Im Auftrag eines Verfolgten - Coldàn - E-Book

Im Auftrag eines Verfolgten E-Book

Coldàn

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Beschreibung

Im ehemaligen mexikanischen Nobel-Badeort Acapulco herrschen die Gesetze der Drogenmafias. Dorthin ist Bernie Hofrege, der Detektiv und ehemalige V-Mann des BND, dem weltmännisch auftretenden Doktor Peter Kornfeld gefolgt. Diesen macht Hofrege für einen auf ihn gezielten Attentatsversuch verantwortlich. Bald gerät der Detektiv selbst in den Strudel der mexikanischen Mafia-Kartelle. Um am Leben zu bleiben, muss er auf die Hilfe des von ihm verfolgten Kornfeld zurückgreifen ...

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EPUB

Seitenzahl: 537

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Epilog

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2014 novum publishing gmbh

ISBN Printausgabe: 978-3-99038-990-4

ISBN e-book: 978-3-99038-991-1

Lektorat: Angelika Glock

Umschlagfotos:Coldàn, Gualtiero Boffi | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

1. Kapitel

Eine ganze Weile sitz ich bereits nutzlos vor meinem Schreibtisch, starre überall und nirgendwo hin, verspüre Lust auf nichts! Nicht mal auf Kaffee. Der Bildschirm ist noch immer dunkel. Ich will ihn nicht anknipsen. Schon so, wie er mich anglotzt, geht er mir auf die Nerven. Richtig schlaff häng ich in meinem Sessel. Angeblich soll das ja gesund sein., sich auf diese Weise zu entspannen! Aber das greift bei mir nicht. Jedenfalls nicht jetzt. Dieser Nagerich in meinem verdammten Gehirn versucht mich ständig zu maßregeln. Und er hört nicht auf damit, auch wenn ich ihm immer wieder eins drüberbrate.Leck mich!,flüstere ich ihm nochmals zu. Recht laut diesmal, damit er’s auch hört. Aber er verstummt nicht. Langsam lockert sich meine Bockigkeit. Ich weiß ja, dass er nicht aufgibt. Er setzt meistens genau da an, wo ich versuche, mir was vorzumachen. Nur bin ich noch weit davon entfernt, es zuzugeben. Immerhin hör ich ihm jetzt zu.

Warum ich ihn weggeschickt habe, ohne überhaupt Notizen gemacht zu haben? Ja, warum wohl? Weil er wollte, dass ich seinen Vater ausforsche. Wie soll das denn funktionieren? In kriminelle Handlungen soll er verwickelt sein und der Sohnemann hat Probleme damit. Kann ja sein, dass er recht hat. Aber was soll ich dabei? Und wenn ich was rausfinde, was fang ich damit an? Es ihm übergeben, damit er seinen Paps erpresst? Umbringen lassen wird der ihn, wenn er wirklich so kriminell ist und wenn er merkt, dass er ihn bespitzelt hat. Und wer bezahltmichdann? Sechzehn, höchstens siebzehn geb ich ihm. Älter nicht! Kann ja sein, dass er nur wissen will, was der Vater so treibt; wissen will, ob er sich vielleicht doch verhört hat, als er ihn beim Telefonieren belauschte. Allerdings mehrfach, wie er sagte. Aber auch wenn er sorgsam mit meinen Infos umgeht, wie will er meine Spesen begleichen? Mit seinem Taschengeld, gespeist aus gestohlenem Zaster? War schon richtig, ihn vor die Tür zu setzen. Und überhaupt, seinen Namen hab ich kaum noch im Kopf. Kormann oderKorfland oder so ähnlich. Jürgen, glaub ich, sein Vorname. Mauerkirchenerstraße. Na, rausfinden würdest du’s sicher, wenn du nur wolltest. Willst aber nicht! Nur, vielleicht hat er ja Probleme, sieht seine Mutter unter einer Decke mit Papa, braucht eben jemanden außerhalb der Familie, der seinem Verdacht nachgeht. Wenn was rauskäme, setzt er sich womöglich von ihr ab, was in dem Fall ja nicht falsch wäre. Er muss sie ja nicht gleich anzeigen oder damit konfrontieren, dass er Bescheid weiß. Aber bin ich denn der Richtige und Einzige, an den er sich wenden kann? Vergiss das Ganze! Du hast genug um die Ohren. Halt dich nicht mit Kleinkram auf!

Ich nicke in mich hinein, gähne das Fenster an, stehe auf und schiebe den Store zur Seite. Genau dieses Wetter mag ich nicht. Schnell dahin ziehende Wolken, mal ein Guss, dann wieder Pause und das bei fünf Grad. Föhn soll kommen und Tauwetter in den Bergen, sagen sie im Fernsehen. Ist sicher das Beste, du arbeitest alten Mist auf. Ich schiele auf den Ablagekorb, aus dem ein Packen Papiere schnabelt. Setze mich wieder hin. Und prompt meldet sich der Nagerich. Ich ignoriere ihn, hole mir den Mahnbrief einer Versicherung hervor. Meine Kündigung sei um zwei Tage zu spät eingegangen. Ein ganzer Jahresbeitrag wäre damit fällig. Ich schiebe den Brief zur Seite.Würde mich wundern, wenn du nicht doch noch mal versuchtest, mit ihm zu reden.Jetzt wird er wie üblich immer konkreter. Wird er nie locker lassen? Nie!

