusch von sich wie immer, als würde ich gerade von der Schule nach Hause kommen, Schweiß vom Schulsport zwischen den Schulterblättern, leere Brottüten in den Fächern des Rucksacks, aber es ist dunkel, und ich schalte das Licht im Treppenhaus an. Im ersten Stock stapeln sich Kartons neben der Wohnungstür und Holzkörbe mit Kartoffeln und Zwiebeln. Der Schlüssel steckt hier von außen, dieser dicke Metallschlüssel mit altmodischem Bartprofil. »Mach das Licht zu«, hat meine Mutter immer gesagt, wenn wir nach Hause kamen, denn die Treppenhausbeleuchtung hat keine Zeitschaltung; »das Licht zumachen«, so hat sie es genannt. Ich öffne die Tür und schließe das Licht. Der Geruch von Zigarettenrauch schlägt mir entgegen. Alles in diesem Haus riecht nach Rauch, nichts entkommt dem wabernden Dampf, der sich durch jede Ritze drückt, die Bettbezüge, die Handtücher und Sofakissen werden regelmäßig durch die Waschmaschine gedreht und mit duftendem Pulver überschüttet, aber sobald sie aus der Maschine gezogen werden, verklebt der Rauch die Fasern. Auch dass mein Vater sich angewöhnt hat, die Küchentür zu schließen, hilft wenig. Ich drücke die Klinke herunter, das Holz des Türrahmens knackt, noch mehr Rauch steht in der Küche, und mein Vater sitzt auf der Bank, dreht mit freudigem Ausdruck der Erwartung den Kopf zu mir, bis er mich sieht, mit dem Rucksack auf den Schultern, der gegen die zurückspringende Tür schlägt, weil sie sich nicht ganz öffnen lässt. Die Lebensmittel, die sich auf der Küchenzeile stapeln, die blaue Plastiktüte mit dem alten Brot, dieser Überfluss an Essen und billigen Möbeln, die niedrigen Decken, das Weiß der Wände, das sich über die Jahre gelb gefärbt hat, die sich stapelnden Fernsehzeitungen, der PVC-Boden vor dem Herd und der Korkboden im Flur, der sich an einigen Stellen löst; all diese Dinge, die ich wiedererkenne. Die fleckige Tischdecke, die zur Hälfte mit Tassen vollgestellt ist, die alte Thermoskanne mit von kaltem Kaffee verkrusteter Öffnung, der Kühlschrankmagnet einer Käsefirma, den mein Vater und ich einmal als Werbegeschenk bekommen haben, als wir auch diesen rosa Reiswein gekauft haben, weil er im Angebot war, und den ich in der Nacht ins Klo gekotzt habe. Die rote Klammer, mit der meine Mutter früher ihr Haar im Nacken zusammengehalten hat, die jetzt in dem Korb mit alten Werbeflyern liegt. Die große Papiertüte an der Türklinke, in der Verpackungsmüll gesammelt wird, bis er überquillt.

»Da bist du!«, sagt mein Vater.

Eine Weile geht es hin und her, ob die Fahrt gut war, ob ich den Weg noch gefunden habe, »sieht noch alles gleich aus, oder, hier hat sich nichts verändert«, sagt er verschmitzt. Ich lege meine Sachen ab, setze mich ebenfalls, bekomme einen Tee. »Hier ist alles beim Alten«, sagt mein Vater nochmal, »außer, dass du jetzt alt genug bist und deine Freunde heiraten, ist das nicht unglaublich? So geht es los. So geht alles seinen Gang.« Die Stimme meines Vaters klingt seltsam tief und verbraucht, ähnlich der meines Großvaters damals. »Das war aber auch lang in der Mache mit den beiden. Eine richtige Sandkastenliebe. Das gibt es sonst nur im Film. Der Pikka und die Sophia –«, er blickt ins Leere, eine Hand noch am Griff des Wasserkochers, den er gerade wieder auf seinen Fuß gestellt hat. »Ich seh die manchmal im Supermarkt, richtige Erwachsene sind das geworden, die Sophia so fein in ihren weißen Blusen und Röcken, aber fein war sie ja schon immer, schon fast zu fein für ein Kind. Es gibt einfach welche, die kommen als Erwachsene zur Welt. Und Pikka, ich weiß noch, wie der sich früher Sorgen wegen der Grasflecke auf seinen Hosen gemacht hat, weil seine Mutter immer sauer geworden ist, wenn er dreckig heimkam. Immer fast den Tränen nah, der Arme. Ihr habt ja viel Zeit auf der Flusswiese verbracht, und so gehört sich das auch: dass Kinder draußen sind. Das hab ich wenigstens nie gemacht. Geschimpft wegen ein paar Flecken. So fein waren wir nie. Wann geht es denn morgen los?«

»Um zwölf«, sage ich.

»Na ja –«

Dann kommt mein Vater wie immer auf die Bahnverbindungen und den Straßenverkehr auf der A66 zu sprechen, auf das Wetter, das früher anders war, auf das Fernsehprogramm. Am liebsten sind ihm Sendungen, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen oder alte Formate neu aufrollen: Abenteuer 1900, Anno 1476, das Remake von Winnetou, die Chartshow mit den größten Hits der Siebziger. Die vom Geschichtsverein des Stadtteils mühsam zusammengestellte Chronik über den Ort liegt neben ihm auf dem Küchentisch, auf weißem Kopierpapier gedruckt und in A4 gebunden, mit pixeligen Abzügen von Schwarz-Weiß-Aufnahmen, Frauen in Schürzen, die vor dem Haus stehen. Immer wieder sein wie es früher war.

