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Es sind die heißesten Tage des Jahres, und nach einer unheilvollen Gewitternacht stehen Sarah Contis Kollegen mit einem neuen Fall vor der Tür. Alle Indizien am Tatort weisen auf brutalen Mord. Auf der Suche nach dem Motiv begibt sich Sarah Conti zunächst auf die Spuren des Opfers – ein angesehener Psychiater, dessen Leben in bester Ordnung gewesen zu sein schien: eine glückliche Familie in einem beschaulichen Zuhause, ein herausragender Posten in einer psychiatrischen Privatklinik mit Blick auf den Zürichsee und zahlreiche Bewunderer seiner fachlichen Expertise. Doch nach und nach bekommt die Fassade Risse, und das Opfer offenbart sein zweites Gesicht.
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Seitenzahl: 385
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Fabio Lanz ist das Pseudonym des Publizisten und Autors Martin Meyer. Geboren in Zürich, durchlief er eine Karriere in diversen Tätigkeiten, bevor er das Schreiben entdeckte. Dabei entwickelte sich sein Blick für das Schöne und das Böse. Fabio Lanz lebt in Zürich und in der Provence. Nach Ein kaltes Herz (2021) und Das Fallbeil (2023) erscheint 2024 mit Ikarus der dritte Band seiner Zürich-Krimireihe.
Zürich durchlebt die heißesten Tage des Jahres, und nach einer unheilvollen Gewitternacht stehen Sarah Contis Kollegen mit einem neuen Fall vor der Tür. Alle Indizien am Tatort weisen auf brutalen Mord. Auf der Suche nach dem Motiv begibt sich die Kriminalkommissarin zunächst auf die Spuren des Opfers – ein angesehener Psychiater, dessen Leben in bester Ordnung gewesen zu sein schien: eine glückliche Familie in einem beschaulichen Zuhause, ein herausragender Posten in einer psychiatrischen Privatklinik und zahlreiche Bewunderer seiner fachlichen Expertise. Doch nach und nach bekommt die Fassade Risse, und das Opfer offenbart sein zweites Gesicht.
Die junge Frau war erschöpft. Zwar hatte sie schon viel gesehen, aber nur selten ließ sie zu, dass die Bilder den Panzer durchdrangen, der sie vor unerwünschten Gedanken schützte. Sie hatte sich auf eine Bank im Wald gelegt. Es war ihr bevorzugter Platz, um nachzudenken, um Kraft und Wut zu sammeln. Ohne Wut ging nichts. Irgendwann war sie zur Droge geworden. Doch während die anderen Drogen fürs Abschalten waren und für die Träume, die unbeherrschbar blieben, steuerte die Wut nach außen. Manchmal geradezu wild. Dröhnend. Dann wäre die junge Frau zu allem fähig, sie könnte jeden Feind niederschlagen, jeden Spießer vor den Zug stoßen, sogar der eigenen Mutter die Meinung entgegenschreien, wenn sie noch leben würde.
Jetzt, in diesem Moment, unter den Buchen im Wald, war die Wut fast aufgezehrt. Wie etwas, das sich schmollend verzogen hatte, weil der Trägerin die Energien ausgegangen waren. Der Abend war angebrochen, die Luft stand still, es war noch immer viel zu warm, von der Stadt war nichts zu hören und wenig zu sehen, nur die Trams kreischten durch die Kurven, und von sehr fern vibrierte eine Sirene.
Die letzte Nacht war übel gewesen. Beim Gedanken daran spürte sie, wie die Wut sich leise wieder in ihr regte. Sie richtete sich auf und hob den Rucksack aus schwarzer Jute, den sie neben sich gelegt hatte, auf die Bank. Sie fühlte sein Gewicht, atmete schwer und versuchte mit fahrigen Fingern die Schlaufe zu öffnen. Sie fühlte sich alt. Was konnte das Leben noch bieten, wenn das Öffnen eines Rucksacks zur Schwerstarbeit geworden war? Was hatte die Oma sie gelehrt? Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Es ging nicht lange, bis sie den Spruch zu verfluchen begann. Das Gegenteil war richtig, denn erstens gab es diesen Gott gar nicht. Und zweitens hatte sie zwar versucht, sich selbst zu helfen, aber es war immer öfter in die Hosen gegangen. Pech gehabt. Je mehr sie den Eindruck hatte, dass sie eine Sache oder einen Menschen in den Griff bekam, umso heftiger fiel die Quittung aus.
Als sie die Schlaufe endlich gelöst hatte, hörte sie ein Geräusch. Sie war empfindlich, wenn ein Geräusch nicht stimmte. Bei diesem Geräusch, das langsam stärker wurde, war sie sich unschlüssig, ob es ein falsches war. Falsche Geräusche, so hatte sie lernen müssen, gingen an den Körper oder an die Seele, und zwar so, dass es übel endete. Setzte die Mutter die Kaffeetasse mit einem bestimmten Schwung auf den Teller, gab es Ärger. Fuhr der Schlüssel von Mutters Freund mehrmals um das Schloss, bis sich die Türe doch noch öffnete, folgten Schläge, weil der Hausfreund besoffen war.
Fehlalarm. Zuerst kam ein Hund, ein heller Retriever, der sie ungläubig anstarrte und gleich darauf im Buschwerk verschwand, bevor sein Gebieter heranstapfte, ein alter Mann mit Schlapphut und Stock, der ebenfalls überrascht schien, doch halbwegs freundlich nickte und eilig von dannen zog. Das scheuernde Geräusch, das der Hund zwischen den Stauden produziert hatte, bevor er plötzlich vor ihr aufgetaucht war, hörte sich in der Fortsetzung und aus dem Waldesinneren nur noch wie ein feines Wischen an, das gleich weg sein würde. Das Abenteuer hatte keine fünf Minuten gedauert.
Sie hätte ihr Messer nicht gebraucht, zum Glück. Denn es war ihr nicht gelungen, den Rucksack rechtzeitig zu öffnen.
Auf einem Trip waren fünf Minuten eine Ewigkeit. Es kam auf den Stoff und auf den Mix an, klar. Aber so oder so, die Zeit geriet wirklich aus den Fugen, was sie ja gewollt hatte. Jedenfalls zu Beginn, als sie geglaubt hatte, Herrin über ihre Exkursionen zu sein. Schluss mit den Vorschriften, den Zwängen, den Befehlen, dem ganzen Mief aus Alltag und Bosheit. Aber eines Morgens, als sie sich wieder einmal hundeelend gefühlt hatte, hatte sie sich einen Ruck gegeben.
Seither war sie zwar keineswegs clean, aber sie hatte sich einen Entscheidungsspielraum erkämpft, eine fragile Autonomie, die sie hütete wie ihr zweites Selbst.
Früher war sie eine gute Schülerin gewesen. Es war ihr leicht gefallen, Dinge auswendig zu lernen und Wissen zu verknüpfen. Manche hatten sie beneidet, während sie sich schneller langweilte, als ihr lieb war. Dann begann sie Intrigen zu spinnen, die einen gegen die anderen aufzubringen, weniger aus Bosheit als aus der Neugier heraus, was sich daraus entwickeln würde. Viele, so kapierte sie dann, hatten wenig bis nichts dagegen, wenn man sie ein bisschen manipulierte. Führung tat nicht weh, wenn man es geschickt machte, und ein gewisser Halt war durchaus willkommen. Als sie spürte, dass sich auch die Jungs beeinflussen ließen, wenn man ihnen den Schmus brachte, hatte sie eine neue Art von Macht erreicht, die von den Lehrern zuerst beargwöhnt und schließlich unterhöhlt wurde. Man versuchte, nicht ohne Erfolg, sie zu isolieren.