Ich angle aus der Schrankwand hinter mir das Telefonbuch. Es dauert nicht lange, bis ich ihn ausfindig mache. Kornfeld, Peter, Dr. jur. und Dipl.-Kfm. Wirtschaftsmediator. Tel. 4466026, Mauerkirchenerstraße 48. Beste Gegend in München.

Soll ich oder soll ich nicht, frag ich mich, als ich den Hörer schon in der Hand halte. Meine Nummern erscheinen auf keinem Display. Trotzdem könnte man rauskriegen, wo der Anruf herkam, genauso wie der von meinem Handy, obwohl ich die Nummer wöchentlich, wenn ich einen schwierigen Fall bearbeite, sogar täglich, wechsle. Weiß ja nicht, ob er ein hohes Tier in dernoblenGesellschaft mit besten Verbindungen ist und ständig kontrolliert, ob er überwacht wird. Wollte eigentlich nach dem Sohnemann fragen, vorgeblich für eine Marketing-Umfrage bei Menschen unter achtzehn. Aber meine Bedenken siegen schließlich.Lass essein!, sage ich strikt. Ich lege wieder auf und der Nagerich hält sogar die Klappe. Morgen früh will ich den jungen Kornfeld abfangen, wenn er zur Schule muss, wie immer er dort hinkommt, zu Fuß, per Fahrrad oder Moped. Ich mache mich wieder am Ablagekorb zu schaffen. Vorher tippe ich einen Kompromissvorschlag an die E-Mail-Service-Adresse der Versicherung. Zahle zwei Monate extra. Mein letztes Wort!

Clarissa, eine meiner beiden Assistentinnen, hat sich die letzten zwei Stunden nicht sehen lassen. Mir fällt nämlich ein, dass ich jetzt doch gerne einen Kaffee hätte. Carla – mit C, weil sie in Chile geboren wurde – hat heute Nachmittag frei. Beide Assistentinnen sind hübsch, Ende zwanzig. Clarissa hat langes blondes Haar und dazu auch lange Beine. Carla ist brünett mit bubenhaftem Haarschnitt. Zur Größe von Clarissa fehlen ihr zehn Zentimeter. Beide sind – wie man heute so schön sagt – recht emanzipiert, was sich oft sehr schnodderig anhört. Sie halten nicht viel von Männern, was natürlich auch an derKundschaftmeiner Detektei liegen kann, sind aber selbst angeblich in guten Händen. Wahrscheinlich sind das sehr lenkbare Männer, was mir nur recht ist; denn sie reklamieren nie, wenn es bei uns später wird. Und das ist oft so, wenn wir einen saftigen Braten am Schmoren haben. Die beiden Damen spielen dann problemlos mit. Wenn Sie mir zu vorwitzig und zu kess kommen, wird mein Ton schon mal vokaler. Aber da übertreib ich nicht. Immerhin ist es wichtig, dass sie mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben, auch wenn sie hier so einiges mitkriegen, was nicht gerade den Glauben an die Menschheit stärkt. Und das ist in unserem Metier Vorbedingung.

Ich selbst heiße Bernie Hofrege, bin zweiundfünfzig Jahre alt und immer noch ledig. Alles zu meiner Karriere erzähl ich später, so nach und nach. Nur so viel für den Moment: Vor viereinhalb Jahren habe ich die Kosmos, meine Detektei, hier in München, Ismaningerstraße, gegründet. Dass wir nurdickeFälle übernehmen, hängt mit meinen Verbindungen aus früheren Zeiten zusammen. Da gab es einfach keine kleinen Fische und viele Behörden sind noch heute recht froh, dass es mich gibt, weil ich oft helfen kann. Natürlich sind unsere Fälle auch recht einträglich, wenngleich es am Ende auch schon einige Reinfälle gab; vor allem dann, wenn sich ehemalige Streithälse plötzlich einigten. Da das solchen Kunden meist mehr kostete als mein vereinbartes Honorar, kam ich auf die Liste der Einsparungen. Das Geld einzuklagen hätte nur meineGesundheit gefährdet. Ich arbeite hier in einem modern ausgerüsteten Büro mit meinen beiden Assistentinnen und habe etwa vierzig handverlesene Agenten, mit denen ich je nach Fall Zeit- und Erfolgs-Verträge abschließe. So weit der erste kurze Überblick zu mir, zur Kosmos und zu den Kornfelds und natürlich auch zu meinem Nagerich.

*

Früher Morgen. Zehn nach sieben! Tief hängende Wolken, aber kein Regen. Ich sitze in meinem Audi etwa fünfzig Meter schräg gegenüber vom Haus der Kornfelds und beobachte, was sich dort tut. Nichts, jedenfalls bislang, außer dass im ersten Stock hinter einem Fenster noch Licht brennt. Vielleicht ist es ja Jürgens Zimmer. Wenn er Jürgen heißt. Ständig muss ich gähnen und tupfe mir dann die Tränen mit einem Kleenex ab. Was im Parterre vor sich geht, kann ich nicht sehen. Kornfeld protzt mit seiner mächtigen, gelblich grau getünchten Villa erst hinter einer Gartenmauer, die recht kunstvoll gestaltet ist. Angedeuteter Renaissance-Stil. Versetzte Quadersteine über die Länge der Front von etwa fünfzig Meter, in kurzen Abständen von Pilastern unterbrochen. In der Mitte der Fläche ist ein breites dunkles Eisentor eingelassen, ohne auffällige Verzierungen, genauso wie das Garagentor am linken Ende, von dem ich nicht weit entfernt bin. Im ersten Stock gibt es sechs Giebelfenster und vom Schieferdach lugen drei Spitzgauben.