Vierzig Jahre hat er in derselben Firma gearbeitet, auch darauf kommt er immer wieder zu sprechen. Dieser Arbeiterstolz, gemischt mit Trotz und aus Not geborener Arroganz (das Kinn, das er leicht hebt, die Lider, die einige Millimeter sinken, die Schultern, die er dabei nach unten drückt); mein Vater tunkte vierzig Jahre Aluminiumbleche in Laugen, vierzig Stunden in der Woche.

Die Hilflosigkeit bei allem, was darüber hinausgeht.

Er nimmt nicht teil an den Gottesdiensten, er ist in keinem Verein (auch nicht im Männerchor Fortuna), er lässt niemanden ins Haus, Besuch, das ist etwas, was er nicht kennt und was er mir verboten hat, als ich noch bei ihm wohnte, Besuch, das waren Fremde, die in unser Versteck eindringen wollten, gegen die man das Haus verteidigen musste, indem man die Eingangstür zweimal abschloss und die kaputten Rollläden nicht reparierte, weil es gut passte, dass sie die Sicht in die Zimmer versperrten. Er geht manchmal runter zum Fluss, sieht sich die Schiffe an und dreht sich weg, wenn ein anderer Spaziergänger in seiner Nähe auftaucht. Er grüßt niemanden. Er nimmt immer den gleichen Weg zum Friedhof, geht durch die Nebenstraßen, als tue er es heimlich, geht nicht durch den Haupteingang mit dem steinernen Bogen, sondern durch das grüne Eisentor, das eigentlich für die Gärtner gedacht ist. Im Gegenzug lassen die Leute ihn in Ruhe. Die Frau vom Zeitschriftenladen mit der zwanzig Jahre alten Schaufensterdekoration (von der Sonne ausgeblichene Puppen und im Kreis angeordnete Groschenromane), bei der er die Lokalzeitung kauft, war vom ersten Tag an kurz angebunden ihm gegenüber, obwohl sie mit allen anderen lange Unterhaltungen über die Geschehnisse im Ort führt. Das Geschäft für Satellitenfernsehen hat ihn abgewiesen, als der Kabelanschluss digitalisiert wurde, wegen zu vieler Aufträge angeblich; womit dieser Laden überhaupt noch sein Geld verdiene, hat er gefragt, das Internet legten die Leute sich doch heutzutage selbst ins Haus. Die kleine Metallbaufirma wollte seine Idee für das Grab meiner Mutter nicht umsetzen: ein geschmiedeter Gartenzaun in Miniatur. Er zieht sich jedes Mal die Hosenträger hoch, wenn er an den Kartons und Papierstapeln vorbei die Treppe hochgeht, und früher hat er, wenn er oben angekommen war, zu mir gesagt, die Leute im Ort seien wieder so dümmlich, mit denen wollen wir nix zu tun haben, von einem Misstrauen erfüllt, das sich an nichts Bestimmtem festmachen lässt, sondern seine unbewusste Grundhaltung ist, die auch heute aus ihm spricht, wenn er mich fragt, was ich damit (meinem Studium) mal werden kann; wogegen er früher zu mir gesagt hat, sieh zu, dass du in Brot kommst, was wiederum ich nicht verstanden habe und lange nur zugesehen habe, während nichts passierte, gar nichts, und im Hintergrund rauchten die Schornsteine des Industrieparks.

Nachdem ich mich

Nachdem ich mich am nächsten Nachmittag von ihm verabschiedet habe, trete ich aus dem Haus und gehe die Straße hinunter Richtung Fluss. Der Ort liegt auf einer Anhöhe, um ihn bei Hochwasser vor Überflutung zu schützen. Im Hintergrund ragen die drei Schlote der Müllverbrennungsanlage in den Himmel, ihrer Länge nach abgestuft wie gezinkte Streichhölzer. Schon heute Morgen, als ich das Fenster meines alten Zimmers geöffnet habe und einen tiefen Zug frische Luft nehmen wollte, hat es scharf nach Hausmüll gestunken. Die Gehwege werden an den Rändern des Hügels so schmal, dass sie ihren Zweck nicht mehr erfüllen; rechts die hohe Mauer des Reitstalls, links der Gartenzaun eines Mehrfamilienhauses, über den im Sommer Zierblumen wuchern. Vom Flutschutzwall aus blicke ich auf die breite, schneebedeckte Wiese und die Wackersteine, die das Flussufer säumen. Ein schwer beladenes Frachtschiff fährt vorüber, die Flanken tief im Wasser. Darüber spannt sich die Werksbrücke, längs durch einen hohen Zaun geteilt; auf der Rückseite führen die Bahnschienen der Güterzüge zum Industriepark, dem Ort zugewandt verlaufen zwei breite Fahrspuren, mit vorschriftsmäßigen Markierungen versehen, aber den Autos ist die Zufahrt verboten und durch Poller verstellt. Nur Radfahrer und Fußgänger dürfen sie passieren. Die Bewohner des Orts haben diese seltsame Brücke zum Wahrzeichen erklärt, sie verrichten ihre Sonntagsspaziergänge auf der unbefahrenen Seite und blicken dabei über das Geländer die zehn Meter hinunter ins braungrüne Wasser. Die Brücke bildet auch die Grenze zum Industriepark, hinter ihr beginnt sein Gebiet, abgesperrt durch Mauern und dreimal größer als der Ort selbst. Zu ihm gehört ein eigener Flussabschnitt, den die Schiffe nur über eine Schleuse erreichen. Die Ufer sind dort nicht mit Wackersteinen, sondern mit rostigen Ladeflächen befestigt. Ein verwinkeltes Straßensystem und ein eigener Buslinienverkehr für die Arbeiter verbinden die Fabriken untereinander, überirdische Röhrensysteme führen Gas und Flüssigkeiten, und Berge von Kohle werden im Sommer durch große Sprinkleranlagen vor Selbstentzündung geschützt. Bei Dunkelheit glüht der Park wie eine riesige gestrandete Untertasse, orangeweißes Streulicht erfüllt den Nachthimmel, gespeist von den Neonröhren, die jedes Stockwerk der Türme ausleuchten, und von den Markierungen der Schornsteinspitzen für den Flugverkehr, obwohl der Luftraum über dem Park gesperrt ist, denn bei einem Absturz droht eine Chemiekatastrophe. Als Dunst entweichen die Nebenprodukte der Reaktionen den Schornsteinen, vom Mond mit silbernen Rändern versehen. Manchmal kristallisiert Salz aus der Chlorherstellung in der Luft und rieselt auf die Dächer; dann bekommen die Bewohner Gutscheine für die Autowäsche. Der Park bläst täglich große Mengen Wasserdampf in den Himmel, der als Industrieschnee wieder zu Boden fällt und den Ort im Winter oft als einzigen in der Region mit einer weißen Schicht überzieht. Wie mit dem Lineal gezogen, verläuft die Schneegrenze um ihn herum, und der Schnee hat eine andere Beschaffenheit, er ist dicker und klebriger, vollgesogen mit Wasser, haftet zäh an den Bäumen, an den Straßenschildern und den Laternen.

