Das Fallbeil - Fabio Lanz - E-Book

Das Fallbeil E-Book

Fabio Lanz

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Beschreibung

Sarah Contis zweiter Fall führt die Ermittlerin in die Abgründe der Zürcher Kunstszene. Nach der Vernissage einer Ausstellung über die Kunst nordkoreanischer Dissidenten wird im neuen Chipperfieldbau des Zürcher Kunsthauses die Leiche einer Frau entdeckt. Die Mordwaffe: ein provokantes Kunstwerk. Das Mordopfer: eine scharfzüngige Kulturjournalistin, die sich mit ihrer Arbeit mehr Feinde als Freunde machte. Die Tat: eine beinahe künstlerisch inszenierte Hinrichtung. Je tiefer Sarah Conti in das Labyrinth der möglichen Täter eintaucht, desto verwirrender werden die Spuren. Auf der Suche nach dem Mörder gerät die Kommissarin in eine Welt, in der Geld und Schweigen unheilige Allianzen eingehen.

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INHALT

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ÜBER DEN AUTOR

Fabio Lanz, geboren in Zürich, durchlief eine Karriere in diversen Tätigkeiten, bevor er das Schreiben entdeckte. Dabei entwickelte sich sein Blick für das Schöne und das Böse. Fabio Lanz lebt in Zürich und in der Provence. Nach Ein kaltes Herz (2021) erscheint nun der zweite Band seiner Zürich-Krimireihe.

ÜBER DAS BUCH

Sarah Contis zweiter Fall führt die Ermittlerin in die Abgründe der Zürcher Kunstszene. Nach der Vernissage einer Ausstellung mit Kunst nordkoreanischer Dissidenten wird im neuen Chipperfield-Bau des Kunsthauses die Leiche einer Frau entdeckt. Die Waffe: ein provokantes Kunstwerk. Das Opfer: eine scharfzüngige Kulturjournalistin, die sich mit ihrer Arbeit mehr Feinde als Freunde zu machen schien. Die Tat: eine beinahe künstlerisch inszenierte Hinrichtung. Je tiefer Sarah Conti in das Labyrinth der möglichen Täter eintaucht, desto verwirrender werden die Spuren. Auf der Suche nach dem Mörder gerät die Ermittlerin in eine Welt, in der Geld und Schweigen unheilige Allianzen eingehen.

PROLOG

Der Schnee lag schwer und dicht. In der Nacht hatte es abermals geschneit, sodass das Schweizer Mittelland wie ein sanft gefalteter Teppich erschien, aus dem einzelne Berge und Hügelzüge verschlafen herausragten. Sogar die Seen lagen ganz still in diesem Muster aus Flächen und Kämmen. Der Nebel saß tief und ließ die Ufer verschwimmen.

Gegen Morgengrauen war von Westen her ein scharfer Wind aufgekommen. Hätte sich ein tüchtiger Berggänger um diese Zeit in die Steilhänge des Pilatus verloren, so hätte er gehört, wie die Bise geradezu furios um die granitenen Zinnen des Gipfels tobte. Und vielleicht hätte er auch gesehen, dass die schwarzen Dohlen dagegen anflogen, mit einer Mischung aus Wut und Enttäuschung, und sich immer wieder blitzschnell fallen ließen, um das Spiel gleich wieder von vorne zu beginnen.

Februar. Ein Monat mit wenig Charakter. Ein reichlich langweiliges Zwischendurch, das bloß den Vorteil hatte, den ewig langen Januar gestoppt zu haben und dem lebhaften März vorauszueilen. So war es doch, wenn man ehrlich war und nicht voreingenommen, weil der eigene Geburtstag zufällig in den Februar fiel.

Sarah war allerdings der Meinung, dass kaum ein Monat besser geeignet war, in Ruhe und Zuversicht seine Arbeit zu tun. Als sie ihrem Kollegen Carl davon erzählt hatte, die Theorie der Monate und ihrer Charaktere beschrieben hatte, hatte der nur gelacht und gesagt, es sei bemerkenswert, dass die große Ermittlerin so kalenderverbunden sei.

Früh um acht Uhr schwamm sie im Pool des Hotels. Wie es ihre Gewohnheit war, wenn sie Zeit dafür hatte: eine knappe Stunde, geübt, konzentriert, ein starkes Hin und Her. Und ein Ritual, bei dem der Kopf bald ausgeknipst war, dieses Gehirn, das sonst so mächtig in Bewegung war, kombinierte, Schlüsse zog, Ideen herankommen ließ, prüfte, wieder verwarf.

Zum Ende der Übung stieg sie durch eine Schleuse in den Warmwasserteil, schwamm nach draußen, spürte die eiskalte Luft wie eine Ohrfeige, umrundete ein paar steinerne Sitze und fand sich an der Längswand wieder, die als Terrasse oder Balustrade in spektakulärer Weise den Blick freigab: auf den Vierwaldstättersee, aber noch viel weiter, weit hinab und hinein ins Seeland, dann nach Nordosten hin zum Zugersee, und wenn die Sicht klar war, konnte man sogar die Kapellbrücke, das Wahrzeichen der schönen Stadt Luzern, erkennen, wie auf einem Plakat, das von ununterbrochenen Sommerfreuden und heiteren Vergnügungen erzählte.

Jetzt schien nichts davon wahr. Es war Winterzeit, die Starre im Land, und massenweise kahles Gehölz, das wie tot in der Gegend stand.

Sarah senkte den Kopf. Sie bemerkte, wie steil das Gelände unter dem schwebenden Infinitypool nach unten rauschte. Rechter Hand verlief die Trasse der Standseilbahn, die Talstation lag direkt am See und machte in dieser Jahreszeit einen traurigen Eindruck. Nach links hin türmte sich das Massiv des Pilatus. Noch lange nicht die Nordwand des Eigers, dachte Sarah amüsiert. Aber dennoch etwas Drohendes, Finsteres, Lauerndes.

»Na, schon fertig? Belebt und gestählt?«

Fred war kaum hörbar von hinten herangeschwommen und hatte seine Hände auf Sarahs Schultern gelegt. Sie zuckte zusammen, lachte und wand sich.

»Du hast ja Nerven. Lässt mich ganz alleine schwimmen und kommst dann aus dem Nichts und spielst den Inquisitor. Nicht unbedingt die feine Art.«

Es war nicht ernst gemeint. Es gab, seit sich die beiden kennengelernt hatten und ein Paar mit Phasen und Pausen geworden waren, fast durchweg diesen leicht ironischen Ton. Diesen Sound aus Wohlsein, Augenzwinkern und Distanz, sogar einer Spur von Diplomatie. Als wüssten beide, Sarah und Fred, dass ein bisschen Komödie dieser Beziehung mehr Elan und Profil verleihen würde als die pure Passion, die Paare packte, bis sie auseinanderliefen, um in den nächsten Sturm zu rennen. Mit anderen ähnlichen Partnern.

»Und? Gefällts dir? Hält es, was es versprach?«, fragte Fred.

»Frag nicht, als wärst du Reiseleiter. Oder ein Hotelier. Es muss ja nicht immer alles aufgehen. Aber ja, es gefällt mir, und eigentlich ist es genau die richtige Jahreszeit … Jedenfalls für mich.«

Sarah nahm Freds Arme und zog ihn zu sich, während ihr Blick zur langen Front der Fenster wanderte, die den Innenpool vom Außenpool trennten. Zu dieser Stunde war drinnen wenig zu erkennen. Sie sah ein Paar, das sich in die weißen Bademäntel des Hotels gehüllt hatte und den Liegen zustrebte. Die beiden Bademäntel waren kaum mehr als helle Schemen. War es Täuschung, dass sie heftig, ja feindlich gegeneinander gestikulierten?

»Du hast mir gesagt, dass du schon lange mal auf den Bürgenstock wolltest. Auf den Spuren von Audrey Hepburn«, sagte Fred, dessen Atem schneller ging.

»Klar. Die Goldenen Fünfziger. Viel Stil, viel Geld. Teure Autos, schöne Frauen. Tempi passati.« Sarah seufzte. Ihre Stimme klang spöttisch.

