Ein kaltes Herz - Fabio Lanz - E-Book

Ein kaltes Herz E-Book

Fabio Lanz

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sarah Conti ist Spezialistin für besondere Mordfälle und die Beste auf ihrem Gebiet. Doch als die Ermittlerin in einer stürmischen Oktobernacht ins gediegene Zürcher Seefeld gerufen wird, findet sie eine Leiche vor, wie sie noch keine gesehen hat: Dem Opfer wurde das Herz herausgerissen. Als stadtbekannter Anwalt des Zürcher Establishments hatte sich das Opfer nicht nur Freunde gemacht – doch wer hatte ihn derart gehasst? Wo eben noch das Licht des Wohlstands und der Dekadenz zu glänzen schien, enthüllen die Ermittlungen nach und nach ein düsteres Netzwerk aus Gewalt, Lügen und gefährlichem Gedankengut, in das der Tote bis zum Hals verstrickt war. Für Sarah Conti und ihr Team beginnt ein steiniger Ermittlungsweg, denn neben der besseren Gesellschaft tritt auch eine geheimnisvolle Bruderschaft auf den Plan, die ihre Machenschaften um jeden Preis verborgen wissen will.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 342

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


INHALT

» Über den Autor

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DEN AUTOR

FABIO LANZ, geboren in Zürich, durchlief eine Karriere in diversen Tätigkeiten, bevor er das Schreiben entdeckte. Dabei entwickelte sich sein Blick für das Schöne und das Böse. Fabio Lanz lebt in Zürich und in der Provence.

ÜBER DAS BUCH

Ermordete hat Sarah Conti als Ermittlerin der Zürcher Kriminalpolizei schon einige gesehen. Doch die furchtbar entstellte Leiche des stadtbekannten Anwalts am Ufer des Zürichsees sprengt alles Gewohnte. Wer ist zu solcher Grausamkeit fähig? Witwe und Sohn des Opfers hüllen sich in Schweigen, ein rätselhaftes Fundstück am Tatort wirft noch mehr Fragen auf. Während die gepflegte Fassade der Goldküste zu bröckeln beginnt, wird Sarah Conti zusehends von der Jägerin zur Gejagten.

 

Alle Stunden verwunden, die letzte tötet.

1

Zürich. Eine Stadt zum Verlieben. Im Sommer, wenn der See in Sonne schwamm und die Menschen für Wochen entspannt, ja lässig wurden. Oder im Winter, wenn die Kälte zwischen den Häusern lag, während es drinnen warm, gemütlich war. Überhaupt zum Verlieben – zu jeder Jahreszeit –, weil die weite Welt hier freundlich zusammentraf und Ordnung herrschte. Kein Wunder, dachte Sarah, dass man in Zürich leben und arbeiten wollte, in diesem Eden der Rechtschaffenheit, der sicheren Verhältnisse. Manchmal schien alles regelrecht künstlich hergerichtet: ein Puppenhaus mit Puppenmöbeln und Puppenleuten.

Zürich, Stadt des Argwohns? Auch das. Einer ihrer letzten Fälle hatte Kriminalpolizistin Sarah Conti von den Gassen des Bahnhofviertels bis auf die Höhen des Zürichbergs gebracht. Sie hatte das Elend gesehen, das Miserable. Sie hatte auch Stolz gesehen, Kälte und Indifferenz. Allmählich kam eins zum anderen, bis sich die Linien kreuzten und niemand mehr wusste, was nun schlimmer war: die Verzweiflung in den Hinterzimmern des Barbetriebs oder der Wahnsinn in den Villen mit Aussicht auf die Berge.

Sarah hatte den Beruf nicht aus einem ersten Impuls heraus gewählt. Eigentlich hatte sie Pianistin werden wollen. Konzertpianistin. Mozart, Schubert, Chopin. Große Gesten, Auftritte. Applaus. Jetzt war es umgekehrt. Sie musste das Unscheinbare zusammentragen, das Puzzle zusammenstellen. Dann, hoffentlich, die Lösung, die Überführung, das Finale. Nichts von Applaus. Niemals Publikum. Und Gerechtigkeit nur dann und wann, denn das Recht war das eine, doch Gerechtigkeit das andere. Allerdings, was hieß das schon, Gerechtigkeit?

»Kommst du heute Abend noch schwimmen?«

Nein, das war leider nicht drin. »Ich will ein wenig üben, später noch lesen.«

»Wie langweilig«, sagte Fred am anderen Ende der Leitung, enttäuscht über Sarahs Reaktion.

»Ach, komm. Ganz im Gegenteil.« Sarah blickte aus dem Fenster ihres Büros und sah, wie im Haus schräg gegenüber dem Kommissariat zwei Männer heftig diskutierten, während sie mit den Armen in der Luft ruderten.

»Also gut, nicht langweilig. Aber verschlossen. Einsam und abgekapselt.« Fred konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken.

Sarah verstand ihn. Sie verstand alle, die der Meinung waren, dass sie zu sehr nach innen lebte. Dass sie gegen die verbreitete Spaßkultur eine gewisse Disziplin erhob. Dass sie Dinge tun wollte, die man schwerlich teilen konnte – wer wollte ihr schon zuhören, wenn sie sich einmal mehr durch Chopins erste Etüde in C-Dur kämpfte?

»Du bist eine Masochistin. Und eine Sadistin dazu«, sagte Fred. »Zuerst quälst du dich selbst, dann deine Nachbarn und Chopin. Aber vor allem quälst du mich.«

Sarah musste lachen. »Allein schwimmt es sich besser«, sagte sie, und gleich darauf: »Und überhaupt, ich bin in einer melancholischen Phase. Chopin, du verstehst.«

Natürlich verstand Fred, denn er war ein echter Freund mit viel Empathie, was Sarah einerseits schätzte, andererseits etwas dröge fand. Die beiden kannten sich seit mehr als zehn Jahren, und manchmal hatten sie auch eine Art Beziehung, die allerdings selten mehr als zwei, drei Wochen anhielt, worauf sowohl Fred wie Sarah fanden, dass das Singledasein beträchtliche Vorteile mit sich brachte. Ein einziges Mal hatte Fred versucht, diese Beziehung zu festigen, es hatte nicht funktioniert, er war abgeblitzt.

»Früher warst du mutiger. Die abenteuerlustige Sarah. Weißt du noch? Du und ich, nur wir zwei, quer durch Marokko? Oder in Schottland? Mit viel Whisky und langen Nächten?« Fred war in Fahrt gekommen.

»Früher war früher. Aber wenn du meinst, dass ich eine fade Tante geworden bin, wirst du dich noch wundern.« Sie lachte und verabschiedete sich.

Sarah war vierzig. Ein gutes Alter: Dummheiten hinter sich, zumindest die meisten. Die Kriminalpolizistin war auch alt genug, um zu erkennen, wie Menschen logen, wie sie sich in Pose warfen. Ging es solchen Menschen an den Kragen, bewiesen sie nicht selten eine instinktive Artistik. Dies konnte Sarah als Pianistin beurteilen. Das Leben war kein Spiel, aber die Menschen lernten immer besser, sich zu verstellen.

