Ihr sollt den Fremden lieben - Alfred Bodenheimer - E-Book

Ihr sollt den Fremden lieben E-Book

Alfred Bodenheimer

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Beschreibung

Rabbi Klein ist Gast in einer Fernsehshow. Ausgerechnet in seinen Armen stirbt wenig später der Moderator. Lejser Morgenroth, der eifersüchtige Freund des Toten, war am Tatort und hat ein Motiv. Verzweifelt bittet er Klein um Hilfe. Gegen den Rat seiner Frau Rivka will der Rabbiner das Verbrechen aufklären und trifft dabei auf eine junge Muslimin, einen katholischen Priester, einen Jungunternehmer und dessen atemberaubend schöne Frau. Dazwischen streitet er mit seinen Schabbatgästen, die drastische Ideen zur Bekämpfung der Feindschaft gegen Juden vertreten. In seinem vierten Krimi bringt Alfred Bodenheimer den gelehrten und beharrlichen Rabbi an seine Grenzen.

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Seitenzahl: 214

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Mit seiner strenggläubigen Familie hat der Modedesigner Lejser Morgenroth vor vielen Jahren gebrochen – seine offen gelebte Homosexualität hat ein Tabu des orthodoxen Judentums verletzt. Nun wurde sein langjähriger Freund, ein beliebter Fernsehmoderator, ermordet, und die Polizei hat Lejser in Verdacht. Gegen den Rat seiner Frau Rivka lässt der Zürcher Rabbiner Gabriel Klein sich von ihm einspannen und trifft bei seiner Suche nach dem Mörder auf eine junge Muslimin, die um ihre Freiheit kämpft, auf einen katholischen Priester, der auf Umzugskisten sitzt, auf einen Jungunternehmer und dessen atemberaubend schöne Frau. Dazwischen streitet er hitzig mit seinen Schabbatgästen, die drastische Ideen zur Bekämpfung der Judenfeindschaft vertreten, und er versucht, Lejser wieder mit seinen Eltern zusammenzubringen. Nachdem er der Kommissarin Karin Bänziger bei der Ermittlung geholfen hat, wünscht er bald, er hätte sich mit diesem Fall nie befasst.

Nagel & Kimche E-Book

Alfred Bodenheimer

Ihr sollt den Fremden lieben

Rabbi Kleins vierter Fall

Nagel & Kimche

Für Myriam

1

Eine Sekunde lang herrschte vollkommene Ruhe. Das Publikum war fassungslos. Dann brandete ein eigenartiges Geräusch auf, eine Mischung aus Pfiffen, Gemurmel, Gelächter und vereinzelt Applaus. Bernhard Russi, die schön gealterte Schweizer Sportikone, lächelte schief. Der junge Moderator Kim Nufener schien entschlossen, den Augenblick wirken zu lassen, und ließ die Arme scheinbar entspannt neben seinem Drehsessel hängen.

Gabriel Klein wusste auch nicht genau, was in ihn gefahren war, diesen Satz auszusprechen. Von Sapporo 1972 war die Rede gewesen, dem olympischen Abfahrtsrennen, das Klein als Bub am Fernseher in Schwarzweiß mitverfolgt und das Russi gewonnen hatte. Einige Ausschnitte aus dem Rennen waren gezeigt worden, und Klein war als Gast der Sendung «Weisch no?» aufgefordert, drei Sätze zu sagen, die ihm dazu durch den Kopf gingen. Dasselbe war auch von den anderen Teilnehmern verlangt worden, und das Publikum hatte zu entscheiden, wer den besten Kommentar abgab. Ein Sendekonzept wie aus den Siebzigern, da hatten die Kritiker recht.

Zwei Sätze hatte Klein zum Besten gegeben. «Das Rennen habe ich damals mitten in der Nacht bei meiner Großmutter geschaut. Sechs Wochen später haben wir sie beerdigt.» Einen Augenblick lang beschlichen Klein Zweifel, ob es richtig war, den Tod seiner Großmutter zu missbrauchen, um seinem Auftritt mehr Dramatik zu verleihen. Denn es war nicht so, dass er sie bei dieser Gelegenheit das letzte Mal gesehen hatte, bevor sie an einem plötzlichen Hirnschlag starb. Seine Familie und er hatten sie fast jeden Schabbat nach dem Gottesdienst besucht. Außerdem stand ihr Tod in keinerlei Zusammenhang mit Russis Sieg. Der war seiner Großmutter gänzlich gleichgültig, sie hatte das Rennen auch nicht angeschaut, sondern tief geschlafen, während Gabriel und seine zehn Jahre ältere Schwester Esthi mitfieberten und den Kuchen futterten, den die Großmutter für sie gebacken hatte.