Wieder schreckte sie auf. Von irgendwoher knallten Schüsse. Offenbar hatten sich die Schützen in ihrem Stand eingerichtet, denn die Schüsse fielen bald mehr oder weniger regelmäßig und in einem Rhythmus, der alle Schweizer Schützenvereine auszeichnete. Zuerst wurde geredet, dann wurde abgedrückt, dann wurde wieder geredet, und zwischendurch aß man sich durch Berge von Bratwürsten. Im Hintergrund orgelte Volksmusik.
Sie holte das Smartphone aus der Seitentasche des Rucksacks. Sie hatte es in ein Futteral aus Kunststoff gesteckt, dessen Außenseite ein Smiley mit Vampirzähnen zierte. Rasch überflog sie die Nachrichten. Seit der letzten Nacht hatte sich wenig geändert. Nochmals stieg Wut auf, die gleich wieder verflachte. Der Kerl, den sie in der vergangenen Nacht abgeschleppt hatte, war gar nicht so übel gewesen. Überdies hatte er ihr gleich zu Beginn dreihundert Franken zugesteckt. Ein königliches Honorar.
Sie öffnete Google Maps. Zuerst nahm sie sich den Stadtplan vor, wie er sich im Bild der Straßen und Plätze darbot. Dann wechselte sie in die Satellitenansicht. Mit einem Schlag verwandelte sich alles in eine Luftbild-Perspektive, aus der sich die Grünflächen der Stadt Zürich geradezu gierig hervordrückten. Sollte noch mal jemand sagen, Zürich sei eine Betonwüste. Mancherorts schon, doch selbst in der Innenstadt und in den Vororten erst recht war Grün die Zauberfarbe, vor der sich die Verkehrswege, die Häuser und die unzähligen Kirchen mit Stolz in Position brachten.
Verdammter Frieden, fluchte sie vor sich hin. Alles nur Lug und Trug. Aber wartet nur, meine Lieben.
Vielleicht gäbe sie eine gute Terroristin ab. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Kalt und kalkuliert im Kopf, warm und beherzt in der Seele, um das Feuer des Kampfs nicht ausgehen zu lassen.
Aber nein, sie wäre nicht stark genug, alles von sich zu weisen, was nur irgendwie nach Mitgefühl roch. Doch Mut besaß sie, die Wut ohnehin, zudem war sie ein wenig rachsüchtig und entsprechend raffiniert, und dass Gerechtigkeit von Fall zu Fall hergestellt werden musste, verstand sich von selbst. Dafür war kein Terrorismus vonnöten.
Sie strich sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht und warf den Kopf nach hinten. Sie war eine attraktive junge Frau. Vielleicht einen Kopf zu klein, doch schlank und muskulös, und hätte sie endlich das Drogenzeugs hinter sich gebracht, wäre sie mit großen Schritten in der Welt gelandet. Sie vertiefte sich wieder in Google Maps. Je nach Ausschnitt war der Zürichsee entweder riesig wie ein Meer aus blaugrüner Farbe, oder er krümmte sich winzig klein wie ein Engerling. Dass die Stadt von allen Seiten außer im Westen von Hügeln gesäumt wurde, machte sie lieblich, jedenfalls durch die verklärende Brille des Smartphones.
Sie zoomte den Hönggerberg heran, fuhr mit dem Zeigefinger über den Zürichberg, rutschte hinunter zum Greifensee, wieder hoch in Richtung Pfannenstiel und landete irgendwo auf einer Autobahn, die mehr oder weniger parallel zum rechten Seeufer in Richtung Gebirge steuerte.
Plötzlich musste sie lachen. Es klang kurz und bitter, durchsetzt von einem Huster, der nichts Gutes verhieß. Da gaffte sie auf den Screen, wo ihr doch die ganze Herrlichkeit leibhaftig zu Füßen lag.
Tatsächlich gab die Bank eine Aussicht frei, die die Nähe des Greifensees erahnen ließ. Der Rest ihrer Umgebung war Busch und Strauch, Baum und totes Gehölz, das sich hier zu allerlei grotesken Gebilden verrenkte. In der Nacht konnte das schön unheimlich werden.
Ausgerechnet jetzt begann das Smartphone zu summen. Sie erkannte einen Namen, grunzte und stoppte den Anrufer. Wie jemanden, dessen man sich ohnehin sicher war.
Es war dunkel geworden. An den Hängen, die hinab zum Greifensee und ins Tal der Glatt führten, gingen vereinzelt die Lichter an. Die meisten Leute würden auf den Balkonen oder im Garten sitzen und das Fleisch auf den Grill werfen. Sie waren zufrieden oder taten so und redeten es sich ein, weil es unbequem gewesen wäre, sich und seinesgleichen mit dem Gegenteil zu konfrontieren.
Wieder nestelte sie an ihrem Rucksack. Aus dem Untergrund, der ein Kuddelmuddel war, holte sie eine fleckig gewordene Banane hervor, die nach Süden roch, und ein Döschen, das sie vorsichtig öffnete. Sie zog sich das weiße Pulver in die Nase, unterdrückte ein Niesen und wartete auf den Effekt.
In der Zwischenzeit beschäftigte sie sich mit einer schwarzen Kladde, die zuunterst im Sack gelegen hatte. Sie blätterte und fand fast auf Anhieb, was sie gesucht hatte. Es handelte sich um ein Foto, dessen Farben bleich geworden waren und dessen Papier sich brüchig anfühlte. Sie strich über das Foto, als wollte sie ihm Form und Leben einhauchen, hielt es dann nah vor das Auge und senkte es mit der größten Behutsamkeit vor den Mund. Ihre Lippen küssten das Bild, als wäre es ein Heiligtum.
Tatsächlich war es ein Heiligtum. Vielleicht das einzige Heiligtum, das ihr das Leben bisher beschieden hatte.
Bevor sie hätte weinen können, was sie eigentlich geplant gehabt hatte, weil nur das Weinen ihre grenzenlose Liebe und ihren grenzenlosen Hass auszudrücken vermochte, begann das Kokain seine Wirkung zu entfalten. Es war, wie häufig bei ihr, ein Mix aus Wachheit und Distanz, der sich meldete, eine Trance, die sie bei Sinnen hielt, während sie zusehends neue Kräfte fühlte. Na ja, vermutlich belügst du dich selbst, dachte sie amüsiert.
Nachdem sie den Anrufer, den sie vorher weggedrückt hatte, zurückgerufen hatte, war sie zufrieden. Alles hatte die Erwartungen überstiegen. Sie aß die Banane, ordnete den Rucksack, blickte sich prüfend um, ob sie jemand gesehen oder belauscht hatte, stand auf, zog sich die Kappe über die Stirn, sodass sie wie ein Seemann aussah, und marschierte in südöstlicher Richtung hinunter in die Großstadt Zürich, während sie versuchte, einen Marsch zu pfeifen.
