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Kann es sein, dass man sich in einem Raum voller Menschen befindet und sich trotzdem allein fühlt? Die fünfzehnjährige Lena hat ein Problem. Genauer gesagt sind es sogar vier: Maria, Tamara, Jonas und Tobi. Seit der fünften Klasse kämpft sie aufgrund ihrer Herkunft gegen Vorurteile. Da ihr niemand hilft, entwickelt sie im Laufe der Jahre eine zweifelhafte Strategie, um ihren Peinigern aus dem Weg zu gehen. Das ändert sich jedoch eines Tages schlagartig, als Lena von ihren Eltern gegen ihren Willen zu einer Jugendpsychologin gebracht wird. Dem Vorschlag der Ärztin, doch mal beim Training einer Mädchenfußballmannschaft mitzumachen, stimmt Lena nur widerwillig zu. Sie ahnt nicht, dass diese Entscheidung ihr bisheriges Leben für immer verändern wird.
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Seitenzahl: 225
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Mein Dank gilt an dieser Stelle allen Freunden, Bekannten, Verwandten, Kolleginnen und Kollegen sowie Jugendlichen, die mein Buch seit dem ersten Tag an begleitet haben. Ich wurde viel verbessert, aber auch gelobt und motiviert.
Danke auch an eben diese Menschen, die meinen ersten Roman auf Inhalt, Rechtschreibung und Zeichensetzung bis ins Detail korrigiert und mir dadurch zahlreiche arbeitsreiche Stunden beschert haben. Ohne eure Mithilfe wäre dies alles nicht möglich gewesen. Vor allem auch einen riesigen Dank an meine Frau, die mich bei der Gestaltung des Covers großartig unterstützt hat.
Viel Spaß beim Lesen!
Alle Figuren in diesem Buch sind frei erfunden und haben keinen Bezug zur
Realität. Sollte jemand Ähnlichkeiten bei sich selbst oder anderen Personen erkennen, so ist dies reiner Zufall.
Sollte man jedoch die Handlung nutzen, um an seinem Verhalten oder an seiner
Sicht auf die Welt etwas Positives zu verändern, so ist dies ausdrücklich gewollt.
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Nachwort
Liebe Leserinnen und Leser,
danke, dass ihr euch für dieses Buch entschieden habt. Es handelt sich hier um eine fiktive Geschichte, weshalb auch keine Ortsnamen genannt werden. Solche passieren jederzeit und überall. Egal, ob in der Schule, in der Familie oder im Beruf. Man stößt an Grenzen, die auf den ersten Blick unüberwindbar scheinen. Mauern, die zu hoch sind, um über sie hinwegzublicken. Doch das stimmt nicht! Es gibt keine Lebenssituation, die sich nicht ändern lässt. Das uralte Sprichwort „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ passt zu jeder Lebenslage. Niemand kann in euren Kopf schauen. Wie könnt ihr Hilfe erwarten, wenn ihr euch niemandem mitteilt, euch niemandem öffnet? Ohne Vertrauen können Menschen nicht existieren.
Ihr werdet im folgenden Buch die Geschichte von Lena kennenlernen. Sie ist ein junges Mädchen, das in ihrem Leben gefangen ist. Sie sieht keinen Ausweg. Nur durch die Hilfe ihrer Eltern, die eine Idee haben, die auf den ersten Blick überhaupt nicht fair ist, kann sie diesen Teufelskreis irgendwie durchbrechen. Zumindest versucht sie es. Ob es ihr gelingt, müsst ihr selbst herausfinden. Auf den ersten Blick mag euch die Geschichte und vor allem der Ausschnitt sehr kurz vorkommen. Das ist jedoch so gewollt. Ihr sollt erkennen, dass es keine Jahre benötigt, um Dinge zu ändern. Dass man nur mal nach links und rechts schauen muss, um eine Abzweigung vom alten Weg zu finden. Dieses Buch richtet sich dabei nicht nur an Kinder und Jugendliche. Jeder Mensch, egal in welchem Alter, stößt im Leben an Grenzen. Die Frage ist nur, ob man stehenbleibt, umdreht oder sie überwindet. Ist das Hindernis zu hoch, schafft man es nicht allein. Hat man aber andere Menschen, die einem eine Räuberleiter geben können, so ist eine zunächst riesige Mauer gar nicht mehr so groß wie man anfangs gedacht hatte.