»Na komm. Du bist doch tausendmal näher bei Audrey als bei …«

Sie unterbrach: »Als bei den Kardashians?«

Freds Lachen fuhr wie eine Fanfare durch die Morgenstille. »Donnerwetter. Frau Doktor Conti kennt die Kardashians. Wer hätte das gedacht!«

So ging es noch ein paar Minuten weiter, entspannt, harmlos, gelöst. Sarah war überrascht, dass sie sich so gehen lassen konnte. Aber es stimmte. War sie mit Fred zusammen, was nicht an der Tagesordnung war, kam eine fast ungekannte Heiterkeit auf. Eine Nonchalance bei guten Gefühlen, die das Leben als Single echt bereicherte. Man konnte es nicht anders sagen. Und das Beste war, dachte sie, dass sich das eine mit dem andern verbinden ließ. Nicht immer ganz konfliktfrei, aber für beide Seiten mit Gewinn. Schon freute sie sich wieder auf das Alleinsein in ihrer Wohnung, und wenn sie dort Klavier spielen oder Musik hören würde, wäre sie auch bald wieder bereit für Fred.

Als hätte Fred Sarahs Gedanken gelesen, drückte er sie an sich und flüsterte ihr ins Ohr.

»Wir sind doch wirklich ein tolles Paar. Du und ich. Die Detektivin und der Werber. Die Jägerin und der Verkäufer. Die Philosophin und der Gentleman.« Fred war in Fahrt gekommen.

»Stimmt. Völlig richtig. Solange du mich nicht heiraten willst und die Regeln beachtest«, sagte Sarah. Es sollte lustig klingen.

Fred zuckte zurück. Er schien irritiert. Das war nicht nötig gewesen, und Sarah wusste es spätestens, als sie in sein Gesicht schaute. Die braunen Hundeaugen waren trüb geworden.

Vor Jahren hatte Fred alles auf eine Karte gesetzt. Er hatte Sarah nach Lissabon eingeladen, in ein Hotel, das herrlich auf einem bunten Hügel lag, und am zweiten Abend hatte er alles gegeben, was zu geben war, indem er draußen, auf der Terrasse, auf die Knie gegangen war, ihr, Sarah, einen unerhörten Ring überreicht und sie halb trotzig, halb schüchtern gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle. Das war, wenn man es genau nahm, ein Tiefpunkt ihrer Beziehung geworden.

»Pardon, mein Liebster. Das war grob, nicht so gemeint. Nehme ich hiermit feierlich zurück.«

Sie klopfte Fred auf die Schulter, tauchte ab und schwamm mit raschen Zügen zurück, stieg durch die Schleuse, trocknete die Haare und warf sich den Bademantel über.

Fred folgte ihr wie ein Schatten.

Der Tag versprach wenig Schönes. Das Wetter blieb bedeckt, manchmal verhüllten Schneeschauer das Gebirge, manchmal pfiff ein steifer Wind. Warum auch nicht, Sarah war nicht auf den Bürgenstock gekommen, um eine Postkarte zu genießen. Sie wollte Ruhe, Komfort, ein gutes Glas Wein. Und sie wollte Fred, natürlich, im Bett, aber auch anderswie und anderswo, eigentlich sogar genau so, wie er im Pool gewesen war, mitsamt seiner Lebensfreude, seiner Verletzlichkeit, mitsamt seinem Sportsgeist, der niemals nachtragend war. Und ein weiteres Gütesiegel: Fred war kein Macho.

Nach dem Frühstück waren die beiden zwei kurze Stunden durch die Gegend gelaufen, oder vielmehr gestolpert, denn der Schnee stand hoch und die Füße sanken tief in die Wege hinein, die nicht mehr gepfadet waren, nur noch die roten Holzstöcke als Markierungen gelten ließen. Nachdem sie die Höhe erreicht hatten, die hier eine Kanzel bildete, sahen sie den Gipfel des Rigi, der kaum mehr war als die Silhouette eines Dreiecks gegen das dunkle Grau des Himmels.

»Es ist kalt. Saukalt. Wir kehren um. Sauna ist angesagt.«

Fred hatte das Kommando übernommen. Er fasste ihre Hand, und gemeinsam stapften sie zurück, während sie bei jedem Schritt das Knie heben mussten, um voranzukommen. Wie Kinder in einem Bilderbuch, dachte Sarah.

Der letzte Fall war hart gewesen. So brutal und obendrein komplex, dass Sarahs ganze Energie gefordert gewesen war. Das gesamte Team war an seine Grenzen geraten. Carl Vormüller, der Elefant, der selten aus der Ruhe geriet, war am Schluss erschöpft und wütend gewesen. Lisa, die junge Assistentin, war oft erregt gewesen, hatte allerdings auch einiges gelernt. Sarah war äußerlich fast durchweg kühl geblieben, bei sich selbst, aber wenn sie ehrlich war, stimmte das nur zum Teil.

Wieder schien Fred ihre Gedanken gelesen zu haben. Wenn das so weiterging, wurde es unheimlich.

»Du brauchst einen neuen Fall. Etwas sanfter als das letzte Mal, etwas … etwas zivilisierter. Aber …« Fred ließ den Satz ins Leere laufen.

Sie hatten sich auf ihre Liegen gekuschelt. Fred hatte in einer Zeitschrift geblättert, Sarah hatte im Don Quijote gelesen.

»Ausgerechnet jetzt? Wo ich endlich drei Tage des Friedens und der Freude mit meinem Liebhaber genieße? Du spinnst.« Sie warf Fred eine Banane zu, die dieser geschickt auffing, schälte und sofort zu verzehren begann.

»Jetzt. Oder morgen. Oder übermorgen. Jedenfalls bald. Sarah Conti ohne Fall ist wie Chopin ohne Klavier.« Fred drückte die einzelnen Silben zwischen seinem Bananenmund hindurch.

»Du wirst ja kreativ. Wie ein Schriftsteller. Sarah Conti ohne Fall … sag doch lieber: ohne Fred. Ohne Fred … ist wie Glenn Gould ohne Publikum.«

Sie lachte. Hell und leicht.

»Gould hasste das Publikum.« Freds Argwohn war geweckt.

»Genau so war es. Erst in der absoluten Stille mit sich selbst konnte Glenn der Musik so huldigen, wie er’s für richtig hielt«, sagte Sarah mit gespielter Gestelztheit.

Je länger sie zusammen waren, dachte sie, desto mehr schätzte sie ihr Pingpong, das sich zu einer Kunst zu entwickeln begann. Auch wenn Fred einen Schlag hinterher blieb.

Sie ging zurück in die Sauna. Danach kroch sie in die Schwärze einer mit warmem Salzwasser gefüllten Höhle. Es war so dunkel, dass sie sich vortasten musste, mit Händen und Füßen. Gleich darauf schwebte sie elegant und schwerelos über der Brühe aus Salz und Wasser, ließ sich treiben, ließ die Arme nach außen hängen, ruderte mit den Füßen, versuchte an nichts zu denken, begann zu dösen.

»Wenn du nicht aufhörst, mache ich Schluss.«

Die Stimme kam aus dem Nirgendwo. Sarah horchte auf.

»Und du weißt, was ich damit meine. Ich mache Schluss … mit dir. Schluss, aus und fertig.«

Die Sätze hallten. Dumpf und tief.

»Na und? Umso besser. Für uns beide. So kann es ohnehin nicht weitergehen.«

Eine zweite Stimme. Höher, schärfer.

»Du hast es nicht begriffen. Mit dir wird Schluss sein. Tot und Schluss. Ich warne dich zum letzten Mal.« Die erste Stimme.

»Dazu hättest du nie den Mut. Nie die Kraft. Denn weißt du, was du bist? Du bist feige. Alt, verdorben und feige.«

Sarah streckte sich. Sie überlegte, woher das Gespräch kam. Wenn es überhaupt ein Gespräch war, es klang eher nach einer gehässigen, gefährlichen Auseinandersetzung.