Doch Klein konnte sich nicht lange mit seinen Skrupeln beschäftigen, denn nun kam der nächste Satz: «Eins der Ereignisse, die in knapp zwei Minuten ein Leben verändert haben. Und vielleicht sogar das ganze Land.» Das klang kühn, und die Leute hörten so etwas gern. Und dann flutschte ihm der dritte Satz über die Lippen, als hätte er schon ewig herausgewollt: «Aber Collombin war bei weitem der komplettere Skifahrer als Russi.»

In Esthis Zimmer hing damals ein großes Poster an der Wand, Roland Collombin mitten im Rennen, und der Satz mit dem kompletteren Skifahrer war ein wörtliches Zitat von ihr. Als Teenager stand sie damals wenige Jahre vor ihrer Auswanderung nach Israel, wo sich ihr Interesse für Männer, die, in windschlüpfrige Anzüge gepresst, das Lauberhorn oder die Streif hinunterbretterten, in Luft aufgelöst hatte.

Wäre er nach diesem Abend nochmals gefragt worden, wieso er überhaupt von Collombin geredet hatte, der in Sapporo die Silbermedaille holte und für einen Schweizer Doppelsieg sorgte, hätte Klein kaum eine rechte Antwort gewusst. Weil kein Mensch mehr von Collombin sprach? Weil er fand, dass seine Antwort kompetent und originell klang, ohne wirkliche Kenntnisse zu erfordern? Weil es ihm ersparte zu erwähnen, dass der eigentliche Champion jener Skisaison der Österreicher Karl Schranz gewesen war, haushoher Favorit, ausgeschlossen von der Olympiade wegen des Logo-Aufdrucks einer blöden Kaffeemarke auf seinem Fußballtrikot? «Amateurregel» hatte man das damals genannt. Keine der Antworten wäre richtig gewesen. Vielmehr wollte Gabriel Klein sich mit diesem Satz am Vorstand seiner Gemeinde rächen, der ihm diesen peinlichen Auftritt eingebrockt hatte. Als Bestandteil einer Imagekampagne für das Zürcher Judentum, den nur er übernehmen konnte, wie der Vorstand behauptete. Oder es war der Preis, den der Vorstand für ein Sabbatical einforderte, das ihm im Jahr zuvor gewährt worden war. Dies jedenfalls vermutete seine Frau Rivka.

Wie zu vermuten war, verlor Klein die Zuschauerabstimmung haushoch. Er wurde mit dünnem Applaus und einem Trostpreis bedacht, dem silbernen «Nufi», einer Gummifigur mit dem karikierten Gesicht Kim Nufeners. Allerdings musste er hinter der Bühne den Rest der Sendung abwarten, um am Ende mit allen Gästen nochmals winkend durchs Studio zu laufen. Mehr Siebziger war nie. Der nostalgische Grundton der populären Sendung «Weisch no?», das hatte längst auch das gehobene Feuilleton bemerkt, ließ tief in die Schweizer Seele der Gegenwart blicken.

Immerhin war die knappe Stunde, die er bei Getränken und leider nichtkoscheren Häppchen zusammen mit drei anderen Ausgeschiedenen verbrachte, interessanter, als das Weiterkommen in der Sendung gewesen wäre. Denn so kam Klein mit Nufeners junger Assistentin Frau Demirtok ins Gespräch, die für ihre Betreuung zuständig war.

Nur kurz sprachen sie noch über Bernhard Russi und Sapporo. Dann kam Frau Demirtok ins Reden, womöglich weil sie einen Rabbiner vor sich hatte. Diese Erfahrung machte Klein immer wieder, bei vielen Menschen, egal welcher Konfession. Sie war in Ostanatolien geboren und in Bülach aufgewachsen. Sie erzählte von den schwierigen Jugendjahren in einer Familie, die sich nur langsam auf eine andere Kultur einstellen konnte, eine Familie, in der ihre beiden jüngeren Brüder, in der Schweiz geboren, bevorzugt behandelt wurden. Aber auch von einem Schweizer Umfeld, das sie nicht gerade willkommen geheißen hatte.