Und jetzt lehnt euch zurück, taucht ein in einen ganz eigenen Kosmos, den vor allem die Erwachsenen schon lange vergessen haben könnten. Den Kosmos der Jugend, der Schule und der Probleme, die für uns, die diesen Ort nicht mehr besuchen müssen, scheinbar so klein und unbedeutend sind. Dabei ist wahre Größe nicht für das Auge sichtbar und wahre Probleme schon gar nicht.
Montag, nicht schon wieder! Wieso gibt es diesen Tag überhaupt? Gibt es keine andere Möglichkeit, in eine Woche zu starten? Kann man den Montag nicht einfach ausfallen lassen? Aber nein, dann wäre der Dienstag ja eben der Montag…keine Chance. Lena fixierte ihre Zimmerdecke. Kurz zuvor hatte sie ihren Wecker ein drittes Mal ausgeschaltet und war wieder eingedöst. Sie zog die Decke erneut bis zum Kinn hoch und überlegte.
Kopfschmerzen? Nein, das hatte ich erst letzte Woche. Meine Tage? Nein, auch das passt zeitlich nicht. Unterleibsschmerzen oder Übelkeit? Nein, dann behauptet wieder jemand, ich wäre schwanger…Durchfall! Das ist so peinlich, das denkt sich doch niemand aus.
Lena war kurzzeitig beruhigt und drehte sich nochmals zur Seite. Starrte die Wand an und überlegte weiter.
Da kann niemand was feststellen. Ich muss zwar zum Arzt, aber was soll der bitte machen? Er wird mich ja wohl kaum in seiner Praxis aufs Klo setzen. Innerlich musste sie kurz lachen. „Attestpflicht“ nannte man das in der Schule. Also jedes Mal, wenn sie krank war oder eben nur so tat, musste sie ihren Hausarzt, Herrn Meier, aufsuchen und dort ganz wie in Hollywood ihr Schauspiel abziehen. Das störte sie aber nicht. Herr Meier war schon sehr alt und gut mit ihrer Familie befreundet. Schon ihre Mutter und ihr Vater waren seit deren Kindheit bei ihm in Behandlung. Außerdem kannte er ihre Situation. Er würde sich niemals weigern, ihr ein Attest auszustellen. Warum auch? Er war kurz vor der Rente, wollte keinen Stress und bekam immerhin Geld dafür. Eine Win-win-Situation für alle. Dachte Lena zumindest. Dass es nicht wirklich korrekt war, war ihr natürlich bewusst. Mit 15 ist man ja schon praktisch erwachsen, allerdings war ihr das egal. Niemand kannte ihre Probleme wirklich und sie würde peinlich genau darauf aufpassen, dass das auch so bliebe. Darüber wollte sie jetzt aber im Moment nicht nachdenken. Der Plan stand!
Jetzt schön die Augen zusammendrücken und anstrengen. Dann werde ich schön rot und schwitze sogar ein bisschen. Da wird sich Mama schon Sorgen machen und mich sofort zu Doktor Meier bringen. Mal schauen, ob ich vielleicht drei Tage rausschlagen kann. Das wäre ein Traum. Großartige Diskussionen gab es sowieso nie. Ihr Vater war längst unterwegs zu seinem Job auf der Baustelle und ihre Mutter hatte gerade genug Zeit, um sie in die Schule zu fahren. Danach ging es direkt weiter zu ihrer Schicht in die Bäckerei im Supermarkt neben der Schule. Lena gehörte zu den Kindern, deren Eltern sie am liebsten mit dem Auto ins Klassenzimmer fahren würden, sich dann neben sie in den Unterricht setzen würden, um ihre Lehrer sofort zu korrigieren, falls diese Lena nicht rechtgeben würden. In der Pause dann einen Salat und ein stilles Wasser für das arme Kind kaufen und nach dem Unterricht sofort ins Auto und wieder nach Hause. So konnte nichts passieren. So war das Kind sicher. „Helikoptereltern? So ein Quatsch, nur weil ich mich um mein Kind sorge. Außerdem machen viele andere das auch.“ Diesen Spruch hörte Lena seit etlichen Jahren. Sie hatte aufgehört zu zählen und versuchte auch nicht mehr, ihre Mutter zu überzeugen, sie doch einfach mit dem Bus fahren oder laufen zu lassen. So hätte sie vielleicht mehr Kontakt zu den anderen Kindern haben können und alles wäre anders gelaufen. Aber wie gesagt, darüber wollte Lena gerade nicht nachdenken.