»Kannst du nicht ohne mich hin? Mal ganz für dich?«
Sie saßen in einer Gartenwirtschaft, in der die Hitze halbwegs erträglich war, und schauten sich halb verliebt, halb belustigt in die Augen. Sarah hatte einen Salatteller vor sich, der gestrig aussah, während ihr Gegenüber ein Vitello Tonnato verschlang.
Die Antwort ließ nicht auf sich warten. »Das ist ja stark. Mal ganz für mich, was? Du bist ja gut. Bin ich doch ständig. Jedenfalls viel zu oft.«
Fred hatte recht. Seit sie zusammen waren, waren sie noch immer kein richtiges Paar geworden. Was Fred, der erfolgreiche Werber, dessen solider Charme eine Klasse für sich war, schon längst gewünscht hätte, fand bei Sarah keinerlei Gehör. Liebe, Zuneigung, Verständnis, alles geschenkt. Doch die Freiheit war und blieb ihr wichtiger, der selbstbestimmte Rhythmus, die eigenen vier Wände, ohne dass sie Fred dabei untreu geworden wäre.
Er wirkte unzufrieden, kämpfte dagegen an und konnte gleichwohl nicht verbergen, dass er sie an seiner Seite gewollt hätte. Doch schon damit fing es an. Wie ging denn das? Wer an wessen Seite? Die Rolle der Begleitung war nur selten ihr Ding.
»So schlimm wird es nicht. Eine kleine Nachfeier. Lauter nette Menschen. Dazu Musik und Speis und Trank, und ab Mitternacht ist Lichterlöschen.«
Sie schüttelte den Kopf und griff nach seiner Hand. »Du weißt ganz gut, dass ich kein Gesellschaftsmensch bin. Manchmal ja, meistens nein. Und überhaupt. Wer mag denn eine Polizistin? Eine Frau, die Mörder jagt und um sich schießt?«
Es sollte lustig klingen. Fred sagte nichts.
Am Ende gab sie nach. Sie würden zusammen auf das Sommerfest gehen, die Nachfeier seines Ruderclubs, wie es Fred genannt hatte, und sie würde sich Mühe geben, freundlich zu lächeln und zu nicken, und wenn sie ehrlich mit sich war, konnte das, je nachdem, sogar Spaß machen. Vorausgesetzt, dem Weißwein war ein Spritzer Ironie beigemischt.
Seit zehn Jahren war sie bei der Zürcher Kantonspolizei tätig, in der Ermittlungsabteilung Gewaltkriminalität, was bedeutete, dass sie es ausschließlich mit den schweren Fällen zu tun hatte, und wenn die Hierarchie nach offizieller Lesart zwar flach gehalten wurde, so war Sarah über die Zeit und von Fall zu Fall in eine Position aufgestiegen, die neben der Verantwortung auch Autorität mit sich brachte. Frau Doktor Sarah Conti galt nicht nur bei der Kripo als die Frau mit dem Röntgenblick.
Nach dem Lunch mit Fred war sie zum Kommissariat gelaufen, nichts als ein Katzensprung, über die Sihlstrasse und dann der Sihl entlang, die in diesen Hitzewochen kaum noch Wasser trug, bis zur Polizeikaserne, einer Burg von finsterem Aussehen, die allzu oft beinahe ihr Zuhause war. Hier hatten schon Täter geschmort, denen auch der gutwilligste Beichtvater nicht mehr hätte verzeihen wollen.
»Und? Gut gespeist? Seele und Körper gestärkt? Bereit zu frischen Taten?«
Carl Vormüller, der Kollege, war raumfüllend in ihr Büro getreten, hatte es sich, wie es seine Art war, auf der Fensterbank bequem gemacht und lächelte freundschaftlich.
»Wenn es kein Schweinsbraten war, kümmert dich das kaum, mein Lieber … Stimmts?«
Es war Sarah recht, dass sich ein Gespräch anbahnte, das zu nichts führen würde. Weder würde Carl die Kollegin zu einer Nachfeier bitten, noch müsste sie ihm umständlich erklären, was und wer sie sei und was nicht.
»Verdammt heiß, was?«
Sie nickte. Irgendwo hatte sie etwas Gescheites über Wettergespräche gelesen. Die Pointe war, dass man sich fast immer auf der sicheren Seite befand. Man konnte gar nichts falsch machen, wenn sie nicht zu lange dauerten. Sie waren Niemandsland.
Carl wischte sich den Schweiß, der schon große Flecken auf seinem Hemd hinterlassen hatte, von der Stirn.
»Global warming. Immer heißer, immer trockener, immer verrückter. Die Menschheit schafft sich selber ab.« Das freundliche Lächeln war noch nicht verschwunden.
Sie nickte. Carl hatte recht. Es schien, dass die Hitze sogar den Parkettboden aufzuwölben begann. Oder kam ihr das nur so vor?
»Und, mein Lieber? Neues von Freund Ochsner?«
Seit ein paar Wochen versuchte Ochsner, der Staatsanwalt, ihr Team auseinanderzubrechen. Sarah, Carl und Lisa, die junge Assistentin, waren ihm zu stark geworden. Oder zu frech, zu unbeugsam, zu selbstständig, zu selbstsicher, zu erfolgreich, was auch immer. Doch der Chef der Kripo, ein gewisser Herrliberger, war nicht ins Wanken geraten.
Ochsners Einfluss war dennoch nicht zu unterschätzen. Zugleich war auch schwer zu übersehen, dass der Mann mit der Stahlbrille, der von sich selbst dauerhaft groß und wichtig dachte, im Grunde genommen eine Lachnummer war. Tatsache blieb, dass Ochsner jedes Mal unruhig wurde, wenn Sarah und das Team in der sogenannten besseren Gesellschaft zu recherchieren hatten. Einerseits hätte er gerne selbst dazugehört. Anderseits fürchtete er Repressionen aus dem Umkreis der Herrschaften, wenn sich diese auf die Füße getreten fühlten.
»Nichts Neues. Unser Hitzesommer wird ihm das Gehirn verbrannt haben«, sagte Carl und lächelte noch immer wie ein Buddha.
Sarah zog einen Stapel von Dossiers aus der Ecke ihres Schreibtischs in die Mitte und begann ihn zu mustern. Ein Teenager war seit zwei Tagen verschwunden, eine Spur führte nach Spanien. Im Kreis vier war ein Mann verhaftet worden, der einen Metzger mit einem Messer bedroht hatte. Eine Frau hatte ihrem Freund mit einer Bierflasche zugesetzt und war kurz darauf auf den Polizeiposten gerannt. In Dübendorf waren zwei Motorrad-Gangs mit Kettensängen aufeinander losgegangen.
Nichts, was nicht durch sorgfältige, geduldige Arbeit der entsprechenden Polizeistellen hätte geklärt werden können. Es war, als ob der von Carl zitierte Hitzesommer zwar die üblichen Aggressionen und Probleme heraufbeschworen, doch die Großverbrecher, die mächtig planten und kräftig zuschlugen, in Schlaf versetzt hätte.
Carl war nicht verborgen geblieben, dass Sarahs Gedanken abgeschweift waren. Seit sie ein Team waren, hatten sich die Antennen wechselseitig verfeinert. Er, der Elefant, der nichts vergaß, und sie, die Denkerin, die für alles auf dem Sprung war, was um sie geschah, bildeten ein unschlagbares Duo. Als vor drei Jahren noch Lisa hinzugekommen war, die vorher im Verkehrsdienst gearbeitet hatte und schon jetzt weit mehr leistete als eine gewöhnliche Assistentin, hatte sich ein Grüppchen gebildet, das Carl, der von seinen Fremdsprachen-Einschüben nicht loskommen wollte, als le trio infernal titulierte.