Nach ersten Kindheitsjahren im Tessin, an die sich Sarah kaum erinnern konnte, folgte das Aufwachsen in Zürich. Kindergarten, Grundschule, Gymnasium in Zürich Hottingen, Studium in Musik und Jura, dann sogar Promotion. Die Eltern waren stolz auf das »Fräulein Doktor«, wie sie gesagt hatten, obwohl dieser Titel längst abgeschafft war. Frau Doktor Sarah Conti, bitte sehr. Es war, dachte Sarah immer öfter, ein Glück, dass sie nicht bis zum Letzten versucht hatte, Pianistin zu werden.

Stattdessen war sie Polizistin geworden, hatte sich bis zur Ermittlungsabteilung Gewaltkriminalität hochgearbeitet. Schon als Kind hatte sie sich oft Gedanken über Gut und Böse, über Recht und Unrecht gemacht. Und schließlich erkannte sie, dass die Gesellschaft eine fragile Angelegenheit war, deren Ordnung wesentlich davon abhing, ob und wie man sich auf die Durchsetzung des Rechts verlassen konnte. Bei der Polizei fand sie später Gefallen an komplizierten Fällen, an düsteren oder merkwürdigen Verbrechen.

Seit zehn Jahren stand Sarah im Dienst der Zürcher Kantonspolizei. Während eines Praktikums in einer großen Anwaltskanzlei, wo sie sich wenig zu Hause gefühlt hatte, war sie auf eine Stellenanzeige gestoßen. Die Kriminalabteilung der Kantonspolizei hatte eine Fachkraft für besondere Fälle gesucht. Sarah war eingestellt worden und hatte sich mit Wirtschaftskriminalität befasst. Dort war sie als Kollegin von rascher Auffassungsgabe und hoher Effizienz aufgefallen. Eines Tages hatte ihr der Leiter der Kriminalpolizei, Erwin Sonderegger, einen Job in seiner Abteilung angeboten. Sarah hatte nicht lange überlegen müssen.

Zuerst hatten die Kollegen gelächelt, Männerwitze kursierten. Aber Sonderegger hatte ihr Talent schnell erkannt, zum einen rasch und mit Stil zum Kern der Dinge vorzudringen, zum anderen ihre Begabung, hinter die Fassade der Leute zu sehen, sowohl die Opfer als auch die Täter in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen. So war aus der Novizin Stufe um Stufe eine herausragende Ermittlerin geworden.

»Du bist zu klug für unseren Job«, hatte ihr Sonderegger gesagt, kurz bevor er in Pension gegangen war. »Du denkst zu viel. Dabei ist alles viel einfacher. Täter, Opfer, Fahndung, Erfolg.« Sarah hatte widersprochen. »Motive können komplex sein, sie lassen den Menschen erkennen.« Sie wusste, dass sie recht hatte. Aber sie wusste auch, dass Polizeiarbeit wenig Spielraum für psychologische Erkundungen bot. Effizienz war angesagt.

Sarah war hungrig. Sie holte den Regenmantel, lief das Treppenhaus hinunter. Draußen war es schon dunkel. Sie hatte nichts gegen den Herbst, im Gegenteil, der Sommer war ihr häufig zu grell, zu heiß. Vom See her kamen starke Böen, die in die Platanen fuhren, sodass es knackte und knirschte. Das sterbende Tageslicht ließ die Wolken noch schwerer hervortreten. Recht so, dachte Sarah, es lebe das Drama. Horvath war von einem Ast erschlagen worden, als er auf den Champs-Élysées spazierte.

»Ah, Frau Conti. Guten Abend.« Der Feinkosthändler begrüßte sie, als ob er sie erwartet hätte. Er war Mitte fünfzig, beleibt und hatte eine Glatze, die unter der Deckenleuchte wie eine Milchglaslampe glänzte.

»Guten Abend, Don Pasquale«, erwiderte sie, eine Spur verschmitzt.

»Ich bin doch keine Oper, Madame!«

Pasquale schnitt vom Parmaschinken ab, füllte einen Becher mit Oliven, gab ein Stück Pecorino hinzu und ein Nussbrot. Das übliche Ritual.

»Ich bin sicher Ihre langweiligste Kundin, immer dasselbe, wenn ich in Eile bin.«

»Sie sind immer in Eile«, sagte Pasquale, lachte und reichte ihr die Plastiktüte. »Schönen Abend, Frau Conti«, fügte er an, worauf er sich wieder nach hinten verzog. Das Geschäft war klein, die Auswahl exzellent.

Das war ihre Zürcher Lebenswelt. Hottingen, das Seefeld-Quartier, die Seepromenade, alles anständig, sogar gediegen. Früher war es im Seefeld ärmlich gewesen. Reiche Herren hatten das leichte Gewerbe besucht, während ihre Gattinnen bei Sprüngli am Paradeplatz die Torten lobten. Jetzt war es schick, im Seefeld zu wohnen, die Häuser waren elegant und renoviert.

Sarah wohnte an der Dufourstrasse, zum See waren es kaum fünf Minuten. Die Wohnung war geräumig, vier Zimmer, gut isoliert. Isolation war ihr wichtig, wer wollte schon jede falsche Note einer Freizeitpianistin mithören? Die übrigen Bewohner des Hauses verhielten sich diskret – ein älteres Ehepaar, zwei jüngere Männer, die kurz vor der Heirat standen, ein Banker, der sich selten zeigte, und die farbigste Figur von allen, Gretchen Schulze, die schon vor Jahren aus Bayern zugezogen war und mit ihrem Hund Rico ein starkes Duo bildete.

Sarah traf die zur Freundin gewordene Nachbarin im Flur an, kaum hatte sie die Tür geöffnet.

»Du bist heute Abend früh dran«, sagte Gretchen.

»Ja, ich habe um fünf Uhr Schluss gemacht. Heute war nicht viel los, Papierkram, weder Leichen noch Mörder.« Sarah lächelte.

Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf. Als Gretchen ihre Wohnungstür öffnete, stürzte ihr Hund Rico auf die beiden Frauen zu und begrüßte sie mit stürmischem Gebell.

Konnten Tiere böse sein? Das fragte sich Sarah hie und da. Sie kam immer wieder zu demselben Schluss: Bei Tieren war das Böse eine Projektion.

Sarah verabschiedete sich von Gretchen und Rico, versprach, am Wochenende auf einen Hundespaziergang mitzukommen. In ihrer Wohnung stellte sie die Lebensmittel auf den Küchentisch und öffnete eine Flasche Weißwein. Das hatte sie sich verdient. Wieso war es eigentlich in der arbeitsamen Gesellschaft so, dass alles, was nicht mit Verdienst zusammenhing, irgendwie verdächtig blieb? Sie legte eine Schallplatte auf den Plattenteller, so viel Nostalgie durfte sein. Sie liebte den alten Apparat, den sie von ihrer Mutter übernommen hatte. Bald erfüllte Musik von Miles Davis das Wohnzimmer.