Jetzt eben erlischt das Licht und es dauert nicht lange, bis sich das zweiflügelige Garagentor von selbst öffnet. Dadurch kann ich auch den Fassadenstuck über den hohen Fenstern mit Oberlicht im Parterre erkennen und eine breite Veranda mit Säulen und Kapitellen. Die breite Tür in der Mitte der Villa öffnet sich und mein abgewiesener minderjähriger Besucher von gestern tritt im feinen dunklen Anzug und einer feschen Aktentasche hervor. Von links läuft ihm ein bulliger Chauffeur mit Schirmmütze entgegen und nimmt ihm die Tasche ab. Ich erinnere mich, dass das anders ablief, alsichin dem Alter zur Schule musste. Den Wagen, zu dem sie gehen, kann ich noch nicht sehen. Was mich aber stutzig macht, ist, dass dreimal ein gedämpfter Türschlag zu hören ist. Vielleicht ist Vater Kornfeld auch eingestiegen, kam möglicherweise aus einer Seitentür des Hauses. Das würde mein Konzept schwieriger gestalten.

Als der gestreckte Siebener-BMW aus der Garagenausfahrt fährt, ducke ich mich etwas hinter dem Armaturenbrett, erkenne noch den Chauffeur, sonst aber niemand. Die hinteren Seitenfenster und die Heckscheibe sind abgedunkelt. Ich beschließe, mit gehörigem Abstand, nachzufahren. Vielleicht steigt der Vater – wenn er mit im Fond sitzen sollte – vor seinem Sohnemann aus. Auf jeden Fall will ich herauskriegen, in welche Schule Jürgen geht. Mal sehen, wie ich ihn dann abfangen kann, ohne dass es Chauffeur oder Papa merken.

Der BMW fährt recht zügig die Mauerkirchenerstraße entlang. Die Isar daneben sprudelt kaum,fließt aber schnell und düster auf hohem Pegel dahin. In den Bergen hat es in letzter Zeit viel geregnet, in höheren Lagen sogar geschneit. Jetzt im September! Ein Audi der Serie Q kommt mir jetzt dazwischen. Es ist ein bulliger, silbriger Van, der mir die Sicht auf den BMW wegnimmt. Trotzdem schaffe ich die Ampel noch bei Gelb-Rot.

Irgendwas passt mir plötzlich bei meinem ganzen morgendlichen Manöver nicht. Was geht mich das alles an? Ich schnüffle, ohne einen Auftrag zu haben und ohne zu wissen, ob ich ihn überhaupt haben will. Hat dich der Junge so beeindruckt, frag ich mich? Überhaupt nicht! Etwas gestriegelt vielleicht, gute Manieren, gefällig im Ausdruck mit einigen Stotterern, wenn ich zu präzis nachfragte. Auf jeden Fall, kein Überflieger! Nur eben dieses Besorgte in seinem Gesicht. Das war’s sicherlich, was mich letztlich weichklopfte und was mich an diesem lausigen Morgen hierher beorderte. Er suchte irgendwo Beistand. Eben bei mir! Warum bei mir? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall bin ich jetzt wieder direkt hinter ihm, nachdem der Audi geradeaus fuhr und wir auf die Isarbrücke einbogen. Ich muss jetzt aufschließen, da hier ungleich stärkerer Verkehr herrscht. Am Isartor geht es nach links und weiter zum Sendlinger-Tor-Platz, den wir umrunden und in die lange Lindwurm-Straße einbiegen. Am Goetheplatz fahren wir Richtung Theresienwiese und halten dann in der Haydnstraße vor einem alten aber neu restaurierten Patrizierhaus, in dessen Vorhof an die fünfzig ausschließlich männliche Schüler zwischen 14 und 18 Jahren in Gruppen zusammenstehen. Die Jüngeren sind lässig gekleidet, in teils eingerissenen Jeans und bulligen Jacken, die älteren in korrekten Hosen, Hemd und Jacke. Keiner raucht. Einige stehen abseits und reden auf ihr Handy ein.

Jürgen steigt aus, noch bevor ihm der hinzugeeilte Fahrer die Tür öffnen kann. Ich halte am Ende des schmiedeeisernen Zauns, etwa zehn Meter von dem BMW mit der NummerM-PK 149 entfernt. Nachdem der Fahrer wieder eingestiegen ist, setzt der BMW seine Fahrt fort. Genau in dem Moment, in dem ich aus dem Wagen will, um Jürgen vielleicht ein Zeichen geben zu können, kurz zu mir zu kommen, ihn nochmals in die Detektei zu beordern, stoppt neben mir ein großer dunkler Geländewagen. Toyota LandCruiser schätz ich. Nur dunkle Scheiben. Ich erkenne schemenhaft vorne und hinten zwei Köpfe, die auf mich gerichtet sind. Und im gleichen Moment beginnen die Vorwürfe: Wie kannst du nur so idiotisch sein und einfach vergessen, nach hinten zu schauen. Wenn er ein Gangster der oberen Kategorie sein soll, wie sein Sohn andeutet, warum zum Teufel siehst du dann nicht in den Spiegel? Klar sind es seine Bodyguards oder sonstige zu allem brauchbare Gangster, die ihm zu Diensten sind. Und du denkst noch nicht mal an deinen Rückspiegel. Vollidiot! Jetzt bist du mitten drin im Schlamassel!

