Ich war ein Reichenauer Rattler - Gernot Zimmermann - E-Book

Ich war ein Reichenauer Rattler E-Book

Gernot Zimmermann

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Beschreibung

Eine Reise in die Vergangenheit Innsbrucks - lebendig in persönlichen Erinnerungen!Gernot Zimmermann ist in der Reichenau aufgewachsen und kennt den Stadtteil seit seiner frühesten Kindheit. Seine Erinnerungen reichen bis 1965 zurück, er hat die wichtigsten Jugendjahre hier verbracht und schildert diese Zeit in zahlreichen Anekdoten. Zimmermann und seine damaligen Freunde waren Kinder der Straße, sie haben sich in den Höfen herumgetrieben, haben Leute geärgert, wahnwitzige Mutproben gemacht und den ganzen Tag über nur Blödsinn im Kopf gehabt - richtige kleine Rattler halt.Das Buch vermittelt einen lebendigen Eindruck der Reichenau und wie deren Einwohner vor 40, 50 Jahren hier gelebt haben. Und vor allem wie es war, in diesem Stadtteil Innsbrucks aufzuwachsen.

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ERINNERUNGEN AN INNSBRUCK

Band 8:

Gernot Zimmermann

Ich war ein Reichenauer Rattler

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
VORWORT
Ich war ein Reichenauer Rattler
„DER NAME REICHENAU“
„MEINE ERSTEN ERINNERUNGEN AN DIE REICHENAU“
„DER HOF ALS LEBENSSCHULE“
„ERSTES WOHNEN IN DER REICHENAU“
„EIN RICHTIGER REICHENAUER“
„CARLO, DIE WILDSAU“
„ABSCHIED AUS DER REICHENAU“
„ZURÜCK IN DIE REICHENAU“
„DIE WEINOLD-ZWILLINGE“
„EINKAUFEN IN DER REICHENAU“
„MEIN BESTER JUGENDFREUND“
„DIE ERSTEN DATES“
„JUGENDSTREICHE“
„SCHATZSUCHER UND SCHWARZFISCHER“
„DIE LOKALE IN DER REICHENAU“
„INS UMLAND HINAUS“
„ALS MÄDCHEN IN DER REICHENAU“
„ALS NIKOLAUS UNTERWEGS“
„MIT DEM SULKY NACH OBERÖSTERREICH“
„CAMPINGPLATZ REICHENAU“
„DIE REICHENAUER JUGENDHERBERGE“
„DAS REICHENAUER LAGER“
„MEIN GUTER FREUND BERTL“
„BEI DER REICHENAUER SCHÜTZENKOMPANIE“
„AM BAGGERSEE GEFISCHT“
„VON DER REICHENAU WEGGEZOGEN“
„LETZTE RÜCKKEHR IN DIE REICHENAU“
Dank
Gernot Zimmermann
Zum Autor
Impressum

„In Erinnerung an meine liebe Oma Liane“

VORWORT

Eigentlich bin ich per Definition gar kein richtiger Reichenauer, denn als ich geboren wurde, wohnten meine Eltern am Fischerhäuslweg in der Höttinger Au. Ziemlich genau dort, wo heute die Rollbahn des Innsbrucker Flughafens liegt.

Baracke am Fischerhäuslweg, im Hintergrund der „Große Gott“. (Foto: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck)

Aber – genau am Tag meiner Geburt, am 13. Februar 1962, hat meine Oma ihre Stadtwohnung in der Radetzkystraße 18 bezogen. Und diese Adresse sollte die bedeutendste und wichtigste meiner Kindheit und Jugend werden, auch wenn ich oft woanders gewohnt habe. Aber die Radetzkystraße und mit ihr die ganze Reichenau haben mich geprägt und viele der dort entstandenen Freundschaften halten bis heute an.

Ich bezeichne mich selber als Reichenauer Rattler, wohl wissend, dass das ein sehr umstrittener Begriff ist. Wikipedia meint dazu: „Rattler sind kleine bis mittelgroße Hunde, die ursprünglich als Rattenfänger verwendet wurden.“ Nun ja, als mittelgroßen Hund habe ich mich nie wirklich gesehen, ich verstehe unter einem Rattler etwas ganz anderes. Natürlich weiß ich, was viele Landsleute mit diesem Wort verbinden: „Ein Rattler ist bei uns in Tirol ein Mensch, der absolut keine Kultur und kein Benehmen hat. Wie z. B. die typischen Jugendlichen im Bus ganz hinten, die spucken, schreien und herumpöbeln … das sind Rattler … auch Karner genannt :-) LG aus Innsbruck.“ So ein Eintrag bei gutefrage.net. Nun ja, so denken wohl die meisten Tiroler.