Sarah freute sich auf diesen Abend ohne Gesellschaft und Ablenkungen. Sie war und blieb eine Einzelgängerin. Gesellschaft hatte sie auf dem Kommissariat und in der Gerichtsmedizin genug. Freundinnen waren ihr wichtiger als feste Partner. Hatte man die richtigen gefunden, ging es weder um Eifersucht und Wettbewerb noch um Begehren.

Schon als Kind konnte Sarah während Stunden mit sich allein spielen, indem sie ganze Welten um sich herum erfand. Alleinsein war weder Strafe noch Schande. Es war eine Chance. Nähe hingegen war ein Minenfeld. Beziehungen blieben auch dann fragil, wenn es die Menschen gut meinten. So schwankte Sarah immer wieder zwischen Misstrauen und Zuversicht, während sie nach außen die kühle, elegante Ermittlerin gab. Über die überschaubare Reihe ihrer Liebhaber konnte sich Sarah nicht beklagen. Aber Männer zeigten am Morgen danach häufig andere Seiten. Nur, warum sollte Sarah sich an diese gewöhnen müssen?

Sie legte Händel auf. Die Arien klangen durch die Wohnung, als wäre Orpheus noch immer auf der Suche nach Eurydike. Sarah trank ein Glas Wein, legte sich aufs Sofa und begann zu lesen.

Erst als sie zu Bett ging, realisierte sie, dass sie nicht geübt hatte. Selbst schuld, dachte sie, und umso besser für Chopin. Ihr Klavier funktionierte auch mit Kopfhörern. Akustische Ökologie. Und es hatte eine Aufnahme- und Speicherfunktion. Wenn Sarah wollte – doch sie wollte selten –, konnte sie ihre Produktionen der vorherigen Tage abspielen. Einerseits praktisch, andererseits nicht selten frustrierend. Es kam ganz auf die Laune an.

Wäre Sarah Konzertpianistin geworden, hätte sie sich selbst niemals genügt. Sie hätte immer wieder nach innen gehorcht, das Resultat mit dem Ideal und die Performance mit der ursprünglichen Absicht verglichen, was ihr die Freude bald ausgetrieben hätte.

»Du warst schon immer zu selbstkritisch«, hatte ihr der Vater bei seinem letzten Besuch in Zürich gesagt, wobei er die Tochter an der Hand gefasst und so geseufzt hatte, wie nur er das konnte, ohne pathetisch zu wirken.

Ihre Mutter war vor ein paar Jahren gestorben, plötzliches Herzversagen. Es war Sarah unheimlich vorgekommen, wie die Mutter einfach dagelegen hatte. Zugegeben, eine schöne Leiche, ansehnlich. Aber nicht mehr lange, und die Seele, wenn es sie denn gab, war weg, weit weg. Der Vater war verzweifelt gewesen. Er hatte eine Kerze angezündet, der Mutter übers Haar gestrichen, gebetet: »Vater unser …« Sarah blieb skeptisch: Es war nicht ausgeschlossen, dass es einen Gott gab. Aber dieser Allmächtige ließ zu, dass die Welt fortwährend Böses aus sich schuf. Seither lebte der Vater allein, er war in sein Heimatdorf im Tessin zurückgekehrt, kümmerte sich um den Haushalt, las Romane, hörte Musik, ging mit Freunden wandern und schien im Ganzen nicht unzufrieden. Er hatte seine Frau geliebt. Er und seine Frau, Claire, hatten ihre Tochter Sarah, ihr einziges Kind, geliebt.

Langsam glitt Sarah in den Schlaf. Sie liebte dieses Gefühl: Wie die Gedanken verschwammen. Wie sie eins wurde mit der Welt, wie der Ring des Vergessens sich ausbreitete – sie musste plötzlich lachen, weil sie sich vorstellte, wie in einem Kriminalroman in zwei bis drei Stunden ihr Telefon summen würde. Ihr Kollege, der dicke Carl Vormüller, würde ihr sagen: »Schnell! Aus dem Bett. Wir haben einen Toten entdeckt. Vermutlich Mord. Los, komm!«

Drei Stunden später summte das Smartphone. Es war nicht Carl, sondern Lisa, die Assistentin: »Frau Conti, Lisa hier.« Sie schien aufgeregt.

»Ah, Lisa. Was ist denn?« Sarah versuchte, aus dem Schlaf aufzutauchen

»Frau Conti, kommen Sie schnell. Am See ist etwas Schreckliches passiert.«

Nun war Sarah vollkommen wach, von Lachen keine Spur. »Was … was ist passiert?«

»Ich weiß es noch nicht. Aber es scheint übel.«

2

Sarah war aufgestanden und hatte sich rasch angekleidet. Jeans, Rollkragenpullover, den Schal gegen die Oktoberfrische, Regenstiefel, darüber den Regenmantel samt Regenhut. Hätte Sarah in dieser Situation kurz innehalten können, um sich zu beobachten, hätte sie sich gesagt: »Wie immer. Wie eine Figur von Alex Katz.«

Lisa hatte Sarah die Koordinaten durchgegeben. Der Tatort lag kaum zehn Minuten von ihrem Haus entfernt. Sarah überquerte die Dufourstrasse, dann die Bellerivestrasse, und schon befand sie sich auf der Seepromenade. Sie lief Richtung Süden, während ihr der Wind entgegenschlug und unter den Mantel fuhr. Der Regen war stärker geworden, schwere Tropfen prasselten auf die Blätter der großen Bäume. Im Sommer spendeten diese Schatten, weshalb sich die Menschen auf ihren Badetüchern gerne unter ihnen ausbreiteten. Im Winter wurden sie zu kahlem Astwerk in den schönsten Formationen. Der Herbst brachte alle Stufen der Laubverfärbung, vom gelblich werdenden Grün bis zum rostigen Rot, dann zum Braun. Ein Lebenszyklus.

Sie sah die Lichter von Weitem, die Autos. Sah, wie die Polizei das rot-weiße Band um das Strauchwerk zog. Sie lief schneller.

Auf einer Böschung des Ufers, zwischen ein paar großen Steinen, lag ein Mann. Der Körper schien seltsam verdreht, die Arme nach außen gespreizt, der Kopf war zur Seite gebogen. Als sie näher kam, bemerkte sie die grauen, nach hinten gekämmten Haare, eine Brille, die sich zur Stirn hin verschoben hatte, eine dunkle Hose und Schuhe mit offenen Schnürsenkel, teure Schuhe.