Der Wagen neben mir bewegt sich nicht. Er will, dass ich weiterfahre, so deute ich es, weil er auf der Stelle klebt. Ich könnte auch gar nicht aussteigen, so nahe steht er neben mir. Sie wollen nicht, dass ich mich um Jürgen kümmere. So viel ist klar! Ich fahre langsam an. Der Toyota, es ist tatsächlich einer, bleibt zurück. Meine Augen erhaschen rechts am Eingang zur Schule noch ein Messingschild.Deutsch-Schweizer Kollegium. Eigenartige Bezeichnung für eine Privatschule. Ich biege die nächste Seitenstraße ab und dann nochmals, komme wieder zum Goetheplatz und fahre dieLindwurmstraße zurück.

Der Nagerich meldet sich unaufhörlich und liest mir die Leviten, beleidigt mich, untergräbt meine Berufsehre, macht sich sogar lächerlich über mich. Er hat recht! Du hast Mist gebaut, hast dich benommen wie ein Anfänger, und das Ganze ohne jeden Auftrag. Du sitzt außerdem in der Patsche. Überleg doch mal: Sie haben gesehen, wie du das Haus beobachtet hast, wie du nachgefahren bist, wie du vor der Schule gehalten hast, hinter dem BMW, wie du aussteigen wolltest. Da gibt es keine Ausreden. Oder wie stellst du dir die vor? Verdammt noch mal, es gibt keine! Sie werden rauskriegen, wer du bist. Der Wagen ist zwar nicht auf die Kosmos zugelassen, sondern auf meinen Namen. Aber Anschrift und Adresse … eine Frage von Minuten. Wie konntest du nur …!

Was werden sie wissen wollen? Warum ich das Haus beobachte, warum ich dem BMW folge und den Sohnemann sprechen will. Was sag ich ihnen? Dass der Sohn bei mir war und ich mir erst ein Bild machen wollte, bevor ich einen Auftrag annehme? Sicherlich nicht! Obwohl es die Wahrheit wäre. Aber dann würde der Junge Dresche beziehen und das will ich bestimmt nicht. Und wenn du alles sein lässt, sagst, es wäre alles ein fürchterlicher Irrtum und so weiter? Geht nicht mehr! Sie werden dich ausquetschen.

Erst war die Stirn heiß, jedenfalls kurz, nachdem ich von der Schule weg fuhr, so wie nach einem Fieberanfall. Jetzt ist sie eiskalt und trotzdem perlen Schweißtropfen unter den Hemdkragen. Ich fühle mich schlecht, auch im Magen, weiß eigentlich gar nicht, ob ich zur Kosmos will. Instinktiv lege ich mir immer noch Ausreden zurecht, wobei keine auch nur annähernd glaubhaft ist. Dass ich mich in der Adresse geirrt hätte, dass ich in die Mauerkirchenerstraße umziehen will und den Schulweg für meine Tochter, die ich gar nicht habe, abfahren wollte? Lauter solcher Mist kommt mir in den Kopf, der zu nichts taugt. Der Anruf wird kommen, wahrscheinlich zunächst zu Hause. Oder sie fangen dich irgendwo ab und quetschen dich aus. Wie kann man sich nur in eine solche Situation manövrieren?

Ich fahre auf die Salzburger Autobahn. Warum weiß ich nicht. Ich will aus dem Stadtgetümmel heraus und mir auf irgendeinem Parkplatz seriöse Gedanken machen. Außerdem will ich sehen, ob mir jetzt schon jemand folgt. Ich drücke das Gaspedal ziemlich durch, als ich die Autobahn erreichte. DemNagerich verbiete ich das Wort. Er muss ja nicht ständig plappern. Vor der Ausfahrt Holzkirchen gehe ich hinter einer Tankstelle auf einen Rastplatz mit einigen Holzbänken. Ich bleibe aber im Wagen sitzen. Gefolgt ist mir bei 230 Stundenkilometer niemand. Das hat mir mein Rückspiegel bestätigt. Lange starre ich durch die Windschutzscheibe in den grauen Himmel, der immer noch nicht regnen will. Wahrscheinlich vertreibt der böige Wind die Regenwolken gegen Osten. Ich hätte jetzt nichts dagegen, wenn es auf den Wagen trommeln würde.

Meine Überlegungen wenden sich mit der Zeit in ein und dieselbe Richtung. Eine Richtung, die ich immer eingeschlagen habe, wenn mir das Wasser am Hals stand. Endergebnis: Stirn voran! Was in diesem Fall bedeutet: Ich brauche Hilfe von Herrlinger! Er ist Polizei-Oberrat im Münchner Polizei-Präsidium in der Ettstraße. Ich hab ihm schon oft geholfen und er mir. Er ist keiner dieser Bürokraten, sondern flexibel, wenn auch penibel. Wir sind nicht gerade dicke Freunde, aber wir schätzen uns und können uns aufeinander verlassen. Vor zwölf Jahren waren wir zusammen in Bulgarien eingesetzt, um den Kopf eines internationalen Drogenkartells festzunageln. Ich war damals Verbindungsführer beim BND und er Agent des LKA München in Koordination mit EUROPOL. Letztlich hat uns der bulgarische Geheimdienst DS kurz vor dem Zugriff der Polizeibehörden hereingelegt, da er selbst hauptberuflich im Drogen- und Waffenschmuggel engagiert war. Wir mussten froh sein, mit heiler Haut außer Landes zu kommen. Die Spionageabwehr war nämlich plötzlich auf uns angesetzt worden. Auch solche Blamagen verbinden.