Ich gehe vom Hügel aus rechts weiter am Ufer entlang und kehre dem Industriepark den Rücken, es wachsen Brombeerhecken auf der Wiese, unterbrochen von einem alten, von Schlamm umspülten und mit schleimigem Moos bedeckten Bootsanleger und von der Autobahnbrücke, ihren schweren Betonpfeilern. Vereinzelt ragen dünne Bäume auf, und an der Krümmung des Flusses schließt ein Acker mit Obstbäumen an. Hier, wo die Kleingärten beginnen, biege ich in den Feldweg ein, zwischen ihnen das Klärwerk, hinter einem Zaun und ein paar Hecken brummen die Anlagen. Die schmalen Parzellen der Gärten ordnen sich um einen hohen Strommast an; ein Schwarm Krähen zieht daran vorbei. Vor der Silberfarm bleibe ich stehen.

Früher haben Pikka, Sophia und ich uns Gruselgeschichten über den Garten erzählt. Dass nachts Hundegebell ertönt, obwohl keine Hunde zu sehen seien, ein blechernes Bellen wie von einer alten Tonaufnahme oder, wahrscheinlicher, aus einer Geisterwelt. Dass manchmal ein alter Cowboyhut an dem Schild über dem Gartentor hänge, wie nur kurz dort abgelegt, und in den Sträuchern höre man ein Rascheln. Pikka sagte, es könne sich nur um den Geist eines Cowboys handeln, wegen der Farm im Namen.

Als wir älter wurden, vergaßen wir die Silberfarm und alles, was hinter der Autobahnbrücke lag. Niemand verbrachte die Nachmittage mehr hinter der Kläranlage oder unten am Fluss, stattdessen saßen wir in den Wintern in Pikkas Keller, im Shisha-Rauch (synthetische Banane, Erdbeere oder Minze), an der Wand ein Rammstein-Poster, dessen Schrift im Schwarzlicht leuchtete, und aus den Boxen immer wieder der gleiche Song von Black Sabbath: Iron Man. Zwei Sofas und zwei Sessel standen um einen niedrigen Tisch herum, auf dem der Bauch der Wasserpfeife blubberte; die Wände waren weiß getüncht, Teppich war ausgelegt, ein Metallregal an der Wand beherbergte die Musikanlage, einen Stapel CDs, einen Vorrat an Knabberboxen und Würfelspielen sowie die Extrapackungen Pfeifenreiniger von Pikkas Vater. Pikka feierte berühmte Partys, zu denen er ausgewählte Freunde aus seiner Stufe und die beiden Nachbarsjungen einlud, die immer die gleichen abgewetzten Baseball-Caps trugen. Sie bestanden darauf, ihre selbstgemachten Rap-Tracks abzuspielen, und als ich die ersten am Takt vorbeigesprochenen Worte hörte, nahm ich noch an, es sei eine Parodie, aber sie saßen mit der größten Ernsthaftigkeit auf einem der Sofas, breit ausgestreckt, jeweils einen Fuß auf dem Knie abgelegt und die Caps tief ins Gesicht gezogen. Es waren auch diese beiden, die zu den Partys »den Trichter« mitbrachten und jeden dazu drängten, sich auf den Boden zu legen, das Ende des Schlauchs zwischen die Lippen zu klemmen und in großen Schlucken das von oben in den roten Trichter geschüttete Bier hinunterzuwürgen. Ein einziges Mal willigte Sophia ein, nachdem die beiden sie wieder und wieder dazu aufgefordert und ihr dabei für Sekundenbruchteile verstohlen auf das weiße Tanktop gestarrt hatten, das bläulich leuchtete im Schwarzlicht, aber Sophia bemerkte es natürlich. Längst hatten sich diese Blicke für uns ins Unendliche verlängert und hafteten an uns wie eine alte, klebrige Süßigkeit; wir lernten mit ihnen umzugehen, drehten uns unauffällig zur Seite, zogen einen Schal unters Kinn und hielten ihn mit den Fingern zusammen wie einen Vorhang, als wäre uns kalt, aber Sophia willigte ein, den Trichter auszuprobieren, weshalb sich etwas überzuziehen dieses Mal aus logistischen Gründen nicht in Frage kam. Sophia wollte dazugehören, und sie konnte es. Sie schielte zu Pikka hinüber, der über den Glastisch gebeugt die letzten fischförmigen Cracker aus der Knabberbox suchte; als er den Kopf hob, rief sie ihm zu: »Ich mache es jetzt auch!« »Jawollll!«, brüllten die Jungs, brachten sich in Stellung wie Fünfhundertmeterläufer für einen Wettkampf, Sophia legte sich auf den Teppich, zog ihr Top zurecht, und dann ging es los. Sie schaffte drei, vier große Schlucke, bevor der Druck zu groß wurde, der Schlauch ihr aus dem Mund glitt und ein Schwall Bier sich über ihr Gesicht und Dekolleté ergoss.