Klein erfuhr, wie fremd sie sich bei den Reisen in die Türkei gefühlt hatte, als sie noch dorthin gefahren war. Sie hatte sich hier ein Leben aufgebaut, mit Schweizer Freunden, die die Türkei höchstens als Ferienland kannten. Und plötzlich hatte es vor einigen Jahren die öffentliche Debatte über die Beschneidung von Jungen gegeben, und sie war die Einzige in ihrem Freundeskreis, die nicht von Menschenrechtsverletzung und Barbarei sprach. Handkehrum hätten sich alle ihre Bekannten vehement für das Recht auf Vollverschleierung ausgesprochen, und sie war als Einzige dagegen.

Er habe, warf Klein ein, vor vielen Jahren das Buch eines Schweizer Psychiaters gelesen – sein Name war ihm entfallen –, über die Juden als Minderheit. «Teilnehmen und nicht dazugehören» war der Titel.

«Das spricht mir aus der Seele», sagte Frau Demirtok begeistert. Ihre grünen Augen blitzten. Sie strahlte die Kraft und Lebensfreude einer jungen Frau aus, der alles im Leben offensteht. Aber bevor sie weiterreden konnten, erhielt sie über ihr Headset die Anweisung, die ausgeschiedenen Kandidaten ins Studio zu lotsen. In drei Minuten beginne das Finale.

Es entstand eine kurze Aufregung, weil eine Kandidatin erklärte, noch dringend auf die Toilette zu müssen, wofür sie allerdings eine Stunde lang Zeit gehabt hätte. Klein war beeindruckt, wie gelassen und bestimmt Frau Demirtok damit umging: «Halten Sie noch zehn Minuten durch? Dann ist der ganze Spuk vorbei. Sonst vermissen Ihre Verwandten zuhause Sie im Fernseher, und Sie dürfen sich noch monatelang dumme Kommentare anhören.»

Beim Pflichtwinken ins Publikum fühlte Klein sich erstmals an diesem Abend vollkommen fehl am Platz und fragte sich bang, was er wohl seinerseits für Kommentare zu erwarten haben würde. Es war freundlich von Kim Nufener, dass er Klein beim Abschied versicherte, er habe seinen Auftritt einfallsreich und originell gefunden und habe es bedauert, dass er nicht weitergekommen sei. Freundlich war das, aber nicht überzeugend. Der Rabbi war froh, dass seine Frau Rivka seinem Wunsch gefolgt und nicht mitgekommen war. Zwar hatte sie sicher alles zuhause am Bildschirm verfolgt, aber wenigstens konnte sie den Fernseher abschalten, als er ausgeschieden war. Das heißt, zumindest seine jüngere Tochter Rina hatte wahrscheinlich bis zum Schluss geschaut. Eigenartigerweise liebte sie wie viele andere Jugendliche die Sendung «Weisch no?», obwohl das Format nicht auf sie als Zielgruppe zugeschnitten war. Sie zählte sogar zu den zigtausend Facebookfreunden von Kim Nufener, und Klein hatte versprechen müssen, ihr seinen Nufi mitzubringen, damit sie ihn in der Schule herumzeigen konnte. Außer es wäre der Siegernufi – der war zwar deutlich kleiner, aber aus echtem Gold.

Nun musste er nur noch den unvermeidlichen Anruf des Vorstandsmitglieds Tobias Salomon abwarten. Der war mitverantwortlich für diesen ganzen unsäglichen Auftritt und würde sich mit zuckrig hämischen Kommentaren nicht zurückhalten. Bislang ließ Salomon noch nichts von sich hören. Umso besser.