»Woran denkst du? Die Akten scheinen dich nicht zu berauschen.«
»Du bist ein Schlaumeier.« Sarah zögerte. Dann fuhr sie fort: »Aber ich sage dir, mein lieber Carl, nicht mehr lange, und es wird sich ein grausames Verbrechen ereignen. Ein Verbrechen, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Satz von Sarah Conti.«
Dabei klopfte sie mit den Fingern auf die Pultplatte wie eine Pianistin, die ungeduldig geworden war, und blickte mit zusammengekniffenen Augen über die Lesebrille aus hellbraunem Horn, die ihr der Optiker kürzlich verschrieben hatte.
»Brauchst du ein Glas Wasser? Einen Tee? Ein Aspirin?« Carl hatte sich vom Fenstersims gerollt und auf den Besucherstuhl gesetzt, während er die Kollegin wie ein Arzt zu mustern begann, der nach Symptomen forschte.
Sie lachte. »Komm, komm. Ist alles halb so wild. Die Hitze treibt seltsame Blüten. Ich gebs ja zu. Übrigens interessant, an sich selbst herauszufinden, ab wann ein Gehirn seiner eigenen Wege geht.«
Carl lehnte sich zurück. »Wäre mir neu, dass du deinen Kopf nicht mehr unter Kontrolle hast.«
Fakt war, dass Sarah, seit sie denken konnte, ein außergewöhnliches Gespür dafür hatte, wenn sich Gefahren anbahnten. Insgeheim blieb sie dabei. Sie spürte, dass sie recht hatte. Was sie gegenüber Carl in eine pathetische Offenbarung gekleidet hatte, war nicht bloß Schabernack. In der vergangenen Nacht hatte sie von schrecklichen Dingen geträumt, an die sie sich nachher nicht mehr erinnern konnte. Doch das Unheil, das wie aus dem Nichts gekommen war, war mit Händen zu greifen gewesen.
An diesem Dienstag im August war nichts mehr los. Die Wetterdienste hatten Hitzegewitter angesagt, die sich auch über der Stadt entladen würden. Sarah hatte früher Schluss gemacht und befand sich auf ihrem Weg nach Hause, wo sie im Seefeld in einer ruhigen Wohnung lebte. Dass noch immer Ferienzeit war, spürte auch die Innenstadt. Die Einwohner befanden sich im Süden oder in den Bergen, dafür sah man Touristen von überallher, die mit ihren Smartphones unterwegs waren und Fotos schossen. Hierfür bot sich die Altstadt links der Limmat an, aber auch die Brücken waren beliebt und der See ohnehin, mitsamt Fernblick ins Alpenpanorama, das sich unter dem Glast nur undeutlich präsentierte.
Wäre einer vom Mond hier gelandet, so hätte er feststellen müssen, dass alles friedlich war, wohlgeordnet und gefällig verpackt wie eine Bonbonniere, die man lieber still bestaunte, als sie zu öffnen und zu verzehren.
Sie spürte Hunger und bog zum Feinkostladen ab, den Pasquale, ein alter Freund und Nachbar, an der Dufourstrasse betrieb. Bevor sie etwas ordern konnte, hatte sie der Besitzer mit einem fröhlichen Wortschwall eingedeckt. Er klagte über die Hitze, während an der Decke ein Ventilator lief, der für Kühlung sorgte. Sarah kaufte eine Melone, Rohschinken, ein Stück Parmesan und Tomaten.
Bevor sie sich verabschiedete, fiel ihr etwas ein. »Noch keine Trüffeln, Pasquale?«
Dieser schüttelte den Kopf und lachte. »Dottoressa! Erstens noch zu früh. Und zweitens viel zu heiß. Da kommt nichts, niente. Ich bete um Gewitter, nein, um die Sintflut.«
Sarah stimmte in das Lachen ein. Sie musste an Gretchen, ihre Nachbarin, denken, deren Hund Rico eine fabelhafte Nase besaß und während der Saison regelmäßig fündig wurde. Manchmal fand er schon Sommertrüffeln.
Zehn Minuten später war sie daheim. Sie warf die Kleider ab und stieg in die Dusche. Diesmal kalt, so kalt wie möglich, dachte sie, während die Episoden eines unergiebigen Arbeitstags im Abfluss der Dusche verschwanden. Eigentlich war das Leben okay. Sie lebte allein und hatte Fred, und eine Runde von Freundinnen und Freunden sorgte für Humor und gute Gespräche. Dass sie eher ernsthaft war, hatte sie von der Mutter, die früh gestorben war und vorher zur Ängstlichkeit geneigt hatte. Angst war allerdings nichts, wovon Sarah heimgesucht worden wäre. Hier hielt sie es mit dem Vater, dessen Tessiner Wurzeln tief in ihr verankert waren.
Sie prüfte sich im Spiegel. Mit vierzig sah sie gut aus, frisch, wie ihre Assistentin Lisa zu sagen pflegte, das blonde Haar fiel seitwärts nach unten, ihr Wuchs war schlank und sportlich, die blauen Augen hatten einen Stich ins Gräuliche, die Nase war etwas lang geraten. Als sexy hätte Sarah selbst sich nicht bezeichnet, Fred dagegen sah das anders. Und sie hatte keinen Grund, ihm nicht zu glauben.
Sie hatte sich vorgenommen, Klavier zu üben. Obwohl aus einer professionellen Karriere nichts geworden war, hatte die Detektivin das Klavierspiel nie ganz aufgegeben. Doch die Hitze machte den Plan zunichte. Kaum hatte sie sich in ein weites Kleid aus blauem Leinen geworfen, fühlte sie schon wieder die Wärme. Sie ging in die Küche und setzte eine Kanne mit Pfefferminztee auf. Die Jalousien waren geschlossen, das Licht fiel in schmalen Streifen ein und warf Muster auf die Wände der Wohnung, die sie kürzlich farbig gestrichen hatte. Fred hatte ihr helfen wollen, aber es war ihr, wie so häufig, alles zu langsam gegangen, sodass sie über Wochen hinweg schon in aller Frühe noch vor der Arbeit wieder am Werk gewesen war.
Jetzt lag die Wohnung mit den einzelnen antiken Möbeln aus der Brocante und dem Designersofa in einer künstlichen Dämmerung. Irgendwo im Hintergrund sang Melody Gardot schleppend und melancholisch. Sarah spürte, wie sie eine unerklärliche Unruhe beschlich.
Zürich war keine Stadt für laute Verbrechen. Wenn es dick kam, blieb es häufig noch bedeckt. Zwingli, dessen überlebensgroße Statue finster vor der Wasserkirche thronte, hatte die Gefühle der Zürcher nach innen gelenkt, und wenn der Protestantismus der Gläubigen wie anderswo allmählich am Verdunsten war, so herrschte doch weiterhin eine Verhaltenslehre, wenn nicht der Kälte, so doch der Beherrschung. Jedenfalls galt dies für die meisten Eingesessenen, und für die Alten ohnehin, die mit leisen Schrittchen über das Pflaster schlichen und sich angewöhnt hatten, einen knappen Blick über die Schulter zu werfen. Man wusste nie. Vorsorge schützte vor Sorge.