Ein anerkennendes »Oooh« entfuhr den beiden Jungs, bevor einer von ihnen mit geübtem Griff den Schlauch an sich nahm und die Öffnung mit dem Daumen verschloss. Sophia strahlte über das ganze Gesicht, während sie aufstand. Sie strich sich die nassen Strähnen aus den Augen, schüttelte sich vor Lachen, und Pikka klopfte ihr auf die Schulter: »Für das erste Mal doch nicht schlecht!«, dann drängten sich die Jungs und ein paar Mädchen, die angeekelt auf die Lache Bier am Boden blickten, in mein Sichtfeld; Pikka und Sophia verschwanden und kamen kurz darauf zurück, sie in einem seiner ausgewaschenen Black-Sabbath-T-Shirts, das nasse Top in den Händen.

Das waren die besonderen Abende. Die meisten verbrachten wir nur zu dritt in dem Keller, zu viert, wenn Pikkas Vater dazustieß, weil seine Frau ihm nicht erlaubte, seine Pfeife in der Wohnung zu rauchen, und draußen Schnee lag, was er zum Vorwand nahm, nicht in den Garten zu gehen. In Wirklichkeit wollte er sich zwischen uns setzen und sich aufspielen. Er war der eigentliche Pikka, der Spitzname eine Abwandlung des Familiennamens, der ihm schon in seiner Jugend von seinen Freunden verpasst worden war. Er gab Pikka liebend gern Tipps: dass er vor den Partys eine Dose Thunfisch – in Öl eingelegt, nicht in Wasser – oder über den Abend verteilt Salzstangen essen solle, nur viel Wasser zu trinken, davon hielt er nichts. Das Gemüse, das seine Frau im Garten anbaute, und die Kräuter, die sie liebevoll über jeden Salat streute, betrachtete er argwöhnisch. Sie musste ihn täglich zwingen, etwas Nahrhaftes zu sich zu nehmen, denn alles, was man gemeinhin für gut oder gesund hielt, hielt er für verweichlicht und unnötig, und wenn sie mal ein paar Tage nicht da war, weil sie mit dem Kirchenchor auf eine Freizeit fuhr, dann ließ er das vorgekochte Essen in der Gefriertruhe liegen und kochte Suppe aus Wasser und Maggi-Gewürz. Er war der eigentliche Pikka, und sobald er zwischen uns auf einem der schwarzen Sofas Platz nahm, sprachen wir unseren Pikka mit seinem Vornamen an. »Na, was gibt es heute«, sagte Pikkas Vater in gespielter Großväterlichkeit, während er die Pfeife aus seinem Etui holte und fachmännisch den Tabak mit einem metallenen Stopfer in den Kopf drückte. »Nichts Besonderes«, sagte Pikka verlegen, und Sophia und ich nippten an unseren fluoreszierenden Gin Tonics. Nichts wies darauf hin, dass er sich seinen Vater zum Vorbild nahm, nur seinem Lebensmodell wollte er von Anfang an nacheifern. Er hatte schon damals, mit siebzehn, den Plan gefasst, für immer im Ort, für immer auf dem Grundstück zu bleiben, wie es sein Vater getan hatte. Dieser hatte das Haus nie verlassen, hatte seine Frau nach der Hochzeit zu sich geholt, den Anspruch auf das größte Schlafzimmer gestellt und seine Mutter ins Erdgeschoss verbannt, die es akzeptierte, denn ihr Sohn war nun der Mann im Haus, und Pikkas Vater legte den Keller trocken, setzte einen Anbau an die hintere Fassade, mit Parkett und großen Fenstern, damit die Kinder eigene Zimmer hatten (Pikka hatte eine ältere Schwester, die bereits zum Studieren weggezogen und wieder zurückgekommen war und mit ihrem Freund in einem nicht weit entfernten Reihenhaus wohnte). Schon bald war er in der Firma in eine Führungsposition aufgerückt (wie auch schon sein Vater vor ihm), hatte das Hinterhaus hinzugekauft und den Zaun zwischen den Gärten entfernt. Noch wohnte eine andere Familie darin, aber eines Tages würden sie ihr wegen Eigenbedarf kündigen, und Pikka würde dort einziehen, nachdem er, wie seine Schwester, die Junggesellenstation in der sogenannten »Einsiedlerwohnung« im Dachgeschoss durchlaufen hatte.

»Über Eichenmoos gereift«, bemerkte Pikkas Vater, der sich einen Whisky eingoss, und tippte mit den Fingernägeln gegen die Flasche. Er benetzte die Lippen und hielt das Glas gegen das Schwarzlicht, ein Auge zusammengekniffen, das Getränk schimmerte in einem seltsam dunklen, durchscheinenden Blau. »Ach ja«, schnaufte er und grinste Sophia und mich an, um zu signalisieren, dass er etwas besser wusste als wir. Ich faltete die Hände und schwieg, betrachtete die Dartscheibe, die am anderen Ende des Raums an der Wand hing und von einem warmweißen Deckenspot beleuchtet wurde.

Egal, ob es eine große Party gab oder wir nur zu dritt waren, immer lief Black Sabbath im Hintergrund, immer lief die Best-of-CD im Wechsel mit zwei weiteren Alben in der Anlage, in die man drei CDs auf einmal einlegen konnte und für die Sophia und ich Pikka beneideten. Has he lost his mind, can he see or is he blind – nobody wants him, he just stares at the world, sang Ozzy Osbourne an den ruhigen Abenden in der leisesten Lautstärke, als handelte es sich um ein Klavierstück zur Untermalung eines vornehmen Abendessens. Ich dachte an die schwieligen Hände meines Vaters, die Aluminiumplatten in Laugen schoben, nicht unter Schwarzlicht, sondern unter grellem Neonlicht, das es ihm erlaubte, jede Unebenheit auf den Blechen zu erkennen.