Seltsam, wie sie stets zuerst das Einzelne wahrnahm. Wie ihr Blick instinktiv auszuschneiden und von außen zu umkreisen schien, was er nicht sehen mochte. Das Schreckliche, was Lisa gemeint hatte, ohne es benennen zu können, war tatsächlich horrend und trat im grellen Licht der Scheinwerfer wie künstlich hervor. Der Oberkörper des Toten lag frei, das Hemd war zur Seite geschoben. Sarah sah die Brust, den Bauch, den Nabel, das graue Brusthaar, das an manchen Stellen dunkelrot vom Blut war.

Und sie sah die tiefe, trichterförmige Wunde, deren Rot glänzte, als wäre nicht Blut geflossen, sondern Farbe aufgepinselt worden. Genau dort, wo sich das Herz befand, gähnte ein dunkles, schwartiges Loch.

Sarah wurde übel. Sie suchte den nächsten Baum, stemmte sich dagegen und kämpfte gegen das Erbrechen.

Friedliches Zürich. Schöne, reiche, sichere Stadt. Wie viele Tote hatte Sarah schon gesehen? Unzählige, doch niemals eine solche Leiche.

»Wer war der Mann?«, fragte sie Lisa.

Die Polizistin zuckte mit den Schultern. Das Sprechen fiel ihr schwer. Mit Leichen hatte sie wenig Erfahrung. Sie schien zu zittern und hatte die Hände tief in die Taschen ihres Anoraks geschoben. Sarah musste sich unwillkürlich fragen, ob Lisa zu jung war für diesen Job.

Von den Autos her kam der Kollege Carl Vormüller gelaufen. Wie immer etwas kurzatmig, doch in dieser Nacht hellwach.

»Wer war das, Carl?«, fragte Sarah nochmals.

»Wir wissen es nicht. Keine Papiere, keine Dokumente, keine Kreditkarten, kein Geld. Nichts.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Eine Polizeistreife. Auf der Dienstrunde. Der Hund hatte Witterung aufgenommen.«

»Gibt es eine Vermisstenmeldung?«, fragte Sarah.

»Bisher nicht.«

Der Chef der Spurensicherung hatte seine Equipe und die Gerätschaften bereit gemacht und sofort in Stellung gebracht. Sarah, Lisa und Carl traten ein paar Schritte zurück. Während sich Carl eine Zigarette ansteckte, flüsterte er Sarah zu: »Wer das getan hat, wusste, was er tat. Hochinszeniert das Ganze, und zugleich irgendwie beiläufig. Denkst du nicht auch?«

»Lass uns bis morgen früh Zeit«, rief ihnen der Forensiker zu. »Dann sollten wir die Fakten mehr oder weniger geklärt haben.«

Die Fakten. So war es immer. Nach dem Fund einer Leiche wurde es erst einmal technisch. Gegenständlich, wie Sarah zu sagen pflegte. Dieser Mann mit dem entblößten Oberkörper hatte vor ein paar Stunden noch gelebt, hatte geatmet und gedacht, vermutlich geschwitzt und gestöhnt. Er hatte Angst gehabt. Jetzt war er für die Kollegen des forensischen Instituts ein Objekt, ein Gegenstand der Spuren und Bedeutungen, die es herauszulesen galt. Es war an Sarah, den Toten als Subjekt zu rekonstruieren und in ein zweites Leben zurückzuholen.

Sarah machte sich auf den Weg nach Hause. Am Tatort gab es für den Moment nichts mehr zu tun. Auch verhinderte die Dunkelheit mitsamt dem stürmischen Wetter, dass man sich ein verlässliches Bild der Szenerie hätte machen können. Alles schien reichlich unwirklich und gespenstisch, die Platanen begannen immer stärker zu rauschen. Sarah hatte einmal einen Erstochenen gesehen, der adrett auf dem Golfplatz über Zumikon lag, als ob er für eine skurrile Werbung posiert hätte. Das hier war anders, auf verstörende Weise anders.

Am nächsten Morgen stand Sarah früh auf. Sie war keine Frühaufsteherin, doch sie hatte sich an den Polizeirhythmus gewöhnen müssen. Im Gegenzug hatte sie gelernt, für ein paar Stunden abzuschalten. In ihrem Büro hatte Sarah eine Liege aufgestellt, wo sie sich am Nachmittag jeweils für eine halbe Stunde hinlegte. Selbst in der größten Hektik leistete sie sich diese Pause.

Draußen wurde es hell. Vom Fenster ihres Wohnzimmers aus sah Sarah den Zürichsee. Einer der vielen Vorteile dieser Wohnung. Der See war ein grauer, getrübter Spiegel, aber man roch bereits das schöne Wetter, der Westwind hatte die Wolken weggedrückt, die umliegenden Häuser standen zum Greifen nah, über dem See erhob sich der Uetliberg, ein Hügel, der sich als Hausberg der Limmatstadt verstand. Dort gab es ein paar Berghänge, die steil nach unten stürzten, nicht ungefährlich.

Ihr Frühstück war wie immer kurz und bescheiden. Ein Becher Joghurt, zwei Scheiben Toast ohne Butter mit etwas Konfitüre – Aprikose oder Erdbeere – garniert, dazu zwei Tassen Schwarztee. Sarah zog sich eine dunkle Baumwollhose und den navyblauen Rollkragenpullover an, darüber den grauen Blazer, der einen Teil ihrer Uniform ausmachte. Manche Kolleginnen fanden, dass sie zu formell auftrat, aber weshalb sollte sie mit ihrer Garderobe abbilden, was sie als ihren Beruf gewählt hatte: das Eintauchen in das Chaos, in Gewalt, Leidenschaften und Misere?

Sarah querte die Bellerivestrasse, wo sich die Autos seit sieben Uhr morgens zu stauen pflegten, bog von dort zur Uferpromenade ab. Der gewohnte Weg. Nur dass gestern ganz in der Nähe ein Mann ums Leben gekommen war. Die Boote schaukelten über den Wellen, die Radfahrer steuerten zielgewiss unter den Platanen, nichts deutete darauf hin, dass dieser Friede viel zu trügerisch war.

Sarah ging bis zum Ende des Seebeckens, dann der Limmat entlang, bog hinüber zur Uraniastrasse, querte den Schanzengraben und hatte das Kommissariat der Kantonspolizei in insgesamt weniger als einer halben Stunde erreicht. Wenn sie spät dran war, nahm sie die Tram. Zürich war die Stadt der Trams. Aber an diesem Morgen war der Fußweg angesagt. Sarah brauchte Luft, frisches Atmen. Der Mann vom Seeufer, der so brutal zugerichtet worden war, war ihr wie ein Zeichen des absoluten Stillstands vorgekommen.

Als Sarah das Kommissariat betrat, grüßte sie der wachhabende Polizist.

»Guten Morgen, Frau Conti. Einen schönen Tag wünsche ich.« Vasic, dem die graublaue Uniform perfekt saß, war ein Charmeur. Plötzlich stockte er. »Sorry, tut mir leid. Das war für heute nicht passend.«

Sarah lächelte zerstreut. »Macht nichts. Ändern können wir es nicht.«

Schon in der Nacht hatte sich herumgesprochen, was passiert war. Ein Mord war ein Riesenthema, ein solcher Mord ohnehin. Jede Frau und jeder Mann der Zürcher Kantonspolizei wusste längst davon, doch noch gespannter war man im Korps, wie Sarah Conti das Verbrechen anpacken und aufklären würde.