Ihre Neugier war geweckt. Sie wand sich aus der Höhle, hielt sich am Gestänge, legte den Bademantel um und lief auf leisen Sohlen durch die Gänge. Die Anlage war groß. Links und rechts zweigten weitere Gänge ab, die in verschiedenen Kavernen mündeten. Als Sarah in Richtung des Ruheraums ging, sah sie weit vorne zwei Mäntel. Der eine lief schnell, energisch. Der andere ging schwer und fiel bald zurück. Nichts zu machen. Zweimal klackte eine Türe ins Schloss.

Die Mäntel waren verschwunden.

Zwei Stunden später saßen Sarah und Fred zu Tisch. Fred hatte ein dunkles Jackett angezogen, Sarah war in ein kleines Schwarzes geschlüpft und hatte eine Perlenkette umgelegt, die ihr Fred geschenkt hatte. Zum vierzigsten Geburtstag.

»Das gibt es ja nicht. Ich sagte es doch. Du brauchst einen Fall. Und schau, schon ist er da. Pünktlich eingetroffen. Wie bestellt.«

Fred hatte Sarahs Hand gefasst, während sie von ihrer Geschichte berichtete. Die beiden saßen gemütlich, das Restaurant strahlte in Eleganz, und auf den Tischen leuchteten die Kerzen. Die Atmosphäre war gediegen. Der Kellner hatte den Hauptgang zerlegt und serviert, ein Steak von Gewicht, dem Sarah zugenickt hatte, weil der ranke und schlanke Fred genau diese Freude an genau diesem Abend verdient hatte.

»Unsinn. Es waren bloß ein paar Sätze. Wie sie in jeder Beziehung fallen können.« Insgeheim wusste sie, dass dies nicht wirklich stimmte.

»In jeder Beziehung? Aber bitte. Die eine Stimme macht die andere fertig? Will die andere töten? Das glaubst du doch selber nicht«, sagte Fred und erhob das Glas.

»Wie oft willst du noch anstoßen? Bist du eigentlich zum Prost-Onkel geworden?« Sarah lachte und stieß an.

»Im Ernst. Das ist doch spannend. Möchte nur wissen, wer das war.«

»Ich eigentlich nicht. Wozu denn? Sag mir, wozu? … Um eine tiefere Stimme prophylaktisch zu verhaften, weil sie damit droht, eine höhere Stimme abzumurksen? Dann könnte ich ja gleich die Hälfte der Schweizer Bevölkerung in Gewahrsam nehmen.«

Sarah versuchte die Episode, die nur wenige Minuten gedauert hatte, ins rechte Licht zu rücken. Aber was war das rechte Licht? Es stimmte, dass sich Menschen Böses androhten, wenn der Tag lang war. Worauf sie das meiste wieder vergaßen oder einen Burgfrieden schlossen oder das Mordprojekt vertagten oder im Tagebuch deponierten oder bald darauf wieder in reinster Liebe neutralisierten. Ebenso stimmte, dass es immer wieder, wie der Aquinate listig formuliert hatte, von der Potenz zur Tat kam. Sonst wäre Sarah Conti als Ermittlerin arbeitslos geworden.

»Ein älterer Herr, der von seiner Freundin vorgeführt wird. Ein leidender Liebhaber, dem die Dame davonschwimmt. Ein …« Fred und der Rotwein hatten zusammengefunden.

»Was auch immer. Sei einfach froh, dass ich dir ergeben bleibe. Ergeben und treu«, meinte Sarah, während sie sich an dem Steak zu schaffen machte, das ihrer Meinung nach besser ein Wolfsbarsch hätte sein sollen.

Die ganz großen Leidenschaften waren an ihr vorbeigegangen. Selbst der Teenager Sarah Conti war nie mit Haut und Haar verliebt gewesen. Liebesverrat und Verlust, das kannte sie von Freundinnen, auch von Freunden, und wenn sie zuhörte, kamen ihr die Storys theatralisch vor. Ähnlich gelassen verhielt sich Sarah gegenüber Gefühlen von Eifersucht oder Hass. Weder konnte sie besonders wütend oder nachtragend sein noch hätte sie heftig nach Rache gesonnen, wenn sie verletzt worden wäre. Einmal hatte ihr Fred, als sie über diese Themen diskutierten, mit einem Mix aus Bewunderung und Spott gesagt, ihr romanisches Blut sei auf geheimnisvolle Weise gekeltert worden. Germanisiert worden.

War sie deshalb etwa langweilig? Nie für sich selbst. So viel war sicher. Im Übrigen kannte Sarah einige Menschen, die sich tatsächlich langweilten, und zwar mit und vor sich selbst. Pech gehabt.

Der Abend war charmant ausgeklungen, und Fred hatte sich als guter Liebhaber bewiesen.

Sarah lag noch wach im Bett. Das Zimmer war elegant. Das Panoramafenster war versiegelt, kein Fluchtweg nach draußen. Wo ohnehin der Abgrund gewartet hätte. Fred schnarchte leise, fast unhörbar sanft. Er war ein guter Mensch, dachte sie.

Im Traum hörte sie Stimmen, sie kamen stetig und bedrohlich näher, wie große, finstere Körper. Sie lagen miteinander im Streit. Plötzlich stieß die helle, hohe Stimme einen gellenden Schrei aus.

Sarah erwachte. Jetzt merkte sie, dass sie nicht nur geträumt hatte. Irgendwann war der Traum in die Wirklichkeit übergesprungen.

»Hast du das gehört?« Fred wandte sich schlaftrunken zu ihr und suchte ihre Hand, die sich unter das Kissen vergraben hatte.

»Ja. Was war das? War das echt?«, fragte Sarah verwirrt.

»Natürlich war das echt. Echt und ätzend.« Fred saß auf der Bettkante. Er stand auf, ging zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Draußen war tiefe, schwarze Nacht.

Sarah hatte sich aufgesetzt. Das blonde Haar hing ihr vor den Augen. Sie schüttelte es weg. Sie war hellwach.

»Die Stimme. Die Stimme in der Sauna. Irgendwo habe ich diese Stimme schon gehört.«

»Die hohe oder die tiefe?«

»Die tiefe. Das Vibrato«, flüsterte Sarah.

Kurz darauf war sie zur Rezeption gelaufen, hatte den Nachtportier aufgescheucht und ihn gefragt, ob auch er etwas gehört habe. Der aber hatte nur verschlafen geblinzelt. Als sie durch die Gänge zurückging, horchte sie an den Zimmertüren. Nichts.

Daraufhin lagen die beiden eine gute halbe Stunde wach, bevor sie in den Schlaf zurückfanden, der diesmal mittelschwer und ziemlich angenehm verlief, mindestens was Sarah betraf, die, wie ihr Fred beim Aufwachen erzählte, mehrmals leise gelacht habe.

Auch der Rest dieser kurzen Reise auf den Bürgenstock am Vierwaldstättersee nahe der schönen Stadt Luzern hatte kaum Wünsche offengelassen.

»Müssen wir öfter machen«, sagte Fred, als er Sarah zum Abschied küsste und vor ihrer Wohnung an der Dufourstrasse in Zürich, Kreis 8, wie ein Kavalier absetzte, der sich auf das nächste Abenteuer mit der Frau freute, um die ihn die halbe Welt beneidet hätte, wenn sie Sarah Conti nur ein wenig besser gekannt hätte.

Drei Wochen später begann ein Drama.

1

»Gut geschlafen? Alles in Ordnung?«

Carl Vormüller war in Sarahs Büro gekommen und hatte sich in den Besucherstuhl gefläzt. Er zog ein weißes Taschentuch aus der Hose und wischte sich über die Stirn. Er wirkte müde und doch irgendwie gut gelaunt.

»Alles in Ordnung. Und bei dir? Warum fragst du überhaupt?« Sarah hob die Braue.

Carl räusperte sich. »Einfach so. Reine Gewohnheit.«

Er streifte sie mit einem kurzen Blick, stemmte die Ellenbogen auf die Lehne und verschränkte die Hände. Wie ein Buddha, dachte Sarah. Sie stellte fest, dass der Kollege wieder zugenommen hatte, nachdem er während des letzten Falls Gewicht verloren hatte. Noch immer wollte sie ihn fragen, wie es mit dem Herzen stand.

