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Die literarische Sensation:die Liebesbriefe der jungen Anna Seghers – nach 100 Jahren erstmals veröffentlicht.
»Ich will Wirklichkeit ... und ich weiß außer uns nichts Wirkliches.«
Als Anna Seghers’ Enkel, Jean Radvanyi, Familienunterlagen sortierte, stieß er auf eine Schachtel – und darin auf etwas völlig Unerwartetes: über 400 Briefe, die seine Großmutter an ihren späteren Mann geschrieben hat. Dieser Schatz wird jetzt erstmals zugänglich gemacht. Wir erleben die Studentin, Suchende, Liebende in einer Zeit, über die bisher kaum etwas bekannt ist, und erhalten erschütternde Einblicke in eine Phase der Neuorientierung, der zunehmenden Bedrängung durch die äußeren Zustände – und lernen sie zugleich als eine junge Frau voller Aufbruchsstimmung, Leidenschaft und großer Hoffnungen kennen.
»Sei nicht ungehalten, dass ich Dich so mit der Post quäle, doch wenn ich ohne Nachricht bin, bin ich unfähig zu allem.« Netty Reiling, 1921.
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Seitenzahl: 584
Veröffentlichungsjahr: 2025
»Netty Reiling, Tochter einer angesehenen jüdischen Familie in Mainz, beginnt 1920 ihr Studium. An der Universität Heidelberg lernt sie den ungarisch-jüdischen Studenten Laszlo kennen, den sie bald und dann ein ganzes Leben lang Rodi nennt. Er stammt aus einer aufgeklärten Kaufmannsfamilie, die der eher liberalen Strömung angehört. Beide sind zwanzig Jahre alt – und verlieben sich Hals über Kopf. So in etwa beginnt die Geschichte meiner Familie.« Jean Radvanyi in seinem Vorwort.
Und so schreibt sie dem Geliebten 1921: »Es gehört Mut dazu« – und meint damit den Mut, den es braucht, sich einer Liebe hinzugeben. Aus einer bürgerlichen Familie auszubrechen und mit dem Schreiben zu beginnen, nach »Wirklichkeit« verlangend. Ihre Eltern waren gegen diese Liebe, an der die 21-Jährige trotz aller Widerstände festhielt. 1925 heiratete das Paar. Es waren die Jahre bis zu ihrer ersten Veröffentlichung als Schriftstellerin vor dem Hintergrund der Weimarer Republik.
Netty Reiling, die sich ab 1928 Anna Seghers nannte, wurde 1900 in Mainz geboren. 1920 bis 1924 studierte sie in Heidelberg und Köln Kunst- und Kulturgeschichte, Geschichte und Sinologie. 1924 veröffentlichte sie ihre erste Erzählung, »Die Toten auf der Insel Djal«. 1925, nach ihrer Heirat mit dem Ungarn Laszlo Radvanyi, zog sie zu ihrem Mann nach Berlin. Bald darauf wurde sie mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. 1933 musste die Erzählerin – als Jüdin, Mitglied der KPD und des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller mehrfach gefährdet – über die Schweiz nach Paris fliehen, 1940 weiter in den unbesetzten Teil Frankreichs und 1941 auf einem Dampfer von Marseille nach Mexiko. Im Exil entstanden die großen Romane »Die Rettung«, »Transit« und »Das siebte Kreuz« sowie viele ihrer berühmten Erzählungen wie »Der Ausflug der toten Mädchen«. 1947 kehrte Anna Seghers nach Berlin zurück, wo sie 1983 starb.
Jean Radvanyi wurde in Paris geboren. Er ist Geograf und emeritierter Professor am Institut National des Langues et Civilisations Orientales (INALCO) in Paris. Heute ist er Vorsitzender des Filmfestivals »Une autre Russie« und kümmert sich als Sprecher der Familie um das literarische Erbe seiner Großmutter Anna Seghers.
Christiane Zehl Romero wurde in Wien geboren. Sie ist emeritierte Professorin an der Tufts University (Massachusetts), veröffentlichte im Aufbau Verlag eine 2-bändige Anna-Seghers-Biographie und gab die Briefe der Autorin in zwei umfangreichen Bänden heraus.
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Anna Seghers
Ich will Wirklichkeit
Liebesbriefe an Rodi 1921–1925
Herausgegeben von Jean Radvanyi, Christiane Zehl Romero
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
Newsletter
Ein Familienarchiv voller Überraschungen — Vorbemerkung von Jean Radvanyi
1921
1922
1923
1924
1925
Anhang
Bildteil 1
Bildteil 2
Anmerkungen
1921
1922
1923
1924
1925
Liebste einzigste Rodiseele — Die Liebesbriefe einer jungen Schriftstellerin – Von Jean Radvanyi
Eine leidenschaftliche Liebe in unsicheren Zeiten
Die Erfindungsgabe eines Liebesvokabulars
Studentenleben im Rheinland der 1920er Jahre
Stellensuche: jüdische und kommunistische Spuren
Das Religiöse als Quelle der Inspiration und des Konflikts
Unermüdliche Leserin und angehende Schriftstellerin
Verlobung und Hochzeit
Zeittafel
Personenregister
Zu dieser Ausgabe
Dank
Erläuterungen
Impressum
Vorbemerkung von Jean Radvanyi
Mein Vater, Pierre (Peter) Radvanyi, der Sohn von Anna Seghers (geb. Netty Reiling), starb am 6. Dezember 2021, dem Nikolaustag. Nach seinem Tod bestimmten mich die Nachkommen meiner Großmutter – meine Cousine Anne (die Tochter ihrer Tochter Ruth), mein Halbbruder François sowie unsere Kinder Netty und Tibor, Etienne und Charlotte – zum Vertreter der Familie, was das literarische Erbe angeht, organisiert über die Anna-Seghers-Stiftung und die Anna-Seghers-Gesellschaft.
Um den gemeinsamen Wunsch meines Vaters und seiner Schwester zu erfüllen, wollte ich alle bis dahin in der Familie aufbewahrten Dokumente dem Archiv der Akademie der Künste, Berlin, übergeben, dem seit DDR-Tagen auch die übrigen Arbeitsunterlagen meiner Großmutter anvertraut sind. Ich begann, die Dokumente, die bei meiner Cousine Anne in Berlin sowie im Haus meines Vaters in Orsay verblieben waren, zu erfassen, zu klassifizieren und Kopien anzufertigen.
Es ging um Dokumente sehr verschiedener Art: Zum einen handelte es sich um Hunderte von Fotografien aus allen Lebensabschnitten, wovon einige bekannt und bereits veröffentlicht worden sind,[1] andere, intimere Bilder waren nie außerhalb des Familienkreises gezeigt worden und befanden sich in unseren privaten Fotoalben.
Ein zweiter Komplex umfasste Verwaltungsdokumente von der Zeit in Deutschland vor 1933 über das Exil in Frankreich und Mexiko bis hin zur Rückkehr nach Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Auch hier wurde ein Teil bereits ausgewertet und veröffentlicht, anderes blieb im Verborgenen. Ich konnte die Unterlagen übrigens dank neuerer Entdeckungen in Archiven in Moskau, Paris und Mexiko-Stadt ergänzen.
Ein dritter Komplex bestand aus Briefen, die sie nach 1945 an verschiedene Familienmitglieder schrieb (die »Dienst«-Briefe befinden sich bereits im Archiv). Hierbei handelt es sich hauptsächlich um Briefe mit familiärem Charakter, die sie und ihr Ehemann Rodi (László Radványi, später Radvanyi sowie Johann-Lorenz Schmidt) an Kinder und Enkelkinder richteten. Sie beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Alltag, mit Fragen der Gesundheit, es geht um Bildung (unsere Großeltern haben sich immer sehr um diesen Aspekt gekümmert), Urlaub, Reisen und die dafür erforderlichen Visa. Politische Fragen werden so gut wie nie angesprochen. Anna Seghers wusste zweifellos, dass ihre Briefe geöffnet und gelesen werden konnten – sie lebte seit April 1947 in Ost-Berlin. Wenige Briefe befassen sich mit ihrer Arbeit, meist in Form von Fragen, die sie an uns richtete, um ihre Zusammenstellungen von Fakten zu vervollständigen.
Eine erste große Überraschung erlebte ich, als ich unter all diesen Dokumenten eine Reihe von unveröffentlichten Texten entdeckte, zumeist Fragmente oder frühere Fassungen späterer Arbeiten. Eine zweite, noch größere Überraschung war, dass ich in einem unscheinbaren Karton eine umfangreiche Sammlung von Schriftstücken fand: rund 470 Briefe, Postkarten und Telegramme, die Netty Reiling zwischen Anfang März 1921 und dem 3. August 1925 an Rodi geschrieben hatte, d. h. vom Beginn ihrer Bekanntschaft bis zu ihrer Hochzeit. Ihre Begegnung fiel mehr oder weniger direkt mit der ersten Trennung zusammen in dieser besonders in den ersten Jahren an Trennungen reichen Beziehung. Glücklicherweise war mein Großvater so klug, die Briefe, nachdem er sie gelesen hatte, wieder in die Umschläge zu stecken und sie chronologisch zu kleinen Päckchen zu ordnen, die er in Zeitungsseiten aus der damaligen Zeit verschnürte (siehe S. 2). Kaum einer der Briefe ist datiert, eine Praxis, die Anna Seghers auch nach dem Krieg in ihrer Familienkorrespondenz beibehielt. Dank Rodis Sorgfalt und anhand der Poststempel ist es jedoch gelungen, fast alle Briefe zeitlich zu bestimmen.