Die Tränen kamen jetzt allerdings von ganz alleine und damit auch der rote Kopf und die Schweißausbrüche.
„Mama! Mama, kommst du mal bitte?“ Lena versuchte, mit Absicht sehr schwach und krank zu klingen. Schneller als sie „Durchfall“ sagen konnte, knallte die Tür auf und ihre Mutter stand direkt vor ihr. Ihr Blick war wie immer. Eine Mischung aus Verzweiflung, Sorge und wahrscheinlich auch ein bisschen Wut. Lena kümmerte dies nicht.
„Was ist denn meine Kleine? Geht es dir nicht gut?“ Lena bemerkte, dass die Sorge diesmal wirklich etwas gespielt war und der Ärger doch überwog.
„Mama, ich war die ganze Nacht auf der Toilette. Ich habe Durchfall und Bauchschmerzen. Bitte, darf ich zu Doktor Meier? Er muss mir helfen.“ „Ich glaube, wir benötigen langsam einen anderen Arzt, der dir auf andere Art und Weise helfen kann.“ Lena schaute ihre Mama an, welche sofort bemerkte, was sie da gesagt hatte und beschämt nach Ausreden suchte. „Ich meinte natürlich einen Arzt, der dir gegen deine Schmerzen hilft. Sonst nichts!“
Lena wusste genau, was das eben wieder zu bedeuten hatte. Nicht schon wieder die Idee mit dem Psychologen. Sie hatte das Gefühl, nur von Ignoranten umgeben zu sein, die ihre Probleme einfach nicht verstanden. Aber nicht jetzt! Es musste schnell geklärt werden. Die Schule erwartete den Anruf der Eltern spätestens 30 Minuten vor Unterrichtsbeginn, sonst würde es wieder Ärger geben.
„Bitte Mama. Diesmal ist es wirklich schlimm. Ich gehe dann auch wieder regelmäßig in die Schule. Versprochen!“
Ihre Mutter dachte kurz nach und seufzte. Lena war erleichtert. Sie kannte diese Prozedur bereits auswendig. Ein kurzes pädagogisches Aufbegehren, dann die schnelle Kapitulation aufgrund von Sorge und Zeitnot.
„Ok. Aber bitte lass dich nur so lange krankschreiben, wie es auch wirklich notwendig ist. Du verpasst einfach zu viel. Denk an dein Zeugnis und an deinen Schulabschluss. Der ist doch bald. Aber jetzt werde erstmal wieder gesund, mein Schatz.“ Sie drehte sich um und ging zur Tür hinaus. „Ich rufe dich an, sobald Herr Meier mir einen Termin gegeben hat.“
Jackpot! Jetzt noch ne Runde pennen und dann vielleicht etwas zocken und chillen. Der Tag ist gerettet. Lena drehte sich zufrieden um, schloss die Augen und schlief kurz darauf ein.