Sie lief die Treppen hoch, schnell und mit festem Schritt, das Fitnessprogramm trug Früchte. Als sie die Räume der Kriminalpolizei erreicht hatte, waren Lisa und Carl wie erwartet zur Stelle. Der sonst so gelassene, ja fast schwerfällige Carl wollte sofort seinen Auftritt. Lisa schien noch immer geschockt. Sie trug blaue Jeans und weiße Tennisschuhe, die im Verhältnis zu ihrem Körper geradezu gigantisch aussahen. Erst vor Kurzem hatte sie zum Kriminaldienst gewechselt, nachdem sie sich als Verkehrspolizistin bewährt und dabei Intelligenz und Ausdauer bewiesen hatte. Und seit sie vor ein paar Monaten zu Sarahs Team gestoßen war, entwickelte sie sich praktisch Tag für Tag weiter. Sie schulte ihre Aufmerksamkeit, machte Notizen, stellte gute Fragen und bewies überhaupt, dass sie in diesem Beruf vorankommen wollte.

Carl legte los: »Der Tote. Wir wissen jetzt, wer er war. Seine Frau hat heute früh gegen fünf Uhr angerufen und ihn als vermisst gemeldet. Ihr Mann sei nicht nach Hause gekommen. Die Frau war besorgt, fast hysterisch, und meldete sich bei der Dienststelle. Damit war die Sache ja klar.«

Die Sache war alles andere als klar. Immerhin, ein Anfang war gemacht. Carl fuhr fort: »Der Tote heißt oder hieß Kaspar Feldmann. Alter 67 Jahre, verheiratet mit Getrud, geborene Eichler. Von Beruf Rechtsanwalt. Ein Sohn, ebenfalls Anwalt. Wohnhaft in Küsnacht, Silberweg 19. Nicht vorbestraft, alles unauffällig. Seriöses Umfeld, wie es scheint. Als unsere Polizisten vorbeikamen und die Nachricht überbrachten, brach Frau Feldmann zusammen. Sie wird jetzt von einem Notarzt betreut. Verrutschte Sache.«

Carl war ein guter Kriminalpolizist mit klarem Verstand. Dass er auch gut und reichlich aß, wollte und konnte er nicht verbergen, und dass er deshalb noch lange kein Maigret war, wusste er selbst. »Verrutschte Sache.« Typisch, dachte Sarah. Ohne es zu realisieren, hatte sich der Kollege mit seinen Kommentaren ein Markenzeichen geschaffen. Das war als eine Art von emotionaler Abfuhr verständlich. Aber Carls Kommentare hatten nicht selten eine unfreiwillig komische Note. Nachdem in einem Bordell bei Dübendorf ein Mädchen bestialisch ermordet worden war, hatte er zwar alles akkurat zusammengefasst, anschließend aber noch hinzugefügt: »Leichtes Mädchen, schwerer Tod.« Dabei hatte er ein riesiges Sandwich in der Hand gehalten, aus dem der Käse triefte.

»Danke, Carl. Das ging ja schnell«, sagte Sarah.

»Ja, zum Glück, auch wenn sich die Ehefrau natürlich etwas anderes erhofft hat.«

Schon am Tatort war Sarah klar, dass die Identität dieses Toten keine großen Rätsel aufgeben würde. Anders verhielt es sich mit den Umständen: Dass ein älterer Mann mit nacktem Oberkörper tot am Ufer des Sees aufgefunden wurde, lag weitab von jeder Wahrscheinlichkeit. Auch dass dort, wo sein Herz gesessen hatte, ein tiefer, dunkler Krater klaffte, war singulär.

Die meisten Mordfälle wurden innerhalb weniger Tage gelöst, oft war es verstörend einfach. Häufig waren es Männer, die tätig wurden. Mann erschlug Frau aus Eifersucht, aus Wut, aus religiösem Wahn. Mann erschoss Mann aus Rache, aus Geldgier, aus Angst. Doch dieser Fall würde schwierig und kompliziert. Knacknüsse und tiefenpsychologische Analysen krimineller Seelen zählten zu Sarah Contis Spezialitäten.

Bevor sie länger darüber nachdenken konnte, klopfte Ernst Faber, der Rechtsmediziner, an die offen stehende Tür. Faber, der im Dienst ergraut war, galt als einer der besten Forensiker, und dies weit über Zürich hinaus. Er hatte die Angewohnheit, am Tatort mit Krawatte zu erscheinen, und als Sarah ihn einmal mit sanftem Spott darauf angesprochen hatte, erwiderte er bloß, dies sei er den Opfern schuldig.

Der sonst so ruhige Faber wirkte auf einmal ganz aufgeregt. »Du wirst es nicht glauben. Eine solche Dämonie habe ich noch nie gesehen.«

3

Faber berichtete, was er und seine Kollegen herausgefunden hatten. Das Opfer, Kaspar Feldmann, war furchtbar zugerichtet worden. Beide Oberarme waren gebrochen, der Oberkörper wies fast überall schwere Prellungen auf, die Halswirbel waren bis zum Anschlag verdreht, die Kniekehlen eingeschlagen worden.

»Wir haben kaum Leichen gesehen, die übler zugerichtet waren«, sagte Faber.

Er hielt inne, zögerte, als ob er die Worte möglichst präzise wählen wollte, und fuhr dann fort: »Aber das wirklich Verrückte ist: Jemand hat das Brustbein aufgetrennt und einen Krater geschnitten, der das Herz freigelegt hat. Daraufhin hat dieser Jemand das Herz gepackt und mit einem einzigen Griff herausgerissen.«

»Es muss jemand gewesen sein, der sich in Anatomie auskannte, ein Spezialist«, sagte Sarah in fragendem Ton.

»Sieht ganz so aus«, antwortete Faber. »Der Täter musste nicht unbedingt die Kenntnisse eines Chirurgen besitzen. Aber mit den Grundbegriffen von Wikipedia war er noch nicht bedient. Wir werden weiter recherchieren. Das Wichtigste weißt du. Der Tod ist etwa um Mitternacht eingetreten. Die Ursache bleibt vorerst Spekulation.«

Sarah war überrascht. »Spekulation? Ich dachte, das Herz …«

»Nicht unbedingt«, sagte Faber. »Ich denke, dass Feldmann schon vorher tot war. Herzstillstand. Der Stau in den umliegenden Blutgefäßen deutet jedenfalls darauf hin. Manchmal greift der Organismus selbst ein, bevor der Mörder sein Werk vollenden kann.«

Faber schien dem Opfer zu wünschen, dass es nach all dem nicht noch erleben musste, wie ihm jemand bei lebendigem Leib einen Krater ins Brustfleisch schnitt.