Etliche der Briefe enthalten Zeichnungen von ihrer Hand, manchmal auch Fotos oder spezielle Beigaben. Auch wenn wir, abgesehen von einigen Zeichnungen (siehe Abb. 8 und 9), keinen der Antwortbriefe haben und diese Korrespondenz für uns also einseitig bleibt, erweitert sie unser Wissen über eine entscheidende Periode im Leben von Anna Seghers ganz wesentlich und zeigt sie von einer Seite, die wir bisher nicht kannten.
Netty Reiling, Tochter einer angesehenen jüdischen Familie in Mainz, beginnt 1920 ihr Studium. An der Universität Heidelberg lernt sie den ungarisch-jüdischen Studenten László kennen, den sie bald und dann ein ganzes Leben lang Rodi nennt. Er stammt aus einer aufgeklärten Kaufmannsfamilie, die der eher liberalen Strömung des Judentums angehört. Beide sind zwanzig Jahre alt – und verlieben sich Hals über Kopf. So in etwa beginnt die Geschichte meiner Familie.
[ohne Absender]
Herrn L. Radványi · Pension Rolanda · Anlage 26
[Heidelberg, März 1921]
Ich bin Goethe Str. 5 u erwarte Dich dort. Wenn möglich gleich.
Schwesterlein
Reiling · Mainz · Kaiser Str. 341/10
Herrn Ladislaus Radványi · p. A. G. Th. Radványi · Wien XIX · Sieveringerstr. 20
Donnerstag, Mainz. [10. 3. 21]
Mein lieber Freund! Dein Brief freut mich u tröstet mich. Gewiß habe ich immer noch mein Leid, aber ich will nicht bekümmert sein in jenen kleinen Leiden, die mich vielleicht von meinem großen Urleid ablenken. Lieber, mir ist jetzt manchmal um Deinetwillen ein wenig froher, denn ich habe jetzt plötzlich zuweilen Hoffnung, ich könnte Dich nicht nur trösten u Dir helfen, sondern Dir sogar eine Tages irgend einen Weg aus Deiner Verzweiflung zeigen. Diese Hoffnung ist mir nicht so ohne weiteres gekommen, sie hat Gründe, aber diese Gründe kann ich Dir, wie Du nun bist, nicht schriftlich in ein paar Worten verständlich machen. Du wirst jetzt in Wien viel durchleben u leiden u zweifeln u in Dich aufnehmen. Halt nur meine Hand fest. Denn meine Hand, das ist keine gewöhnliche Hand. Du sollst nicht lächeln, sondern mir glauben; diese Hand steht irgendwie mit etwas Unverrückbarem in Verbindung, mit etwas ganz Unantastbarem u Du bist daran geknüpft so lange Du diese meine Deine Hand hast. – Lieber Freund, Du sollst sehen, wie offen ich zu Dir bin. Sieh, anfänglich hab’ ich immer in den Menschen, unter denen Du jetzt lebst so etwas wie meine Gegner gesehen, die Dich hinüber ziehen wollten von mir, die doch recht voll ist von allem was Dir gut u notwendig ist, u die dann ohne Dich allzu einsam gewesen wäre. Denn ich, ich kann wohl Ideen mit Menschen gemeinsam haben, aber nie meine Meine Idee. Ich weiß [nicht], ob Du’s verstehst, – die ist mein Eigentum, ich kann sie Dir höchstens schenken, aber nicht Menschen austeilen. Und dann, ich bin noch sehr zart u schwach, ich muß mich ganz verschließen oder jemand muß mich hüten, sonst zerbreche ich. – Aber auf diese anderen Menschen war ich irgendwie neidisch; nicht weil ich dachte, sie hätten mehr Kraft als ich, nein, sie könnten ihre Kraft Dir besser beweisen u zeigen. Nun ist’s mir aber, als ob etwas endlich in mir aufgesprungen, u ich im Stande sei, Dir doch einmal zu zeigen, was alles in mir ist. Und daher hab ich jetzt diese Menschen gern, wenn Du sie gern hast. Lerne u arbeite Du dort, u ich will hier an mir arbeiten in dem Trost bald wieder bei Dir weinen zu können, mein Freund, mein lieber Bruder, – ich hoffe wohl, du verstehst mich. Ich freu mich Dir alles zu bringen, was allein Du aufnehmen kannst.
Schreib, sobald Du kannst. Die Post wird lange dauern, u wenn ich weiß, daß dieser Brief in Deinem Besitz ist, schick ich Dir ein paar Tagebuchblätter u vielleicht auch Bilder. Hier hast Du meine Hand, mein Freund.
Dein Kind Deine kleine Seele
Reiling, Mainz · Kaiser Str. 34 1/10
Herrn Ladislaus Radványi · p. A. G. Th. Radványi · Wien XIX · Oesterreich · Sieveringer Str. 20
[MAINZ 17. 3. 21]
Mein Bruder! Ich weiß nicht, ob Du in Wien bist. Ich weiß nicht, ob meine Briefe zu Dir gelangen. Ich habe das Gefühl, in die Luft zu schreiben. Dazu schrieb mir Schaeffer, Du wärest so zerstreut abgereist, daß er fürchtet, es sei Dir unterwegs etwas zugestoßen. – Ich kann Dir garnichts schreiben, bis ich weiß, was mit Dir ist. Man hat eine Sache von mir (nicht die für Dich) sehr gut gefunden u will sie event. veröffentlichen. Mir ist es gleichgültig. Ich denke manchmal, ich kann ganz wunderschöne Dinge aus meinem Blute machen. Und weil ich die Dinge mache, verblute ich ganz langsam. Die Frage ist nur, soll ich im Stillen verbluten oder vor der Welt. Die Menschen, die nicht wissen, woraus man so ganz gehaltvolle Dinge macht, werden sich daran freuen u amüsieren oder schimpfen über so närrische Dinge, das ist das wenigste, worüber ich zu reden habe mit Dir, zu dem ich Vertrauen habe u der auf mich Acht gibt. Ja gib sehr acht, mein Bruder. Ich leide so sehr. Ich möchte mich bald ausweinen. […]
Dein auf dich bauendes Seelchen
[…]
Reiling · Norderney (Nordsee) · Haus Eils · Kaiserstr. 8
Herrn Ladisl. Radványi · bei G. Th. Radványi · Wien XIX · Sieveringerstr. 20
Norderney [April 1921]
Mein lieber einziger Tschibebruder! Ich fand Deinen Brief eine Treppe hoch auf dem Boden liegen, denn dorthin hatte ihn der Wind geweht, der sogar mitten im Haus Kleider u Bücher wegweht. Das Meer ist schon ein richtiges Herbstmeer. Mein Kind Rady, wenn Du hier wärst, würdest Du auch lächeln können u dieses Wasser gernhaben, denn die See ist von allen Unwirklichkeiten auch die tröstendste. Ich kann Dir garnicht verständlich machen, warum das so ist, aber bestimmt geht es Dir ebenso u bestimmt darfst Du die Nordsee nie ohne mich sehen, Brüderlein. Das Leben ist hier gesünder u natürlicher, aber was will das heißen gesünder u natürlicher? Die Wahrheit ist, daß es mir vielleicht nur angenehmer vorkommt, dadurch ist es auch nicht anständiger. Auf dem Rückweg gehe ich endgültig zur Unterredung mit With. Hier vergrabe ich mich in Denken u wohl bald auch in Arbeit, ohne mir ganz bewußt zu sein, ob das eine Flucht ist, eine Art angenehmes Leben nach innen? Immerzu suche ich Deine Hand u fasse sie. Und selbst in ganz kleinen Dingen, mein Freund. In diesem Buch Helianth gab es gestern abend eine sehr ekelhafte Stelle, ich fürchtete mich, in der Nacht gingen diese widerlichen Bilder nicht fort, ich sagte mir, »Rady, hilf« u dachte, jetzt gibst Du mir die Hand, ich wurde wirklich ruhiger. Dein Brief hat mich mit so warmem Dankbarkeitsgefühl erfüllt, nicht im gewöhnlichen Sinn Dankbarkeit, sondern diese Freude, die einem nur von einem einzigen Menschen kommen kann. Du verstehst mich schon. Ich denke oft, eines teils geht es mir schon garzu schlecht, andres teils noch garnicht schlecht genug. Ich brauche meinen Vater überall. Ich habe schon lange an Lili geschrieben, aus dem Gedächtnis gebe ich Dir das Wichtigste: Wenn wir überhaupt die Absicht hätten, in Beziehung zu einander zu treten, hätte das nur Sinn, wenn es mit Offenheit geschähe. Daß auch ich nicht offen wäre, u wenn hier ja, auch um Rady. Dann schrieb ich Verschiedenes über mein Studium u Arbeiten. Dann über das ihre. Ich fragte sie, ob sie auch praktisch mit Kindern arbeitet, in Horten etc., denn das sei für ihren Beruf das Wichtigste u. falle auf der Universität weg. Ich sagte ihr, daß ich traurig bin, weil Du nicht bei mir u daß ich dankbar bin, daß sie da ist, so schön u gut, wie Du sagst, u daß sie Dich so gern hat. Alles schrieb ich natürlich lieber wie hier, es gab auch einen langen Brief. – Mein Kind Rady, sind diese Menschen in Wien leidende Menschen, denen es schlecht ergeht? Sind es Menschen, die mir lieb wären, oder die mir trotz allem nicht wirklich wären, u wie sind sie Dir? Tschibili, ich weiß nun, daß Du fühlst, ich bin überall ganz bei Dir, Du fühlst alles was ich Dir sagen will u nicht kann. Kindli, sei nur zu allen sehr gut u gib sogar acht, wo du helfen kannst (auch darin sollst Du mich später führen) aber ganz zu innerst in Dir das Zimmerchen, das laß mir immer
Dein Kind
Reiling · Mainz · Kaiserstr. 34 1/10
Herrn Ladislaus Radványi · bei G. Th. Radványi · Wien XIX · Sieveringer Str. 20
Dienstag, 5. Apr. 1921.