Im Sommer gingen wir auf die Werksbrücke und setzten uns mit den im Supermarkt gekauften Sixpacks auf die eiserne Fahrbahnbegrenzung, den Blick abwechselnd auf die leuchtenden Fabriken hinter uns und auf das dunkle Wasser vor uns gerichtet. Ehe wir uns voneinander verabschiedeten, schlugen wir immer noch einen Bogen im Ort. Manchmal grölend, manchmal nur unter leisem Gekicher. Wir gingen am Dorfbrunnen vorbei und an der Kirche, in der sich 1996 zur Christmette eine Frau in die Luft gesprengt hatte. Ihr Gesicht war tags darauf in den Zeitungen abgedruckt worden, weil man gehofft hatte, auf diesem Weg ihre Identität feststellen zu können, und wir hatten unsere Köpfe über das graue, unscharfe Bild der Toten gebeugt; die Augen von der Detonation blutunterlaufen, ein Hämatom am oberen Wangenknochen, die Nase zeigte schief in Richtung Boden.

Es kam mir vor, als sei der Ort von einer Spannung erfüllt, die sich irgendwo im Hintergrund auflud und die man vordergründig nicht spürte. Man war ummantelt von der grünen Landschaft der Flusswiese, durch die ab und an bei Ostwind der Gestank des Industrieparks zog, wenn man hinhörte, konnte man einen dumpfen Ton vernehmen, der von dort herrührte, langsam kroch das Moos über den Steg, und die Brombeeren wuchsen nur ein paar Zentimeter im Jahr. Etwas hatte es damit auf sich, etwas schwoll dahinter an, was sich einmal alle zehn Jahre ganz plötzlich entlud. Man konnte nicht ausmachen, wo sich der Druck aufbaute, ob es draußen auf den Flusswiesen war oder in irgendeiner Wohnung, ob es in einem selbst war, ob man selbst diejenige sein würde, die sich umbrachte, woran ich jedes Mal denken musste, wenn Pikka und ich auf unserer Runde an der Kirche vorbeikamen.

Wir wohnten dem Hügel am nächsten und gingen die letzten Meter immer zu zweit, in der Mitte der Hauptstraße, auf der zu dieser Uhrzeit nichts mehr fuhr, einen Fuß vor den anderen setzend, beobachtend, wie der schwarze Asphalt sich mit der weißen Markierung abwechselte, manchmal mit dem Blick nach oben und auf den Großen Wagen, wenn der Himmel klar war. Ich fragte mich damals, wie es weitergehen würde, fühlte eine Aufregung, als sei ich die Hauptdarstellerin in einem Film, kurz bevor die Handlung einsetzt, sah erwartungsvoll hinauf und dann wieder vor mich, auf die Reihe der niedrigen Häuser am Rand der schmalen Straße. Der Hügel war nachts nicht auszumachen, man konnte nur wissen, dass es ihn gab und dass er zum Fluss führte. Mein Blick fiel auf das Viereck an einer der Hauswände, wo die Farbe fehlte, weil früher ein Zigarettenautomat dort gehangen hatte. Alles wurde älter und älter und verfiel, nichts verging, nichts starb und fing von vorne an, auch nicht, wenn man es mit Gewalt versuchte, wenn man sich in die Luft jagte, und auch nicht, wenn man sehr leise verschwand. »Wenn ich hier weg bin –«, sagte ich in mich hinein und beendete den Satz absichtlich nicht, lächelte in der Erwartung, dass sich die Szenerie eines Tages ändern würde, als wäre der Ort ein Bild in einem Plastiskop, das sich beim Drücken des Auslösers mit einem anderen abwechseln würde. Ich erwartete, dass der Hügel verschwand und einem weiten Rapsfeld Platz machte, einer vierspurigen Straße, einer Hochhausschlucht, durch die ich laufen würde, bis ich in eine Wohngegend käme, in der immer Leute unterwegs wären, in der immer Lichter in den Fenstern brannten. Ich erwartete es, ich wartete, ich sah zu.

Ich fragte Pikka manchmal, wenn wir von der Brücke auf dem Heimweg waren, wie er es sich vorstelle, »später«, mit der Hoffnung auf ein Märchen in der Stimme, und Pikka begann über die Ausbildungen, die von den Firmen im Industriepark angeboten wurden, zu reden. Er sei sich noch nicht ganz sicher, ob er Chemielaborant oder Pharmazeutisch-technischer Assistent werden oder ob es doch ein duales Studium sein sollte, aber dazu müsste er dreimal die Woche an die Uni pendeln. Er dachte laut über die Zugverbindungen nach, die er morgens nehmen würde, und darüber, welche Züge abends noch zurückfuhren (der Regionalzug, der unter der Woche öfter verkehrte), über die Möglichkeit, mit dem Auto zu fahren, wenn man die Stoßzeiten vermied. Er sprach ganz selbstverständlich über die »Einsiedlerwohnung« und das Hinterhaus. Dass er Grillabende machen und durch den Ort spazieren würde, »wie heute, mit euch natürlich, mit dir«, mit einer abgeklärten Vorfreude, die ich bewunderte.

Auf meine Frage, ob er nicht wegwolle, schüttelte Pikka den Kopf. »Wieso denn«, sagte er, man sei hier im Grünen, man sei in vierzig Minuten in der Stadt, man habe hier alles, und er zählte noch ein paar mehr Vorteile auf, die ich schon kannte.