»Und die Tatwaffe?«

Faber schaute zur Decke und sprach wie zu sich selbst, was er immer tat, wenn er sich konzentrierte. Er schien die Tat im Geist zu wiederholen. Das war unter Pathologen nicht unüblich, sie versuchten mit Wissenschaft, Intuition und eigener Vorstellungskraft die letzten Momente eines Lebens aufzufangen. Die letzten Phasen eines schlagenden Herzens mitzuhören, die letzten Atemzüge zu spüren.

»Die Tatwaffen. Plural. Erstens, das Herz. Ein herrkömmliches Beil genügt im Prinzip. Natürlich ist Chirurgenbesteck besser. Zweitens, die Verrenkungen. Ein stumpfer, massiger Gegenstand. Ein Holzhammer oder Ähnliches.«

»Spuren fremder DNA?«, fragte Sarah.

»Nichts. Gar nichts«, antwortete Faber. »Jedenfalls bis jetzt.«

Sarah wäre ehrlich überrascht gewesen. Wenn ein Täter so brutal und zielbewusst ans Werk ging, war nicht anzunehmen, dass er eine Visitenkarte in Form seiner DNA am Tatort hinterließ. Die Visitenkarte war in diesem Fall die Inszenierung, die Darstellung dieses Mordes.

»Hast du Neuigkeiten von der Spurensicherung? Wurde er am Fundort ermordet? Dort am Ufer?«

Faber schüttelte den Kopf. Er zögerte und kratzte sich am Kinn.

»Die Kollegen gehen davon aus, dass es sich beim Seeufer nicht um den Tatort handelt.«

»Was meinst du damit?« Sarah war überrascht.

»Man hätte deutlich mehr Blut finden müssen, auf dem Rasen und in seinen Kleidern. Und dazu die Leiche in dieser inszenierten Stellung.«

Faber wies auf die mitgebrachten Fotos, die die ganze Szenerie noch unwirklicher erscheinen ließen. Die Winkel wirkten verzogen, die Farben falsch. Feldmanns Leiche lag so, wie sie Sarah in Erinnerung hatte.

Sarah dankte Faber, der erleichtert schien, die Pflicht des Boten dieser Art von Nachricht hinter sich lassen zu können, und verabschiedete sich. Carl, der aus der Ecke des Zimmers mitgehört hatte, schnäuzte sich die Nase.

»Also, jetzt wissen wir zwar immer noch wenig. Aber das wenige ist massiv«, sagte Sarah.

Carl, der froh war, etwas beitragen zu können, reagierte auf das Signal: »Ein älterer Herr aus feinerer Gesellschaft. Gegen Mitternacht ermordet, aufgefunden in der Böschung des Zürichhorns. Geschlagen und gequetscht. Des eigenen Herzens beraubt. Und warum?«

Die Frage aller Fragen.

Sarah schaute kurz aus dem Fenster. Das schöne Wetter hielt an, was ebenfalls dazu beitrug, dass die Untat, die erst wenige Stunden zurücklag, umso absurder erschien. Die Türme des Grossmünsters reckten sich in den strahlend blauen Himmel. Von hier aus hatte Zwingli die Reformation betrieben. Von hier aus gewann das protestantische Zürich an Ansehen und Erfolg, und der Geist der Strenge und Sparsamkeit kam über die Menschen, die vorher wohl bequemer und vermutlich auch etwas lustiger gelebt hatten.

Immer wieder, wenn Sarah das Grossmünster sah, musste sie an ihren Vater denken, der einmal gesagt hatte, das Wahrzeichen Zürichs komme ihm vor wie der Inbegriff des Protestantismus, wie der Stein gewordene Vorwurf, dass er als Tessiner nicht nur katholisch sei, sondern auch lebenslustig. Sarahs Mutter hingegen war eine glühende Protestantin gewesen. Eine helfende und höfliche Seele, die nie viel Aufsehen um sich selbst gemacht hatte.

Carl riss Sarah aus ihren Gedanken: »Was jetzt?«

Das war, wie immer, gespielt, verfehlte jedoch seine Wirkung nicht. Es gab Rituale der Zusammenarbeit, die sich wiederholten, ohne dass es den Beteiligten bewusst gewesen wäre. Lisa, die abwartend in der Tür stand, schaute Sarah erwartungsvoll an.

»Was jetzt, Chefin?« Carl wiederholte seine Frage mit einem leicht ironischen Unterton.

»Wir gehen ans Werk«, sagte Sarah mit gespielter Feierlichkeit. Die eingespielte Maschinerie setzte sich in Gang. Hierbei wusste Sarah bestens, dass Kompetenz und Technik das eine waren. Das andere waren Improvisation, Gefühl, das genaue Zu- und Hinhören. Wie in der Musik.

Die Medien hatten schon ausführlich berichtet. Sie zogen in die Länge und Breite, was nicht zu verbergen gewesen war: den Mord an einem bekannten Zeitgenossen und Anwalt. Noch hatte niemand von den Umständen erfahren, und das war gut so. Für die Ermittlungen war es wichtig, dass das »Wie« so lange wie möglich im Dunklen lag. Die Presseabteilung der Kantonspolizei war angewiesen worden, die Einzelheiten dieses Gewaltdelikts für sich zu behalten. Doch die Neugier wurde nicht kleiner. Damit wiederum war umzugehen. Eine Frage der Routine. Der Kreislauf war vertraut.

Sarah hatte mit Theo Ochsner, dem zuständigen Staatsanwalt, gesprochen, einem klein gewachsenen Brillenträger um die fünfzig, der öfter einen anständigen Haarschnitt hätte gebrauchen können. Die graue Mähne sollte wohl künstlerisch wirken. Die Rechnung ging nicht auf. Ochsners Frau beklagte sich wiederholt bei Sarah über die äußere Erscheinung des Magistraten, der zur allgemeinen Überraschung immer dann Symptome von Humor zeigte, wenn sie niemand erwartete. So war Ochsner zu einem leicht exotischen Tier im Apparat der Kantonsverwaltung geworden, dessen Unberechenbarkeit längst als feste Größe seines Benehmens bekannt war.

Sarah hatte Ochsner die ersten Resultate bekanntgegeben. Der Staatsanwalt schien sich dabei vor allem für die Herkunft und das Umfeld des Opfers zu interessieren. Feldmann war kein Niemand gewesen, weder als Anwalt und Berater noch in jenen Teilen der Gesellschaft, die etwas darauf gaben, die besseren Kreise zu verkörpern. Ochsner selbst war nie so weit gekommen, weshalb sein Verhältnis zu diesen Kreisen ambivalent blieb. Einerseits blickte er mit neidvoller Bewunderung nach oben. Andererseits war es ihm ganz recht, wenn es dort ab und an rumorte. Und Sarah war die ideale Ermittlerin – höflich, diskret, elegant, aber wenn nötig beinhart.