Lieber Freund! […] In meinem äußeren Leben war während dieser Zeit nichts Besonderes, viel Häßliches, das ich schnell abschütteln will. Etwas Schönes, was mich freute u Dich auch noch freuen wird: Ich habʼ so etwas wie einen »alten Juden« getroffen. Er kommt aus Amerika, geht bald wieder hin u besucht uns vorher. Er ist ruhig u rein u gut. – Aber außer dem alten Juden gab es keine Menschen u hier gibt es nur Gespenster. Da ich aber keines bin, will ich es ertragen. Auch ich denke sehr viel über Dich u mich nach.
Lieber Bruder, ich hoffe jeden Tag Du zeigst Dein Kommen an.
Dein Kindlein
Reiling · Mainz ·Kaiserstr. 34 1/10
Herrn L. Radványi · Heidelberg · Pension Rolanda · Anlage 26
[MAINZ 1. 8. 21]
Lieber einziger Mensch! […] Jetzt ist es schon spät abends, ich liege im Bett. Lieber Freund, ich kann es noch nicht ganz verstehen, daß ich Dich morgen nicht sehen werde. Meine Eltern freuen sich sehr mich bei sich zu haben, sind lieb u ich gebe mir dazu Mühe. Alles ist eng u ich warte, daß es los schreit, aber alles bleibt still. Es ist mir zu Mute, als ob ich alles, was ich als wirklich sehe unter mich stampfen u totstampfen müßte. Ich bitte Dich, schreibe mir ein Wort zum Trösten. Ich habe auch so großes Heimweh nach meinem Zuhause, daß ich fürchte, schwer nachdenken u arbeiten zu können. Mein Kind, es ist möglich daß ich Donnerstag od. Freitag nach Frankf. fahre. Kannst Du u wann wäre dein Zug dort? Schreib das gleich u ich gebe Dir dann Bescheid.
[…] Meine Mutter ist traurig, da die ihrige krank ist u sagt mir, da es die alte Frau so einzig u allein freut, mich schön zu sehen, ich mich schön für sie machen sollte. Meine Mutter leidet viel um mich, ich weiß nicht, wie weit ich sie schonen muß, ich habe nicht die Fähigkeit, mich selbst auszudrücken, ich denke nur immer, ich müßte ein Wort erfinden, was alle aufspringen macht. Radyli, Tschibe ich muß jetzt im Augenblick wieder so weinen, daß ich besser schließe. Und Du wirst jetzt meine Hand nehmen, denke ich, denn wieder tue ich unsinnige Dinge vor Schmerz. Ich will aber schön werden, in Dich hineinwachsen u alles mit Dir leiden u mit Dir zu Gott gehen
Dein Kindlein
[…]
Reiling · Mainz · Kaiserstr. 341/10
Herrn L. Radványi · Heidelberg · Pension Rolanda · Anlage 26
[MAINZ 2. 8. 21]
Lieber, lieber Bruder! […] Ich muß es Dir, wenn es vielleicht auch etwas lächerlich klingt, schön nach u nach erzählen: Heute war Kleidertag, Anprobieren v. 11-½ 2, Berge von Kleidern. Ich schämte mich vor der armen Schneiderin u sagte ihr, daß es eine Schande sei 20 Kleider zu haben, wenn andere keine 2 haben. Aus irgend einem Grund kam dieser Satz zu meinen Eltern u was jetzt folgt, war ein schrecklicher Ausbruch ihrerseits, Vorwürfe, daß ich im eignen Hause ihr Ansehn untergrabe, daß ich egoistisch, hart u schlecht, weil nur in meine Ideen verbohrt sei, unfähig meinen Eltern zu Liebe etwas zu tun. Mein Vater habe seinen Lebenszweck dahin gesetzt, mir eine ruhige Zukunft zu geben, sich darum Jahrelang gemüht, ich sei im Begriff seinen ganzen Lebensinhalt zu zerstören. Er habe sich nun wie ein Kind gefreut auf diese Ferienwochen, auch diese Freude nehme ich ihm.
Von allem Dir das Wichtige: Meine arme Mutter weinte so sehr, war trostlos u gab mir zu verstehen, daß ich Stücke von ihrem Leben abreißen würde. Schlechtes, Schlechtes hat sie mir noch gesagt. Die arme Mutter ist unfähig die Idee zu verstehen, es ist unmöglich sie dazu zu erziehen. Wie weit geht, frage ich mich, meine Pflicht, vor ihrem Leben, das was ich für richtig halte, zurück zu stellen? Was tun, wenn sie irrtümlich zu Grunde geht, an dem was sie mich für Gott tun sieht.
Mein lieber, lieber Rady, du siehst, es geht mir nicht ganz wohl u die allerwirklichste, allereinfachste Wirklichkeit ist sehr schwer auf mir. Vieles ist mir völlig unklar, aber das ist totsicher: Du bist mein einziger Vater u. ich Dein einziges Kind, Du kannst auf mich bauen, wie ich auf Dich, wenn es auch noch so weh tut, ich denke an den Rady u werde ruhig. In Deinem Brief hab ich jedes Wort geküßt. Ja, wir werden uns schon die Zukunft erzwingen u dann wenn mir die Menschen auch noch so weh getan haben, Du wirst alles heilen. Du bist das einzige, was brennt u doch mein einzig, ganz einziges Heim ist
Dein Kindlein
Ich bin der kleine Peter
Das kleine Kind vom Rod,
U. wer mir das nicht glauben will
Der frag den lieben Gott.
Reiling · Kaiserstr. 34 1/10· Mainz
Herrn L. Radvány · Heidelberg · Pension Rolanda · Anlage 26
[MAINZ 3. 8. 21]
Mein lieber Bruder, liebes Kind Rady!
Hier im Elternhause ist noch immer alles niedergedrückt, u von Zeit zu Zeit versetzt man mir, bewußt oder unbewußt so kleine Fußtritte. Ich habe garnichts getan, was ich nicht verantworten möchte. Ich habe wiederum das Gefühl, die nächsten Menschen werden Gespenster u tun wie Gespenster u wenn ich nicht ebenso tue, weint meine arme Mutter bitterlich u wird krank. Manchmal denke ich, die Schuld liegt an mir, wenn ich die Menschen nicht anfassen kann, ein andres Mal denke ich, da ist gar nichts zum Anfassen. Mir ist so schlecht hier, alles ist so klebrig u süßlich. Du bist der einzige Mensch, den ich anerkenne. Lieber, guter Freund, schreib so oft Du nur irgendwie kannst, nicht, weil ich Dich sonst nicht fühlen würde, sondern weil so ein warmes Wort von Dir etwas Leeres in mir ausfüllt. Du siehst, auch ich schreibe meinem Väterlein. Ich rechne, jetzt sind es soviel Tage weniger von 6 Monaten bis der Tschibe kommt.
Arbeitest Du? Schreib viel darüber, ich werde Dir das nächste Mal schreiben, was ich nun arbeiten will (in Gedanken immer Deine Hand auf mir). Sonntag muß ich nach Marien-b.[ad], werde dann gleich Adresse schicken, u nichtwahr, Du versprichst mir, dann sofort zu schreiben, damit ich nicht unruhig zu sein brauche? Wann gehst Du nach Wien? Was machen meine Bücher? Bitte, schick auch die Photographien. Bruder, Bruder ich weiß 2 Dinge daß ich Dein Kind bin u daß mir schlecht geht
Dein Tschibe
[…]
Reiling · Kaiserstr. 34 1/10
Herrn L. Radványi · Heidelberg · Pension Rolanda · Anlage 26
[MAINZ 6. 8. 21]
Lieber Bruder Freund! Ich bin sehr froh über Deine Briefe, denn ich bin ganz allein. Deine Briefe sind das einzige, was mich hier freut. Der ganze Tag war voll Packen u Nähen, vor Nichtstun bin ich jetzt totmüde. Lieber Tschibe, ich lege jetzt meinen Kopf an Dich, – so! Ich versuche den ganzen Tag über so zu denken u zu tun, als ob ich sicher wäre mein Freund, mein Vater sieht es u will sich an seinem Kindlein freuen. Das soll auch in Mar.[ienbad] so sein. Hoffentlich ist die Clem gut zu mir. Heute hab ich ein Kurt-Wolff-Heftchen Gedichte von Jammes gelesen. Ich schicke sie Dir vielleicht, wenn sie da sind, obwohl Du Gedichte sonst nicht zu lesen pflegst u diese nicht einmal groß sind. Aber sie sind so schlicht u rein, daß Du diese 8 od. 10 doch lesen könntest. Mir sind am Liebsten:
»Gebet mit den Eseln ins Himmelreich einzugehn«
»Gebet seinen Schmerz zu lieben«
»Gebet einen Stern zu finden« – Sowie um mich Ruhe ist, will ich versuchen zu arbeiten. Ich muß achtgeben, daß meine Arbeits-Welt nicht zu einer Art Traumwelt wird, das wäre ganz falsch u dann wäre die Arbeit wirklich nur eine Flucht. Ich wünsche mir nur Ruhe u Kraft. Hilf mit Deinem Trost Deinem Kind ein wenig. In meinem ganz langen, neuen, schlichten Kleid hättest Du vielleicht Freude mich anzusehen. Darum habe ich weinen müssen, daß Du mich nicht ansehen kannst. – Paket 1 ist gekommen. Bitte, schreib was ich Euch alles schuldig bin, ich lasse alles von Frankf. schicken. Jetzt zahlen doch alles meine Eltern u die sind doch nicht schonungsbedürftig. Hier ist eins meiner Lieblingsbildchen. Ich bin die in der Mitte mit der Haarschleife. Mein Tschibe, wir wollen eins für das andre das Beste hoffen u wollen, dann muß es auch werden.