Für mich selber war die Bezeichnung „Rattler“ nie wirklich eine Beleidigung. Es bedeutete irgendwie, ein Kind der Straße zu sein. Ganz anders als die behüteten Bürgerkinder. Wild. Rabaukenhaft. Ungestüm. Vulgär. Frech. Dreist. Wagemutig. Furchtlos. Abenteuerlustig. Oft dreckig. Manchmal mit blutigen Knien. Oder nach einem Watschenduell mit blutigen Lippen und blutiger Nase.

Bei einer Rückschau auf die eigene Kindheit darf natürlich ein Satz nicht fehlen: Es waren damals andere Zeiten. Ich schreib diesen Satz gleich im Vorwort, dann brauche ich im weiteren Verlauf nicht ständig darauf hinweisen. Ständige Veränderung ist halt nun mal die einzige Konstante, auch in der Reichenau. Meine Erinnerungen an die Radetzkystraße reichen bis 1965 zurück, ich habe Ende der 1960er Jahre hier gewohnt, dann von meinem 15. bis 21. Lebensjahr und danach noch einmal für ein paar Monate. Als Omas Liebling habe ich unzählbare und unvergessene Wochenenden bei ihr verbracht und dabei die ersten Freundschaftsbande geknüpft. Und weil meine Mutter später die Wohnung übernommen hat, bezeichne ich heute die Radetzkystraße 18 als mein „Elternhaus“.

Im vorliegenden Buch werden auch einige andere Reichenauer zu Wort kommen, manche von ihnen kenne ich bereits seit Jahrzehnten. Sie würden sich übrigens allesamt nicht als Reichenauer Rattler bezeichnen, der Begriff gefällt ihnen nicht. Mir eh auch nicht besonders, aber was soll ich machen? Ich war nun mal ein Reichenauer Rattler, zumindest ein kleiner …

Gernot Zimmermann, November 2018

Ich war ein Reichenauer Rattler

„DER NAME REICHENAU“

taucht erstmals in einer Urkunde von 1461 auf, als Herzog Sigmund der Münzreiche ain Wismad und Grund, Raut oder Reychnaw genannt, seinen getreuen Leuten im Dorf Amras verlieh. Der Name Reichenau deutet darauf hin, dass das Gebiet durch Brandrodung urbar gemacht worden ist. So steht es im Internet. Und damit soll über die Entstehungsgeschichte der Reichenau hier schon so ziemlich alles gesagt sein, das wird keine wissenschaftliche Abhandlung über einen Innsbrucker Stadtteil.

Ein paar historische Fakten möchte ich aber schon noch aufzählen, im Jahr 1925 etwa wurde in der Reichenau der erste Innsbrucker Flughafen eröffnet, da war von einer Bevölkerung noch kaum etwas zu bemerken.

Der alte Flughafen Reichenau – heute steht hier das O-Dorf III. (Foto: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck)