»Gehen Sie sachte, aber beharrlich vor. Die Leute in Küsnacht verdienen nichts Besseres als andere.«

Als ob Sarah jemals anders gedacht und gehandelt hätte. Sie galt bei Freund und Feind als verständig und gerecht, unabhängig davon, ob jemand ein hohes Tier oder ein kleiner Gewerbler war. Übrigens zeigten die Bescheidenen, wenn sie in die Klemme gerieten, häufig mehr Würde als die hohen Tiere, die nicht selten die Fassung verloren.

Schlag elf Uhr begannen im weiteren Rund der Stadt die Glocken zu läuten. Ein tägliches Ritual, das Sarah längst gleichgültig geworden war, wenn sie es überhaupt noch wahrnahm. Dennoch schloss sie das Fenster und machte sich einen Kaffee. Früher als Kind hatte das Läuten der Glocken für Sarah etwas Mahnendes gehabt, etwas Bohrendes, eine Warnung.

Und ihr Vater hatte ihr erklärt, dass das Zürcher Geläute mit seiner bleiernen Gleichförmigkeit weniger lebendig sei als jenes in den Städtchen und Dörfern des Tessins. Tatsächlich läuteten die Tessiner Glocken mit einer geradezu mutwilligen Unberechenbarkeit, und wenn man meinte, dass es vorbei sei, kam immer noch ein Nachzügler, der den letzten Klangtropfen wie in einer freien Synkope setzte.

Sarah zog den Mantel über, griff sich ihren Hut und ging in Carls Büro. »Auf, es wird Zeit. Wir sollten Frau Feldmann einen Besuch abstatten.«

»Alles klar, ich habe aber meine Zweifel, ob das ganz nach Plan laufen wird. Gestern war sie kaum ansprechbar. Völlig fertig. Aber wir werden ja sehen«, sagte Carl.

Er lenkte den Wagen über Umwege zum See. Offenbar wollte er mögliche Staus auf der Seestrasse vermeiden, die wieder einmal umgebaut wurde. Zürich war Weltmeisterin in Sachen Baustellen. Keine davon kam wirklich voran.

Auf der Höhe des Kunsthauses sah Sarah ein Plakat, das eine Ausstellung zu Picassos Druckgrafik anzeigte. Unbedingt anschauen, dachte sie sich. Über den Zeltweg gelangten sie ins Riesbach-Quartier. Der Verkehr wurde ruhiger, die Autos krochen bei Tempo dreißig, die Gegend strotzte vor Grün. Hohe Bäume warfen breite Schatten, stattliche Villen waren hinter Zäunen zu erahnen.

Von Zollikon war es ein letztes Stück nach Küsnacht, dem alten Dorf der Bauern und Winzer, das sich vom See bis hinauf in die hügeligen Anhöhen des Limbergs erstreckte. Damals, im 18., 19. und selbst im frühen 20. Jahrhundert, hatte dieser Landwein mehr schändlich als ländlich geschmeckt, man nannte ihn Magenzwicker, was Sarah während der Fahrt wieder einfiel. Ausgerechnet zur Unzeit dieses Mordfalls.

Der Silberweg schlängelte sich in Kurven durch den Wiesenrücken. Hier gab es noch weniger Verkehr, und wenn ein Wagen kam, so rollte er langsam, leise und schwer. Als Sarah und Carl die Nummer 19 erreicht hatten, sahen sie das große, eiserne Tor und dahinter eine lange, von Platanen gesäumte Zufahrt. Das Haus lag weiter hinten, die Fassade strahlte weiß, sie sahen ein Eingangsportal mit Säulen und Kapitellen, in einiger Entfernung davon befanden sich ein kleinerer Zugang und daneben eine Platte aus Email, in die in alter, dunkelblauer Schrift Lieferanten geprägt stand.

»Reich, aber tot.«

Wieder Carls Tick, wie ein Schluckauf, dachte Sarah, die dem Kollegen einen müden Blick entgegenwarf.

Er klingelte, aus dem Haus war Hundegebell zu hören. Die Tür, die schwer in den Stiften drehte und leise surrte, öffnete sich langsam. Weder Sarah noch Carl waren darauf vorbereitet, zu sehen, was sie jetzt sahen.

4

»Guten Tag. Ich bin Gertrud Feldmann. Ich habe Sie erwartet. Danke, dass Sie so rasch gekommen sind.«

Carl schaute verblüfft zu seiner Chefin. Nach allem, was ihnen berichtet worden war, hätten Sarah und Carl ans Bett einer älteren, verzweifelten Frau geführt werden sollen. Gertrud Feldmann war um die fünfzig, mittelgroß und schlank. Sie trug das Haar, das zwischen Braun und Grau oszillierte, kurz und nach hinten gekämmt, was ihre sportliche Erscheinung verstärkte. Das schwarze Kleid saß perfekt, darüber trug sie eine schwarze Jacke, schwarz waren auch die Strümpfe, schwarz die matt glänzenden Ballerinas. Alles an dieser Frau war stark. Der Auftritt, die Erscheinung, die dunklen, tief in den Höhlen sitzenden Augen, die aufrechte Haltung, das halb freundliche, halb skeptische Lächeln. Gertrud Feldmann war eine alterslos schöne Frau.

»Guten Tag, Frau Feldmann. Ich bin Sarah Conti. All das tut mir sehr leid. Mein herzliches Beileid.«

»Danke. Vielen Dank. Ich habe von Ihnen gehört. Sie seien, so sagte man mir, eine hervorragende Ermittlerin«, sagte Gertrud Feldmann.

Auch Sarah musste lächeln. War das wirklich ein Mordfall? War das nicht eher eine Einführung in Gesellschaftskunde?

Gertrud Feldmann führte Sarah und Carl ins Haus, das sich großzügig in verschiedene Richtungen verzweigte. An den Wänden hingen Gemälde des 18. und 19. Jahrhunderts, an unerwarteter Stelle auch solche moderner Kunst. Sarah glaubte, ein Bild von Pollock zu erkennen, in beleuchteten Vitrinen waren antike Skulpturen aufgestellt. Alles gediegen. Und ein wenig unpersönlich. Sie kamen in einen Salon und setzten sich vor ein großes, breit gezogenes Panoramafenster. Draußen blitzten die Schaumkronen des Sees.

»Es tut uns leid, Sie schon jetzt zu überfallen. Aber die Zeit drängt, die ersten Tage entscheiden über die weiteren Fortschritte unserer Arbeit«, sagte Sarah.

»Natürlich, das wurde mir nach dem ersten Schock rasch klar. Kennt man die Ursache des Todes, die äußeren Umstände?«

Sarah und Carl konnten ihre Verlegenheit nicht verbergen.

»Nun, Sie wissen, dass –«

»Ja, ich weiß. Kaspar wurde brutal ermordet. Gestern Nacht, am Zürichhorn«, sagte Gertrud Feldmann und fügte hinzu: »Ich wurde, nachdem ich ihn vermisst gemeldet hatte, ziemlich rasch von zwei Beamten der Polizei informiert.«

Sie schien zu zögern, dann sagte sie: »Es war wirklich ein Schock.«

»Nichts ist verständlicher«, sagte Carl, der sich bisher zurückgehalten hatte.