Dein Kind
Wenn Du irgend einmal mit etwas nicht zufrieden bist oder unklar sollst Du es gleich sagen.
Eben kam zufällig meine Mutter, wollte den Brief lesen. Ich weigerte mich, dachte dann aber nach u sagte: »Es gefällt mir nicht, daß Du ihn lesen willst, aber hier kannst Du ihn haben.« – worauf sie von selbst verzichtete. – Dies nur, damit wir auch die kleinen Alltäglichkeiten miteinander teilen können, wie in einem Hause. Natürlich liest niemand unsre Briefe.
Reiling · z. Z. Marienbad · Haus Windsor
Herrn L. Radványi · Heidelberg · Pension Rolanda · Anlage 26
[NÜRNBERG 8. 8. 21]
Liebes Brüderlein! Ich bin diese Nacht in einem Hotelzimmerchen in Nürnberg. Morgen werde ich erst in M.[arienbad] sein. Ich muß viel weinen, auch in diesem Augenblick, doch meine Eltern merken es hoffentlich nicht, denn ich habe mir vorgenommen, ihnen diese Ferienreise nicht zu verderben. Dieses Leben ist mir ganz zuwider, die Menschen unter denen ich nun leben muß auch, aber ich will diese paar Wochen der Mutter schenken. Wenn ich jetzt so leben würde, wie es richtig wäre, würde ich meine Mutter damit zu Grunde richten. Sie kann das Rechte nicht verstehen. Wenn ich es allem andern voranstelle, nennt sie das Eigenliebe. Ich ertrage dies Schwere, weil ich daran denke, daß Du, sobald es in Deiner Macht liegt, mir aus diesem Leben heraus helfen wirst. Wenn Du nicht mein einziger, teurer Vater wärest u ich Dein einziges Kind, das allein bei Dir ein Heim hat, so müßte ich mir selbst heraus helfen auf eine andre Art freilich. Wären wir doch schon wieder beisammen! Ich bin so allein, ich fürchte mich, nicht weil ich nicht auf Dich baue, sondern weil ich nicht verstehen kann, warum all diese Menschen solche Seelen haben. […] Hier ist eine anständige Kirche, eine richtige Peter von Ulm-Kirche, für die ich dankbar bin. Doch tut es mir weh, daß wir sie nicht miteinander sehen. Ich habe, fällt mir jetzt ein, die letzte franz. Version »L’annonce faite à Marie« erstanden! Hast Du sie, sonst bekommst Du sie auch? Lieber Bruder halte in Gedanken abends meine Hand
Dein Kind
Die Bücher kamen an.
Hast Du Pan gelesen? Haltʼ ihn nur, wennʼs Dir gefällt
Reiling · Marienbad · Haus Windsor
Herrn L. Radványi · Deutschland · Heidelberg · Pension Rolanda · Anlage 26
[MARIENBAD 9. VIII. 21]
Liebes einziges Tschibekind! Es ist hier ebenso schlimm, wie ich es mir vorgestellt habe, viele hundert Puppenmänner u ‑frauen, die von Caffee zu Caffee ziehen. Ich würde mich sehr schämen, darunter zu sein, wenn ich von meinem hiesigen Leben irgend ein Wirklichkeitsempfinden hätte. Ich habe aber kein Bewußtsein von dem was um mich herum vorgeht u von meinen Beziehungen dazu. In diesem Augenblick kann ich das nicht ändern, ich weiß ja nun auch, daß Du u was zu uns führt, wirklich ist, aber ich merke nun auch, daß, wenn früher meine Beziehungen zu den Menschen häßlich waren, ich mich deshalb ganz treiben ließ, weil ich nichts um mich herum anerkannte u meine Beziehungen dazu auch nicht. Jetzt erinnere ich mich sogar nicht mehr an alles, als an irgend etwas, was ich einmal ausgeträumt habe. Brüderchen, Rady, Dich fühle ich ganz, wenn auch in einem großen Schmerz. Schon tut alles weh u schon möchte ich bei Dir weinen. Ich bin so müde, aber wolle Du, mein Rady, u dann komme ich doch in Deiner Hand weit fort von diesem schrecklichen Leben. – Ich bitte Dich nun über etwas nachzudenken, was sehr wichtig ist: Wie können wir, bis wir uns wiedersehn uns am Besten in unsren Briefen helfen? Nämlich, Tagebuch ist für mich aus einem äußerlichen u. inneren Grund schwer. Äußerlich: Ich bräuchte dazu ein klein wenig Zeit u. Ruhe, hier sind beständig Leute um mich, Dir zu schreiben finde ich immer mit Mühe ein bißchen Alleinsein. Und dann: das Wesentlichste, das in einem vorgeht, kann man vielleicht schließlich aussagen, aber aufschreiben, so hart u so unwiderruflich? Du siehst, ich bin in großer Not, vielleicht ist es auch ein großer Fehler in mir selbst, antworte mir. Und sieh, alles was ich erlebe ist irgend eine Stufe von Schmerz, ob ich etwas Schönes sehe oder arbeite, ob man mir weh tut, ob ich sehe, daß man an etwas sich vergeht, lieber guter Bruder, wenn mein Vater Spaß hat an seinem neuen Mantel, wenn so ein Hund mit dicken Pfoten in der Sonne liegt, wenn irgendwo etwas Schönes ist, es trifft u tut weh. Soll ich Dir über alles berichten, wenn Du es richtig findest, gewiß. Ich will auch alles von Dir erfahren. Heute ist Dienstag, wann kommt dieser Brief zu Dir? Ich bin wieder voll großer Unruhe, da hier noch keine Nachricht von Dir ist. Brüderlein, ich bin so klein u muß schon ohne Vater sein. Lieber Rady, antworte auf alles u mach ein gutes Heim zurecht
Deinem Kind
Schreib bitte, bitte, schreib bitte schreib schreib bitte schreib schreib schreib
Reiling · Marienbad · (Tschechosl.) · Haus Windsor
Herrn L. RadvÁnyi · Heidelberg · Pension Rolanda · Anlage 26
[MARIENBAD 11. VIII. 21]
Lieber Freund! Liebes Brüderchen! Ich habe heute den ersten Brief bekommen, den Du mir hierher schriebst, u darüber nachgedacht. Es kommt Dir vielleicht garnicht zum Bewußtsein, etwas mir zu schreiben, was mich besonders zum Nachdenken bringen könnte. Ich rechne aber immer so, als ob Du bei mir wärst u ganz selten sprichst u dann horche ich auf: Liebes Tschibe ich meine: Ich habe schon als Kindchen immer eine gewiße Vorstellung gehabt, wie es ist, wenn man auf einen Menschen baut u wie es dem Menschen ist auf den man baut. Weißt Du, wenn man von einem Menschen seelische Hingabe wünscht, so muß diese etwas ganz Bedingungsloses, ohne Gegenanspruch sein. Wenn aber ein Mensch auf den andern bauen soll, so enthält das eine große Anforderung für den, der fordert. Lieber einziger Bruder, jetzt fürchte ich mich sehr, Du hast nun ein Gefühl, was mich traurig machen würde. Aber ich bitte dich sehr, hab das nicht. Ich bin ganz Dein Kind, ich denke nur immer u immer hierüber nach.
Was Deine Arbeit anbelangt, so ist es leicht möglich, daß ich, besonders brieflich etwas mißverstanden habe. Doch schien es mir nahe liegender für Dich, zuerst die erste Arbeit auszuarbeiten, denn, hängt die kleinere nicht vollkommen mit dem letzten Teil der größeren zusammen? Kindli, jetzt muß ich Dich fragen: Falls ich arbeiten kann u tue etwas u möchte es dir zeigen u dann darüber mit dir sprechen, wie läßt sich das (praktisch) machen. Es ist doch umständlich, wenn etwa ich immer alles doppelt abschreiben oder Du immer zurücksenden würdest. Beides schließlich, kein Unglück. Übrigens schick mir d. h. schreib mir soviel wie Du willst über Deine Arbeit, bitte Bruder! Außerdem muß ich dich fragen: Ich habe hier in dieser Umgebung so ein ekelhaftes falsches Unwirklichkeitsgefühl auch von dem, was ich selbst in Bezug auf diese Umgebung tue, u das quält mich. Obgleich es wohl seinen Grund in dem ganzen verkehrten Leben hat u für uns beide belanglos ist, quält es mich. Bitte, hilf mir, Tschibikindi! Hast du in Bezug auf mich etwas zu Sch.[aeffer] gesagt? Wann gehst Du nach Wien? Sag es mir rechtzeitig. Es würde mich freuen, wenn Du auf diesen Brief bald antworten könntest.