Harro muss mir Rückendeckung geben. Denn wenn sie anrufen, und das werden sie, hab ich jetzt die Antwort parat. Ich werde ihnen sagen, dass ich für die Polizei ermittle, dass wir gegen Kornfeld ermitteln. Und wenn sie weiter fragen, brauch ich nicht mehr zu antworten. Wäre gar nicht befugt dazu. Auch nicht, warum ich an der Schule aussteigen wollte. Klar, anders geht es gar nicht! Seit ichdasweiß, geht es mir besser. Mein Magen meldet zwar Hunger an, lässt aber weitere Kapriolen sein. Auch mein Nagerich hält sich zurück. Erstaunlich! Er scheint mein Vorgehen zu billigen. Jetzt heißt es, Herrlingerzu erreichen. Im Präsidium ist er noch nicht, obwohl er Frühaufsteher ist. Ich erreiche ihn im Dienstwagen auf dem Weg zu seinem Schreibtisch. Die Zeit ist gut; am Morgen ist er vergnüglicher als am Abend. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was er den ganzen Tag an Schandtaten aufgetischt bekommt.

„Ach,duBernie!“, er klingt in der Tat gut gelaunt. „Was gibt’s, wo drückt der Schuh?“ Ganz genau weiß ich noch gar nicht, wie ich’s ihm beibringen soll. Hätte vor dem Anruf darüber nachdenken müssen.

„Wie geht’s dir, Harro? ’Ne ganze Weile nichts mehr von dir gehört“, beginne ich vorsichtig.

„Suchst du Beschäftigung; zu wenig Kunden?“

„Könnte die Kundenkartei jederzeit erweitern. Will aber nicht.“

„Also, was gibt’s?“

Ich muss etwas Atem holen, bevor ich zu meinem Anliegen ansetze.

„Bin da in etwas hineingeraten, ohne es zu wollen. Um da einigermaßen unversehrt rauszukommen, brauch ich deine Hilfe.“

„Schieß los!“

„Sagt dirPeter Kornfeldwas?“ Herrlinger antwortet nicht gleich. Er scheint nachzudenken. „Klingt nicht ganz unbekannt! Könnte aber nicht sagen, warum. Um was geht’s?“

„Sein Sohn hat mich in der Kosmos besucht. Er hält es für wahrscheinlich, dass sein Vater schmutzige Geschäfte macht. Er möchte, dass ich herausfinde, ob das stimmt.“

„Wie alt ist er denn? Hat er dich engagiert?“

„Nein! Er ist höchstens siebzehn. Deswegen hab ich ihn weggeschickt.“

„Und jetzt möchtest du, dass ich etwas zu Peter Kornfeld herausfinde, um zu wissen, ob es sich für dich vielleicht doch lohnt?“

Ich schüttle vehement den Kopf. Fast rutscht mir dabei das Handy aus der Hand.

„Nein, das war nicht die Idee.“

„Sondern?“

„Ich Idiot konnte es wahrscheinlich nicht so richtig verdauen, dass ich ihm einen Korb gegeben habe. Also bin ich heute früh in die Mauerkirchenerstraßegefahren. Wollte sehen, wo der Bengel in die Schule geht, um ihn dort abzufangen. Ich wollte nochmals mit ihm reden. So richtig weiß ich nicht, warum. Es ging mir eben nach.“

„Wirst du alt, melancholisch? Was ist denn passiert?“

„Um es kurz zu machen: Der Chauffeur einer Siebener-BMW-Karosse mit abgedunkelten Scheiben, Kennzeichen übrigens M-PK 149, hatihnund wahrscheinlich auch Papa in die Haydnstraße gefahren zum Deutsch-Schweizer Kollegium. Ich hinterher! Vor der Schule wollte ich aussteigen, aber da klemmte mich ein Toyota LandCruisersoein, dass ich die Tür keinen Schlitz weit öffnen konnte. Zwei Typen haben mich durch dunkles Milchglas von oben beäugt. Es war klar, dass ich abhauen sollte.“

„Aber hast du denn nicht gesehen, dass sie dir folgten?“

„Eben nicht. Idiotisch! Aber da ich in dem Fall noch ganz jungfräulich bin – ich hab mir nicht mal Notizen über den Besuch des Jungen gemacht – dachte ich überhaupt nicht daran.“

„Sieht dir eigentlich nicht ähnlich, aber na ja, das vorgerückte …“

„Ja, ja, ich weiß, das Alter, wiederhol dich nicht!“

„Hast du wirklich keine Idee, warum du den Jungen doch noch mal sprechen wolltest?“

„Ich glaube, ich wollte ihm nur klarmachen, warum ich nicht … ,na, ich wollte ihm einfach nicht so eine Abfuhr erteilen, wie gestern.“

„Und der Fall selbst hat dich überhaupt nicht interessiert?“

Ich halte einen Moment inne. Es ist das erste Mal, dass ich darüber nachdenke. Über mich selbst leicht verunsichert, sage ich: „Vielleicht hat es im Unterbewusstsein eine Reaktion gegeben. Aber das war nicht der Grund. Ich will ja an den Fall auch jetzt nicht ran!“

„Obwohl du bereits mitten drin steckst. Vorerst allerdings bist du in der Klemme. Sie haben dich jetzt im Visier.“

Ich seufze ins Handy.