In der letzten Nacht war ein Föhnsturm über die Stadt Zürich gebraust und ohne jede Vorwarnung so stark geworden, dass er Äste weggebrochen, Straßenschilder umgestürzt, Dachziegel gelockert und Fensterläden aus den Angeln gehoben hatte. Als Sarah gegen drei Uhr morgens aufgewacht war, weil das Tosen ständig stärker wurde, hatte sie vom Fenster her gesehen, dass der Abfallcontainer ihres Hauses mitten auf die Straße gefegt worden war. Sie hatte eine Polizeistreife angerufen. Man hatte ihr unwirsch mitgeteilt, dass sie nicht die einzige Anruferin sei, die mit dem Sturm Probleme habe. Sarah war nach unten gelaufen, im Treppenhaus fast mit ihrer Freundin Gretchen Schulze zusammengeprallt, die offenbar von ähnlichen Absichten getrieben war, und mit vereinten Kräften hatten die beiden Frauen den Container zurück in sein Geviert vor dem Haus geschoben. Dann waren sie in Gretchens Wohnung gegangen, wo die Freundin Tee aufgebrüht und Salzmandeln angeboten hatte. Rico, der Hund, hatte in seiner Ecke gelegen und geschnarcht, manchmal hatte sein Körper leicht gezuckt. Er träumt, hatte Gretchen gesagt und gelächelt.

Doch an diesem Arbeitsmontag früh im Monat März war Sarah Conti gegen die Vermutung des Kollegen Vormüller frisch und munter, als hätte ihr der Sturm nur zusätzliche Energien eingegeben.

»Was gibts? Wo stehen wir?«, fragte sie durch die Morgenhelle, die den umliegenden Häuserzeilen des Kasernenareals ein hartes Relief verlieh.

»Alles wird ins Lot kommen. Alles wird sich ordnen. Zur Rechten wie zur Linken des Herrn.« Carl hatte die Hände geöffnet, als wäre er ein Vorsänger, der Wichtiges zu vermelden hatte.

»Hör mir auf mit deinen Sprüchen. Dein Hobby ist längst zum Laster geworden«, knurrte sie und schenkte sich Kaffee aus der Thermoskanne nach.

Tatsächlich hatte Carl die Angewohnheit entwickelt, seine Umwelt periodisch mit Weisheiten, Einsichten oder Zitaten zu beglücken. Die Weisheiten kamen unerwartet, darin bestand wohl der Spaß, aber häufig passten sie so schlecht zur Sache wie Carls buntes Jackett zu dessen Figur, die dadurch umso massiver erschien.

»Es war der Ehemann? Es war der wild gewordene Macho, der beim Verhör den Leisen gespielt hatte?« Sarahs Frage klang wie ein Statement, an dem nicht mehr zu rütteln sein würde.

»Er hat noch nicht gestanden. Aber ja. Alles deutet darauf hin. Großfamilie hin oder her, das Motiv war bei Vlado am besten aufgehoben. Frau geht fremd, Mann sticht zu.«

Carl schien das Gespräch auszukosten. Er wurde zusehends munterer, was merkwürdig mit der Haltung seines Körpers kontrastierte, der immer schwerer im Stuhl zu liegen schien.

»Was sagen die Schwestern des Opfers? Was sagen die vielen Tanten?« Sarah versuchte Neugier für einen Fall zu zeigen, der sie nicht wirklich reizte. Bei Carl und der Assistentin Lisa lag er in den besten Händen.

»Wie gesagt, Großfamilie. Mauern des Schweigens. Du kennst das ja. Doch wenn man ein wenig forscht und bohrt, passt das eine zum anderen. Und Vlado wird plötzlich auch offiziell zum Wüterich und Bösewicht. Wenn die Frauen nämlich kapiert haben, dass wir ihn richtig einbuchten und sie vor ihm sicher sind, werden sich Schleusen öffnen.«

Carl hatte recht.

»Na gut. Ihr macht das schon«, erwiderte Sarah.

Carl nickte in sich hinein. Er schien unschlüssig, kaute an der Lippe, blickte zu Sarah. Das Grinsen saß ihm schief im Gesicht.

»Ich will mich nicht beklagen. Wäre ja dumm. Und der letzte Fall war ja wahrhaftig nicht ohne …«

»Aber was, Herr Kollege?« Sarah hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Sie ahnte, was kommen würde.

»Aber was? Also: Wenn ich sehe, was Lisa und ich jetzt treiben, wie Lisa und ich herumstochern, in der Großfamilie, in der Seele des mutmaßlichen Mörders, und so weiter, dann …«

»Dann was?«

»Dann wünschte ich tatsächlich, dass wir wieder einen Fall bekommen. Einen richtigen Fall. Einen Fall, du weißt schon … mit allem Drum und Dran.«

Sarah musste lachen. Auch Vormüller war nicht für den Durchschnitt geschaffen. Für das Durchschnittswirken eines durchschnittlichen Fahnders mit Dienst nach Vorschrift und Täter nach Schema F.

»Du sagst es. Eigentlich kennen wir’s. Wenn wir mittendrin sind, in einer riesigen Sache, sehnen wir uns nach dem Ende. Und wenn wir Alltag haben, wünschen wir uns Abenteuer.«

Carl grunzte.

Sie wollte weiter philosophieren, doch jemand hatte an die Tür geklopft. Lisa stand auf der Schwelle. Sie hatte das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und die große Brille weit unten auf der Nase platziert.

»Guten Morgen … oder auch nicht … Jedenfalls …« Lisas Atem ging schnell.

»Oder auch nicht? Was soll denn das heißen?«

Sarah tat überrascht. Ging es diesmal um mehr als um die Laune der begabten und erfrischend natürlichen Assistentin?

»Frau Conti, lieber Carl, es ist zum Heulen.«

»Was ist zum Heulen, meine Liebe?« Carl tat so, als blätterte er durch eine Zeitung, die ihm nichts Neues verkünden konnte.

»Da warten wir auf die Schützenhilfe der Frauen. Warten geduldig, dass sie auspacken, nachdem der Mörder, pardon: der mutmaßliche Mörder, gemütlich bei uns einsitzt.«

»Und dann?« Carl schien über den Rand der Zeitung zu blinzeln.

»Und dann sagt gerade diejenige, mit der ich am meisten gerechnet habe, nein, es war alles ganz anders, und überhaupt, unser mutmaßlicher Täter sei in Wahrheit das Opfer, ein Getriebener, der von seiner Frau, einer Schlampe, zu diesem Unfall richtiggehend aufgehetzt worden sei.«

»Unfall?« Sarah runzelte die Stirn.

»Unfall. So ist es. So weit haben wir’s gebracht. Wir selbstbewussten, emanzipierten Frauen.«

Carl musste Lisas Gedanken gelesen haben. »Ich sehe, dass wir wirklich einen Fall brauchen. Ein Ding, das uns echt fordert.«

Sarah hatte sich im Stuhl aufgesetzt und ließ einen Bleistift zwischen den Fingern spielen.

»Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen?« Lisa kicherte.

»Jedem großen Fall geht auch ein Warten voraus. Das Warten ist nicht nur die Ruhe vor dem Sturm. Es ist ein Sammeln der Kräfte. Ein Nach-innen-gehen. Ob ihr’s glaubt oder nicht.«

Sarah hatte recht. Jeder Bergsteiger kannte das. Die Wand, die er bezwingen wollte, lag tief und fest im Nebel. Nichts zu sehen. Nichts zu spüren. Nur das gestaltlose, fassungslose Ungefähr. Doch plötzlich war der Berg in seiner vollen, furchterregenden Größe zu sehen. Die Partie konnte beginnen.

So war dieser Montag vergangen, wie er begonnen hatte. Mit weiteren Ermittlungen zu einem Mord, der sich als Totschlag herausstellen würde, und mit Lisas Frustration darüber, dass sich Frauen auch im 21. Jahrhundert nach den Werten einer männlich dominierten Wirklichkeit richteten. Und das nicht nur, weil sie Angst hatten.