Kennst Du: Claudel, aus der Erkenntnis des Ostens. Ein kleines Insel-Buch, nichts Wichtiges. Soll ich Dir die l’annonce faite à Marie von hier aus Mainz [nach] Heidelb. schicken lassen, oder erst wenn ich wieder dort bin? Lieber Tschibebub, streich mir jetzt übers Haar, damit ich’s hier spüre
Dein Kind
Reiling · Marienbad · Haus Windsor
Herrn L. RadvÁnyi · Heidelberg (Deutschl.) · Pension Rolanda · Anlage 26
[MARIENBAD 15. VIII. 21]
Lieber einziger Freund Bruder! Ich schäme mich jetzt ein wenig, daß ich Dir diesen Eilbrief geschickt u von meiner Unruhe geschrieben habe. Ich hätte mich wohl beherrschen sollen, aber ich bin ganz allein u kann es nie abwarten, bis mein Brüderlein zu mir spricht. Heute (Sonntag) kam Dein Brief von Donnerstag. Lieber guter Rady, ich freue mich sehr, sehr; denn ich sage mir: Hier ist alles, alles schlecht. Aber inmitten u trotz dieses Schlechten habe ich einen wirklichen Bruder u Vater u Freund u ihm u mir in seiner Hand kann die Wirklichkeit nicht genommen werden. – Was diesen Satz angeht, den ich an Dich schrieb, so meine ich damit: ohne meinen Bruder, auf den ich endlich gestoßen bin mitten in diesem Leben, hätte ich es darinnen nicht aushalten können u hätte mir herausgeholfen, was freilich keine Hilfe ist sondern eine Flucht. – Du sollst Dir darum nun keine traurigen Gedanken machen. Alles tut weh, aber ich bin ganz bei meinem Tschibe, der mir ein Heim in sich bereiten u mich pflegen wird. – Dieses Gefühl von Unwirklichkeit, das ich gegenüber allen andren Menschen habe, ist auch deshalb schlecht, weil ich es selbst bei Menschen empfinde, die mir lieb u nahe sind. Ich kann aber nicht spüren u begreifen, daß ihre Seelen bei der meinigen sind. Ich fürchte manchmal, ich könnte dies Empfinden auch haben, wenn ich etwa mit Menschen zusammen käme, die du schätzt. Wärest Du da traurig über mich? Ich weiß nicht, wie weit Du selbst diese Menschen, die du schätzt (ich meine jetzt nicht deine Mutter od. Schwester) mit Deiner Seele fühlst.
Guter Tschibe, mir ist kalt hier unter all dem Fremden. Ich denke immer, mein Bruder hält meine Hand. Schreib mir einen kleinen Zettel, den ich immer bei mir tragen kann! Vergiß nicht, mir etwa Pläne Deiner Arbeit zu schicken, ich werde schon daraus klug. Diese Woche gehen mein Vater, ein alter Jude u ich in Audienz zu einem berühmten Wunderrabbi, dem berühmten Wunderrabbi, dem größten Talmudgelehrten. Er ist hier zur Kur u sieht aus wie ein Golem. Mir, weil ich eine Frau bin, darf er die Hand nicht geben. Mit dem alten Juden hab ich mich den ganzen Abend unterhalten: »bin ich gewesen unter lauter Goyims der einzige Jehudim, hab ich gefunden, wir sind der Sauerteig u das heilige Salz u ohne uns gehtʼs nicht« – hat er gesagt. – Lieber Freund Rady, glaub mir, wenn ich auch oft gehemmt bin, dies u jenes Dir zu sagen, so lege ich alles, alles in Deine Hand, in der Hoffnung, daß Du nach u nach Dein Kind vollkommen begreifen kannst. Ich sehe Dich uns hergehen, ich fühle wie Du traurig bist u ich habe dieses Dein schreckliches Leid schwer schwer auf mir liegen. In dieser Zeit kann ich mich nur vor Dir bewähren, doch nicht bei Dir sein u Deine Hand nehmen, wenn es Dir schlecht geht. Das tut mir weh, u in Gedanken tu ich das alles. Schreib oft u viel!
Dein Kind
Reiling · Marienbad · Windsor
Herrn L. RadvÁnyi · Heidelberg (Deutschl.) · Pension Rolanda · Anlage 26
21. Aug. [21]
Lieber, einziger Freund, mein Bruder! […] Wie ist das schwer zu leben u anständig zu leben, ohne ein Anrecht auf Freude. – Meine arme Mutter weint sehr. Die arme Mutter hat nicht viel Kraft u es schmerzt mich sehr, sie so weinen zu sehen, wenn auch um Geringes. Ich weiß noch nicht, ob es nur ein momentaner Gedanke von ihr ist, jedenfalls will sie lange unterwegs bleiben, die Arme, daher diese langen Reisen. Soll ich Dir davon schreiben, oder besser nicht, es ist ja nicht unsre Sache? – Liebes Tschibili, das Einzige, was mich freut an diesem schrecklichen Schlechtgehen ist, daß Dein Kind, hoffe ich, ein starkes Kind dabei werden kann. Das brauchst Du u ich, denn sicherlich, es wird uns beiden noch schlechter gehn als allen andren Menschen. […] Oft, wenn wir zusammen waren, habe ich mir viele Gedanken über Dich gemacht, die teils wohl, teils weh taten. Jetzt habe ich so Heimweh, daß darüber die übrigen Gedanken um Dich ganz zurücktreten. Immer denke ich, mein Bruder steht bei mir, u weil ich dadurch sehr verträumt bin, ist man oft sehr ungehalten. Dieses schlechte unruhige Leben hier ist mir in jeder Beziehung schlecht. Es ist möglich, daß ich Dir in einiger Zeit anstatt einheitliche Arbeit dies u das schicken muß, damit Du weißt worum es sich handelt, u dann deinem Kind raten u streng mit ihm sein kannst. Diese Unbeherrschtheit, diese Unmöglichkeit auf einem Punkt zu bleiben, ist, weißt Du, ein Fehler von mir, der daher kommt, daß ich an nichts, nichts genug habe. – Lieber Freund, lasse mich nur ja Deine Adr. wissen u mich nie ohne Nachricht. Du weißt, ich bin ganz hilflos, ganz arm, denn ich habe ganz rückhaltslos alles meinem Bruder geschenkt u nichts, nichts für mich behalten. Tschiboka, wie glaubst Du, wenn ich so vollkommen Dein Kind bin, meine Seele so ganz in Deine Hand in Deine Hand lege, u Du so ganz mein Vater bist, der das, was in seiner Hand ist, vollkommen pflegt u behütet, wenn wir so ineinander begründet sind, was meinst Du, werden wir dann auch in Zukunft Freude miteinander haben? Versteh wie ich das meine; denn natürlich in einem andren Sinn haben wir auch jetzt immer große Freude aneinander, nur daß diese in ebensolchem Maß ein Leid ist. Lieber bester einziger Bruder, u wie meinst Du, wenn wir so ganz eins für das andre die Verantwortung übernehmen können, glaubst Du, wir könnten das auch eines Tages für ein andres Wesen noch? – Aber Du weißt, Kind, ich will gar keine Freude haben, die Du nicht mit mir haben kannst. […]
Nun noch ein paar kleine Äußerlichkeiten: With hat mir ein kleines Buch von sich geschickt mit Gruß hineingeschrieben, (ich werde ihm dieser Tage schreiben, wann ich komme), mein Vater hat eine »Patie« für mich angetragen bekommen (reicher angesehener Israelit), eine gute Bekannte von uns war im Taunus ausgerechnet mit den Heidelberger Marschaks Bruder u Schwester zusammen, hat mit ihnen von mir gesprochen. – Diese Dinge, über die in einer Sekunde gesprochen wäre, ärgern mich ein bißchen im Schreiben. Soll ich sie Dir doch schreiben? […] Ich habe Claudel gelesen (hast Du ihn erhalten?) Die »Mittagswende« ist mir sehr lieb, fast wie »Verkündigung«, doch der »Ruhetag« schon etwas weniger, nicht so brennend u stark wie die andren. Ich bekomme jetzt schöne Bücher geschenkt, aber sei nicht ärgerlich, sie sind alle dein, wenn Du sie nur willst. Ich mache jetzt die Zeichnung zu einem Bücherkoffer, der ähnlich wie ein Bücherschrank konstruiert werden muß, u den man auch ebenso in seinem Zimmer aufstellen kann. Ich lasse ihn, wenn man mir mal Geld gibt, machen. Willst Du die Konstruktion sehen? Sie ist meine Erfindung, u findest du die nicht gut? Tschibe, ich rede Dir von solchen Dingen, u uns ist so weh. Aber nichtwahr, du kennst dein Kind u weißt, was hinter jedem Satz steht? Schick mir deine Wiener Adr.
Dein Kind
Reiling · Marienbad · Haus Windsor
Herrn L. Radványi · Heidelberg (DeutSchl.) · Pension Rolanda · Anlage 26
21. Aug. [21]
Mein liebes Kind Rady! Lieber Bruder!
[…] Ich fürchte so, daß ich, wenn ich bald wieder unterwegs sein werde (ich schreibe Dir rechtzeitig wann) Deine Adr. noch nicht weiß u Dir dann die meinige nicht gleich schicken kann. Ich habe gar kein Quartier mehr: Heidelb. Mainz, Marienb Norderney Hagen was weiß ich. Es betrübt mich nicht, es ist nicht wichtig. Nur, Kindli, bei dir hab ich ein Heim, u das tut weh, daß ich nicht in meinem Heime sein kann, Tschibe, mir ist so schlecht, daß ich vor allen Menschen ein Ekelgefühl habe. […] Alles andre werde ich Dir schön ausführlich schreiben, sobald es mir besser ist u ich kann, bis dahin immer nur ein paar Zeilen, mein einziger lieber Bruder, Vater, Bub u Freund u alles. Schick ein tröstendes Wort
Dein Kind
Reiling · Marienbad · Windsor
Herrn L. Radványi · Heidelberg (DeutSchl.) · Pension Rolanda · Anlage 26
22. Aug. 1921.
Lieber, einziger Tschibe!