Lediglich einzelne Häuser standen in den weitläufigen Amraser Feldern und seit dem 15. Jahrhundert ist der Gutshof bekannt, nach dem heute noch der Gutshofweg benannt ist. Zu den allerersten richtigen Siedlern in der Reichenau gehörten die Mitglieder der Familie Morajer, deren Enkel Bert Morajer immer noch am großelterlichen Grundstück am Langen Weg lebt und von dem ich noch sehr viel zu berichten habe. Aber alles zu seiner Zeit.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Reichenau dann immer mehr zum Wohngebiet ausgebaut worden und heute leben an die 12.500 Einwohner hier. Übrigens – auch da ist die Statistik ganz genau – auf exakt 101,5 Hektar. Das geht, da muss man sich nicht zwangsweise auf die Füße steigen. Mit dem städtischen Wohnbau sind auch die letzten „Ureinwohner“ aus der Reichenau vertrieben worden, etwa die Bewohner der ebenso legendären wie berüchtigten Bocksiedlung. Diese Siedlung war ein wirklich groteskes Sammelsurium an selber gebauten Häusern und Hütten und es hat einige Dutzend davon gegeben. Unumschränkter Herrscher und Namensgeber der kleinen Stadt in der Stadt war die Familie Bock; die ebenso geachteten wie gefürchteten Patriarchen Hermann und Egon Bock haben ihre ganz eigenen Gesetze gemacht und diese im Fall des Falles auch rigoros durchgezogen. Da hat man damals keine Staatsgewalt gebraucht. Noch heute erzählt man sich, dass die Innsbrucker Polizei nur in Mannschaftsstärke in der Bocksiedlung ermittelt hat, einzelne Beamte seien mit dem berühmten nassen Fetzen vom Hof gejagt worden. Wenn sie Glück gehabt hatten! Das Thema Bocksiedlung werde ich eh noch ein paarmal erwähnen, aber wer sich ausführlich mit diesem Stück Innsbrucker Geschichte befassen möchte, dem sei das Buch „Bocksiedlung“ von Melanie Hollaus ans Herz gelegt. Erschienen im Studienverlag, so viel Werbung muss erlaubt sein.

Von der Einwohnerzahl her ist die Reichenau nach Pradl, Höttinger Au und Wilten nur der viertgrößte Innsbrucker Stadtteil, hat aber – gemeinsam mit dem Schlachthof und dem Olympischen Dorf – den mit Abstand schlechtesten Ruf. Sogar vom „Glasscherben-Viertel“ ist die Rede, wenn in – Achtung Klischees – noblen Saggener Villen, in Wiltener Bürgerhäusern oder an urigen Höttinger Wirtshaus-Stammtischen über die Reichenau gelästert wird. Oder sagen wir besser „gelästert wurde“. Denn das hat sich natürlich heute alles etwas aufgehört und echte „Feindschaft“ zwischen den einzelnen Stadtteilen wird auch keine mehr auszumachen sein. Zwar werden bei der Zuteilung einer Stadtwohnung die wenigsten Innsbrucker mit einem „Juhu! Ein Wohnblock an der Reichenauer Straße!“ oder „Supergeil – wir ziehen in ein Hochhaus in der Andechsstraße!“ reagieren, wenn sie die Nachricht über ihre neue Adresse bekommen. Aber von einem „Glasscherben-Viertel“ kann wirklich nicht die Rede sein und ganz davon abgesehen, haben wir Reichenauer diesen Begriff immer für die Bewohner von Stalingrad verwendet, also die Siedlung rund um die Premstraße. Aber das ist eine ganz andere Geschichte …

Während der ganzen Zeit, in der ich in der Reichenau gewohnt und gelebt habe – und das waren doch einige Jahre –, hat sich der Stadtteil ununterbrochen verändert. Bin ich als Kind noch unmittelbar neben der Radetzkystraße durchs mannshohe Gras und Gestrüpp gestreift, so standen dort bald einmal Neubauten. Auf dem Weg zum Baggersee bin ich in der Roßau an keinen fünf Häusern vorbeigekommen und die Andechsstraße war noch ein grob geschotterter Fahrweg. Überall wurden ganze Wohnblocks hochgezogen und das Zuschauen auf den zahlreichen Baustellen der Umgebung gehörte zum Pflichtprogramm für uns Reichenauer Kinder. Ich bin als kleiner Bub noch wagemutig über die Hauptstraße der Bocksiedlung geradelt, ein paar Jahre später habe ich mir dann genau an dieser Stelle beim „Reifen Rebitzer“ Winterräder für mein Auto gekauft. Auf vielen unserer damaligen Spielwiesen und Abenteuerplätzen stehen heute Hochhäuser, manche Orte aus meiner Kindheit lassen sich gar nicht mehr auffinden und existieren nur in meinen Gedanken weiter.

In meiner Kindheit haben wir hier noch „Fangerlex“ gespielt. (Foto: Ilse Zimmermann)

Wenn ich mich ganz weit in meine Kindheit zurückversetze, dann haben

„MEINE ERSTEN ERINNERUNGEN AN DIE REICHENAU“

mit Weihnachten zu tun. Mit viel Schnee am Straßenrand und mit von Kerzen beleuchteten Wohnungsfenstern in den neuerrichteten Wohnblocks der Roßbachstraße. Ich erinnere mich an den würzigen Duft von Weihrauch, der auf die heiße Ofenplatte gestreut wurde, und an den unvergleichlichen Geruch frisch abgebrannter Sternspritzer. Ziemlich sicher war es das Weihnachten von 1965, da war ich noch nicht ganz vier Jahre alt. In jedem Fall war es in der Wohnung meiner geliebten Oma, in der Radetzkystraße 18.