Klein ging zum Parkplatz des Schweizer Fernsehens, der wegen Bauarbeiten an einer Tiefgarage ein Stück vom Fernsehgebäude wegverlegt worden war, und stieg in sein Auto. Es regnete in Strömen. Er warf den Nufi auf den Beifahrersitz und fuhr los. Er kam selten in diesen Teil der Stadt; schon lange waren hier in Oerlikon die Industrie und das Gewerbe zuhause. Die Publikumsmagnete des Quartiers waren eine Radrennbahn, das Hallenstadion und das Messegelände, und mit denen hatte er als Kind kaum je zu tun gehabt. In den vergangenen Jahren waren hier in großem Maßstab Blocks mit Büros und Wohnungen gebaut worden, meist mit großzügigem Grünanteil, austauschbar, aber nicht unfreundlich, bei Licht betrachtet. Jetzt war es einfach ein dunkel verschlungenes Netz aus Straßen, das er so rasch wie möglich hinter sich lassen wollte.

Im Radio lief die Wiederholung einer politischen Diskussion, in der es wieder einmal um Verkehrspolitik ging. Klein konnte sich kein anderes Land vorstellen, in dem in den Medien so viel und so leidenschaftlich über Verkehrspolitik gestritten wurde, während sich im Alltag kein Mensch dafür interessierte – wenigstens kein Mensch in seinem Alltag.

Als er den Wagen vor dem Haus parkte, hatte der Regen wunderbarerweise aufgehört, und zuhause erwartete Rivka ihn mit einem wunderbaren Lächeln und nahm ihn in die Arme, als brauche er unendlich viel Trost. Das entsprach zwar keineswegs seiner Stimmung, aber er ließ es sich gern gefallen. Sie hatte ihm sein Abendessen aufgehoben und stellte es nun in die Mikrowelle. Dazu waren noch zwei Gläser Schabbatwein übrig. Rivka war so müde, dass sie gleich zu Bett gehen wollte. Sie erzählte noch, dass Rina das Ende der Sendung gar nicht mehr gesehen habe, so enttäuscht war sie über das Ausscheiden ihres Vaters in der ersten Runde gewesen. Vor lauter Frust war sie gleich eingeschlafen. Klein trat an ihr Bett und legte den Trostnufi neben sie aufs Kissen.

Dann setzte er sich hin, aß und trank, sprach das Abendgebet, dann das Gebet zur Nachtruhe. «Es sei der Wille vor dir, Ewiger, mein Gott und Gott meiner Väter, dass du in Frieden mich niederlegen lassest und mich in Frieden aufstehen lassest, und es sollen mich nicht aufwühlen meine Gedanken, böse Träume und schlimme Vorstellungen.» Heute besonders spürte er, wie das Gebet eine tiefe Ruhe in ihm aufkommen ließ. Vielleicht war etwas davon auch dem Wein geschuldet.

Bevor er ins Bett ging, wollte er doch noch auf seinem Handy die Termine des nächsten Tages nachsehen. Er erinnerte sich, dass einiges anstand, beginnend mit dem Schiur für Studierende morgens um acht Uhr, den er seit einigen Monaten zu Fragen der jüdischen Ethik gab, und endend mit einer Podiumsdiskussion am Abend im Religiösen Forum Aargau über die Situation von Minderheitsreligionen in der Schweiz und Europa.

Er griff in das Fach seines Rucksacks, in dem er sein Telefon verstaute. Aber dort war es nicht, und eine hektische Durchsuchung des Rucksacks blieb ebenso erfolglos. Seine Ruhe war dahin. Um nicht in sinnlose Aufregung zu verfallen, versuchte er, sich darauf zu konzentrieren, wo er es liegengelassen haben könnte.

Natürlich! Im Empfangsraum des Fernsehgebäudes.

Man hatte ihn nach seiner Ankunft gebeten, dort einen Moment zu warten. Er blätterte in den Zeitschriften auf dem Tischchen, und dazwischen war eine Mail gekommen – da hatte er das Handy zum letzten Mal benutzt. Es war wieder einmal Frau Moch gewesen, eine ältere Witwe aus der Gemeinde, die ihn seit einer Weile, wahrscheinlich vor allem aus Einsamkeit und Langeweile, mit allen möglichen halachischen Fragen nervte. Da musste er das Telefon auf dem Tisch liegengelassen haben. Kurz darauf hatte Frau Demirtok ihn abgeholt, um ihn zur Maske und in den Warteraum zu bringen.

Dieser verdammte Fernsehauftritt hatte ihm wirklich nur Mühsal gebracht.

Sein Anruf vom Festnetz aus bei der Zentrale des Fernsehens wurde von einem Band mit freundlichem Herunterleiern der Bürozeiten abgefangen.