Hast du den Claudel bekommen? […]
Tschibili, man sieht hier viel Schlimmes, ich weiß nicht, ob du gewohnt bist, es zu sehen. Gestern eine Spielergesellschaft, Männer u Frauen, u dazwischen ein ganz kleiner Bub, vom Vater mitgenommen, mischt die Karten, zählt das Geld, glüht ganz dabei, ein Gesichtchen wie ein kleines Frauenzimmer, nie mehr zu verkindlichen. – Lieber Freund, ich möchte Dir erst ausführlich von mir schreiben, wenn ich weiß, daß Du in Wien bist. Ich möchte Dir auch in einem Satz alles, alles Gute sagen, aber so etwas geht nicht, Du mußt es schon sehen an meinem Aushalten in dieser Probezeit, wie Du’s oft genannt hast. Du schreibst garnicht genug von Deiner Arbeit, Kindili. Tu das noch! Schreib alles!
Dein Kind
Reiling · Marienbad · Windsor
Herrn L. Radványi · Heidelberg (Deutschl.) · Pension Rolanda · Anlage 26
[MARIENBAD 22. VIII. 21]
Lieber einziger Bruder! Mein Kind! Heute am 22. kam Dein Brief vom 19, woraus man sieht, daß die Briefe von Dir zu mir viel länger dauern als umgekehrt. Mein lieber, lieber Tschibe, sooft ich von Dir höre, wird es mir leichter, ich werde sogar, wie mir scheint, weicher u besser davon, ein wenig verliere ich dann jenes Schmerzgefühl, das so schrecklich weh tut, daß ich gegen alles andre stumpf bin, u ein halbes Tier, denn ich bin noch nicht so stark, daß ich damit umhergehen könnte u mit dieser Last gütig sein. Liebes Kindili, ich frage mich immerzu, wie hängt dieser Schmerz mit Dir zusammen? Bin ich bei Dir, tut es weh, bin ich nicht bei Dir, tut es noch weher, fast garnicht zu ertragen. Ich will Wirklichkeit, u ich weiß außer uns nichts Wirkliches u wenn ich alsdann nicht ganz in meinem Heime sein kann, weiß ich mir nicht zu helfen vor Alleinsein, Du weißt ja, wie mich das Alleinsein quält, diese Einsamkeit in der Unwirklichkeit. Du kennst das ja auch. Und dazu kommt bei mir, als Frau, zu diesem Schmerz, daß die Hingabe der Seele gewissermaßen nur eine Aufgabe u eine Pflicht ist (u nichts Leichtes, sondern es gehört Mut dazu, u ich weiß sicher, daß es viel leichter ist sich nicht hinzugeben als ja, natürlich gilt dies nur für eine Frau) u dann die schreckliche Angst sich hinzugeben in dieser Unwirklichkeit! Du wirst mich verstehen, Tschibe, wenn auch geschrieben all dies etwas sonderbar aussieht. Du weißt, ich bin Dein Kind, in Deiner Hand. Ich kann jetzt über diese Dinge reden, weil mir heute etwas leichter ist. Wenn Du mir schreibst, das ist, als ob ich ganz allein dasäße u weine u auf einmal fühle ich wie mir jemand übers Haar streicht. Hab auch Dank für Deinen kleinen Zettel, Du lieber einziger Bruder Freund, Du! Manchmal denke ich, warum bin ich nicht ein kleines Kind mit Lust am Tanzen u Spielen, so ein wilder Bub, oder warum hab ich nicht mein Leid u nur mein Leid, ganz still, ohne Lust am Spiel u ohne Wildheit? Denn so ist beides da u schrecklich weh tut es sogar, wild sein u wild sein zu müssen mit diesem Schmerz in sich. Als Kind hab ich mich immer sehr gefürchtet vor dem Märchen »Die roten Schuhe«. Kennst Du das? Tschibefreund, Du hast mir vergessen zu schreiben, wann Du nun nach Wien gehst u was deine Adresse dort ist. Ich fahre Sonntag wohl von hier fort. – Ich war heute morgen mit einem recht lieben Mädchen zusammen. Meine Mutter war froh, sie will natürlich durchaus nicht, daß ich immer allein bin. Das Mädchen, eine nachdenkliche kleine Jüdin, ist gewohnt zu arbeiten u zu lesen, u also nicht so schlimm. Hierher kommen jetzt noch mehr ähnliche Leute, denn bald ist der internat. Zionistenkongreß in Karlsbad, ein sehr wichtiges Ereignis. Übrigens kann ich nicht besonders nah mit Frauen zusammen sein, glaub ich. Ich bitte Dich nochmals, Radyli, um eine Adresse in Wien, an die ich Dir schreiben kann; denn es wäre mir schrecklich von hier fortzugehen, ohne sie zu wissen. Ich werde nämlich, bis ich in Norderney angelangt sein werde, einige Tage unterwegs sein u könnte Dir dann keine Nachricht geben. Nichtwahr, Du schickst sie mir sogleich! Die Bände russ. Geschichte, wenn Du sie nicht sehr gern behalten magst, lege bitte zu Schaeffer, daß er sie mir schickt, wenn ich wieder zu Hause bin. Kennst Du noch: Mantje, Mantje Timpe Te? Lieber einziger Bruder, mein Kind schreib mir bald, alles in mir ist für Dich da, das denke ich immer
Dein Kind
Reiling · Adr.: Norderney (Postlag.) · z. Z. Marienbad
Herrn L. RadvÁnyi · Deutschl. · Heidelberg · Pension Rolanda · Anlage 26
[MARIENBAD 27. VIII 21]
Mein Kind Rady! Sonntag fahren wir also in 24 Stunden Tag u Nacht durch über Berlin nach Norderney – wahrscheinlich nicht über Hagen; denn ich konnte von W.[ith] noch keine Antwort haben. – […] Wenn ich auch zum Arbeiten selbst keine Ruhe habe, kann ich doch darüber nachdenken. Vielleicht will ich zuviel, wenn es das überhaupt gibt, denn ich denke immer: Wenn die Umwelt Schrecken verursacht, müßte da, das was man schreibt nicht den gleichen Schrecken mindestens verursachen?, denn es muß doch das Wesentliche der Umwelt bringen, ihren ganzen Schrecken in einem Punkt vereinigt, eben diesen Punkt, den man ausdrückt. Übrigens schreibe ich Dir aus irgend einem Grunde nicht gern über diese Dinge. Hier muß ich noch etwas überwinden, ebenso wie ich mich damals fürchtete u Dir nur mit viel innrer Mühe meine Modeliersache zeigte, zu der Du dann garnicht böse warst. Ich bin auch fast gewiß, daß wenn ich arbeite, Dir meine Arbeit sehr gefällt, Du mußt mir aber ein bißchen zureden, daß ich mich nicht damit verkrieche. Alles ist für Dich u, siehst Du, jemand anderes als Du, müßte jetzt lächeln, aber ich habe den festen Glauben, daß alles was für Dich bestimmt aus mir hervorgeht, sich schon als etwas Schönes u Wesentliches gestaltet. Meine Mutter macht eben eine Art Entwicklung in sich durch. Der Grund ihres Kummers soll sein: sie wüßte nicht, wo sie hingehöre auf meine od. meines Vaters Seite. Niemand habe sie nötig. Ich sagte ihr, daß man da nötig ist, wo man hilft. Worauf sie meint, niemand brauche ihre Hilfe. Ich sage, ich habe sie schon oft gebraucht, z. B. damals vor unsrer Abreise, als ich die große Auseinandersetzung mit meinem Vater hatte. (Erinnerst Du Dich?) Meine Mutter erwiderte: »dieses eine Mal hatte man eine Anforderung an Dich gestellt u Du hast versagt.« Ich: »allerdings, wenn man die Anforderung an mich stellt zu lügen, dann versage ich« usw. usw. – Tschibili, du merkst vielleicht an diesem Beispiel, wie solche Gespräche verlaufen. Denk nach, was ist da zu tun? Hör, Du mußt meine Briefe gut durchlesen, wenn ich sie auch in größter Eile schreibe u selbst nicht mehr durchlese, so bringe ich Dir doch darin immer nur Dinge, die mir am Tage brennend geworden sind, u bitte dann dich als mein Kind, meinen Vater, Bruder, Freund auch darüber nachzudenken u als Deine eigenste Angelegenheit anzusehen. Was mich auch oft beschäftigt, ist unsere seelische Beziehung Hingabe – Aufnahme, die vielleicht die meisten liebenden Menschen unrichtig nennen würden. Sie ist natürlich eine durchaus wahre u richtige, das ist mein Glaube. (Ich kann Dir jetzt nichts ausführen, wollte dir nur nennen, was mich beschäftigt) Ich lese ziemlich viel. Immer denke ich, dieses Aufnehmen in Zeiten, wo man aus irgend einem Grunde nicht selbst arbeiten kann, ist viel besser als Nichtstun. U. für wen schreiben denn anständige Menschen, wenn nicht für uns? Ich verstehe deshalb nicht ganz, warum Du nicht zuweilen liest, d. h. ich verstehe es, meine aber, Du solltest es doch zuweilen tun. Ich lese jetzt Briefe Karl Liebknecht u ein dreibändiges neues Buch Albr. Schaeffer der Helianth (Insel). Ich lese allerdings sehr sehr ungern ein Buch zum 1. Mal. Ich schreibe Dir eben zwischen 6 u. 7 Samstag früh im Bett. […] Du hast in Wien Menschen, die Dich ein wenig zerstreuen, ich bin mit meinem Leid ganz allein. Laß mich dabei sein, was Du denkst u tust. Schreib über Deine Arbeit.