In dieser kleinen, aber raffiniert geschnittenen Dreizimmerwohnung habe ich die glücklichsten Tage meiner Kindheit verbracht. Von uns drei Brüdern war ich der absolute Lieblingsenkel und ich durfte viele Wochenenden bei meiner Oma übernachten. In meiner Erinnerung war das jedes dritte oder vierte Wochenende, aber das wird mich wohl täuschen. Sie hat mir dann im Wohnzimmer immer eine Matratze neben ihr Bett auf den Boden gelegt, damit ich in ihrer Nähe schlafen konnte. Und fast jedes Mal hat sie mir meine Leibspeise gekocht – Spinatomeletten. Das ist bis heute eines meiner Lieblingsessen – selbstverständlich habe ich sie nie mehr so gut gekriegt wie damals bei meiner Oma.

Sie hat Juliane Borsutzky geheißen, geborene Hollrieder, und wer sie näher gekannt hat, der nannte sie Liane. Sie war – das war für die damalige Zeit ziemlich außergewöhnlich – stets nur mit Hosen bekleidet, in einem Rock oder in einem Kleid habe ich Oma niemals gesehen. Neben meiner Mutter hat sie noch meine Tante Angelika großgezogen, als Alleinerzieherin. Meine Oma war genau das, was man heute „eine starke Frau“ nennt. Sie hat nicht nur ihre Kinder gut durch die Kriegs- und Nachkriegszeit gebracht, sondern sich allen Anfeindungen, denen man in Tirol damals als Mutter lediger Kinder – noch dazu von einem ausländischen Vater – ausgesetzt war, trotzig entgegengestellt. Und sie war eine ausgewiesene Anti-Nazi, da hat sie zeitlebens kein Hehl daraus gemacht und das war während des Krieges nicht ungefährlich. Aber sie ist ihrer Einstellung immer treu geblieben und nach dem Krieg haben sich die ehemaligen Parteigänger einiges von meiner Oma anhören dürfen. Unvergessen ihr ebenso oft wie laut verkündetes Mantra beim Aufsperren der Haustüre: „Na, hat der D…, das alte Nazi-Schwein wieder mitgekriegt, dass ich heimgekommen bin?“ Ja, die liebe Liane konnte erfrischend direkt sein. Einmal, so sagt die Familienlegende, hat sie einen Busfahrer der Linie R vielleicht etwas zu direkt auf einen Fehler aufmerksam gemacht. Der Mann hatte eine verspätet aussteigende Frau übersehen und schon den Türschließknopf gedrückt. Natürlich sind die pneumatischen Türen sofort wieder aufgegangen, aber die ältere Frau hat einen sehr lauten Schrei des Erschreckens ausgestoßen. Darüber musste der Busfahrer grinsen, meine Oma ist nach vorne gegangen und hat ihm eine ordentliche Watsche runtergehaut: „Für Ihr deppertes Grinsen!“, erklärte sie ihm noch und hat sich dann wieder ganz normal hingesetzt. Und die anderen Fahrgäste sollen ihr applaudiert haben.

Meine Oma Juliane, kurz Liane

Meine Oma war zwar eine, wie man so sagt, „einfache“, aber eine durchaus kluge und auch sehr belesene Frau. In ihrem großen Wohnzimmerschrank stapelten sich die Bücher aus den „Donauland“- und „Deutsche Buchgemeinschaft“-Abonnements und auch das „Reader’s Digest“ war stets vorhanden. Mich hat sie immer sehr zum Lesen animiert und schon als 12-Jähriger hatte ich ihre gesamte Bibliothek durch, von „Das Schweigen im Walde“ über jeden Konsalik und jeden Simmel bis hin zu „Krieg und Frieden“. Und Oma hat extra für mich das damals ziemlich hochpreisige „Flora & Fauna“ abonniert, obwohl sie sich das als Putzfrau eigentlich nicht hat leisten können.