Alles falsch.
Die beiden letzten Fälle hatten das Gegenteil bewiesen. Es war ohrenbetäubend gewesen. Und zwar von Anfang an. Kapitale Verbrechen, die sogar die Polizei ins Mark erschüttert hatten, während die Ermittlungen im Kontrast zu diesen Paukenschlägen mindestens für die ersten Runden wieder im Verschwiegenen, Vermurksten, Unterdrückten liefen. Ein seltsames, beunruhigendes Hin und Her, bis Sarah, unterstützt von Lisa und Carl, allmählich die Oberhand gewann.
Der Abend war friedlich verlaufen. Sie hatte gelesen. Dann hatte sie Briefe hervorgeholt, die ihr Fred über die Jahre geschrieben hatte. Der Befund war völlig klar. Aus dem sanften und etwas spröden Gefährten, der sich für vieles zu entschuldigen pflegte, mit dem er gar nichts zu tun gehabt hatte, war ein selbstbewusster Liebhaber geworden, der nun sagte, was er wollte, auch wenn der Ton höflich blieb, denn er war ein Gentleman.
Als sie gerade nochmals unter die Dusche wollte, weil die Hitze unerträglich geworden war, brummte das Smartphone.
»Was treibst du denn? Man hört ja nichts. Kein Zeichen, nichts. Lebst du noch?«
Sie seufzte. Der Vater klang ein wenig fremd und sehr weit weg, wie das Dorf weit weg war, in das er zurückgekehrt war, seit er seine Rente bezog.
»Alles okay. Natürlich lebe ich noch. Dein Unkraut blüht und gedeiht. Aber sonst … nichts los. Gar nichts. Meeresstille, fürchterlich.«
»Na umso besser«, entgegnete der Vater. Die letzten Fälle hatten ihn zu beunruhigen begonnen. Es war nicht mehr so gewesen, dass die Polizei aus sicherem Abstand von weit oben nach tief unten gespäht und nach einigem Für und Wider den Täter gestellt hatte. Es war gefährlich geworden. Dass sich Sarah zu wehren wusste, war keine Garantie mehr gewesen.
Jetzt lag sie auf der Couch und dachte an die Welt. Der Hang zum Nachdenken, den die promovierte Juristin noch vor dem Studium entwickelt hatte, wurde stärker. Obwohl sie die Kollegen bewunderte, die, ohne viel Federlesens zu machen, durch ihre Fälle stapften und dazwischen eine Pizza aßen, war sie anders. Eigentlich sehr anders. Es wurde ihre Stärke und ihr Markenzeichen, und auch wenn sie im Korps nicht nur beliebt war, wuchs mit jedem Mord auch der Respekt.
Sie hatte immer wieder versucht, sich die Welt als ein Ganzes jenseits von Gut und Böse vorzustellen, wie es Nietzsche gefordert hatte. Es war ihr nicht gelungen. Wie es das Gute in vielen Schattierungen und Grautönen gab, existierte das Böse, und das besonders Böse hatte alle Affekte hinter sich gelassen und sich mit Bewusstsein gerüstet. Mit kalter Absicht und gleich danach mit tiefer Genugtuung, wenn das Verbrechen gelungen war. Übrigens verschwand auch in der schönen Schweiz ein stattlicher Teil der Gewaltverbrechen schließlich still und leise in den Archiven. Es gab tausend Gründe, warum eine Täterschaft unentdeckt blieb, und Sarah war froh, dass sie schon lange keinen Fall mehr ungelöst zu den Akten legen musste.
Sie stand auf, lief in die Küche und holte sich ein Stück Käse und ein Glas Wein. Es war gegen zehn Uhr abends, hätte sie die Wohnung nicht verdunkelt, wäre die Sommerhelle noch immer drückend gewesen.
Ihre Erfolgssträhne hatte Sarah auch ihrem Team zu verdanken. Besonders Lisa überraschte sie immer wieder. Die junge Frau, die mit ihrer Partnerin zusammenlebte, von der sie nie erzählte, war ein Glücksfall für das Corps. Sie war schnell, spontan, witzig und verständig. Meine Herren!, war einer ihrer Lieblingssprüche, wenn es spannend oder krass wurde, was nur heißen sollte, dass sie noch staunen konnte, sich wundern konnte wie am ersten Tag. Ohne Lisa wäre der letzte Fall nicht zu lösen gewesen.
Sarahs Gedanken wanderten zu Fred, der jetzt womöglich am See die Hitze feierte oder wie Sarah im Dunkel seiner Wohnung arbeitete, weil er fleißig war, oder er würde Zeitungen lesen, weil er alles wissen musste, oder er würde mit Kollegen in einer Gartenlaube lachen und ein drittes Bier bestellen. Oder, so hoffte sie insgeheim, er würde sie vermissen, wie sie ihn vermisste, wenn auch nicht unbedingt gerade jetzt, bei dieser Mörderhitze, oder im Gegenteil jetzt erst recht, denn Hitze plus Abend plus Sex war nicht das Schlechteste.
Rastlos stand sie auf und lief zum Schreibtisch, der ein altes, zerschlagenes Barockteil war und ziemlich verschämt im Zimmer stand. Die Unruhe, die sich am früheren Abend in ihr breitgemacht hatte, war noch immer nicht verflogen. Sie öffnete eine schwergängig knirschende Schublade und holte das Tagebuch hervor.
Mit diesem hatte es folgende Bewandtnis. Es war ein Spleen. Etwas, das sonst niemand wusste, nicht einmal der Kollege Carl oder Fred, vielleicht auch deshalb nicht, weil es sie in Verlegenheit gebracht hätte. Es war kein Tagebuch im herkömmlichen Sinn. Es war für jeden neuen Fall eine neue schwarze Kladde, in die sie eine Fotografie der Nordwand des Eigers hineingelegt hatte. Bis ins Studentinnenalter war Sarah nicht nur gewandert. Sie hatte Berge erklommen, hohe, gefährliche Berge, mit dem Vater, in der Gruppe, manchmal sogar allein. Später hatte ihr der Schwindel einen Strich durch die Rechnung gemacht. Als sie ihre ersten Fälle erhielt, hatte sie diese mit einem Tagebuch zu begleiten begonnen. Während sie in Gedanken die große Wand erklomm, bezeichnete sie die Route mit entsprechenden Nummern, die sie auf die Fotografie verpflanzte. Die Nummern wiederum entsprachen den Einträgen des Tagebuchs, die kurz und knapp zusammenfassten, was der Stand der Ermittlungen war. Je höher, umso steiler und umso schwieriger, konnte man nicht zu Unrecht sagen.
Das war zu Sarahs heimlichem Sport geworden.
Sie blätterte in der letzten Kladde und war überrascht, wie logisch die einzelnen Stationen der Ermittlung aufeinander aufbauten. Es war wie bei einem Puzzle, dessen Teile passgenau ineinandergriffen. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Aus der Rückschau las sich alles schlüssig. Die Arbeit selbst war ebenso sehr von Intuition geprägt gewesen, von Dingen, die nicht in Worte zu fassen gewesen waren, von Blicken und Gesprächsfetzen, die manchmal erst viel später eine Bedeutung gezeigt hatten, während sie zunächst für lange Zeit halb bewusst oder sogar unbewusst in ihrem Kopf und vermutlich auch in ihrem Körper zirkuliert waren, wie Botenstoffe, die darauf gewartet hatten, gebührend empfangen zu werden.