Warum wollte ich gehen. War es nur gewöhnlicher jugendlicher Tatendrang und Erlebnishunger oder lag es an diesem Ort, diesem spezifischen Fleck Erde, an dem die Luft einen anderen Geschmack hatte und der Schnee eine andere Beschaffenheit. Lag es daran, dass es eine unsichtbare Wand zwischen mir und dem Ort gab, nicht identisch mit den Mauern des Industrieparks, nicht identisch mit der Schneegrenze, aber doch mit ihnen in Zusammenhang stehend. Eine Wand, die Pikka nicht sehen konnte, Sophia nicht sehen konnte und die bewirkte, dass ich nicht dazugehörte, sosehr ich auch wollte, keine Biergischt hätte mich in ihre Mitte holen können, und später fiel ich zwischen ihnen hindurch, fiel durch die Raster in einen Abgrund, während ich eingeklemmt zwischen den Aktentaschen der Pendler im Berufsverkehr mit der S-Bahn in die Stadt fuhr. »Sie sind wohl Studentin?«, fragte mich mal einer, und ich war es nicht –

Ich blicke zum Holzschild der Silberfarm. Es hängt nicht so weit oben, wie es uns als Kindern vorgekommen war.

Es war 1994

Es war 1994, meine Eltern waren gerade dabei, die Tapete in der Wohnung im ersten Stock abzuziehen, und ich sah ihnen vom Fensterbrett aus zu. Stundenlang hatten sie die Wände bereits bearbeitet, und nur in Fetzen kam das Papier herunter. Es war einmal sorgfältig mit Leim auf den Putz geklebt worden und hatte sich über die Jahrzehnte, in denen dies die Wohnung meines Großvaters gewesen war, fest mit ihm verbunden. Hier war mein Vater aufgewachsen. In all der Zeit war die Tapete dieselbe geblieben, und ich kannte ihre bräunlichen Rillen als Kulisse unserer spärlichen Besuche, bei denen wir auf der schweren grauen Couch gesessen hatten, eine Kaffeekanne stand auf einem Stövchen, meine Eltern schwiegen und mein Großvater drehte die Daumen, während eine schwache Stehlampe in der Zimmerecke den Raum in warmes Licht tauchte. Sieben Jahre war es zum Zeitpunkt unseres Einzugs her, dass mein Vater die Wohnung verlassen hatte, schwerfällig und halbherzig, und nichts hatte sich verändert. Wenn nicht meine Mutter die beiden zu dem Schritt überredet hätte, wäre weiterhin alles so geblieben. Mein Großvater und mein Vater waren vom selben Schlag: Sie hassten Veränderungen, schon das Reden darüber war ihnen zuwider. Grimmig schweigend saßen sie in den Kuhlen der Couch, während meine Mutter ihre Argumente darlegte. Sie hatte bereits alles mit dem Vermieter geregelt, aber erst nachdem sie in das Schweigen der beiden eingetreten war, abwartete, sie eisern eine halbe Stunde mit bohrenden Blicken bedachte und nicht einfach aus dem Raum ging, wie es zuvor in der Familie üblich gewesen war, willigte mein Großvater schließlich ein, in die gerade freigewordene Erdgeschosswohnung zu ziehen.

Sie trugen all seine Möbel die schmale Treppe hinunter. Die Wohnwand, aus deren Schränken ein süßlicher Geruch kam, die wuchtige Couch ebenso wie den Tisch, und alles musste aufgehoben werden, jede Tischdecke, jedes Handtuch, die in mehreren Schichten in den eingebauten Fächern unter den Sitzflächen der Eckbank lagerten. Sie nahmen sie oben heraus und legten sie unten wieder hinein, in derselben Anordnung. Den ersten Stapel hatte meine Mutter noch mit meinem Großvater durchgehen wollen, aber er hatte bei jedem einzelnen Tuch, das sie ihm beschrieben und zu dem sie dann gefragt hatte, ob man es wegwerfen könne, den Kopf geschüttelt. Mein Großvater beobachtete sie genau beim Umzug, oder zumindest versuchte er es. Er stand im Hausflur, so dass er den Eingang zu seiner neuen Wohnung nicht versperrte, und kniff die Augen zusammen. Immer wenn meine Eltern etwas hineintrugen, ging er einen Schritt auf sie zu und öffnete den Mund, im Begriff etwas zu sagen, und brachte doch keinen Ton hervor. Er trug ein Hemd, dessen Streifenmuster kaum mehr sichtbar war, weil der Stoff vom Tragen so dünn geworden war, und eine ausgebeulte Jogginghose mit Flecken, die er nicht bemerkte, weil seine Augen nur noch Umrisse erkennen konnten. Er folgte meinen Eltern in die Wohnung und stand ihnen im Rücken, als sie die Bank in der Küche zusammenbauten. »Dass ihr mir das nur ordentlich macht.«

Die anderen beiden Stockwerke waren damals noch vermietet. Im dritten wohnte ein Mann mit Vokuhila und zwei kleinen Hunden, die ständig an seiner Tür kratzten; von innen, wenn sie nach draußen wollten, und von außen, wenn er gerade mit ihnen vom Spaziergang wiederkam und seine Suche nach dem Schlüssel ihnen zu lang wurde. Meistens verschwand er so schnell es ging in der Wohnung, war wortkarg und blickte einen durch seine dicken Brillengläser fragend an, als erkenne er einen nicht. Nur meine Mutter lächelte er an, wenn er ihr zufällig begegnete.