Diesmal wurde Lena nicht von ihrem Wecker erschreckt. Sie freute sich beinahe auf den Arzttermin, da er ihr ja weitere freie Schultage bescheren würde. Es würde nicht lange dauern. Daher rein in die Klamotten, schnell Zähne putzen und los. Die Praxis von Herrn Dr. Meier befand sich in einem großen Ärztezentrum, welches nur fünf Minuten zu Fuß entfernt lag. Von ihrem Balkon aus konnte Lena es immer sehen. Wie eine Art Brückenpfeiler hob es sich von den anderen wesentlich kleineren Häusern ihres Wohnviertels ab. Lena lebte am Stadtrand. Es gab einen Supermarkt, einen Spielplatz, einen kleinen Park. Eben alles, was man so als Teenager benötigte. Zumindest die meisten. Hier lebten eher die Menschen, die der unteren Mittelschicht angehörten. Auch viele Mitschüler von Lena. Man konnte sich eine kleine Mietwohnung, einen Urlaub im Jahr, ein oder zwei bescheidene Kleinwagen und das Nötigste für den normalen Alltag leisten. Große Sprünge waren nicht möglich. Lena schaute auf ihr Handy, während sie die Haustür zuzog. Vor lauter Kratzern und einem fetten Sprung im Display konnte sie kaum etwas erkennen. Diese alte Gurke. Ich sollte es verlieren, vielleicht kauft Papa mir dann endlich ein neues. Bei der Sorge, welche sich Lenas Mutter immer machte, würden sie sie niemals ohne Mobiltelefon aus dem Haus lassen. Leider war ihr aber sofort klar, dass es dann eben wieder ein gebrauchtes Modell aus irgendwelchen Kleinanzeigen geben würde. Einerseits war Lena alt genug, das auch einzusehen. Andererseits war das Gesetz des Schulhofs hart und ein neues Smartphone war wie eine Eintrittskarte in ein besseres Leben. Zwar legte man auch Wert auf Klamotten und Schuhe, aber das heilige Handy war der Schlüssel. Das Markenzeichen für Geld und Wohlstand, ja sogar für den Charakter, den ja noch niemand kannte, wenn man sich das erste Mal traf. Meine Armut kotzt mich an! Warum bin ich in diese Familie geboren worden? Warum nicht wie zum Beispiel Maria in die Millionärsfamilie in der Villengegend der Stadt?
Keine Zeit über ihre Mitschüler nachzudenken. Lena schaute auf die Uhr. Sie musste noch drei Minuten gehen, es war aber bereits zwei Minuten vor 9:00 Uhr. Termine bekamen sie immer recht schnell. Reingehen, kurz schauspielern und dann samt Attest wieder nach Hause. Easy! Diesmal hatte Lena aber ein komisches Gefühl. Ging es heute früh zu einfach? Ihre Mutter gab immer nach, doch so wenig Gegenwehr hatte sie selten erlebt. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihre Mutter schon spät dran war und sich sinnlose Diskussionen ersparen wollte. Bevor Lena um die Ecke bog, stand sie vor dem riesigen Werbeschild des Ärztezentrums. Es gab einen Zahnarzt, den Hausarzt Dr. Meier, eine Augenärztin und sogar eine Psychologin namens „Dr. Martina Wünsch“. Obwohl sie noch nie bei einem Psychologen war, hasste Lena diese Ärzte. Zu oft war ihr seitens der Schule ein Besuch dort empfohlen worden. Vor ein paar Wochen fingen nun auch ihre Eltern damit an. Die paar Fehlstunden…was soll das? Als ob ich psychische Probleme hätte. Lena konnte es nicht fassen und begann schon wieder, sich innerlich aufzuregen. Was geht das vor allem die Schule an? Ich bin da Kundin. Meine Eltern zahlen Steuern und Materialgeld. Die Lehrerinnen und Lehrer bekommen ihr Gehalt praktisch von mir. Ich bin ihr Chef und kann machen, was ich will. Was für traurige Idioten! Lena musste grinsen.
Schulabschluss? Den schafft an meiner Schule sowieso jeder ohne Probleme. Und was danach kommt ist mir doch erstmal egal. Als hätte jeder Jugendliche bereits einen festen Plan fürs Leben. Und jetzt konzentrieren, die Show beginnt gleich.
Lena kam vor dem Haupteingang an und bekam den Schock ihres Lebens. Sie schloss die Augen kurz und machte sie langsam wieder auf. Eindeutig! Keine Einbildung! Direkt neben den Ärzteparkplätzen stand der Wagen ihres Vaters. Diesen armseligen Schlitten erkannte Lena auf mehrere Kilometer Entfernung. Der Lack nur noch matt erkennbar, überall Dreck und Kratzer. Alufelgen? Fehlanzeige!
Lena konzentrierte sich und starrte auf das Kennzeichen. Auch das stimmte. Keine Verwechslung möglich. Was will der hier?
Sie überlegte kurz und suchte für sich selbst eine Erklärung, die sie beruhigen sollte. Na klar, der ist selbst beim Arzt. Ist doch logisch. Gestern hatte er noch gehustet und sich über den Staub in seinen Lungen beschwert, den er täglich tonnenweise auf der Baustelle inhalierte.