Irgendwann nickte Sarah trotz ihrer inneren Unruhe auf dem Sofa ein, die Kladde aufgeschlagen neben sich.
Plötzlich schreckte sie auf. Das ganze Haus war in gleißendes Licht getaucht. Sekunden später krachte der Donner, als hätten über der Stadt Zürich sämtliche Götter des Firmaments ungeheure Kugeln gegen ebenso ungeheure Kegel gerollt.
Sarah zuckte zusammen. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich vorzubereiten. Alles war aus einer einzigen Explosion herausgekommen. Nachdem sie sich gefasst hatte, ging sie zum Fenster des Wohnzimmers, öffnete die Jalousien und das Fenster und streckte den Kopf in die stürmische Nacht. Immer noch blitzte und donnerte es, zuerst ganz in der Nähe, dann allmählich entfernter, doch das Schauspiel, das sich bot, war gewaltig. Der Wind hatte orkanartig aufgedreht, die Bäume bogen sich und ließen ein wildes Rauschen und Ächzen hören, der friedliche See schäumte in den Wellen, die Bojen der Sturmlichter tanzten und schwankten, und immer wieder wurde die Silhouette des Uetlibergs in das Blendlicht der Blitze gehoben, als wäre es helllichter Tag.
Dieses Sommergewitter hatte es in sich.
Wenig später brummte das Smartphone. »Lebst du noch? Alles okay?«
Sie musste laut lachen. Zum zweiten Mal an diesem Abend war sie gefragt worden, ob sie noch lebte.
»Yessir. Ich lebe. An allen Ecken und Enden. Und du, mein Prinz?«
Sie hörte Freds Atem. »Dann ist ja gut … Es ist doch enorm. Ein höllisches Spektakel.«
»Kann man wirklich sagen. Immerhin hätten wir gewarnt sein können.«
»Gewarnt? Vom Wettergott persönlich?« Fred schien sich beruhigt zu haben.
»Wenn man so will. Von der Meteorologischen Zentralanstalt. Von der Wetterprognose. Von der Tagesschau. Die Nachricht war hinreichend deutlich. Heftige Gewitter, verbunden mit möglichem Hagel, über der Region Zürich.«
Freds Stimme klang belustigt. »Und wir kaltblütige Menschen kümmerten uns keinen Deut darum, wie immer. Hab ich recht?«
Sarah sprach jetzt leiser. »Wie immer. Aber schön zu wissen, dass der Liebste an mich denkt … So ein Unwetter hab ich tatsächlich noch nie erlebt. Und vor allem, mitten aus dem Nichts.«
Sie schaute auf die Armbanduhr, die sie auf eine Konsole gelegt hatte, und erschrak. Es war gegen zwei Uhr morgens. Offenbar war ihr Zeitgefühl völlig durcheinandergeraten. Sie hatte auf der Couch verschlafen.
Es war nicht ausgeschlossen, dachte sie jetzt, dass die infernalische Sommerhitze nicht nur die Landschaft und die Tiere durcheinanderbrachte, sondern sogar rational agierende Menschen, jedenfalls dann, wenn sie zugleich sensibel waren.
Fred hatte ihr süße Träume gewünscht, was rührend geklungen hatte, hatte ihr noch gesagt, dass sie sich melden möge, wenn sie seines Schutzes bedürfen sollte, und hatte einen Kuss durch das Smartphone geschickt, so viel war akustisch zu entziffern gewesen, es hatte nicht besonders sinnlich, aber warmherzig geklungen.
Jetzt lag sie in ihrem richtigen Bett. Auf dem Nachttisch stand eine Tasse Tee, in welche sie nach alter Mütter Sitte ein paar Tropfen Cognac geträufelt hatte. Nach wenigen Minuten spürte sie einen Effekt. Es gelang ihr nicht mehr, ein Thema festzuhalten, wie bei softer Jazzmusik wechselte das eine in das andere, es war ein sanftes Durcheinandertal, was in den meisten Fällen ein Zeichen dafür war, dass sie gleich einschlafen würde.
Hätte sie sich selbst beobachten können, aus einem zweiten Leben heraus und fernab von ihrer realen Existenz, so hätte sie ein Schlafzimmer gesehen, dessen blaugraue Wände höchstens zu erahnen waren, während von der Küche her ein sehr schwacher Lichtstrahl auf das Bett fiel, das unauffällig modern war, derweil sich die Bewohnerin linksseitig eingerollt hatte, fast wie ein Hund, wobei der rechte Fuß nach außen zeigte, als wäre er auf dem Sprung. Die Decke lag auf dem Parkett, denn sie war, vermutlich von diesem Fuß, weg- und nach unten befördert worden, weil selbst dieses kapitale Sommergewitter keine spürbare Kühlung hatte erzeugen können.
So fand sie wohl drei Stunden Ruhe in dieser Höllennacht. Der Dienstag im August war in den Mittwoch übergegangen, die Anzeige des Datums der Uhr hatte unmerklich geklickt, das Wetter würde sich bald beruhigt haben, und wenn sie Glück hätte, würde sich Ochsner, der Staatsanwalt, in den Süden verziehen, wo er sich hoffentlich einen authentischen Sonnenbrand einfangen würde, wenn es noch Gerechtigkeit auf der Welt gab.
Es kam alles ganz anders.
Gegen sechs Uhr in der Früh trommelte jemand wie mit äußerster Wut an das schwere Holz ihrer Wohnungstüre und brüllte, dass es durch das ganze Treppenhaus dröhnte, Sarah, Sarah, aufmachen! Öffne doch die Tür!
Früher hatte sie sich manchmal gefragt, auf welche Weise es Carl und Lisa gelungen war, so einträchtig und kreativ miteinander umzugehen. Die Unterschiede waren beträchtlich. Der Mix war genial.
Jetzt standen die beiden auf ihrer Matte. Und zwar so, dass jeder mögliche Eindruck von casual, wie Carl formuliert hätte, ausgeschlossen war. Carl keuchte und schwitzte und zeigte seinen finstersten Blick. Lisa hatte die Arme in die Hüften gestemmt und nagte an der Lippe.
»Tut uns leid. Überfall. In zehn Minuten bist du unten. Bitte, Sarah, Tempo!«
Es klang barsch und nicht wie Carl. Lisa schwieg. Sarah nickte. Während die beiden nach unten verschwanden, rannte sie unter die Dusche, zog sich ein Paar Jeans und eine Bluse über, steckte die Füße in schwarze Turnschuhe und angelte sich ihre Tasche. Als sie schon hinauswollte, hielt sie kurz inne, griff sich einen leichten Pullover und den Regenhut.
Vor dem Haus blies ein steifer Wind. Die Wolken hingen schwer, doch der Regen hatte aufgehört. Das Wasser tropfte lustlos aus dem Blattwerk der Bäume.
»Mord?«
Carl nickte. »Mord.« Während der Wagen beschleunigte, musterte er sie von der Seite. Als er realisierte, dass Sarah nichts erwiderte, wiederholte er das Wort. »Mord.« Er zögerte. Dann fügte er hinzu: »Und wie!«
»Wohin fahren wir?« Sarah wurde wach. Dass sie sich keinen Espresso gegönnt hatte, war bereits der erste Fehler gewesen.