Wenn ich in der Radetzkystraße zu Besuch war, bin ich natürlich auch immer wieder „in den Hof“ gegangen. Der Hof war die unbebaute Fläche zwischen unserem Wohnblock und den Häusern der Wörndlestraße gegenüber. An einem Ende wurde der Hof vom Flachbau des „Reichenauer Stüberls“ begrenzt, auf der anderen Seite erstreckte er sich bis zum so genannten „Steiner-Block“ am Anfang der Radetzkystraße und zu den Wohnblöcken der Freundsbergstraße. Und dann kommt noch der direkt angrenzende, große Park am Gutshofweg dazu, mit den vielen Parkbänken und dem eingezäunten Fußballplatz. Der war aber für mich als 5-jährigen Buben weitgehend eine Terra incognita, weil fast schon zu weit weg von daheim. Mitten in diesem für Kinder idealen Freizeitraum ist eine gemauerte Burg gestanden, ein viel genutzter Treffpunkt für die Heranwachsenden aus der Umgebung.

Die „Burg“ im Hof, im Hintergrund ist mein Elternhaus zu sehen. (Foto: Frischauf)

Bei der Burg haben die Burschen ihren ersten Tschick geraucht, heimlich die erste Flasche Bier geleert und so mancher hat dort das erste Mal mit einem Mädchen Händchen gehalten. Ich würde heute behaupten, dass

„DER HOF ALS LEBENSSCHULE“

für mich und meine persönliche Entwicklung außerordentlich wichtig war. Hier war ich mit Gleichaltrigen, Jüngeren oder Älteren zusammen und musste mir meinen Rang und meine Position suchen. Zu meiner Zeit waren praktisch alle Buben ab einem gewissen Alter in irgendeiner Bande, die sich meistens um einen Reichenauer Rattler herum gebildet hat. Der „Bandenboss“ scharte dann ein paar jüngere Bewunderer, Mitläufer und Speichellecker um sich, die ihm völlig ergeben waren und seinen Anweisungen strikt Folge leisteten. Später haben wir diese Typen „Schas-Aufklauber“ genannt. Aber die Schas-Aufklauber waren mitunter die Gefährlichsten, denn am ehesten konnte man in einer Bande durch besondere Brutalität aufsteigen. Und so hast du dir manchmal von so einem Typen ein paar Watschen eingefangen, obwohl er dir sonst – ohne seine Bande unterwegs – sofort aus dem Weg gegangen wäre. In der Gruppe waren sie dann stark, das kennt man ja. Aber das hat damals ganz einfach zum Aufwachsen in der Reichenau dazugehört, die Alternative wäre gewesen, ein Stubenhocker zu sein. Dann aber lieber draußen spielen, auch auf die Gefahr hin, dass man zwischendurch einmal der falschen Gruppe Jugendlicher in die Quere kommt. Das waren, wie man sich leicht vorstellen kann, oft ziemlich schmerzhafte Momente und ich möchte trotzdem keine der Erfahrungen von damals missen. Auch wenn das Stehen in einem Blecheimer voller Brennnesseln keine sonderlich schöne Erinnerung darstellt. Aber als Mutprobe und als Aufnahmeritual in die Bande war es unverzichtbar und nur das zählte.

Zwischen den Häuserblocks der Radetzky- und der Wörndlestraße standen eine ganze Reihe von Teppichklopfstangen. Die dienten uns Kindern als Klettergerüst, als Fußballtor, als Marterpfahl oder als Zielobjekt beim Steinewerfen, aber natürlich waren sie in erster Linie zum Teppichklopfen und Wäscheaufhängen gedacht. Arbeiten, die ausschließlich von Frauen erledigt wurden, ein Mann an der Wäscheleine und mit Kluppen in der Hand wäre damals schlicht undenkbar gewesen. Zumindest in dem Umfeld, in welchem ich aufgewachsen bin. Ich habe während meiner ganzen Kindheit nie von einem Mann gehört, der daheim im Haushalt mitgeholfen hätte. Einzige Ausnahme – Fred Feuerstein. Die Comic-Figur hat in mindestens einer Folge Hausarbeit verrichtet, ich sehe ihn heute noch vor mir, wie er am Bügelbrett steht. Das hat mir den Fred Feuerstein noch lächerlicher gemacht, als er ohnehin schon dargestellt wurde. Hausarbeit als Mann, na geh bitte … Das passte einfach nicht ins gesellschaftliche Konzept und hätte ich meinen Vater mit dem Geschirrtuch in der Hand „ertappt“, dann wäre ich wohl nachhaltig traumatisiert gewesen ob dieses tiefen Risses im Rahmen meines Weltbildes.