Dein Kind
Reiling · Mainz · Kaiserstr. 34 1/10
Herrn Lasl. Radványi · bei G. Th. RadványI · Wien XIX · Sieveringer Str. 20
[MAINZ 16. 10. 21]
Lieber einziger Bruder! […] Ich habe Dir von den Leuten, die mit mir in Köln arbeiten schon soviel geschrieben, daß Du daraus merken kannst, sie sind oberflächlich. Dies ist mir um so abstoßender, als diese Dinge mit denen sie sich beschäftigen, den wesentlichsten Teil ihres Wesens ausmachen. Sie sind ja Männer u wenn sie arbeiten, arbeiten sie nur über diese Dinge. Ich selbst tue nun freilich alles andre, als mein Wesen auf diese Dinge richten. Dabei habe ich jedoch ein Gefühl, als ob ich die Dinge um Entschuldigung bitten müßte, weil ich mich ihnen nicht hingebe. Ich hoffe, daß ich mir den Stoff, der mir leider noch fast ganz fehlt u den ich im Museum brauche, rasch aneignen werde. Dabei fürchte ich, werden ich u die andren von sehr verschiedenen Stellungen aus an die Arbeit gehen. Wenn ich eine künstl. Arbeit sehe, so kann ich erkennen (u das ist mir wesentlich) was für eine Zeit ihrem Inhalt, ihrer Religion nach, es gemacht haben muß, einerlei ob es ein Götterbild od. ein Frauenakt od. eine Landschaft ist. Ich kann aber noch nicht aus Stilelementen die Zeit, die geschichtl. Zeit ablesen, weil ich noch keine Gelegenheit hatte, dies zu lernen. Ich habe über diese Fragen nachgedacht, daß der Künstler auf die Forderung sich zu der ihn umgebenden sichtb. Wirklichk. zu bekennen, durch eine künstl. Tat antwortet, die sozusagen seine Gegenforderung ausdrückt, d. h. er stellt dem Sichtbaren ein zweites Sichtbare gegenüber. Zwischen diesen beiden könnte nun eine ganz bestimme Anzahl Beziehungen sein, die sich auch genau ausdrücken lassen, u das eben ist es, worüber ich nachdenke.
[…] Ich bin immer bei Dir u bin ganz Dein Kind u gebe acht für Dich schöner zu werden
Dein Kind
Reiling · Mainz · Kaiserstr. 34 1/10
Herrn Lasl. Radványi · bei G. Th. Radványi · Wien XIX (Oesterreich) · Sieveringer Str. 20
[MAINZ 25. 10. 21]
Lieber einziger Bruder! Ich habe eben schon den Brief bekommen, worin Du schreibst, daß wir lieber miteinander meine Arbeit durchlesen wollen. Und ebenso denke auch ich, mein Radykind. Was den Schaeffer anbelangt, so geht es ihm innerlich sehr schlecht u äußerlich mäßig. Dieser Russe hilft ihm, ich schicke ihm (Mutter gibt mir dazu Geld) ein großes Eßpaket u werde das öfters tun. […] Es ist mir leid um ihn, ich habe bei seinem Besuch auch empfunden, seine Frau ist nicht angenehm. Mir scheint, er wird Dir alles schreiben. Dich u mich hat er gern. – Mein lieber Tschiberady, ich habe einen großen Wunsch, eine Bitte an Dich. Ich gehe am 1. November nach Köln (bei Frick Eifelstr. 33). Bitte, mein Kind, erfülle mir nun diesen Wunsch: Wenn es auch nur ein einziges Wort ist, schreibe mir nach Köln, damit ich dort ein Wort von Dir vorfinden soll (am 1. Nov.) u auch ein Wort hierher, damit ich es mitnehme, wenn ich weggehe. Ich bitte Dich, sei nicht ungehalten, daß ich Dich so mit der Post quäle, doch wenn ich ohne Nachricht bin, bin ich unfähig zu allem. Bitte, Brüderchen, sei nicht ungehalten über mich. […]
Was ich über Wien u Budapest lese, beunruhigt mich um Deinetwillen u auch, weil es mir an sich nicht gleichgültig ist. Es ist zuviel an Schlechtem u Widerlichen daran. Ich weiß nicht, ob die Dinge so sind, wie sie sich lesen ich bitte Dich, mir auch zu schreiben, wenn Du große äußerliche Unannehmlichkeiten hast. Und dann bitte ich Dich sehr, gib auf Dich acht, innerlich u äußerlich. […]
Mein Kind, ich fahre im Schreiben fort nach einer Pause, in der ich großen Streit mit meinem Vater hatte. Er erzählte mir ein häßliches Erlebnis, über das ich nicht lachen konnte, wie er, sondern mich ekele. Mir ist es, als ob man mich in einem fort schlagen würde. – Teurer Bruder, erfülle mir meine Bitten. Immerzu bin ich bei Dir u bin nur für Dich
Dein Kind
Reiling · Mainz · Kaiserstr. 34 1/10
Herrn Lasl. Radványi · bei G. Th. RadványI · Wien XIX · Oesterreich · Sieveringer Str. 20
[MAINZ 28. 10. 21]
[…] Mein liebes gutes Radykind, ich habe heute merkwürdige Beschäftigungen, nämlich einen chinesischen Glückwunsch, eine winzige Schriftrolle in seidnem Beutelchen, aufgerollt ist’s ein Buchzeichen, das ist für den Geburtstag meines Vaters. Willst Du auch eins gemacht haben? – Ich werde in Köln mich sogleich nach einem für Dich geeigneten Zimmer umsehen. Ich denke stets, Dir ein schönes starkes Kind zu werden
Dein Kind
Kennst Du Kleist?
Reiling (aus Mainz Kaiser Str. 34 1/10) · Adr.: bei Frick · Eifelstr. 33 · Köln
Herrn Lasl. Radványi · bei G. Th. Radványi · Wien XIX · Oesterreich · Sieveringer Str. 20
[MAINZ 30. 10. 21]
[…] Teures Brüderchen, mein Kind, ich möchte Dir noch etwas Wichtiges mitteilen, dazu, daß Du mit Freude fühlst, daß ich auf dich baue u Du mir glaubst. Rady, es ist wahr, ich habe auch Freude bei diesem Gedanken. Aber noch etwas ganz anderes als Freude oder überhaupt etwas anderes. Wenn es Freude ist, so ist es eine sehr sehr ernste schwere Freude. Ich habe keinen Vater, keinen Freund, keinen Bruder, kein Kind gehabt, u nun bist Du da, um das alles zu sein. Radyli, ich baue darauf, Du verstehst mich, wenn ich Dir etwas sage, was sich hier nur schwer ausdrücken läßt: Wenn ich an Dich denke, denke ich dabei auch an den Tod.
Mein Kind, es ist ebenso mit Deinem Kommen. Ich sehe nichts Wirkliches, außer Dir u mir. Dein Kommen ist etwas anderes als Freude, es bedeutet das einzige Mal, wo ich nicht allein bin, wo ich meine Seele verwerten kann, wo meiner Seele nicht weh getan wird. Du wirst mich verstehen, obwohl alles, was ich Dir davon schreiben kann, zu wenig ausdrückt. […] Ich werde stark sein u für Dich wachsen.
Dein Kind
[…]
Reiling bei Frick · Köln · Eifelstr. 33
Herrn Lasl. Radványi · bei G. Th. Radványi · Wien XIX · Oesterreich · Sieveringer Str. 20
[MAINZ 31. 10. 21]
Lieber einziger Bruder!
Ich habe Deinen Brief ganz rechtzeitig bekommen, denn morgen fahre ich nach Köln. Du bist gut zu mir; meine Mutter bringt mich nach Köln u hilft mir einrichten, denn ich habe dort sehr viele äußere Unannehmlichkeiten, weil ich mich im Museum einführen u auf 2 Universitäten einschreiben muß u die Entfernungen sind sehr groß. Köln ist so übervölkert u so voll, daß fast den ganzen Tag über Wagenfahren im Zentrum der Stadt verboten ist. Ich bin sehr froh, auch für Dich, daß ich ganz still u obgleich mitten in der Stadt, doch am Park beinahe wohne. Ich bin selbst sehr neugierig, was ich Dir in ein paar Tagen von dort erzählen werde.
[…] Mein Brüderchen, ich denke oft nach, daß es mir nicht immer ganz gelingen wollte, wenn ich innerlich ganz bei [Dir] war, dem Ausdruck zu geben, selbst wenn wir, wie in Heidelb. auch äußerlich beieinander waren. Ich wünschte sehr, diese Ausdrucksfähigkeit zu erhalten. Ich bin voll von dem, was ich Dir geben möchte, aber es ist möglich, daß ich zuweilen still sein werde. Ich will, daß unser Zusammensein beständig das größte u gründlichste Zusammensein ist, daß es ein beständiges Erlebnis, das keinen Augenblick aussetzt, sein soll. Ich will von diesem Zusammensein alles, deshalb bitte ich Dich sehr mir zu helfen, wenn ich durch eine Hemmung still sein werde, mein einziger Bruder, mein Freund, mein Kind, mein Vater. Denke bereits nach über alles, was wir miteinander schon zu wecken wünschten u worüber geredet werden muß. Ich bin beständig bei Dir u fühle, daß Du auch bei mir bist
Dein Kind
Reiling bei Frick · Köln · Eifel Str. 33
Herrn Lasl. Radványi · bei G. Th. Radványi · Wien XIX · Oesterreich · Sieveringer Str. 20
[CÖLN 5. 11. 21]
Lieber teurer einziger Bruder! […] Ich denke hier schon überall: hier werde ich auch mit meinem Bruder bald sein. Wohnung bekommst Du, der Museumskastellan hat mir auch versprochen, im schlimmsten Fall kannst Du sogar in seiner Wohnung schlafen, er hat ein Bett, welches leer in einem primitiven kleinen Kämmerchen steht. Doch finden wir noch Besseres. Ich werde heute immatrikuliert. Über die Leute hier usw. will ich Dir erst ein wenig später schreiben. Ich habe noch kein festes Bild. Ich will Dir jetzt noch über diese Vorarbeit schreiben, von der Du, Radyli, noch hören möchtest. Ich habe garnichts Schriftliches darüber, wenn ich Dir also jetzt davon erzähle, bitte ich Dich mir zu sagen, wenn ich garzu unklar oder oberflächlich erzähle.