Sarah hatte früher Schluss gemacht. Sie lief vom Gebäude der Kantonspolizei die Sihl entlang Richtung See und bemerkte, dass der Frühling im Lande angekommen war. Die Bäume trieben aus, in den Grünanlagen schossen Tulpen und Krokusse hervor. Niemand sollte sagen können, dass Zürich nur eine Stadt der Steine und der Schwäne war.

»Ah, Signora Conti. Welche Freude. Heute etwas früher unterwegs?«

Pasquale strahlte hinter dem Ladentisch. Der Feinkosthändler hielt die Hände vor den Bauch, blinzelte und wartete auf die Bestellung einer Kundin, die ihn niemals reich machen würde.

»So ist es. Sie durchschauen alles. Sogar das Offensichtliche.« Sarah lachte und blinzelte spöttisch.

»Das Übliche?«

Sie studierte die Auslagen und wählte Rohschinken, ein Stück Pecorino Sardo, eine Portion Gurkensalat, einen kleinen Becher mit eingelegten Kapern und ein Baguette, das soeben aus dem Ofen gekommen war.

»Und? Viel zu tun, Signora? Sie müssen nichts sagen. Ich aber sage es jedem, der es wissen will: Die Dottoressa ist meine klügste Kundin.«

»Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment ist.« Sarah lachte, zahlte, stieß in der Tür mit einem alten Bekannten zusammen, murmelte eine Entschuldigung und ging nach Hause.

Ihr Zuhause war ein Glücksfall. Die Wohnung lag im dritten Stock eines Hauses aus den Gründerjahren, an der oberen Dufourstrasse. Sie war renoviert worden, besaß vier geräumige Zimmer, einen Keller und eine kleine Mansarde und gab den Blick frei auf den Zürichsee, als säße man in einer Loge. Oder in einem Schaufenster der meteorologischen Zentralanstalt. Denn das Wetter war hier mit Händen zu greifen. Die Wolken hatten eine geradezu wilde Kraft.

Als sie die Treppen hochstieg, kam ihr Gretchen entgegen. Kurzes Hallo. Rico grüßte, indem er an der Tasche mit den Lebensmitteln zu schnüffeln begann. Die Psychologin, eine Freundin, auf die man sich verlassen konnte, schien in Eile. Bevor sich das übliche Hausgespräch hätte entwickeln können, hörte Sarah, wie die Eingangstür mit einem Knall ins Schloss fiel und Rico vom Vorgarten her kurz anschlug. Der Zürcher Alltag als Ritual und Kammerkonzert, dachte sie. Verlässlich wie die Nachrichten. Oben angekommen stieg sie in die Dusche, dann in ein Paar Jeans, streifte einen Rollkragenpulli über und setzte sich ans Klavier. So viel Ausflug ins Schöne durfte sein. Die Pianistin, die es nie zum Profi gebracht hatte, obwohl der Plan einst bestanden hatte, weil die Begabung offensichtlich war, schlug die Noten auf und spielte ein langsam singendes Schubert-Stück, das ihrer Laune entsprach. Sie war locker und ruhig und nach innen gekehrt. Nachdem sie ihr Mahl beendet hatte, legte sie eine CD von Diana Krall ein. Feels like home. Perfekt.

Der Macho, der die eigene Frau massakriert hatte, spukte wie eine ferne Boje über tiefem Wasser. Lisas Ausbruch wirkte zu dieser Stunde wie eine borstige Anekdote. Der Abend war eigentlich okay.

Bis das Smartphone klingelte. Die Stimme am anderen Ende war nicht laut. Aber sie war wütend. Mit der Ruhe wars vorbei.

2

Dass Sarah Polizistin geworden war, war nicht nur Zufall. Das Studium der Rechtswissenschaften war monoton verlaufen. Wenige Lehrpersonen hatten das Zeug, Sarah zu fesseln. Deshalb hatte sich die junge Frau zur Überraschung ihrer Eltern auch in der Musikwissenschaft getummelt. Die Ausbildung zur Pianistin ging damit Hand in Hand. Der Vater, ein gebürtiger Tessiner, der mit der Familie früh nach Zürich gekommen war, war stolz gewesen, eine so vielseitige Tochter zu haben. Die Mutter gab sich besorgt. Sie hatte das Gefühl, dass Sarah etwas mehr Lebensnähe hätte gebrauchen können. Später, als Substitutin in einer Zürcher Anwaltskanzlei, zeigte Sarah, was in ihr steckte. Sie war rasch im Kopf, beharrlich, strukturiert und hatte einen sechsten Sinn für Winkel und Tricks. Doch irgendetwas fehlte. Der Nervenkitzel? Die Überraschung? Die Bodennähe? Jedenfalls war ihr eine Stelle bei der Kriminalpolizei angeboten worden. Obwohl viele Freunde abgeraten hatten, hatte sie zugegriffen. Rasch hatte sie gefunden, was sie vermisst hatte. Ja, Bodennähe und Nervenkitzel, das Metaphysische und, dies vor allem, die Menschen. Gute Menschen, böse Menschen sowie das Dazwischen, die Farbe Grau. Wie im normalen Leben. Nur plastischer.

»Das ist doch eine Frechheit. Die haben jeden Anstand verloren. Jede Souplesse. Jede …«

Fred rang nach Worten. Der Ärger war echt.

»Was hast du denn? Was ist passiert?« Selten geriet Fred so sehr aus der Fassung.

»Die Vernissage. Ein starkes Stück. Einladung ja, Begleitung nein. Deshalb ohne mich. Ohne uns. Verstehst du?«

Sarah musste lachen. »Das kommt doch in den besten Kreisen vor. Du gehst allein, bist brav und artig und erzählst mir nachher alles wie in einem Krimi.«

»Njet. Dann ohne Fred. Aber mit einem gepfefferten Brief.«

»Du bist der größte Kavalier der Welt. Aber manchmal … ein schlechter Verlierer.«

»Was sagst du? Jetzt auch noch du!« Sarah konnte hören, wie Fred zu lachen begann.

Er würde allein zu der Vernissage pilgern. Sarah würde ihm später den Nacken kraulen, während er haargenau erzählte, wer da gewesen, welche Eminenz von welcher Prominenz umgarnt worden, wer wie und warum aufgefahren war. Das übliche Brimborium in der Zürcher Kunstszene. Die übrigens nicht zu Unrecht stolz darauf war, zwei Häuser vorzeigen zu können, die auch im internationalen Wettbewerb mithalten konnten.

Sie hatte gut geschlafen und lustig geträumt. Das war nicht selbstverständlich. Als Kind war sie nicht selten aus unruhigen, ja gefährlichen Träumen emporgerissen worden. Worauf die Mutter herbeigeeilt war und sie an sich gedrückt hatte. Später wurden die Träume komplizierter, je nachdem, welches Buch auf dem Nachttisch lag. In dieser Nacht hatte sie geträumt, dass Fred vor der Tür des neue Kunsthauses gestanden und mit den Händen gegen das Metall getrommelt hatte, worauf ein überlebensgroßer Clown erschienen war, der die Türe einen Spalt weit aufgestoßen und ihm mit der zierlichsten Geste einen winzigen roten Ballon überreicht hatte.

Das Frühstück nahm sie im Stehen zu sich. Knäckebrot, Hüttenkäse, Schwarztee und Milch. Währenddessen ein kurzer Blick in die Zeitung. Ledermappe gegriffen, ab in die Tram, die gegen sieben Uhr zum Brechen voll war. Zürich war längst zur Pendlerstadt geworden.

Mehrere Männer sahen sich nach Sarah um. Sie war eine attraktive Frau. Vierzig, groß, das lange blonde Haar nach hinten gekämmt. Grünblaue Augen, regelmäßige Gesichtszüge. Wie eine Frauenfigur von Alex Katz.

»Ach, die Frau Kollegin. Frisch und tüchtig, nehme ich an.«

Ochsner, der Staatsanwalt, stand auf der Treppe und grüßte jovial.

»Stets zu Diensten«, erwiderte Sarah mit sanftem Spott.