„Was willst du also?“, Harros Stimme klingt jetzt frostiger.

„Reg dich nicht gleich auf!“,versuch ich ihn zu besänftigen, bevor ich meinen Wunsch loslasse.

„Also?“

„Wenn sie sich bei mir melden, möchte ich sagen, ich arbeite für die Polizei. Routineermittlungen!“

„Über diesen Kornfeld?“

„Ja, natürlich!“ Er brummelt irgendetwas Unverständliches vor sich hin, was sich so wieimmer so ’ne Scheißeanhört, jedenfalls, wenn ich es richtig erlauscht habe.

„Wie soll ich das rechtfertigen?“, fragt er leicht empört. „Ich habe auch Chefs, die sich dafür interessieren, was ich so treibe. Wollen Berichte über den kleinsten Mist. Vielleicht hat der Mann ja ’ne weiße Weste, ist ein ganz großes Tier in der Wirtschaft, und wenn er von Ermittlungen hört, zapft er die höchsten Stellen an, um zu erfahren, warum. Was sag ich dann?“

Genau darauf hatte ich gewartet. Genauso musste er reagieren. Deshalb kannte ich jetzt meine Antwort schon vorher: „Du könntest sagen, dass ein Tipp von unbekannter Seite eingegangen ist. Zu Kornfeld. Aber wegen eurer Personalknappheit hast du mich gebeten, mal etwas rumzuschnüffeln, ohne viel Aufwand. Es sei aber nichts dabei rausgekommen. Und schwups ist das Thema vom Tisch!“

Ich höre jetzt, dassertief durchatmet. Einerseits sieht die Lösung, die ich ihm anbiete, recht einfach aus, aber andererseits will er natürlich auch nicht gleich nachgeben. Lieb ist ihm das ganze Thema eh nicht. Das höre ich an seiner Stimme. Im Moment scheint er nachzudenken. Dabei vergehen mindestens fünfzehn Sekunden.

„Also“, vernehme ich endlich seine etwas gequält klingende Stimme, „sag das dann eben so, wie du dir das vorstellst.Führst einen Auftrag für die Polizei aus. Dann warten wir, was passiert. Entweder er hat Dreck am Stecken, dann sind sie natürlich aufgeschreckt und vermeiden, bei der Polizei nachzuhaken; und wenn, dann höchstens indirekt, über irgendwelche Mittelsmänner. Oder er ist ein Ehrenmann, dann spricht er vielleicht gleich mit dem Polizeipräsidenten.“

„Glaubst Du?“

„Nein, eigentlich nicht! Obwohl … Ich vermute, jedenfalls, wenn er sauber ist, dass er oder irgendjemand aus seiner Firma dich anruft, was das Ganze soll und dann kannst du ja sagen, dass es eine Namens-Konfusion gegeben habe. Die Sache sei vom Tisch.“

„Ja,sokann eigentlich nichts passieren, jedenfalls, wenn er sauber ist. Wenn aber nicht, bist du noch lange nicht aus dem Schneider, Bernie. Sieh dich vor! Dann sitzt du nämlich in der Patsche.“

Ich nicke andächtig ins Handy. „Da geb ich dir recht. Trotzdem: Mit deiner Hilfestellung werde ich mich schon aus der Affäre ziehen. Danke erst mal!“

Harro knurrt wieder etwas am anderen Ende, was ich nicht verstehe. Er kommt dann offiziell zurück: „Auf jeden Fall werde ich nach diesem Peter Kornfeld in unseren Dateien nachsehen. M-PK 149 war das Kennzeichen, nicht wahr? Vielleicht werde ich ja fündig. Wenn der Sohn schon unruhig ist, könnte ja was dran sein. Willst du den Fall dann übernehmen?“

„Weiß ich noch nicht! Es geht ja auch um meinen Verdienst. Wie will der Sohn …“

„Wo willst du ihn sprechen?“

„Muss ich mir noch überlegen. Hängt davon ab, was als Nächstes passiert.“ Es rauscht jetzt im Handy und Harro verabschiedet sich.

„O.k., ich fahre jetzt in die Tiefgarage. Pass auf dich auf! Wir sprechen wieder, wenn ich mehr weiß oder wenn du kontaktiert worden bist – in welcher Form auch immer.“

„Dank dir!“, flüstere ich ihm nach und drücke auf den Knopf. Ich sitze noch ein wenig vor dem Steuer. Eigentlich ist alles gut gelaufen. Harro ist nicht einfach, aber letzten Endes hilft er mir immer, wenn ich ihm eine gute Lösung anbiete. Mit faulen Tricks darf man ihm allerdings nicht kommen. Meine Stimmung bessert sich von Minute zu Minute, obwohl ich fühle, dass etwas schwelt. Ichbeschließe, gleich nebenan in der Raststätte Holzkirchen zu frühstücken. Vielleicht lockern sich die Magenmuskeln dadurch noch mehr. Mal sehen, was in den nächsten Stunden so auf mich zukommt.