Ob da wirklich kein Mensch mehr saß, in Zeiten, wo doch auch nachts gesendet wurde? Es musste sich doch irgendein Nachtteam im Fernsehgebäude befinden! Morgen früh musste er gleich nach dem Gottesdienst den Tag beginnen und wissen, wie es weiterging. Es war ihm nicht ganz wohl dabei gewesen, als er von seinem altmodischen Taschenkalender aufs Handy umgestiegen war. Und er hatte recht gehabt.

Er griff nach dem Autoschlüssel. Dann kamen ihm die zwei Gläser Wein in den Sinn. Er fühlte sich zwar wieder frischer nach dem Adrenalinschub, aber er wollte vernünftig sein und bestellte ein Taxi. Kurz darauf fuhr er die Strecke, die er vorhin, zufrieden über das Ende des langen Tages, nach Hause gefahren war, zurück, mit gelegentlichem Blick auf die ungeduldigen leuchtend roten Zahlen auf dem Taxameter.

Je näher sie dem Ziel kamen, desto stärker wuchs in Klein die Befürchtung, es könnte vielleicht doch niemand mehr im Fernsehgebäude sein – zumindest niemand, der ihm öffnete und auch noch sein Telefon wiedergeben könnte. Eigentlich hatte er das Taxi warten lassen und nach erfolgreicher Aktion gleich wieder heimfahren wollen, aber diesen Plan ließ er fallen. Die Fahrt könnte ihn am Ende über hundert Franken kosten. Überdies hatte er keine Lust, dass der Taxifahrer ihm womöglich dabei zusah, wie er dort herumirren und an seinem Versuch, an das Telefon zu gelangen, scheitern würde. Bis halb eins würde er sicher auch noch ein Tram in die Innenstadt finden und von dort zu Fuß weiterkommen.

Er bat den Fahrer, ihn direkt vor der Einfahrt zum Studio aussteigen zu lassen. Gerade als das Taxi hielt und Klein sein Portemonnaie öffnete, kam unvermittelt aus der Einfahrt ein Auto gerast. Mit quietschenden Reifen schnitt es die Kurve zur Gegenfahrbahn und brauste davon. Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. «Mit solchen Irren teilt man die Straße! Wenn wir da eingebogen wären, hätte es gekracht.»

Klein war auch ganz schön erschrocken. Er zahlte, gab dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld und stieg aus. Vorsichtig, als könne gleich nochmals ein Verrückter herausgeschossen kommen, ging er durch die Einfahrt. Es fiel ihm auf, wie schwach beleuchtet der Vorplatz des Fernsehstudios war, vielleicht hing das mit den Bauarbeiten zusammen, oder mit einer reduzierten Nachtbeleuchtung. Alles war menschenleer, das Gebäude dunkel. Plötzlich fiel alle Energie von Klein ab, er fühlte sich matt und fehl am Platz. Er ließ den Blick zu den Eingängen schweifen, dem Haupteingang und dem Eingang direkt zu den Studios, beide geschlossen. Es wurde ihm endgültig klar, dass er sein Handy heute Nacht nicht mehr erhalten würde, aber da er schon mal da war, wollte er es zumindest versuchen.

Nur wie? Er war ratlos, stand da und schaute und wurde nervös, überflüssigerweise, wie ihm deutlich bewusst war. Da sah er direkt vor sich etwas auf dem nassen Asphalt liegen. Es war unförmig und groß. Klein wollte um den Haufen herumgehen, plötzlich rutschte er aus. Er schaute auf den Boden, erkannte ein Plastikfeuerzeug und hob es auf. Da sah er, dass noch andere Gegenstände verstreut herumlagen, und ein paar Meter von ihm entfernt eine Umhängetasche, aus der diese Dinge wohl stammten. Klein wurde es mulmig. Er ging zu der Tasche und bückte sich, rührte sie aber nicht an. Es schien, so weit er in dem trüben Licht erkennen konnte, eine modische Ledertasche zu sein. Mit einer unguten Ahnung näherte er sich dem Haufen, der bei genauem Hinsehen langsam Form annahm. Es war ein zusammengekrümmter menschlicher Körper, in einen langen hellen Regenmantel gehüllt. Unwillkürlich stieß Klein einen Schrei aus. Dann gab er sich einen Ruck und beugte sich über den reglosen Mann. Es war Kim Nufener. Unter dem Kopf breitete sich eine Blutlache auf dem Pflaster aus. Nufener schien zu atmen. Doch als Klein ihn ansprach, reagierte er nicht.