»Ihr Team macht wenig Fortschritte. Verstehe ich nicht. Mord aus Leidenschaft, Täter gefasst, Ende der Durchsage. Wo sitzt der Wurm?«

»Es wird schon werden. Die Schwester des Opfers, von der wir hofften, dass sie Klartext reden würde, ist zurückgerudert. Eigentlich sei ihr Schwager das wahre Opfer. Von seiner Frau dazu getrieben worden.«

Sarah hatte keine Lust, viel mehr zu erklären.

»Die Hoffnung stirbt zuletzt, meine Liebe.«

Als sich der Staatsanwalt schon abgewendet hatte und dem Ausgang zustrebte, hielt er inne. Dann schlug er den Regenmantel mit einem weiten Schwung über die Schulter.

»Übrigens, wir sehen uns doch heute Abend. Bei der Vernissage, bei den Reichen und Schönen. Sie mit Ihrem Werber. Ich mit meiner Frau.«

Auch du noch. Sarah biss sich auf die Zunge.

»Diesmal werde ich passen. Leider«, sagte sie leichthin.

»Ausgerechnet Sie? Das nenne ich eine Enttäuschung. Sie, ein Kind der Musen.«

»Wir wollen es nicht übertreiben.«

»Kunst aus Nordkorea, meine Liebe. Aus dem größten Knast der Welt«, trompetete Ochsner. So war es häufig. Der Staatsanwalt, der weder ein Dummkopf noch ein Genius war, war nicht nur an den Fällen interessiert, sondern ebenso an der höheren Gesellschaft, der er zustrebte, ohne sie wirklich zu erreichen. Was die Vernissage betraf, so war es so: Natürlich würde keine Staatskunst gezeigt. Es würde, im Gegenteil, Kunst von Dissidenten gezeigt. Von Leuten, die es geschafft hatten, den größten Knast der Welt, wie Ochsner es formuliert hatte, hinter sich zu lassen.

Sarah betrat ihr Büro, setzte Wasser auf, sah die Mails durch, überflog den Terminkalender und vertiefte sich in die Vernehmungsprotokolle, die Lisa erstellt hatte. Sie entnahm ihnen nichts Neues, überschlug die Beine und drehte den Stuhl in Richtung Fenster. Draußen schien sich ein Gewitter anzukündigen. Das Morgenlicht nahm eine dumpfe, gräuliche Färbung an. Sie öffnete ein Fenster, setzte sich wieder und dachte nach. Lisa war ein Glücksfall. Sie war anders. Genauso anders, wie Sarah es sich gewünscht hatte, als sie nach einer jungen, dynamischen Assistentin gesucht hatte. Nach einer Frau, die die Augen offen hielt, noch nicht verbogen war durch Routine und Vorurteile, die zupackte und auch einmal lachen oder weinen konnte. Wie beim letzten Fall.

Lisa schien ihre Gedanken gelesen zu haben. Sie stand in der Tür und schien unschlüssig, ob sie eintreten sollte.

»Störe ich?«

Sarah drehte sich im Stuhl. »Keineswegs. Jeder Besuch ist willkommen.«

Lisa setzte sich auf den Besuchersessel. Sie trug einen Pullover, Jeans, weiße Turnschuhe. Die übliche Montur. Nur der Pullover war besonders. Auf der Vorderseite war das Porträt einer Katze aufgestickt.

»Ach so. Die Katze. Von ihr habe ich gelernt, Krallen zu zeigen.« Sie kratzte sich am Nacken.

»Klar. Versteht sich. Warum kommst du drauf? Gerade jetzt?«

Im nächsten Moment schlug das Fenster mit voller Wucht gegen die Wand. Fünf Sekunden später krachte der Donner, als ob er seine Faust frontal ins Dach der Polizeikaserne getrieben hätte. Sarah stand auf und schloss das Fenster. Wenig später prasselte der Regen in schweren Tropfen gegen die Scheiben.

»Weiß nicht. Ich meine, dass die Gewalt gegen Frauen nicht kleiner geworden ist. Eher größer.«

»Und? Was machst du daraus?«

»Zum Beispiel das: Ich gehe in einen Kurs.«

»In einen Kurs? Meditation? Erleuchtung?«

»Nicht ganz. Krav Maga.«

»Krav… was?«

Lisa wiederholte das Wort. »Kampfsport. Selbstverteidigung. Kommt aus Israel. Sehr effektiv. Im schlimmsten Falle tödlich.«

Sarah musste lachen. Das war ganz Lisa. Sie hatte sich etwas in den Kopf gesetzt, die Idee umgesetzt und eine weitere Stufe gemeistert. Und Sarah? Über ihre Sportlichkeit konnte sie sich nicht beklagen. Manchmal spielte sie Tennis, regelmäßig ging sie schwimmen, das Fahrrad kam nicht ins Rosten, und die Berge riefen zwar nicht mehr so wie früher, doch eine richtige Tour kam immer noch vor. Andererseits merkte sie schon, dass sie nicht mehr zwanzig war. Selbstverteidigung war nichts, was sie aus dem Stand geschafft hätte. Doch wann hatte sich Frau Doktor Sarah Conti zum letzten Mal verteidigen müssen? Es lag Jahre zurück. Ein Mörder hatte versucht, seiner Verhaftung zu entgehen, indem er einen Säbel gezückt hatte und auf Carl und Sarah losgestürmt war. Sarah war es gelungen, die Waffe mit dem linken Bein wegzuschlagen und den Angreifer unter sich zu begraben.

»Warum bist du eigentlich hier?«

Sarah fragte in den nächsten Donnerschlag hinein.

»Weil sich etwas Neues ergeben hat. Seltsam.«

3

Der Dienstag war normal verlaufen. Was bloß hieß, dass er auf der Skala der Wertschätzung der Wochentage weiterhin den zweitletzten Platz behielt.

Das Neue hingegen, das Lisa angekündigt hatte, war, dass Vlado, der Mörder, überraschend ein Geständnis abgelegt hatte. Lisa hatte es so erklärt, dass der Macho doch noch zu seiner Seele gefunden habe.

Kurz nach 15 Uhr hatte Fred angerufen. Wieder die aufgeregte Stimme. Es sei ihm gelungen, auch für Sarah eine Einladung einzufordern.

»Musste das sein? Du weißt doch, dass ich mich nicht gerne vordränge.« Sie war nicht begeistert.

»Unsinn. Ich habe mich vorgedrängt. Du hast damit gar nichts zu tun. Und in drei Stunden tauche ich mit der klügsten und schönsten Frau der Zürcher Kunstmeile an der Vernissage auf. The winner takes it all.«

Sarah hatte an einen stillen Abend gedacht. An Mozart. An ein Stück Roquefort. An Melody Gardot. An den Don Quijote. Stattdessen stand sie in neuer Frische vor der Haustür, als Fred mit seinem alten Mustang angedonnert kam.

»Der Ökoschock schlechthin. Du bist ein Monster. Jetzt muss ich noch grüner wählen, um deine Schandtaten abzubüßen.«

Fred lachte. »So schlimm ist es nicht. Solange die Chinesen und die Koreaner noch brummen und qualmen, bin ich wie eine Träne im Ozean.«

Es hatte keinen Sinn, zu diskutieren. Sarah, die ihr kleines Schwarzes samt Perlenkette und dazu die schwarzen Ballerinas angezogen hatte, saß auf dem Leder des Mustangs wie in einer Kutsche, die nach Pferden roch. Hie und da fauchte der Motor, während honorige Bürger erschrocken die Köpfe drehten.

Das Haus war hell erleuchtet. Der große Quader strahlte kristallen. Chipperfield hatte den Neubau in die verlängerte Nordachse des Kunsthauses gesetzt, sodass er den Rhythmus der bestehenden Anlage weitergab. Das neue Haus war auf subtile Weise brillant. Das Eingangsportal, von dem sie eben noch geträumt hatte, stand offen. Kein riesiger Clown war vorgetreten. Dafür die Direktorin des Hauses, die die Honneurs machte und die Gäste ins Innere bat.