Carl blieb einsilbig. »Forch.«
Es war früh, die Straßen waren leer, nur selten kam ihnen ein Lieferwagen entgegen. Carl hatte die kürzeste Route genommen, in wenigen Minuten befanden sie sich auf der Forchstrasse, fuhren über die Rehalp Richtung Zollikerberg und dann auf die einspurige Autobahn, wo die Fahrt an Tempo gewann.
»Warum erzählst du nichts?«
Sarahs Frage löste wenig aus. »Weil ich selbst nichts weiß. Fast nichts. Und weil ich weiß, dass dir der erste und frische Eindruck immer der wichtigste ist.«
Er hatte recht. Je weniger sie wusste, je weniger man ihr erzählt hatte, bevor sie alles mit eigenen Augen sehen konnte, umso tiefer grub sich dieses erste Bild in ihr Denken ein. Es war dann während der Ermittlungen stets von Neuem in dieser bedrängenden Frische abrufbar. Überdies hatte Carl wahrheitsgemäß berichtet. Der Streifendienst der Kantonspolizei, geschockt von dem, was er vorgefunden hatte, hatte nur das Nötigste gemeldet und dazu ein paar Fotos gemailt. Diese Fotografien waren es gewesen, die wie eine Bombe eingeschlagen und Carl auf Hundert und in Windeseile vor Sarahs Wohnungstüre gebracht hatten.
Sie verließen die Autobahn bei der Ausfahrt Forch, bogen linker Hand über die Brücke und fuhren im Schritttempo durch eine Quartierstraße, die den Namen des Generals Henri Guisan trug, was sich, wie Sarah flüchtig registrierte, wenig mit dieser idyllischen Ecke vertrug.
»Sind gleich da.« Carl parkte den Polizeiwagen vor einem Gasthof, der noch nicht erwacht war, sprang hinaus und öffnete Sarah die Türe, was er, seit sie ein Team waren, noch nie getan hatte.
»Bitte, hier. Komm. Den Rest gehen wir zu Fuß.«
Es klang nicht so, als wäre darüber zu debattieren gewesen. Lisa hatte sich hinter Carl gestellt und die Hände in den Hosentaschen vergraben. Sie wirkte fragil.
Von Anfang an hatte Sarah realisiert, dass sie diese ersten Züge der Partie in Carls Obhut zu übergeben hatte. Carl hatte die Führung übernommen, auch wenn er wusste, dass sich das bald ändern würde. Außerdem hatte er gelernt, dass es klüger war, Sarah für die ersten Stunden einer Ermittlung in Ruhe beobachten zu lassen.
Sie liefen über ein Asphaltsträßchen, das auf beiden Seiten von alten Häusern gesäumt war. Linker Hand befand sich eine Scheune mit einem kleinen Vorbau, dessen Fensterläden rot gestrichen waren. Sie waren geschlossen. Rechts sah man ein älteres Wohnhaus. Auf dessen Vorplatz, dem sich ein großer Schuppen aus dunklem Holz entgegendrückte, stand ein kleiner Bagger wie sprungbereit parat.
Das Sträßchen führte jetzt steiler nach oben, vorbei an einer Wiese mit Apfelbäumen, die sich weit nach Nordwesten hin erstreckte. Auf der anderen Seite dehnte sich ein Feld aus Mais, der dicht wuchs und bereits kräftig in die Höhe geschossen war.
»Siehst du das Denkmal?« Carl presste die Worte hervor, als wollte er Sarah vor einer unbekannten Macht beschützen oder warnen, es klang gefährlich. Sein Atem ging schnell.
Sie kannte das Denkmal. War als Studentin gelegentlich da gewesen, mit ein paar Kollegen und ein paar Flaschen Bier. Die Aussicht von der Kuppe des Hügels war ein gelungener Mix aus lieblich und prächtig, auf der einen Seite schien der Zürichsee über dem Grün der Landschaft zu schwimmen, auf der anderen fiel das Gelände in Wellen hinab zum Greifensee. An klaren Tagen erkannte man den Gipfel des Säntis.
Das Denkmal selbst war ein Kriegerdenkmal, oder besser, ein Denkmal, das gefallenen Schweizern des Ersten Weltkriegs gedachte, obwohl die Schweiz, neutral, wie sie ja war, nicht am Krieg teilgenommen hatte. Den einen oder anderen hatte es trotzdem erwischt.
Nach zwei Kurven erreichten sie die Höhe. Von hier führte ein kurzer Weg, den jedes Wochenende viele Wanderer benutzten, zum Fuß des Monuments. Sarah hatte die Kolleginnen und Kollegen der Spurensicherung schon von Weitem erblickt, wie sie als weiß gekleidete Winzlinge zwischen dem Vorbau und dem Denkmal hin und her geklettert waren. Jetzt zeigten sie sich in Lebensgröße, und sie spürte gleich, dass sich Reisigs Truppe weit über das hinaus, was ohnehin ihr Geschäft war, nämlich den Tatort zu sichern und abzuklopfen, während ein Mensch stumm und tot in der Gegend lag oder saß oder hing, in großer Erregung befand.
Die drei standen am Fuß der Pyramide, die auf vier symmetrischen Seiten mit elf Stufen auf das Plateau führte.
Als Sarah nach oben blickte, wurde ihr schwindlig.
Über dem Plateau türmte sich der Koloss. Später, nachdem sie recherchiert hatte, wusste sie, dass er achtzehn Meter in der Vertikale verlief. An diesem frühen Sommermorgen, der trübe begann, sah er aus wie ein Monstrum, das lotrecht vom Himmel gefallen war. Tatsächlich war er eine Flamme, eine um die eigene Achse geschwungene Riesenflamme, die sich nach oben verjüngte und in einer Spitze auslief, die im Verhältnis zu dem Ganzen als Nadel bezeichnet werden konnte. Der monumentale Bronzeguss, der schon bei schönem Wetter etwas Finsteres verkörperte, eine elementare Macht, der man ausgeliefert schien, stand in dumpfer Schwärze, die sich gegen das Grau des Himmels und die Kronen der umstehenden Bäume umso bedrohlicher abhob.
Carl hatte Sarah bei der Hand gepackt. »Komm. Die hintere Seite.«
Er führte sie Richtung Norden, öffnete die Plastikbänder, die von der Spurensicherung gesteckt worden waren, und zog sie über die Treppe nach oben. Doch schon nach drei Stufen hatte sich diese Seilschaft ausgetauscht. Nachdem Sarah gemerkt hatte, dass der Kollege nicht mehr den Führer geben konnte, weil er mit dem Gleichgewicht zu kämpfen begann, fasste sie ihn am Arm und führte ihn ihrerseits Stufe um Stufe in die Höhe. Lisa folgte ihnen schweigend.
Als sie nach fünf Minuten oben angekommen waren, empfing sie Reisig, der Chef, der das Territorium bereits erkundet hatte, mit leerem Blick.
»Scheußlich. Kann niemandem gefallen. Auch denen nicht, die routiniert sind.« Er trat zur Seite, worauf Sarah, die sich immer noch in Carls Ärmel verkrallt hatte, einen Schrei unterdrückte.
Sie hatte viele Leichen gesehen. Viele tote Menschen, deren Botschaft fast immer aus Qual bestand. Diejenigen, die erschossen worden waren, flößten am wenigsten Schrecken ein, wenn die Kugel nicht das Gesicht zerfetzt hatte. Wasserleichen waren ebenfalls akzeptabel, sofern sie nicht schon Spuren der Verwesung zeigten.