Im zweiten wohnte eine ältere Dame, die ihre fettigen grauen Haare mit breiten Klammern hinter die Ohren zu stecken pflegte. Sie liebte es, sich zu mir herunterzubeugen und mir mit ihren knochigen Fingern in die Wangen zu kneifen. Ich lernte schnell, ihre Schritte zu erkennen, nachdem ich ein paarmal achtlos ins Treppenhaus und ihr in die Arme gelaufen war. Wenn ich nun nach unten in den Hinterhof wollte, wartete ich zuerst hinter der Tür unserer Wohnung und horchte. Sie war so dünn, dass das Holz der Stufen kaum unter ihr nachgab, und sie ging so langsam und vorsichtig, setzte so sanft die Füße auf, dass man sie leicht überhören konnte, aber ihre trockenen Hände, die das Geländer umfassten, verrieten sie. Sie rutschten mit jedem ihrer Schritte mit, und dieses rhythmische Rascheln alter Haut auf lackiertem Holz war es, das ich hinter dem Milchglas abwartete, damit mir die Frau mit ihren blauen Lippen und dem schalen Atem bloß nicht zu nahe kam.

Der Hinterhof des Hauses war lang nicht bewirtschaftet worden. In dem kleinen Abschnitt Erde, der den linken Teil des Grundstücks einnahm, wuchs Unkraut unter einem großen Baum. Die rechte Seite war mit grauen Steinen gepflastert, die Fugen durch Flechten grün angelaufen. Meine Mutter riss nach und nach das Unkraut aus, schrubbte die Steine mit einem grobborstigen Besen und wusch mit einem nassen Lappen die Gartenmöbel ab, die jahrelang im Schuppen gestanden hatten. An den Verschraubungen setzte Rost an. Rost auch am Geländer der schmalen Veranda, die an die Wohnung im Erdgeschoss anschloss; sie bestrich ihn mit einer orangefarbenen Lösung, damit er sich nicht weiter in die Streben fraß. »Hier kannst du dann sitzen«, sagte sie zu meinem Großvater, nachdem sie zwei der gesäuberten Gartenstühle auf die Veranda gestellt und seine Hand an die Lehnen geführt hatte. »Na ja«, sagte er. Unter seinem Küchenfenster wuchs wilde Minze, das einzige Kraut, das meine Mutter stehen ließ. Sie streute Grassamen unterm Baum, die nur schwer Wurzeln fassten in der fruchtlosen schattigen Erde, und legte einen Teich an im Hochbeet, kaufte dazu eine dieser schwarzen Plastikwannen im Baumarkt, die mit ihren geschwungenen Rändern ein natürliches Gewässer nachzuahmen versuchen, verlegte eine Pumpe, die das Wasser durchwirbelte, damit sich keine Algen ansetzten, und pflanzte Sumpfblumen an seinem Ufer, denen die Dunkelheit im Hof nichts ausmachte. Stundenlang kniete sie in der Erde, und der lange Rock, den sie dabei trug, wurde fleckig; sie hatte die Ärmel ihrer Baumwollbluse hochgekrempelt, die schwarzen Haare im Nacken mit der roten Klammer zusammengesteckt.

Wenn ich gemeinsam mit ihr die Stufen wieder hoch in die Wohnung ging, in der mein Vater zwischen den Tapetenbahnen einen der Fensterrahmen abschliff, und wir der alten Frau begegneten, die uns mit ihren leichten Schritten entgegenkam und auf halber Treppe vor uns auf dem grünen Linoleum stehen blieb, da, wo sich der Putz von der Wand löste, sich zu mir herunterbeugte und sagte: »Süß bist du, eine ganz Süße«, und ich meinen Kopf abzuwenden versuchte, dann blieb meine Mutter hinter mir stehen, eine Hand auf meiner Schulter, eine in meinem Rücken, mit der sie ein Stück Haut zwischen meinen Schulterblättern fasste, zusammenkniff und drehte, damit ich freundlich war und stillhielt.

Während der Pausen, die meine Eltern sich zwischen dem Unkrautjäten, Schrubben, Tapezieren und Bodenverlegen gönnten, stand mein Vater rauchend im Hof, und meine Mutter kochte meinem Großvater Huhn vor. Sie ließ es lang im Ofen, damit es besonders weich wurde, zerpflückte es in mundgerechte Stücke und richtete sie neben einer Kelle Reis auf einem Teller an, den sie mit Frischhaltefolie überzog. Sie kochte auch Kartoffelsuppe mit Lauch und Karotten, die der Großvater aber nicht gut vertrug. Er sagte es ihr nicht, sondern erbrach die Suppe heimlich in die Toilette, sie entdeckte es erst, als sie, während er bei einem seiner Arzttermine war, durch seine Wohnung ging. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, wenigstens notdürftig zu putzen, sodass sich nicht allzu viel grober Dreck ansammelte wie im ersten Stock. Dort hatte sie sogar die Türen schrubben müssen, eine gelbgraue Schicht hatte den weißen Lack bedeckt, ebenso die Ecken der Räume, die Arbeitsplatte in der Küche und das Innere der Hängeschränke. Zum Abschluss hatte sie den Boden der Küche gebohnert, und weil er aus altem PVC war, wurde er nicht glänzender, sondern nur gefährlich rutschig. In der Wohnung meines Großvaters staubsaugte sie heimlich und achtete darauf, dass sich keine Wollmäuse hinter der Toilette sammelten. Mehr erlaubte mein Großvater nicht, weil er nicht wollte, dass sie etwas verrückte. Er hatte alle Möbel so gestellt, als wäre der Grundriss der gleiche wie im ersten Stock, auch wenn es bedeutete, dass einzelne Schränke überlappten und teilweise bis in die Türrahmen hineinragten. Er hatte schnell gelernt, sich an den Möbeln entlangzutasten, und schon bildeten seine Schritte Spurrinnen im Teppich, die meine Mutter mit dem alten rasselnden Staubsauger wieder entfernte. Als sie sich mit einem Handfeger hinter dem Sockel der Toilettenschüssel zu schaffen machen wollte, bemerkte sie es. Der Großvater hatte aufzuwischen versucht, was von der Suppe danebengegangen war, aber weil er es nicht richtig erkennen konnte, hatte er es bloß auf dem Toilettensitz verschmiert. Meine Mutter band sich das Haar zurück und zog sich Einmalhandschuhe über, bereitete einen Eimer warmer Seifenlauge und erwähnte später dem Großvater gegenüber nichts, sondern ließ von nun an nur wortlos das Gemüse weg.