Dass der Husten, der Schleim und das laute Stöhnen bei jeglicher körperlichen Belastung von den zwei Päckchen Zigaretten kommen könnte, die er täglich rauchte, kam weder ihm noch ihrer Mutter in den Sinn. Immer, wenn sie ihn damit konfrontierte, wich er aus und betonte nahezu predigend, dass man doch auch Freude im Leben haben müsse und wo er denn hinkäme, wenn er sich nun auch noch das Rauchen verbieten lassen würde. Schließlich trinke er ja kaum und immerhin hätte jeder Mensch ein Laster, was ihn schließlich umbrächte. Kaum trinken. Lena hatte keine Ahnung, ob drei bis vier Flaschen Bier am Abend wenig waren. Sie trank nicht. Alkohol schmeckte ihr nicht. Außerdem war er zu teuer.
Egal, sie hatte ihre Erklärung, war beruhigt und ging leicht gebückt in den großen, mit bunten Blumen verzierten Eingang hinein.
„Lena, mein Schätzchen! Komm rein!“ Doktor Meier hatte wie immer sein gütiges Lächeln aufgesetzt und erinnerte sie irgendwie an den Papst. Er konnte niemandem etwas Böses tun. In ihren Händen war er wie Wachs und sie konnte sicher sein, dass sie jedes Mal mit einem Attest und guten Genesungswünschen nach Hause gehen würde. Warum sollte es heute anders sein?
„Na, was fehlt dir denn diesmal?“ Er schaute über seine dicke braune Hornbrille und legte die Hände gefaltet auf seinen Schreibtisch. Lena schaute sich kurz um. Das kleine Zimmer war für Kinder gestaltet. Es gab eine Tapete mit gemalten Tieren darauf, bunte Möbel, ein paar Süßigkeiten. Was Lena hier sollte und warum sie nicht in einem Zimmer für Erwachsene sitzen durfte, fragte sie sich jedes Mal.
Egal, die Show beginnt. Sie legte wie gewohnt los, erzählte von der schlimmen Nacht, von Bauchkrämpfen, von Durchfall, von Schmerzen im Unterleib und von dem Gefühl, sich ständig übergeben zu müssen. Lena war Vollprofi. Sie sprach nur von einem „Gefühl“. Sicherlich kam es noch besser, wenn sie nicht so übertreiben würde. Nach gefühlten zehn Sekunden war sie fertig und schaute mitleidig zu Dr. Meier. Dieser saß unverändert da. Lebt der noch? Er scheint zu atmen. Gott sei Dank!
„Ok. Lena. Lass mich dich kurz abtasten und dann schauen wir weiter.“
Lena war es gewohnt. Es machte ihr nichts aus, nicht bei Dr. Meier. Er drückte auf ihrem Bauch herum, hörte sie ab und schaute in ihren Hals. Natürlich gab sie ein paar leise, aber doch schmerzerfüllte Geräusche von sich.
Oh Gott, bin ich heute gut. Das wäre der Oscar. Kurze Zeit später war er fertig und fing an, wortlos etwas auf seinem Computer zu schreiben. Lena hasste diese Prozedur. Der Monitor war bewusst so gestellt, dass nur der Arzt ihn sehen konnte. Je mehr er tippte, desto unwohler fühlte man sich. Sie kannte das ja alles. Dennoch kam es ihr diesmal länger vor als sonst. „Ist alles in Ordnung, Herr Dr. Meier?“
„Du musst dir keine Sorgen machen. Ich möchte nur alles genau erfassen, da du ja öfter bei mir bist. Da soll schon alles exakt dokumentiert sein.“ Er tippte weiter. Gefühlte drei Stunden später sah er zu seinem Drucker. Das war der Teil des Besuches, den Lena am besten fand. Das Gerät würde nun ihr Attest, also ihre Freikarte für drei Tage Urlaub, ausspucken. Meistens kam noch ein Rezept für irgendwelche Medikamente, welches Lena aber immer sofort entsorgte. Ihr fehlte ja nichts. Kerngesund. Körperlich und in der Birne. Warum sollte sie dann Tabletten nehmen?
Diesmal kam kein Rezept. Lena war froh. Normalerweise konnte sie nun gehen. Die Schulbefreiung erkannte sie schon an der Farbe. Jetzt her damit und los!