Im Hof war immer etwas los, es waren immer Kinder oder Halbwüchsige unterwegs, es gab immer etwas zu beobachten, zu spielen oder vor irgendetwas oder irgendjemand davonzulaufen. Oft auch vor Erwachsenen, denn zu jener Zeit war es normal, dass freche Kinder auch von Unbekannten auf offener Straße abgewatscht oder mit einem Fußtritt verjagt wurden. Darüber hat sich von den anderen Erwachsenen nie jemand aufgeregt, damit hatten wir selber klarzukommen. Wir kleinen Rattler mussten uns also in jeder einzelnen Minute behaupten, Schwächen wurden als „weibisch“ bezeichnet, ein Indianer kennt keinen Schmerz.

Als Dreikäsehoch mit ca. sieben Jahren.

Das hat schon als ganz Kleiner begonnen, als ungefähr 8-Jähriger wollte ich mich einmal mit einer Wahnsinnsaktion in den Vordergrund spielen: Als Kind war ich eine ausgewiesene Wasserratte, bei jeder Gelegenheit im Tivoli, und an eine Zeit als Nichtschwimmer habe ich keinerlei Erinnerung. Ich traute mich schon früh vom 10-Meter-Turm zu springen (für ein Cornetto!), vom Einser-Trampolin und vom Beckenrand drehte ich Rückwärtssaltos ins Wasser. Und genau so einen feschen Salto wollte ich im Hof vorführen, von einer gut eineinhalb Meter hohen Mauer und natürlich ohne ein Wasserbecken. Ich bin flach am Rücken auf der harten Wiese aufgeprallt und auch eineinhalb Meter Höhe genügen, dass die Luft vollständig aus den Lungen gepresst wird und für geraume Zeit wegbleibt. Nach dem ersten erfolgreichen Japsen nach Luft habe ich dann die kommenden Minuten damit verbracht, mir möglichst nichts von meinen Schmerzen anmerken zu lassen.

Dafür habe ich mich beim „Bienenpflücken“ um einiges geschickter angestellt. Die Herausforderung war, die fleißigen Honigsammler mit Daumen und Zeigefinger direkt von den Hagebuttenblüten zu pflücken, an ihren Flügeln. Man hat beide Flügelchen zugleich erwischen müssen, sonst hätte sich die Biene wohl mit einem Stich für das Eindringen in ihren Intimbereich gewehrt. Ich bin nie gestochen worden und im Gegensatz zu so manchem Mitspieler habe ich die Bienen anschließend nicht zu Boden geschmissen und zertreten, sondern hoch in die Luft hinaufgeworfen. Das hat immer lässig ausgeschaut, wenn die armen Immen sich zuerst wild überschlagen haben und dann aus dem Taumeln heraus kontrolliert weggeflogen sind. Die Hagebuttensträucher dienten uns auch für eine besonders „witzige“ Gemeinheit. Hat man nämlich die Kapseln der Früchte aufgebrochen, war man mit etwas wirklich Wertvollem ausgestattet – mit erstklassigem Juckpulver. Sogar hochwertiger und damit wirkungsvoller als jenes, welches es während des Faschings in den einschlägigen Geschäften und Tabaktrafiken zu kaufen gegeben hat. Eine kleine Portion Hagebutten-Juckpulver in den Hemdkragen geschüttet und du hast nach einer Dusche gebettelt, anders ist das Zeugs nicht zu bändigen gewesen. Ein ganz besonders lustiger Rattler soll einmal sogar das Toilettenpapier in der Wörndle-Schule mit Juckpulver behandelt haben, aber das war Hörensagen und wahrscheinlich nur eine Legende. Aber allein die Vorstellung, er könnte es getan haben, hatte was für sich …