Instinktiv wollte er nach seinem Handy greifen, um Hilfe zu rufen, bevor ihm klarwurde, dass er genau dieses Handy vermisste. Klein rannte zum Haupteingang. Tatsächlich befand sich dort eine Klingel, unter der stand: «Außerhalb der Bürozeiten bitte hier läuten.» Klein wusste nicht mehr, ob jetzt außerhalb der Bürozeiten war oder überhaupt außerhalb der Zeit. Er drückte den Knopf sekundenlang und wartete. Niemand antwortete. Niemand weit und breit, nur er und der leblose Kim Nufener auf diesem gespenstisch dunklen und stillen Platz. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Klein zog Mantel und Jackett aus, schälte sich aus seinem Hemd, riss es hastig in Streifen und band sie in Dunkelheit und Nässe irgendwie um Nufeners verwundeten Kopf. Er kniete in Blut, im Unterhemd und seinem Tallit Katan. Sollte er jetzt Nufener beatmen oder erst Hilfe holen? Er kam sich verloren vor wie noch selten im Leben, und er spürte, wie er zu zittern begann und ihm die Tränen der Verzweiflung in die Augen traten. Schließlich machte er einige zaghafte Versuche, Nufener zu beatmen. Er konnte nicht sagen, ob noch Leben in dem kalten Gesicht war.

Zu seiner Überraschung hörte er kurz darauf ein Martinshorn und sah kurz darauf das Blaulicht und den Sanitätswagen, der durch die Einfahrt raste. Ihm folgte ein weiteres Auto, ebenfalls mit Blaulicht und Sirene, sicher die Polizei, und wieder dahinter kam noch ein Wagen. Klein hatte keine Ahnung, wer Hilfe gerufen hatte. Er hob den Arm, die Autos hielten an, und innert Sekunden standen ein Notarzt und zwei Sanitäter bei ihm. Einer führte Klein zur Seite, die beiden anderen kümmerten sich um Nufener.

Der Sanitäter brachte Klein zu einem trockenen Mauervorsprung, auf den er sich setzen konnte, und legte ihm eine Wärmedecke um. Sobald er saß, überkam ihn eine tiefe Erschöpfung. Er schloss die Augen. Er hörte, dass weitere Autos eintrafen, dass immer mehr Menschen auf dem Platz waren, doch er blieb reglos sitzen. Im Gewirr der Stimmen konnte er immerhin eine identifizieren, die ihm bekannt war: die Stimme von Kriminalkommissarin Karin Bänziger. Die Stimme näherte sich, und als Klein die Augen öffnete und aufsah, stand sie vor ihm. Auch ohne die Stimme hätte er sie sofort an ihrem Schattenriss erkannt: dem störrisch hochstehenden Haar, die etwas gedrungene, sportliche Gestalt, die in einem Parka steckte.

«Herr Rabbiner Klein?»

«Frau Bänziger», sagte er tonlos. Nach kurzem Zögern fragte er: «Haben sie Nufener ins Spital gebracht?»

Frau Bänziger sah ihn länger an und sagte nichts.

«Oder …?», fragte Klein.

Frau Bänziger nickte langsam. «Leider ist der Notarzt zu spät gekommen. Er war schon tot.»

«O nein!», entfuhr es Klein. Er schlug sich die Hand vor den Mund.

«Es tut mir leid. Sie haben noch versucht, ihn zu retten.»

Klein nickte abwesend.

«Haben Sie auch den Notarzt alarmiert?»

«Nein, ich habe mein Handy nicht dabei.»

«Was haben Sie um diese Uhrzeit überhaupt hier gemacht?», fragte Frau Bänziger.

Klein antwortete nicht und schaute an ihr vorbei. Er starrte in die blinkenden Blaulichter, auf den von innen erleuchteten Sanitätswagen, der plötzlich herumstand wie ein Gast auf einer Party, der dort nichts verloren hat und irgendwann verlegen und unauffällig wieder davonschleicht.

Er realisierte, dass Frau Bänziger ihn die ganze Zeit betrachtet hatte.