Diese Leiche war entsetzlich. Grauenvoll.
Sie war mit Ketten am Fuß der Flamme festgemacht. So viel war erkennbar. Der Rest bestand aus einem verkohlten, unförmigen Etwas, dem sämtliche Glieder abhandengekommen waren. Nur der Schädel hob sich ab vom Rumpf und war zur Seite geneigt, während sein Hinterteil auf das Metall zu liegen gekommen war.
»Wer ist das?«, flüsterte sie, während ihr Blick auf das halb sitzende, halb liegende Etwas starrte.
»Wissen wir noch nicht. Frag lieber: Was ist das?«
Carls Stimme klang schroff. In Momenten außerordentlicher Spannung brachte sich der sanfte Carl auf geradezu aggressive Weise ein, als hätte er den Mörder schon an der Gurgel gefasst.
Reisigs erster Kommentar war kurz. Das Opfer war während der vergangenen Sturmnacht an das Denkmal gekettet worden. Was dann geschehen war, musste mit einem Blitz zu tun gehabt haben, der vermutlich senkrecht von oben gekommen war.
Manche Schauplätze strotzten vor Indizien und Verheißungen. Andere waren Banalität pur. Wieder andere gaben sich leise und verschämt, als entschuldigte sich die Tapete für die Blutspritzer, die sie ruiniert hatten.
Dieser Schauplatz besaß eine surreale Qualität. Wie bei ihrem letzten Fall, der sich ebenfalls durch eine unwirkliche Inszenierung ausgezeichnet hatte.
»Wie geht es weiter?«, fragte sie Reisig, der verloren nach unten guckte, wo seine Leute immer noch emsig nach Spuren suchten, während der eine oder die andere einen verstohlenen Blick zur Flamme warf.
»Wir werden alles zusammentragen. Dann schlägt Fabers Stunde. Und die deine hat ja bereits begonnen.« Reisigs Stimme klang rau.
»Glaubst du das? Das mit dem Blitz, und so weiter?«
Sarah und Carl waren nach unten gestiegen, was durch die Steigung, in welcher die steinerne Treppe verlief, einen Akt der Balance erfordert hatte, sogar für Sarah, die abermals Carls Arm geführt hatte. Lisa hatte sich auf eine Bank gesetzt und damit begonnen, Notizen zu machen.
»Ich weiß nicht recht. Vielleicht hat der Mörder auch etwas nachgeholfen.«
Es hatte aufgefrischt. Der Wind war dabei, die Regenfronten wegzudrängen. Da und dort rissen helle Schneisen auf, die den Zürichsee und den gegenüberliegenden Uetliberg aus der Gräue lockten.
Sie umrundeten das Denkmal, zweimal, dreimal, inspizierten das Gelände, die Straßen und Wege. Es würde nicht das letzte Mal sein. Dem Täter war es gelungen, sein Opfer herbeizuschaffen, es nach oben zu bringen, an den Sockel der Flamme festzuketten und dann möglichst schnell zu verschwinden, um nicht selbst vom nächsten Blitz getroffen zu werden.
Wenn es so gewesen war.
»Ganz einfach war das nicht.« Carl, der ihre Gedanken zu lesen schien, brummte vor sich hin. Die Erregung hatte sich gelegt.
Sarah strich sich das Haar aus der Stirn. Sie fühlte sich mies. »Eben. So ist es. Oder glaubst du, dass eine vom Blitz erschlagene Kuh …«
Carl fiel ihr ins Wort. »… so ausgebrannt und verkohlt auf der Wiese liegt?«
»Glaube ich nicht. Ganz und gar nicht. Reisig hat noch Einiges zu tun. Und Faber auch. Hast du einen Verdacht?«, fragte sie.
Carl räusperte sich. »Es war wohl gut geplant. So was wird nicht improvisiert. Zweitens, das Opfer sollte so aussehen. Genau so. Verkohlt und verbrannt. Wie ein Nichts. Drittens, …«
Bevor er weiterreden konnte, war eine junge Frau hinzugekommen. Sie trug einen weißen Schutzmantel und blaue Gummistiefel. Sarah hatte sie schon bei früheren Ermittlungen bemerkt. Sie gehörte zu Reisigs Equipe und hatte sich einen Namen als Fährtenleserin gemacht, weil sie es immer wieder schaffte, die Details in den größeren Zusammenhängen zu sehen.
»Guten Morgen. Klara Winter. Schreckliche Sache. Alle sind schockiert.«
Sie zögerte kurz, als ob sie dem Opfer ein paar Sekunden der Pietät schenken wollte. Dann fuhr sie fort: »Ich denke, wir haben etwas entdeckt, was Sie sich ansehen sollten. Nichts Spektakuläres, aber man weiß ja nie.«
Wer, zum Teufel, hatte erstens einen so verrückten Plan ausgeheckt, und zweitens die Chuzpe gehabt, ihn so skrupellos umzusetzen?
Diese Frage beschäftigte Sarah an diesem Mittwochmorgen, während sie Carl und der Frau von der Spurensicherung folgte, die rüstig einer Baumgruppe zustrebten.
»Schauen Sie. Reichlich seltsam.«
Klara Winter wies auf den Boden, der aus Erdwerk und Gras bestand. Es war nichts zu erkennen. Plötzlich fiel ein Sonnenstrahl durch die Wolken zwischen die Bäume, worauf sich das Licht an einem metallenen Gegenstand brach.
»Ein Schloss?« Carl kratzte sich an der Schläfe.
Die junge Frau nickte. Sie führte eine Stange durch den Bügel des Schlosses und hob es empor, als ob es eine Trophäe wäre.
»Zufall? Oder ein Glied in der Kette?«
»Wir werden sehen. Jedenfalls passt das doch ins Bild«, sagte Klara Winter.
Sie hatte recht, dachte Sarah. Das Opfer hatte in Ketten gelegen. Anderseits spielten hier Kinder, und die Bauern der Gegend hatten ohnehin reichlich zu tun. Es gab viele Erklärungen, wie das Schloss hierher geraten sein konnte.
Wichtiger war der Tatort als Ganzes, die Örtlichkeit mit dem Denkmal und den Wiesen und den Feldern und den Häusern und den Scheunen, das Idyll, das sich in ein Horrorstück verwandelt hatte. Vielleicht hatte jemand etwas gesehen oder gab es keinerlei Zeugen? Hatten sich alle, die hier wohnten und arbeiteten, in ihren Betten verkrochen, während der Sturm durch die Nacht tobte und die Blitze durch die Wolken fuhren wie Teufel, denen jeder Krawall zupasskam, um die Menschen zu schocken?
Sie liefen denselben Weg, den sie vor bald drei Stunden genommen hatten, zurück zum Wagen. Sarahs Kopf begann sich mit seltsamen Bildern zu füllen, die sie ohne Logik und Ordnung bestürmten. Die verkohlte Leiche, der weggedrehte Totenschädel, die riesige Flamme, die sich höhnisch nach oben reckte, Reisig, der Herr der Spuren, die junge Frau Winter mit ihrem Schloss, dazu Carl, der den Eindruck machte, als wäre ihm dieser Mord an die Substanz gegangen. Auch Lisa schien nicht bei sich selbst, ihr Blick ging ins Leere.