»Nicht schlecht. Für das puritanische Zürich sogar cool. Und stilsicher. Findest du nicht?«

Donna Reed, die eine Galerie für Grafik führte und seit langer Zeit mit Sarah befreundet war, war von hinten gekommen, hatte sich bei ihr eingehängt und ihr ins Ohr geflüstert.

»Das kannst du auch lauter sagen.« Fred, der eine knappe Verbeugung machte, lachte kurz auf.

Die Ausstellung lief unter der Überschrift Kunst aus Nordkorea. Widerspruch und Freiheit. Sie sollte das Ereignis der Saison werden, weit über Zürich hinaus. Der Erfolg war vorprogrammiert.

Tatsächlich würde die Vernissage ein Hit werden, Sarah spürte es. In der Eingangshalle zirkulierte das Publikum. Fast tout Zurich war präsent, und wie immer hatte sich auch die Schar der Zaungäste eingefunden, denen es auf die eine oder andere Weise gelungen war, sich einzuschleichen.

Wie du, dachte Sarah.

»Frau Conti. Frau Doktor Sarah Conti. Wie schön. Meine Verehrung.« Ein beleibter Greis aus der PR-Branche zog den unsichtbaren Hut. In seinem Schlepptau befand sich ein Journalist, dessen Spezialität der Klatsch war.

»Wie gefällt es Ihnen? Mutig, mutig, diese Koreaner. Zeigen dem kleinen Monster die Stirn. Übrigens, wussten Sie, dass er auch in der Schweiz erzogen wurde?«

Bevor Sarah etwas erwidern konnte, hatte Fred eingegriffen. Er zog sie sanft in eine Ecke, wo ein Fotograf mit seiner Kamera stand und schlecht gelaunt in die Menge starrte.

»Na, Lorenz. Melancholisch? So viel Glanz war doch selten. Darf ich vorstellen? Sarah Conti. Sarah, Lorenz Weser. Freier Fotograf. Und exzellenter Mitarbeiter unserer Agentur.«

»Die Werke sind enorm. Und doch. Da stehen wir und feiern und trinken. Und dort drüben herrscht das nackte Grauen. Da darf man schon philosophisch werden, mein lieber Fred. Oder etwa nicht?« Wesers Stimme klang verärgert.

Über Freds Gesicht zog eine Röte, die sich rasch verstärkte. Ertappt, dachte Sarah belustigt.

Die beiden stiegen nach oben, wanderten durch die Hallen und Gänge wie durch ein gediegenes Labyrinth. Links und rechts, am Boden, an den Wänden, an den Decken waren die Werke der Dissidenten zu bewundern. Manche hatten Skulpturen geschaffen, die sich unter einen imaginären Stacheldraht duckten. Ein anderer hatte ein Triptychon von kapitalen Dimensionen gemalt, auf dem sich die Flüchtlingstrecks auf engstem Raum aneinanderdrückten.

»Das wäre der Anfang der Erlösung. Flucht und Exil. So weit sind wir dort noch lange nicht. Kaum einer, der wegkommt. Gefangenschaft als Schicksal.«

Sarah wandte sich um. Ein Mann, dessen graue Haare kraus nach oben standen, hatte vor sich hin geredet. Donna tauchte mit zwei Gefährtinnen aus der Gegenrichtung auf. Sie brachte den Kommentator in ein kurzes Gespräch. Gegenseitiges Vorstellen, Nicken und Lächeln. Als der Krauskopf leicht humpelnd verschwunden war, erklärte Donna: »Herr Dr. Itta. Ein Kurator des Hauses. Nicht für diese Schau. Er macht anderes.«

»Anderes? Welcher Art?«

Donna antwortete zerstreut. »Ach, Kabinett-Ausstellungen, kleine Sachen für Kenner. Damit das Haus auch seine intellektuellen Dimensionen unter Beweis stellen kann.«

Bevor sie fortfahren konnte, summte ein Dreiklang durch das Haus. Er kündete die Ansprache der Direktorin an, die über sämtliche Etagen hinweg durch die Lautsprecher zu hören war.

Die Direktorin zeigte Temperament und Witz. Am Schluss wies sie darauf hin, dass einige Installationen akustisch aktiv würden. Sie seien die Zeichen für eine Sprache, die erst noch gefunden werden müsse. Im Übrigen seien diese akustischen Botschaften ab sofort in Betrieb und der allgemeinen Aufmerksamkeit weiterempfohlen. Wie auf Befehl ließ ein ungeheurer Schlag das Haus erzittern. Die Gäste erstarrten, andere zuckten zusammen, wieder andere drückten die Hände auf die Ohren. Sarah, die auf der Höhe der ersten Balustrade stand, blickte nach unten und nach oben und sah, wie die eben noch heiter fließende Schar für einen Moment erstarrte. Nach einer Weile kehrte die Heiterkeit jedoch zurück.

»Donnerwetter, das war heftig.« Fred nahm Sarah am Arm und führte sie über die Haupttreppe zu einer Konstruktion, die im ersten Stockwerk aufgebaut war. Sie bestand aus einem Glockenstuhl aus Holz und einer großen Glocke, die jetzt unbewegt in der Verstrebung saß. Die Legende lautete: Niemand ist vergessen. Und nichts ist vergessen.

»Ein genialer Einfall. Ein Weckruf. Ein Aufruf.« Eine Frau unbestimmten Alters wandte sich an die beiden, als ob man sich schon Jahre kennen würde.

»Ich darf mich vorstellen. Felicitas Färber. Ich sammle Kunst. Gegenwartskunst.« Die Frau zögerte kurz, fuhr aber fort: »Und Sie sind die berühmte Sarah Conti. Sie sammeln Verbrecher. Sehr nützlich. Kompliment.«

Sarah war verblüfft. Zwar wurde sie von der besseren Gesellschaft immer wieder mal erkannt, aber es löste selten Begeisterung aus. Noch seltener war damit ein Kompliment verbunden. Es war gerade umgekehrt. Sie war die Unbeliebte und Ungeliebte, der Stachel im Fleisch der Saturierten, die es als Schande empfanden, wenn einer der Ihren zum Mörder geworden war.

»Sie kennen mich?«

»Ich kenne Sie. Sie sind ja periodisch in der Presse. Und ich bewundere nicht nur Ihre Geistesschärfe, sondern auch Ihre Eleganz. Im Grunde genommen sind Sie eine der Unseren.« Sie zwinkerte ihr zu und gab ihr einen komplizenhaften Stups. Felicitas Färber war noch nicht fertig.

»Das Beste haben Sie noch gar nicht gesehen. Ein wirklicher Hammer.«

»Das Beste?«, fragte Sarah.

»Kommen Sie. Nur für starke Nerven. Nur für Frauen wie Sie und mich.« Dabei maß sie Fred mit einem spöttischen Blick.

Sie schlängelten sich nach oben. Vorbei an Gästen, die schon Laune zeigten und Späße machten. Da und dort großes Hallo. Freds Jackett entging um Haaresbreite einem Champagnerspritzer. Nordkorea schien auf einem anderen Planeten zu liegen.

Sarah fragte sich, woher sie Felicitas Färber hätte kennen sollen. Es fiel ihr nichts ein. Wie auch immer, die Frau besaß Energie und Selbstbewusstsein. Beim Aufstieg wurde sie von anderen gegrüßt, oder sie grüßte andere, sie schien beliebt zu sein, die Gesten und Blicke waren freundlich.

Als das Trio das oberste Stockwerk erreicht hatte, hielt Felicitas Färber kurz inne und schaute nach unten.

»Von hier aus sehen Sie den Calder ganz anders. Friedlich. Ein Spiel im Wind. Während er von unten her doch ein wenig bedrohlich wirkt. Finden Sie nicht?«

Sarah schaute seitwärts. Zuerst sah sie nur die Flügel und Halter des großen Mobiles, dessen Flächen aus Schwarz und Weiß hin und her schwebten. Dann blickte sie in die Tiefe, auf das Gewoge der Gäste, auf den harten Stein.

»Schwindlig? Hoffentlich nicht. Wäre in Ihrem Beruf nicht optimal, stimmts?«

Fred wollte etwas erwidern, doch Sarah presste seine Hand.