Wieder schien Gertrud kurz zu zögern. »Ja, sicher, nichts ist verständlicher. Aber eigentlich habe ich mein ganzes Leben lang lernen müssen, kühles Blut zu bewahren. Gerade in einem solchen Moment. In einer solchen Situation, die …«

Sie brach ab, als ob sie das Thema wechseln wollte. Dann sagte sie: »Die Polizisten ersparten mir die Einzelheiten. Ich bitte Sie, das ebenfalls zu respektieren. Ich weiß, dass an meinem Mann ein furchtbares Verbrechen begangen wurde. Aber ich möchte ihn mir nicht so vorstellen müssen. Nicht ihn, den ich geliebt habe und den ich so in Erinnerung haben will, wie ich ihn zuletzt gesehen habe.«

Sarah verstand, auch wenn ihr Gertrud Feldmanns Pathos ein wenig einstudiert erschien. Vielleicht hätte sie an ihrer Stelle ähnlich reagiert. Doch sie war nicht an Gertrud Feldmanns Stelle, sondern gewissermaßen am Gegenpol. Musste sich hineinfinden in die Tat, in die Täterschaft, je genauer, je tiefer, desto besser. Was sie nicht verstand: Frau Feldmann hatte zuerst nach den Umständen gefragt, danach aber gebeten, sie ihr keinesfalls zu enthüllen. Das passte nicht zusammen und nicht zu dieser selbstbewusst beherrschten Frau.

»Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?«

»Gestern Morgen. Wir haben gemeinsam gefrühstückt. Er schien wie immer guter Dinge. Sagte, er habe im Büro eine längere und schwierige Verhandlung, wolle dann mit unserem Sohn lunchen, später einen Geschäftskollegen zum Aperitif treffen und gegen acht zum Abendessen zu Hause sein.«

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ja, genauso war es, ein Tag der Routine. Schön geregelt, wie er es gerne hatte.«

Feldmanns Witwe blieb beherrscht. Zugleich spürte Sarah einen Stich von Anspannung, sie schien ernster, unruhig. Nichts Überraschendes, dachte Sarah, keine große Enthüllung. Auch dieses elegante, etwas kühl anmutende Haus machte einen gepanzerten Eindruck, vermutlich war es auch gut gewappnet gegen Angriffe und hatte bestimmt eine exzellente Alarmanlage. Sarah wusste nicht, ob ihr Gertrud Feldmann sympathisch war.

Als könnte die Witwe ihre Gedanken lesen, sagte diese unvermittelt: »Ich stamme ursprünglich aus Bayern, bin als junge Studentin in die Schweiz gekommen. Ich wollte studieren, mich wenn möglich in Zürich beruflich niederlassen. Mein Vater hatte eine Praxis in München. Ich wollte ebenfalls Ärztin werden. Dazu kam es nicht.«

Sarah schwieg. Wenn die Menschen zu erzählen begannen, ohne dass jemand danach gefragt hatte, wurde es spannend. Immer. Die Menschen schienen die Regie zu übernehmen, fühlten sich stärker, weil sie dabei ihr Gegenüber in der Rolle des Zuhörers definierten. Manchmal stimmte das, häufiger war es jedoch genau umgekehrt: Beim Erzählen verloren die Menschen die Kontrolle. Und plötzlich fiel ein Satz, ein Wort, das der geplanten Linie des Erzählens entwischte. Darauf wartete Sarah.

Doch Gertrud Feldmann machte nicht weiter. Sie hatte diesen Vorhang mit Absicht geöffnet und nun wieder geschlossen.

»Dürften wir das Arbeitszimmer Ihres Mannes sehen?«

Gertrud Feldmann erhob sich. »Natürlich. Das versteht sich doch von selbst.«

War hier ein Ton von Ironie zu hören? Wieder fühlte sich Sarah an eine Lektion in Gesellschaftskunde erinnert. Seltsam, wie die Witwe – Gertrud war trotz ihrer souveränen Erscheinung seit knapp zwölf Stunden Witwe – versuchte, die Fäden in der Hand zu halten. Sie würde nicht zusammenbrechen, so viel war klar.

Sie stiegen eine breite Treppe hinauf, gingen durch einen mit Nussbaumholz getäfelten Korridor und standen im Arbeitszimmer des Ermordeten. Es war groß, besaß gegen Süden einen Erker mit vier Doppelfenstern und war ebenfalls in hellem Holz gehalten.

Der Schreibtisch stand seitwärts zur Front der Fenster, gegenüber befand sich eine Polstergruppe aus braunem Leder, hinter dem Schreibtisch eine Wand mit Büchern, und vor dieser Wand stand ein langer Tisch. Auf dem Tisch stapelten sich Bücher und Zeitschriften, offenbar war Feldmann ein eifriger Leser gewesen, der dabei das Rauchen nicht verlernt hatte. Sarah sah eine Reihe von teuer wirkenden Pfeifen, einen Humidor für die Zigarren und auf dem Schreibtisch sowie auf den Beistelltischen diverse Aschenbecher. Der Raum roch nach Tabak, was Sarah, die das Rauchen vor fünf Jahren aufgegeben hatte, schwer erträglich fand. Der Geruch schien sich auch in die langen, in dunkelroten Samt gefassten Vorhänge gelegt zu haben.

Würde das Unerwartete auftauchen, das mit diesem Mord zwangsläufig verknüpft war?

Das Herbstlicht kam in weicher Brechung aus Richtung des Uetlibergs, es passte zu diesem Arbeitszimmer. Feldmann war fast siebzig gewesen, als ihn jemand überfiel und ihm das Herz herausriss. Ein Mann der älteren Generation mit dem Ordnungsdrang dieser reichen, betagteren Herrschaften, die ihre Skelette in der Besenkammer verstauten und zweifelhaftere Geschäfte unter den Teppich kehrten.

Plötzlich bemerkte Sarah eine Reihe von Bildern, teils im Hoch-, teils im Querformat, die sich wie ein Fries über die Wände zogen, merkwürdige Bilder. Sarah hatte ihr Auge für grafische Blätter geschult, hatte sich schon als Studentin für Kunstgeschichte interessiert. Kaspar Feldmann hatte offenbar nicht nur eine Vorliebe für Bücher und Zigarren, sondern auch für Piranesi. Galt seine Faszination dabei Piranesis Motiven? Den Darstellungen, die tief und dunkel in den schwarzen Holzrahmen saßen?

Gertrud Feldmann unterbrach Sarahs Abschweifung: »Mein Mann liebte diese Blätter. Er hat sie vor langer Zeit bei einem Berner Auktionator erworben. Ich fragte ihn immer wieder, was er darin sehe. Er schaute mich nur lächelnd an und sagte: ›Vielleicht ist das nichts für Frauen.‹«