*

Vor dem Einbiegen in die Rauchstraße, wo ich in einer ansehnlichen Stadtvilla den ersten Stock bewohne, bemühe ich nochmals den Rückspiegel. Eine Straßenbahn nähert sich in einiger Entfernung, dahinter erkenne ich noch ein gelbliches Auto, wahrscheinlich ein Taxi. Nichts Auffälliges also. In angemessener Entfernung aktiviere ich das Garagentor mit der Fernbedienung. Die Einfahrt führt nach unten. Ich steige aus und gehe nach oben. Bevor ich das Tor wieder schließe, sehe ich mich um. Ich kenne fast alle Autos, die links und rechts von der Zufahrt stehen, zumindest jeweils die nächsten fünf. Sie haben alle einen Anwohner-Ausweis hinter der Windschutzscheibe liegen. Wann bewegen diese Menschen eigentlich ihre Karossen? Ich glaube, sie nehmen ein Taxi, nur um ihren Parkplatz fürs eigene Auto zu sichern. Auch gegenüber sind mir fast alle Wagen bekannt. Auf den Gehsteigen ist kein Mensch zu sehen. Das Tor schließt sich jetzt auf mein Signal hin. Ich nehme aber nicht den Fahrstuhl zu meiner Wohnung, sondern beschließe, gleich ins Büro zu gehen. Zur Ismaningerstraße, wo gerade die Bahn fuhr, sind es hundertfünfzig Meter und dann nochmals fünf Minuten bis zur Kosmos. Ihr gegenüber, an einer engenStelle, steht ein schwarzer BMW. Kein großes Fabrikat, vielleicht ein Dreier. Dass er im Halteverbot und recht nahe am Straßenbahngleis steht, scheint den Fahrer nicht zu stören. Aus dem rechten Augenwinkel heraus erkenne ich zwei Männer auf den Vordersitzen. Den einen am Steuer sehe ich recht deutlich. Siehtöstlichaus,denk ich mir. Er raucht. Vom anderen erkenne ich nur, dass er sehr gewichtig sein muss, jedenfalls den massigen Schultern nach.

Ich tue so, als hätte ich die beiden gar nicht registriert, und führe meinen Schlüssel unter dem Türknauf ins Schloss. Clara begrüßt mich heute besonders herzlich, vielleicht, weil ich noch so müde daherkomme. Clarissa macht sich wahrscheinlich auf der Toilette zurecht. Ich gehe ans Fenster in meinem Büro und blicke nach unten. Sie sind weg! Eine Bö faucht jetzt ans Fenster und hinterlässt einige Tropfen auf der Scheibe. Wolken aus verschiedenen Richtungen buhlen darum, die restlichen blauen Lücken am Himmel abzudichten.

Clarissa bringt auf einem Tablett Kaffee und ein Croissant und stellt es auf dem Schreibtisch ab. „Spät dran heute!“, sagt sie statt einesGuten Morgen. „Kater?“

„Dieser junge Mann gestern Nachmittag, hat er noch was gesagt?“

„Er lief an uns vorbei. Irgendwie wütend.“ Ich nicke.

„Anrufe?“

„Eisele! Wegen des Falls in derMenterschwaige. Er meldet sich noch mal.“

„Und sonst?“

„Nichts! Trüber Morgen heute.“

„Hm!“ Ich gehe zu meinem Schreibtisch und angle mir das Croissant vom Teller. Mein zweites Frühstück heute. Clarissa ist wieder verschwunden.

Nach einem Schluck Kaffee klicke ich mich in mein Intranet ein, sozusagen mein eigenes Menschennetzwerk. Vor fünfzehn Jahren, als ich noch beim BND war, habe ich damit begonnen, es ständig ergänzt und wenn nötig, Namen gelöscht, meist dann, wenn man den dazugehörigen Menschen um die Ecke gebracht hat. Damals war ich in guter Position beim BND, Geheimagent, oder wie es offiziell hieß: Verbindungsführer in Abteilung I, Operative Aufklärung, was bedeutete: Spezialeinsätze in der Bekämpfung Organisierter Kriminalität, sofern sie gegen Deutschland gerichtet war. Mein Einsatz galt zunächst ehemaligen Ostblockländern. Kann man sagen, dass ich erfolgreich war? Sicher hab ich einige erwischt. Aber die ganz Großen kann man gar nicht fangen. Die Geschwindigkeit, mit der sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Organisierte Kriminalität ausbreitete, war atemberaubend. Da mischten ein paar ganz gewiefte und abgefeimte Halunken mit, die sich schnell in die ganze Welt hinaus globalisierten. Waffen- und Drogenhandel, Prostitution und Geldwäsche, das waren zunächst die Eckpunkte in ihrem verbrecherischen Geschäfts-Portfolio. Inzwischen kamen Kinder- und Organhandel dazu, Uranschmuggel und Cyber-Kriminalität, von den Schurkereien auf den Finanzmärkten ganz zu schweigen. In den Neunzigern waren Al Kassan, Mogilevich und Zelijko, genannt Arkan, einige der Protagonisten, deren Spuren ich folgte, und das führte mich in die ganze Welt hinaus, vor allem nach Südamerika, und dort besonders nach Kolumbien, Venezuela und Mexiko. Ich muss nicht dazusagen, dass ich manchmal meinte, das war’s! Mehr als einmal hat man mir eine Pistole an Stirn oder Schläfe gesetzt, was nicht die einzigen gefährlichen Augenblicke in meiner Vergangenheit waren.