„Natürlich schreibe ich dich krank, Lena. Du scheinst eine stressbedingte Magenverstimmung zu haben. Nichts Ernstes. Ich würde dich dennoch bitten, kurz hier zu warten. Ich möchte noch etwas holen.“
Lena traute ihren Ohren nicht. Etwas holen? Was soll das nun bedeuten? Er stand wortlos auf und verließ den Raum. Er blickte ihr nicht in die Augen. Das war ungewöhnlich. Schämt er sich? Hat er was geplant?
Und wieder beruhigte Lena sich damit, dass er wahrscheinlich jetzt ein Rezept holen würde. Manchmal kam dies aus dem Drucker an der Anmeldung. Kein Grund zur Sorge. Das Attest lag bereits vor ihr, die Diagnose war gestellt. Was sollte jetzt noch passieren?
Lena hörte Schritte und die Tür ging auf. Sie wäre am liebsten aus dem Fenster gesprungen. Die Zeit blieb stehen und Lena dachte, ihren Herzschlag bis in den Kopf zu spüren. Wieder schloss sie die Augen, wartete kurz und öffnete sie erwartungsvoll wieder. Verdammt! Vor ihr standen Dr. Meier, ihre Mutter und ihr Vater sowie eine ältere Frau in weißem Kittel und mit weißen Schuhen an ihren schmalen Füßen. Sie war die Einzige, die Lena neugierig anschaute. Alle anderen blickten betreten auf den Boden. Lena war geschockt. Was sollte das? Wer war die Frau?
Lena nahm sich die Zeit und musterte sie genau. Graue Haare zu einem Dutt gebunden. Grüne Augen hinter einer Brille mit schmalem Gestell, die leuchteten und sehr eindringlich waren. Fast wie eine Art Röntgenblick. Sie war braun gebrannt und sah wirklich nett aus. Lena schätzte sie auf Ende 50. Als sie mit ihren Augen weiter runter wanderte, blieb sie an dem Namensschild der Frau hängen, welches alle Mitarbeiter des Zentrums trugen.
Dr. Martina Wünsch… Lena überlegte. Wo hatte sie diesen Namen schon mal gelesen? Es dauerte nicht lange, bis der zweite Schock einsetzte. Das war ein weiterer Name, der auf der großen Tafel vor dem Eingang stand. Das war die Psychologin. Genauer gesagt, die „Kinder- und Jugendtherapeutin“, wie es auf dem Schild abgedruckt war.
Lena konnte es nicht fassen. War das eine Falle gewesen? Was hatten ihre Eltern damit zu tun? Was Dr. Meier? Erneut verging eine Ewigkeit, bis sie reagieren konnte. Sie wollte sich aufregen, ihre Eltern zur Rede stellen. Dr. Meier anschreien und die Ärztin aus dem Raum werfen.
„Mama?“ Das war das einzige Wort, was ihr fragend über die Lippen kam. Noch immer schaute ihr niemand wirklich ins Gesicht.
„Lena, ich bin Frau Dr. Martina Wünsch. Keine Panik. Dich hat hier niemand reingelegt. Niemand möchte dir schaden. Deine Eltern und dein Arzt machen sich sehr große Sorgen um dich und wir möchten dir alle zusammen helfen. Hast du Lust, dich kurz mit mir zu unterhalten? Ganz ohne die anderen?“
Lena wusste nicht, was sie erwidern sollte und war immer noch sprachlos. Nun fing ihr Vater an zu sprechen. „Meine Kleine, es tut uns sehr leid, aber wir hatten Angst, dass du nicht mitkommen würdest, wenn wir es dir vorher sagen. Du hast es ja immer verweigert. Sei uns nicht böse.“
Mieser Heuchler. Das zahle ich dir heim. Lena hatte sich wieder gefasst und überlegte, wie sie die Situation verlassen könnte, ohne sich mit der Ärztin unterhalten zu müssen.
„Mir geht es nicht gut. Ich muss ins Bett. Fragen Sie Herrn Dr. Meier.“ Dieser schaute sie nun ernst an und schüttelte langsam den Kopf. „Lena, dir fehlt körperlich nichts. Du bist kerngesund. Deine Probleme kommen woanders her und das wollen wir ab heute angehen. Sei dankbar.“
Dankbar sein….für Hochverrat? Für die Tatsache von meinen Eltern und meinem Arzt hintergangen worden zu sein? Ok, spielen wir weiter. Auch Frau Dr. Wünsch wird irgendwie zu knacken sein.