»Könnten Sie uns vielleicht helfen?« Meine Mutter hatte die Rückkehr des Nachbarn mit dem Vokuhila abgepasst. Den Schlüssel schon im Schloss, wandte er sich lächelnd zu ihr um, die Hunde zu seinen Füßen kratzten energischer an der Tür und drehten sich sogar einmal kläffend im Kreis, als er noch immer nicht öffnete. Es ging um das schwere Buffet, das einzige Möbelstück, das mein Großvater meinen Eltern überlassen hatte und das sich zu zweit nicht von der Wand abrücken ließ. Etwas verwirrt sahen die Hunde dabei zu, wie er den Schlüssel wieder abzog und umkehrte, dann folgten sie ihm, mühsam hüpften sie mit klackernden Krallen die Stufen hinab, und ihr blondgraues Fell wirbelte den feinen Staub aus Lack und Holz auf, der sich im ganzen Haus verteilte, seit meine Eltern damit begonnen hatten die Fensterrahmen abzuschleifen.

Die Hunde saßen mir zu Füßen, während die drei das Möbelstück von allen Seiten befühlten, um zu prüfen, ob es ein Anheben überhaupt aushalten würde; dann fassten sie es unter den Vorsprüngen der Ablagefläche. Die Sockel lösten sich vom Boden und hinterließen dicke Staubränder auf den Dielen. Ich beugte mich hinunter zu dem kleineren der beiden Hunde, der seinen Kopf auf meinem Fuß abgelegt hatte, und begann ihm über den Kopf zu streicheln, einmal, zweimal, bis er ein Geräusch machte, das für mich wie das Schnurren einer Katze klang. Ich streichelte den Hund schneller und ausladender, weil ich glaubte, dass ihm meine Berührung gefiel. Sein Knurren wurde lauter, ich beugte mich noch tiefer hinunter, sodass ich ihm ins Gesicht sehen konnte. Plötzlich schoss er nach vorn, mit offenem Maul voran, und biss sich in meiner linken Wange fest, ich stieß einen schrillen Schrei aus, meine Eltern und der Mann ließen das Buffet fallen, das Glas der Türen schepperte, und das ganze Haus wackelte unter der Erschütterung. Der Hund ließ erst von mir ab, als der Mann zwei Schritte auf uns zu machte und etwas Unverständliches rief. Wie erstarrt stand er in der Mitte des Raums und blickte durch seine dicken Brillengläser zwischen mir und seinen Hunden hin und her.

»Es brennt nicht, es ist extra für Kinder gemacht«, sagte der behandelnde Arzt, der mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger hielt und mit der anderen Hand ein pinkes Gemisch auf die Wunde unter meinem Auge tupfte. »Es wird, denke ich, nichts zurückbleiben, Kinder heilen schnell«, sagte er zu meinen Eltern gewandt. Auf der Rückfahrt von der Notaufnahme hielt ich mich von hinten an der Lehne des Fahrersitzes fest. »Schon lacht sie, schon lacht sie wieder«, sagte mein Vater. Die Schornsteine des Industrieparks zogen an uns vorbei, die Lichter glitzerten im Fluss hinter der Brücke, und die Gesichter meiner Eltern waren in der Frontscheibe schemenhaft zu erkennen, sie lächelten erleichtert.

Zu dieser Zeit war ein beständiges Grau in den Wolken, der Wind war nicht kalt und nicht warm, sanfte Böen streiften meine Wangen und verloren sich kurz darauf, wenn ich auf einem Schemel stand und den Kopf aus dem Fenster streckte. Die Straßenlaterne neben dem Haus sprang an, sobald das Tageslicht sich ins Blaue wendete. Über die Mauern der Hinterhöfe hinweg konnte ich sehen, wie in weiter Entfernung die Flugzeuge starteten, ich konnte den Strommast zwischen den Kleingärten sehen, und ich konnte hören, wie von links das Brummen des Industrieparks und die Geräusche der Wässer aus dem Fluss und der Kläranlage herüberwehten, wenn der Wind gut stand. Die Wohnung roch nach der von Sprühwasser aufgeweichten Tapete, die sich aus ihrer Starre löste, und dem feuchten Putz darunter; meine Mutter hockte in der Ecke des Wohnzimmers und zog geduldig kleine Fetzen vom Rand der Fußleiste. In der Spiegelung der Fensterscheibe betrachtete ich die weißen Pflaster unter meinem Auge. Dann sagte mein Vater einen Satz, den ich nicht vergessen habe. Seine Haare waren noch nicht grau, nur an den Schläfen bildeten sich erste Silberlinge der Art, die noch jugendlich aussehen, sein Schnurrbart war schon damals nikotingefärbt, und er hatte seine Schirmmütze auf dem Kopf wegen der Arbeiten. Er sagte den Satz zu meiner Mutter, aber er sah sie nicht an dabei, er hatte eine gute Bahn erwischt, die sich beinahe im Ganzen vom Putz ziehen ließ. Er sagte: »Du bist dir im Klaren, wir werden hier unter ständiger Beobachtung stehen.« Meine Mutter, die immer noch in der Ecke kniete, hielt kurz inne, sah auf ihre Hände und den kleinen Haufen Papier am Boden. Eine Sekunde verstrich, und noch eine. Dann sagte sie: »Ja.«

Es war mir verboten

Es war mir verboten