»Muss daran liegen, dass ich seit dem Frühstück nichts gegessen habe«, sagte sie abwehrend, und schon ärgerte sie sich darüber, sich zu erklären.

Felicitas Färber blieb jovial. Sie hatte den Arm gehoben, um Sarah auf die Schulter zu klopfen, besann sich jedoch eines Besseren.

»Von wegen Essen. Jetzt kommt das Beste. Die Henkersmahlzeit. Damals wie heute. Grausam, grausam. Die Geschichte wiederholt sich. Oder nicht?«

Es klang reichlich kryptisch. Sarah begann die Pseudofragen ihrer neuen Freundin zu verwünschen. War sie überhaupt eine Freundin? Oder eine Frau, die etwas von ihr wollte, von dem sie noch nichts wusste? Eine, die ihr, je nachdem, zur Feindin werden konnte?

Hör auf damit. Schon bist du wieder Detektivin.

Sie waren im hintersten Raum angekommen, dessen Fensterfront auf den Heimplatz wies. Es war dunkel. Man sah wenig, konnte weder die Dimensionen abschätzen noch die Zahl der Besucher, auf die man hier treffen würde. Es roch nach Holz und nach Metall, mit einem Stich von altem Öl. Plötzlich zerriss ein lautes Kreischen das Gemurmel, während ein scharfer Knall zu hören war. Gleichzeitig begannen drei starke Scheinwerfer von der Decke her auf eine Installation zu brennen, die einen das Grausen lehrte. So viel hatte der Künstler, der sie geschaffen hatte, begriffen.

4

Hätte sich Sarah einen Beschützer ausgedacht, so hätte er Eigenschaften von Fred. Stark, loyal, furchtlos und überlegt. Womöglich eine Spur schwerfällig. Denn überalerte Männer waren eine Pein.

»Mein Gott. Was ist denn das?« Fred hatte Sarah um die Taille gefasst und einen Schritt nach hinten gezogen.

»Eine Guillotine.«

Sarah hielt die linke Hand über die Augen. Das Licht war so stark, dass es jede Einzelheit des Geräts in größter Plastizität hervorholte. Am unteren Ende der Vorrichtung glänzte der Stahl des Fallbeils, das soeben niedergegangen war, an der linken Seite der Lafette war ein viereckiger Korb aufgebaut, auf welchen der Künstler einen Kegel aus Holz gesetzt hatte. Der Kegel trug ein Gesicht, das grinste. Als Sarah sich umwandte, bemerkte sie, wie jemand aus dem Schatten der Längswand heraustrat und langsam auf sie zukam, seltsam vertraut und gleichzeitig etwas unheimlich.

»Tut mir leid, dass wir uns heute ausgerechnet im Horrorkabinett begegnen. Aber wie du weißt, kennt die Kunst kein Pardon. Und diese Kunst ohnehin nicht.«

Fritz Schindler, ein alter Bekannter, fasste Sarah am Unterarm. Wie wenn er damit sagen wollte, alles halb so schlimm. Sie atmete auf. Gerade hatte sie gedacht, überall nur noch Gespenster zu sehen. Doch die Eigenart der Installation schien dafür zu sorgen, dass die Stimmung von vorhin weg war. Selbst solche, die bereit waren, jedes Kunstwerk der Gegenwart mit einem Spruch zu garnieren, hatten ihre Sprache verloren. Einzig Fritz versuchte es, musste aber realisieren, dass sein Gegenüber wenig empfänglich dafür war.

»Was er ausdrücken will, ist ja klar. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Aber warum mit solcher Drastik? Mit solcher Insistenz?« Sarah sagte es mehr zu sich selbst als zu ihrem Freund.

»Alles kommt auf die Präzision an. Auf den Fetisch der Funktionen, des Funktionierens. Übrigens bin ich sicher, dass das Ding perfekt funktioniert. Ein Griff genügt. Zack und bumm.« Fritz war ins Dozieren geraten.

»Und der Knall? Was war das?«, fragte Sarah.

»Der Fall der Klinge.«

Fritz war in seinem Element. Gleichzeitig spürte er, dass Sarah irritiert war. Er suchte nach einem Ausweg.

»Vergiss die Guillotine. Und die Nordkoreaner. Und gib bloß zu, dass der neue Bau klasse ist«, probierte er es.

Sarah musste lachen. Typisch Fritz. Sensibel und empathisch. Sie nickte. »Ja. Klasse. Und die Sammlungen erst recht. Ein Fest fürs Auge. Das auf jeden Fall.«

Vor nicht allzu langer Zeit war ein Streit über diese Sammlungen entbrannt. Und noch immer stand die Frage im Raum, ob das Zürcher Kunsthaus genug getan hatte, um die Provenienz gewisser Bilder, die ihm als Leihgaben übergeben worden waren, hinreichend abzuklären. Das Thema Raubkunst war noch nicht vom Tisch.

Sarah fühlte sich plötzlich müde. Bald würde sie mit Fritz essen gehen und sich den neuesten Tratsch berichten lassen. Für den Moment hatte sie genug. Genug von der Guillotine, die sie an ihren Beruf erinnerte. Genug von dieser Männerfantasie in mordender Absicht, genug von der plakativen Art, mit welcher der Erschaffer ans Werk gegangen war.

Der Abend war so gut wie gelaufen. Sie hatten sich von Fritz verabschiedet und fuhren mit dem Lift nach unten.

»Willst du noch für einen Schluck in die Bar? Der Prosecco von vorhin war ja nicht gerade ein Knaller.« Fred, der zerstreut wirkte, hatte es mehr aus Höflichkeit gefragt.

»Meinetwegen. Kann heute nicht schaden. Desinfektion von Körper und Seele.«

Sie standen an der Bar, verköstigten sich mit Oliven und Chips und tranken ein Glas Rotwein. Als sie zur Garderobe wechselten, um die Mäntel zu holen, hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Die Habitués tuschelten oder scherzten. Wie zu erwarten, waren die Glocke und die Guillotine das Lieblingsthema.

Sie befanden sich unterhalb der großen Tür, als es geschah. Vollkommen überraschend. Sarah bekam mit, wie zwei Frauen miteinander sprachen. Nicht im Small Talk, sondern mit einem Nachdruck, der physisch um sich zu greifen schien. Sie hörte nicht hin, was hier geredet wurde. Sie war elektrisiert davon, wie geredet wurde.

Sie packte Fred am Arm. »Hörst du? Fred, hörst du?« Er schaute verständnislos.

»Die Stimme. Dieselbe Stimme!«

»Welche Stimme?«

»Die Stimme vom Bürgenstock. Von vor ein paar Wochen. Die tiefere. Diejenige, die der anderen Mord und Totschlag wünschte.«

»Aber hör mal. Das ist ja interessant. Denn das ist Rhia Stegemann. Die Mäzenin. Wie sie leibt und lebt«, erwiderte Fred, nun seinerseits aufgeregt.

Sarah fiel es wie Schuppen von den Augen. Sie erinnerte sich, der Frau bei einer Abendgesellschaft in Herrliberg am Zürichsee begegnet zu sein. Sie saß auf einem roten Sofa, hielt ein Glas in der Hand, sprach mit müdem, aber herrischem Ton in eine Runde, die ihr halb gebannt, halb widerwillig zuhörte, während sie über Kunst dozierte und über ihre Kinder und über ihre Katzen, als wäre es das Entscheidendste auf der Welt.

Während sie zum Parkplatz liefen, versuchte Sarah einen kurzen Blick auf Rhia zu erhaschen. Fehlanzeige. Sie war verschwunden.

Der Wind hatte aufgefrischt. Zwischen den Gewitterwolken sah man Stücke des Himmels in violetten Fetzen. Irgendwo zwischen Spreitenbach und Aarau rollte ein Donner.

»Kennst du sie?«

»Kaum. Nicht meine Kreise. Aber eine interessante Frau. Nicht sehr pflegeleicht. Beliebte Person für Gossip. Und sie kann brutal sein. Brutal direkt. Und überhaupt, wenn du es besser wissen möchtest, frag einfach Fritz. Wie immer der Richtige für alle Arten von Auskünften.«