Lena stand wortlos auf und verließ mit der Psychologin den Raum. Sie vermied es bewusst, die anderen anzuschauen. Strafe muss eben sein. Sie würde ihnen schon zeigen, dass man so etwas nicht macht.
Ein kurzes Gespräch, ein bisschen Schauspiel. Sie ist eine Frau. Sie wird mehr Verständnis haben als der alte, blinde Arzt. Lena musste schon wieder innerlich grinsen, während sie die grauen Stufen nach unten in die Praxis von Frau Dr. Wünsch lief.
Maximal zehn Minuten, dann bin ich hier wieder raus und kann mich ins Bett legen.
Wie eine Maus aus ihrem Mauseloch spähte Lena vorsichtig, aber auch neugierig zur Tür der unbekannten Räumlichkeiten hinein. Sie staunte nicht schlecht. Im Gegensatz zur etwas angestaubten und nicht mehr wirklich zeitgemäßen Praxis von Dr. Meier war bereits der Eingangsbereich samt Rezeption sehr geschmackvoll. Der helle Holzboden harmonierte perfekt mit den cremefarbenen Wänden und den dezenten Bildern an der Wand, die alle Natur als Thema zu haben schienen. In den Ecken standen grüne Pflanzen und sogar ein Wasserspender.
Lena hatte sich eine Psychologenpraxis immer ganz anders vorgestellt. Dunkel, mit alten Möbeln wie sie bei ihrer Oma im Wohnzimmer standen und muffig rochen. So kannte man es eben aus Serien und Filmen.
„Folge mir bitte.“ Frau Dr. Wünsch berührte sie leicht an der Schulter und steuerte direkt das erste Zimmer im kleinen Flur an. Auch hier war es sehr angenehm. Eine große Fensterfront erleuchtete einen weißen Schreibtisch und eine hellbraune Liege, neben der ein monströser, bequemer Sessel in der gleichen Optik stand. Ein riesiges Regal mit zahlreichen Büchern wurde flankiert von zwei eindrucksvollen Palmen, die aussahen, als hätte man sie direkt an einem Strand ausgegraben und per Flugpost hierher verschickt.
„Du kannst dich gerne auf das Sofa legen oder dich an meinen Tisch setzen, Lena. Ganz wie du magst. Wir wollen hier keinem Klischee entsprechen, daher stellen wir das jedem Patienten frei.“
Lena setzte sich nach kurzem Zögern verlegen auf die Couch und ließ sich dann doch nach hinten sinken. Das Leder war nicht kalt, wie sie befürchtet hatte und bescherte ihr ein Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit. Angst hatte sie keine mehr, nur am Tisch platznehmen wollte sie nicht. Zu förmlich.
„Du bist sicherlich enttäuscht und wütend auf deine Eltern und auf Herrn Dr. Meier. Vielleicht auch auf mich. Das ist ok und verständlich. Ich würde mich allerdings freuen, wenn du mir eine Chance geben würdest. Alles, was wir hier besprechen, bleibt unter uns. Weder deine Eltern noch deine Lehrkräfte erfahren etwas von mir. Genaugenommen mache ich mich sogar strafbar, wenn ich etwas verraten würde. Das nennt man ärztliche Schweigepflicht.“ Sie lächelte kurz, bevor sie ihre ersten Fragen stellte. „Du heißt Lena, gehst in die neunte Klasse einer Gesamtschule und bist 15 Jahre alt. Ist das korrekt?“ Lena nickte. Woher wusste sie das?
Die Ärztin fuhr fort. „Ich habe von deinen Eltern erzählt bekommen, dass es dir oft nicht gut geht und du dich sehr oft krankmelden lässt.“ Lena nickte erneut. „Nach Rücksprache mit Herrn Dr. Meier haben wir die große Sorge, dass es sich bei deinen Krankheiten nicht um körperliche, sondern eher um seelische Symptome handelt. Verstehst du, was ich meine?“ „Ja, Sie meinen ich wäre eine Psychopatin. Ich würde alles bewusst vortäuschen, weil ich keinen Bock auf Schule habe.“ Lena wusste genau Bescheid, aber nicht mit ihr.