«Sie dürften jedenfalls unser wichtigster Zeuge sein», sagte sie.

«Ich weiß.»

Beide seufzten resigniert.

2

Klein hatte Wert darauf gelegt, den Schiur über jüdische Ethik um acht Uhr nicht ausfallen zu lassen, auch wenn er in der Nacht kaum Schlaf gefunden hatte. Wie immer warteten Kaffee und Brötchen auf ihn und die Studenten – beides konnte er jetzt gut vertragen. Und obwohl er nicht vorhatte, die Ereignisse der vergangenen Stunden zu thematisieren, ließ es sich nicht vermeiden. Natalie Hochwälder begann ihren Tag immer mit einem Blick auf die Homepage des Schweizer Fernsehens, und dort war der Tod Kim Nufeners natürlich der große Aufmacher gewesen. In einem Videoclip wurde über die Tat berichtet, und auch Klein war darin zu sehen, nur wenige Sekunden zwar, aber gut erkennbar. Karin Bänziger hatte den Journalisten nicht erlaubt, ihn direkt als Zeugen zu interviewen. Aber in dem Beitrag wurde Rabbiner Gabriel Klein als derjenige benannt, der Kim Nufener gefunden hatte, kurz nachdem er beim Fernsehgebäude aus einem Taxi gestiegen sei. Er, der noch wenige Stunden zuvor Nufener gegenübergesessen hatte, war inzwischen bekleidet mit einem Sennenhemd und einem waldgrünen, etwas zu knappem Anzug, den jemand wahllos aus dem Kostümlager des Fernsehens gerissen hatte, um ihn von seiner blutverschmierten und verdreckten Kleidung zu befreien. Mit dunklen Ringen unter den Augen schaute er müde, aber gefasst in die Kamera. Die Sequenz war nach der ersten Zeugenbefragung durch Frau Bänziger, die ihn kurz darauf nach Hause gefahren hatte, aufgenommen worden.

Natürlich wollten die Studierenden ausschließlich über das schockierende Ereignis sprechen und den Rabbiner ausfragen.

Er dürfe nichts erzählen, sagte er, darum habe ihn die ermittelnde Kommissarin ersucht. Er könne nur sagen, dass er sich im Moment, als er den Sterbenden fand, furchtbar hilflos gefühlt habe, weil er kein Telefon dabeihatte. Auch wenn dann jemand – man wisse noch nicht, wer das war – den Notruf gewählt habe: Die Hilflosigkeit war einfach grauenhaft gewesen.

«Sie hatten kein Telefon dabei?», fragte einer der Studenten. Es schien ihm fast noch verrückter als die Tatsache, dass Klein beim Fernsehstudio einen Sterbenden gefunden hatte.

Sie wären wohl für den Rest der Stunde bei dem Thema hängengeblieben, die meisten schienen angesichts der Vorfälle der Nacht und der Rolle ihres Lehrers dabei nicht imstande, sich auf den Gegenstand des heutigen Kurses einzulassen. Doch Natalie, die Aufgeweckteste unter ihnen, hakte nach. «Wenn wir hier schon über jüdische Ethik diskutieren, dann möchte ich, wenn es Ihnen nicht zu nahegeht, an diesen Fall eine Frage knüpfen: Waren Sie gemäß der Halacha gegenüber Kim Nufener zur selben Hilfe verpflichtet wie gegenüber irgendeinem von uns? Gibt es da nicht eine Abstufung zwischen Juden und Nichtjuden?»

Natalie studierte Politologie und Völkerrecht, und immer wieder drang bei ihr die Angst durch, das Judentum sei mit einer modernen Auffassung von der Gleichheit aller Menschen und ihrer Rechte nicht kompatibel. Offenbar hatte sie mit ihrer Frage auch einen Nerv bei den anderen getroffen. Alle verstummten und schauten gespannt zum Rabbiner. Der nahm einen großen Schluck Kaffee. Er hätte sich auf die Behandlung dieser Frage gern intensiver vorbereitet. Zwei oder drei Blätter mit Quellen aus verschiedenen Jahrhunderten zusammengestellt und dafür mehrere Stunden reserviert. Aber die Ereignisse der letzten Nacht hatten eine Dringlichkeit erzeugt, der er sich nicht entziehen konnte. Und irgendwie war es auch richtig, die Frage so spontan zu beantworten. Denn wer hatte, wenn es darauf ankam, Zeit für stundenlanges Quellenstudium?