Ich habe Dir, glaube ich, damals soweit davon geschrieben: – daß der Künstler die Forderung, sein Verhältnis zur sichtbaren Wirklichk. zu bekennen, derart beantwortet, daß er der Sichtbaren W. eine zweite Sichtbare gegenüberstellt usw. Zwischen der von dem Künstler vorgefundenen, ringenden, fragestellenden Wirkl. u der von ihr bei dem Künstler ausgelösten antwortenden Sichtbare bestehen folgende Möglichkeiten:
I Auf ihrem primitivsten Stand (dieses Primitiv ist nicht als das gewöhnliche unter Primitiv Verstandene gemeint. Es kann in seiner Form völlig un»primitiv« u völlig reif sein, denn zu ihm gehört die Antike) bemerkt die Kunst in dieser Wirklichk. nichts Gegensätzliches, Herausforderndes od. sogar Feindliches. Sie schiebt vielmehr diese W. ihrer eigenen unter, sie nimmt deren Erscheinungsformen für die ihre ohne weiteres an. Also ist ihre Sichtbare eine Wiederholung der vorgefundenen, im besten Fall eine Erfüllung der in der vorgefundenen enthaltenen Möglichkeiten (Griechen!)
II Während man sich im ersten Fall die vorhandene Wirklichkeit u die geschaffene als eine fortlaufende denken kann, d. h. die vorhandene bricht sich nicht an der des Künstlers, sondern bildet mit ihr eine Einheits-Sichtbare, – steht im nächsten Fall die künstl. Wirklichk. bereits isoliert in der umgebenden –
Mein Brüderchen, ich schreibe Dir lieber ein andres Mal weiter. Ich bin sehr müde u will lieber hiermit aufhören, als unaufmerksam weiter hierüber schreiben. Bitte, Kind Rady, teile mir mit, ob ich auch für Deinen Begriff Richtiges geschrieben habe. Es freut mich, wenn Du ein wenig Freude daran hast. Ich wünsche so sehr, wir säßen hier bereits zusammen. Ich war heute morgen sehr traurig, weil ich nachdachte über das Mißverhältnis zwischen dem, was ich tue u dem was ich tun müßte. Ich dachte, was soll geschehen, wenn die äußeren Faktoren so stark sind, daß ich meine Notwendigkeiten nicht erfüllen könnte, wenn auch ohne meine Schuld u dies mein ganzes Leben lang? Brüderchen, wenn ich das denke, bin ich sehr traurig. […] Ich habe Deine Schwester sehr gern u sehr Deine Mutter, obgleich ich sie nicht kenne. Diese würde doch gütig über mich denken? Mein Kind, bereite alles rechtzeitig für Deine Reise
Dein Kind
Reiling bei Frick · Eifelstr. 33 · Köln
Herrn Lasl. Radványi · bei G. Th. Radványi · Wien XIX · Oesterr. · Sieveringer Str. 20
[CÖLN 6. 11. 21]
Lieber einziger treuer Bruder!
Nun habe ich ein wenigst Angst, weil heute mein Eilbrief in Deinem Besitz sein wird. Mein gutes Brüderchen, sei nicht besorgt um mich, ich weiß, sobald ich Deine Hand habe, bin ich ruhiger. Mein Kind, wenn Du einmal Gelegenheit haben solltest mit meiner Mutter ein Wort zu reden, so würdest Du das viel besser u richtiger, wie ich, machen. U. sage mir, ich u. ich glaube auch Du, mein Kind, haben beide ein unangenehmes Gefühl, wenn wir genötigt sind mit manchen Dingen außerhalb uns, uns auseinanderzusetzen, müßte man nicht dagegen kämpfen? Du verstehst wohl, mein einziger Bruder, wie ich das meine. Und daß es mir nicht gut ist darüber auch nur zu reden, denn mir fehlt jedes Wirklichkeitsgefühl für alle Vorgänge außerhalb von uns. Ich bin auf Dich gegründet, Du bist mein Vater, u ich weiß daß dies recht ist. Ich habe nur bei Dir ein Heim. Ich setze mich ganz ein, zu Dir gut zu sein. Wenn außer Dir u mir auch alles gegen mich sein wird, so bedeutet das nichts, nur die Wirklichkeit bedeutet. Wir müssen versuchen, dies die Menschen zu lehren, die gegen mich sind. Können sie es nicht lernen, so ist auch dies ein Leid u ich will es nehmen. Sei Du für mich stark, freue Dich auf unser Zusammensein, es wird gut für uns sein, Bruder. – Meine Mutter sagte mir auch folgendes: Ich sei ärgerlich, wenn jemand meine Arbeit zu unterbrechen käme, ich würde aber nicht arbeiten, wenn Du hier wärest. Einziges Kind, wir wissen, das ist unrichtig. Im Gegenteil, ich werde auch im Bezug auf meine Arbeit viel mit Dir zu tun haben. Ich will mit niemand über meine Arbeit als mit Dir reden. Meine Arbeit ist nur bei Dir geborgen, lächle Du nicht über diesen Satz, denn so fühle ich es. Noch etwas, was Dich vielleicht freut. Meine russische Grammatik hat 30 Kapitel, u da ich bis jetzt wirklich täglich eines lernte, kann ich schon in einem Monat durch sein. Bis Du kommst, können wir also schon lernen, ohne daß es für Dich zu ermüdend würde. Was ich kunstgeschichtl. tue, ist so daß es Dich doch nicht ermüden wird, wenn Du mich arbeiten siehst. Ich arbeite für Dich, mein Kind, u ich werde freudig arbeiten, wenn Du nur nahe bist. Es ist eine ganze Abteilung asiat. Religionswissenschaft da. Aber das alles ist ja jetzt belanglos u selbstverständlich für uns. […] Ich fühle Dich ganz u auch Du fühlst mich ganz
Dein Kind
Reiling bei Frick · Köln · Eifelstr. 33
Herrn Lasl. Radványi · bei G. Th. Radványi · Wien XIX · Oesterreich · Sieveringer Str. 20
[CÖLN 7. 11. 21]
Lieber teurer einziger Bruder!
Ich habe heute nachmittag (Ich bin zu Hause u arbeite) ein schlechtes Angstgefühl. Ich bin allein, es gibt keinen Menschen um mich, niemand, der mich nur anhören kann, ich bin ganz allein. Ich wünsche, die Wochen bis zu Deinem Kommen, Bruder, wären schon um. […]
Noch einiges Äußerliche: Zimmer bekommst Du bestimmt. Ich habe mehrere Möglichkeiten doch hat endgültiges Mieten noch keinen Sinn wegen der Kommission. Mittags esse ich in Restaurants zwischen 8 u 14 M. Abendessen kauft man ein, nach Hunger u Geld. Übrigens hat mir mein Vater, ich weiß nicht recht, ohne Grund oder weil er mich von meinen Wünschen betreffs Lebensweise abbringen will, einen so hohen Kreditbrief gegeben, daß ich für den Winter 21000 M zur Verfügung hätte. Ich weiß nicht, soll ich lachen oder mich ekeln. Jedenfalls gebe ich nur fürs Notwendigste aus.
Einziger Bruder, mein Kind, umgib mich mit Deinen Gedanken, durchdenke, was mich betrifft, viel müssen wir darüber reden. […]
Dein Kind
[…]
[ohne Absender]
Herrn Lasl. Radványi · bei G. Th. Radványi · Wien XIX · Oester. · Sieveringer Str. 20
[CÖLN 8. 11. 21]
Lieber teurer einziger Bruder!
[…] Ich arbeite, d. h. bis jetzt schrieb ich noch nichts auf. Ich weiß noch nicht ganz, wie weit meine Kraft dazu ist, ob ich nicht zurückkomme durch Hemmungen, Nachlässigkeit usw. doch soeben kann ich arbeiten. Ich hatte heute eine kleine Freude, ganz unwesentlich, doch wirst Du sie verstehen, der Museumsverwalter, dieser Kastellan, (er hat eine kleine Wohnung im Museum) brachte mich zu seiner Frau, die mir, weil ich fror, Kaffee gab. Es hat sich nun so gemacht, daß ich bei diesen Leuten, eine hübsche, reinliche Frau ist es, u gutherzig sind sie, Mittag essen werde. Denn dieses Essen in den Restaurants, immer wo anders, immer fremde Gesichter, ist nicht ganz richtig. Hier ist es nun billiger u besser, u so liebe Leute vor allem. Ich will sie verwöhnen. Ich hoffe, es bleibt so. Sie suchen Dir auch Zimmer, wissen schon etwas.