Meine ersten Versuche, mit dem Fahrrad zu fahren, hab ich in einer Hauseinfahrt der Wörndlestraße unternommen. Ich bin gefühlte tausendmal umgefallen, meine Knie hatten kaum noch unversehrte Haut aufzuweisen und ich wäre dennoch nicht auf den Gedanken gekommen, aufzuhören. Denn als Radfahrer hatte ich mich schon mal über die reinen Tretrollerfahrer erhoben und es hat nebenbei auch meinen Aktionsradius beträchtlich erhöht. Ich entdeckte die Burkhard-Breitner-Straße, die Klappholzstraße, die Andechsstraße, die Reut-Nicolussi-Straße oder die Wopfnerstraße und wagte mich bis an das westliche Ende der Reichenau heran, an den Dotterbichl. Denn das tägliche „Ich geh jetzt in den Hof“ war natürlich nicht auf den Hof selbst beschränkt, es war vielmehr ein „Bin dann mal weg“. Kaum ein Kind wurde von den Eltern kontrolliert, ob es sich auch wirklich im Hof aufhält. Und wenn, dann wurden diese Kinder natürlich deswegen gehänselt und rutschten in der Rangfolge automatisch leicht nach unten. Ein richtiger Rattler hat auch nicht zu einer bestimmten Zeit daheim sein müssen, wenn er zu spät gekommen ist, dann ist er halt ohne Essen ins Bett gegangen. So einfach war das. Das ist mir übrigens nicht nur einmal passiert und es hat mir sehr dabei geholfen, lebenslang ein pünktlicher Mensch zu sein. Trotzdem bin ich für die freie Hand meiner Oma und später meiner Mutter sehr dankbar, denn auch das hat mir geholfen, früh ein selbständiger Mensch zu werden. Ich habe auch ohne Diskussionen und jederzeit bei Freunden übernachten dürfen – natürlich auch umgekehrt –, das war ein unbezahlbares Privileg, vor allem während meiner Pubertät …

Auf unseren Streifzügen durch den Hof und seine Umgebung waren wir also ohne jegliche Aufsicht und natürlich haben wir dementsprechend auch so manchen Blödsinn aufgeführt. Einiges war sicher grenzwertig und es wird hier noch viel davon zu lesen sein. Vielleicht haben wir manchmal schon mit einem Fuß ein Gesetz übertreten – aber niemand von den vielen Leuten, die ich aus der Reichenau kenne und die ich (auch ungefragt) zu den echten Rattlern zähle, war jemals kriminell. Wir haben (praktisch) nie etwas gestohlen, niemals irgendetwas aufgebrochen oder gar wo eingebrochen – solche Leute habe ich nie näher kennengelernt. Klar, ein paarmal, wenn es halt einer unbedingt wissen hat wollen, dann wird schon ein Nasenbein geknackst und das eine oder andere Zähnlein gewackelt haben, dafür kriegt man bekanntlich auch keine Auszeichnung. Vor allem als Reichenauer Rattler nicht. Aber mit kriminell hat das rein gar nichts zu tun und ich sage es gerne noch einmal – um dieses Milieu haben wir alle den größtmöglichen Bogen gemacht. Gekannt haben wir solche Leute natürlich, man geht ja mit offenen Ohren durchs Leben. Aber das war irgendwie deren Privatsache und ist mich nichts angegangen, auf die Idee, die Polizei über vages Hörensagen zu informieren, wäre ich jedenfalls nie gekommen.

Und was mir noch einfällt – wir haben nie etwas mit Drogen zu tun gehabt. Während meiner ganzen Jugendjahre in der Reichenau bin ich nie mit Haschisch oder anderen Rauschgiften in Berührung gekommen. Keiner von uns. Natürlich ist auch damals schon gekifft worden in Innsbruck, aber Haschisch war etwas für die Hippies, die Langhaarigen und Gammler – wir haben sie kurzerhand „Giftler“ genannt. Auch in der Reichenau hat es diese „Giftler“ gegeben, die langhaarigen Gammlertypen waren automatisch verdächtig und wenn einer noch das Peace-Zeichen an einer Kette über dem indischen Baumwollhemd getragen hat, dann war für uns alles klar. Wir haben die paar Hippies damals höchstens ausgelacht und verspottet, zu tun gehabt haben wir mit solchen Leuten aber nie etwas. Es trennten uns gleich mehrere Welten voneinander …

Meine Erinnerungen an die Reichenau will ich zwar gar nicht streng chronologisch abhandeln, aber mein

„ERSTES WOHNEN IN DER REICHENAU“