Dennoch fühlte er sich plötzlich schwach und überfordert von der Situation. Rivka hatte ihm geraten, den Kurs abzusagen, weil er zu erschöpft und psychisch zu mitgenommen sei, und sie hatte natürlich recht gehabt. Zugleich gab ihm Natalies Frage auch Kraft. Indem er sich die rabbinischen Aussagen vergegenwärtigte, die neuen und die alten, die alles dafür getan hatten, Gottesfurcht und das Gewöhnliche und Ungewöhnliche des stinknormalen Lebens miteinander in Einklang zu bringen, fühlte er sich getragen, eingesogen in die Texte, die sein Leben prägten.

«Vor einigen hundert Jahren», sagte Klein, «hätte ich, je nach Ort und Zeit, als Jude darauf geachtet, nicht in der Nähe eines schwerverletzten Christen gefunden zu werden. Denn nichts war selbstverständlicher, als den Juden zu verdächtigen, er habe dem Christen ein Unrecht getan. Das Wort ‹Jude› war gleichbedeutend mit ‹Christenfeind›. In diesem Kontext ist verständlich, dass manche jüdische Rechtsgelehrte sehr zögerlich waren damit, Juden zu verpflichten, Nichtjuden in der Not beizustehen. Manche – aber längst nicht alle. Schon damals gab es bedeutende Gelehrte, die forderten, Nichtjuden genau gleich zu behandeln wie Juden. Und heute, wo wir eine allgemeine Pflicht zur Hilfeleistung haben, wo die Polizei bei ihrer Ermittlung anderes im Sinn hat, als meine religiöse Zugehörigkeit gegenüber der des Opfers zu werten, schreibt das jüdische Gesetz mir geradezu vor, mich um einen Verletzten zu kümmern. Auch wenn es leider in diesem Fall nichts mehr geholfen hat.»

«Das ist gut und schön», warf Natalie ein, die sich jetzt ins Feuer redete. «Aber nehmen wir einmal an, dasselbe geschähe am Schabbat. Da gibt es ja eine Menge Verbote, die fromme Juden nicht verletzen. Wenn jemand in Todesgefahr ist, dann dürfen sie es. Sie dürfen telefonieren, Auto fahren und all das. Ich habe mal gehört, dass es Rabbiner gibt, die hier auch einen Unterschied machen, ob es sich um einen Juden in Not handelt oder um einen Nichtjuden. Stimmt das?»

«Darüber ist viel geschrieben worden», antwortete Klein. «Die Prämisse ist das Menschenbild des traditionellen Judentums. Danach ist der Mensch geschaffen worden, um ein Leben im Dienste Gottes zu führen. Und die Juden sind dabei mit einer besonderen Verantwortung versehen worden. Aber was ist ein Leben im Dienste Gottes? Wenn ich darin besonders die Aufgabe sehe, dass Gottes Gebote von möglichst vielen Juden eingehalten werden, dann bin ich verpflichtet, den Schabbat einmal zu entweihen, um diesem Juden, der in Not ist, zu ermöglichen, vielleicht noch viele Hunderte Wochen in seinem Leben selbst den Schabbat einzuhalten.»

«Und das heißt, es wird wirklich nur für einen Juden der Schabbat entweiht? Weil ein Nichtjude den Schabbat nie halten wird?», fragte Natalie.

«Nein, das heißt es nicht. Um des Friedens mit der Umwelt willen haben alle Gelehrten erlaubt, auch für Nichtjuden den Schabbat zu entweihen. Nun sind manche der Meinung, man müsse dieses Prinzip minimalistisch interpretieren, als Zugeständnis an das eigentliche Gesetz, gemäß dem der Schabbat den Vorrang hat. Andere interpretieren es anders. Für sie ist das Stiften von Frieden eine eigene Qualität, die das Judentum auszeichnen soll. Deshalb betonen sie, dass Nichtjuden und Juden gleich behandelt werden müssen.»

«Und was heißt das nun konkret?», fragte einer der Studenten. «Wie wird der minimalistische Jude in einer solchen Situation reagieren und wie der maximalistische?»