„Nein, das denkt niemand und du täuschst auch nichts vor. Du hast diese Symptome wirklich, nur, dass eben keine körperlichen Ursachen zugrunde liegen. Ganz einfach. Und ich kann dir versichern, dass ich sowas täglich erlebe. Es ist nichts Schlimmes und leider auch absolut nichts Besonderes. Vielen Jugendlichen in deinem Alter geht es so und oft kann ihnen niemand helfen…außer Menschen wie ich. Zumindest versuche ich das.“ Sie lächelte erneut und man konnte Lena ihr Erstaunen ansehen. „Es gibt viele Kinder mit diesen Problemen?“ Lena wirkte ungläubig, aber gleichzeitig irgendwie interessiert.
„Ja, klar. Wie könnte ich mir sonst diese Praxis und meinen Porsche leisten?“ Jetzt musste sie laut lachen und Lena kicherte kurz mit. Irgendwie ganz nett, diese Frau Wünsch. Herr Dr. Meier war auch nett, aber eben nicht so lustig und verständnisvoll. Moment, Vorsicht! Schleimt sie sich vielleicht bei mir ein? Macht sie auf gute Freundin und reitet mich dann noch mehr rein? Ich bei einer Psychologin, das würde passen! Ein gefundenes Fressen für die Mädels aus meiner Klasse - also Achtung!
Es war, als hätte die Ärztin ihre Gedanken gelesen. „Wie gesagt, du kannst mir vertrauen. Ich möchte dir wirklich helfen und niemand wird etwas aus unseren Gesprächen erfahren. Versprochen!“
Lena blieb skeptisch, wollte ihr aber zumindest eine Chance geben. Sie würde nicht zu viel erzählen. Nur ein bisschen, um den Eindruck zu erwecken, dass sie mitmachen würde. Mama und Papa hatten sicherlich eine Menge Geld bezahlt und das war bei deren Gehalt etwas, was Lena ihnen doch irgendwie hoch anrechnete. Wahrscheinlich hatten sie deshalb dieses Jahr auf einen Urlaub verzichtet und betont, dass man doch auch zuhause Spaß haben könne. Lena war es dann letztendlich zu verdanken, dass sie die zwei Wochen hauptsächlich in der Wohnung verbrachten als am Badesee in der Nähe.
„Da wir heute nur eine halbe Stunde haben, würde ich vorschlagen, dass du mir zuerst von deinen Hobbys erzählst und von deinen Lieblingsfächern.“
Lena überlegte kurz und war sich nun sicher, zumindest die erste Sitzung mitzumachen. Die Fragen waren ok und hier konnte sie sich nicht blamieren.
„Ok. Also, ich spiele sehr gerne mit meinem Handy. Konsolen können wir uns nicht leisten und raus gehe ich nicht so gerne. Brettspiele sind mir zu langweilig.“
Die Ärztin machte sich ein paar Notizen und nickte kurz. „Was für Spiele spielst du denn am liebsten?“
„Ach, alles, was umsonst ist. Meistens muss ich sehr lange warten, da ich es mir nicht leisten kann, Geld im Spiel auszugeben, dass es schneller geht. Daher zocke ich immer mehrere Games gleichzeitig. Ich pflege gerne meine Farm, springe über Hindernisse und sammele Münzen ein oder bringe bunte Steine in eine richtige Reihenfolge. Dazu schaue ich gerne Serien oder eben alles, was so gerade läuft. Ist mir eigentlich egal was. Hauptsache der Fernseher ist an, dann habe ich die beste Unterhaltung. Sonst habe ich keine Hobbys. Wir können uns eh nichts anderes leisten.“
„Machst du keinen Sport oder würdest du nicht gerne in einem Verein mitmachen so wie deine Freundinnen?“
Lena schüttelte den Kopf und sah auf den Boden. Sollte sie jetzt schon ehrlich sein? Sich direkt vor der fremden Ärztin demütigen? „Nee, Sport mag ich nicht. Könnten wir nicht bezahlen und Freundinnen brauche ich nicht. Ich spiele lieber allein, dann lenkt mich niemand ab.“ „Ok. Verstehe.“
Jetzt war Lena wirklich überrascht.