Kornfeld, auch Kornfeldt, sowie Cornfeld tauchen auf dem Bildschirm auf. Andy, Gilbert und auch Peter. Aber wenig Geschichten dazu. Kneipen-Kriminalität in Hamburg und Frankfurt, Geldwäsche-Verdacht bei einer LondonerKornfeldt-Firma etc. Nur bei Cornfeld – übrigens Peter – kam es zu einer Strafanzeige und dann auch zum Prozess im amerikanischen Raleigh, der mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen endete. Jedenfalls sitzt nach meinen Recherchen keiner hinter Gittern. Seriöse Kornfelds habe ich nicht im Speicher, obwohl dort auch einige honorige, das heißt, hilfsbereite Menschen, so wie Harro Herrlinger, aufgelistet sind. Im Google klicke ichWirtschafts-Mediatorenan. Tatsächlich finde ich darunter auch Dr. Peter Kornfeld. Seine Kanzlei ist in der Plinganserstraße in München, ehemals Ungererstraße in Schwabing. Unter der Kanzlei-Adresse gibt es auch eine FirmaConnect. Co, wie Cornfeld? Beschäftigt sich mitInternational Consulting.Und noch eine Firma gibt es unter dem Kanzleidach: Sie nennt sichColipround befasst sich mitRohstoff-Transfers.Kornfelds Name taucht auch unter Anwälten auf. Ich spiele das Telefonbuch ein. Kornfeld finde ich, aber Connect und Colipro nicht. Eigenartig!

Jetzt bei ihm anrufen?Warte ab!,befiehlt der Nagerich und er hat recht damit. Es wäre zu früh! Warte ab, was auf dich zukommt! Auf jeden Fall kann ich nicht umhin, mir auch ohne Nagerichs Hilfe einzugestehen, dass mich die Sache zu interessieren beginnt. Aber wie komm ich an den Jungen ran? Als ich darüber nachdenke, tutet Clarissa durch. „Irgendein Heini will Sie sprechen, will aber den Namen nicht nennen. Sie wüssten aber Bescheid.“

Ich merke, dass sich meine Nackenhaare aufrichten. „Geben Sie ihn mir!“

*

2. Kapitel

„Was willst du, Schnüffler?“ Ich hatte mir gebrochenes osteuropäisches Deutsch erwartet, aber es klingt eher hamburgisch, leichtes Platt. Ich stelle das Aufnahmegerät an.

„Wer spricht bitte?“, frage ich geschäftsmäßig.

„Stell dich nicht so an! Du weißt genau, warum ich dich anrufe.“

„Tut mir leid. Ihren Namen oder ich lege auf!“

„Wirst du nicht, sonst kriegst du anderswo Ärger.“

„Kommen Sie zur Sache!“

„Was schnüffelst du vor Kornfelds Villa herum? Was willst du von seinem Sohn?“

„Ah, jetzt versteh ich. Du bist einer der Bodyguards von heute Morgen.“

„Also, was willst du von Kornfeld?“ Er wirkt jetzt gereizt und weniger lässig wie anfangs. Ich warte einige Sekunden, um ihn noch etwas aufzuheizen.

„Na?“

„Kann ich leider nicht sagen. Arbeite im Auftrag der Polizei. Alles vertraulich!“

„Red keinen Scheiß! Was willst du von Kornfeld?“

„Ich sag’s noch mal: Es sind vertrauliche Recherchen im Auftrag der Polizei.“

„Über Kornfeld?“

„Der Polizei fehlt Personal. Da ist wahrscheinlich irgendein Tipp eingegangen, und weil sie selbst keine Zeit haben oder weil’s vielleicht nicht so wichtig ist, haben sie mir das zur Bearbeitung …“

„Nenn mir jemand von der Polizei!“ Er ist jetzt ziemlich laut und sein Platt wird dabei immer deutlicher. Ich lasse ihn wieder einige Sekunden warten. „Herrlinger. Er ist Polizei-Oberrat.“

„Nummer?“

„Such sie dir selbst. Er sitzt in der Ettstraße!“

„Er sitzt?“

„In seinem Büro, du Esel.“

„Warum der Junge?“

„Gehört zur Bestandsaufnahme.“

„Quatsch!“

„Wenn du meinst.“

Eine Pause tritt ein. Er scheint die Hörmuschel zuzuhalten und mit jemand zu reden.

„Wäre besser, du gibst den Job wieder ab.“

„Muss ja doch was an dem Verdacht dran sein, wenn du so redest.“ Damit erzürne ich ihn endgültig.

„Welcher Verdacht?“, brüllt er.

„Ich habe Schweigepflicht.“

„Willst also weitermachen?“, er wirkt jetzt schlapp.

„Vielleicht kannst du’s ja Herrlinger ausreden.“

Was mir auffällt, ist, dass er noch nichts wirklich Verfängliches gesagt hat. Wahrscheinlich wittert er, dass ich das Gespräch aufnehme. Ich sehe es gleich bestätigt, als er sagt: „Werd ich versuchen. Peter Kornfeld ist ein Ehrenmann und meine Pflicht ist es, ihm Ärger vom Hals zu halten.“

„Welchen Ärger?“, provoziere ich ihn. „Er merkt doch gar nicht, dass ich ihn beobachte.“

„Stellst du dich nur so blöd oder bist du’s tatsächlich?“

„Ich mach jetzt Schluss. Das Gespräch ist mir zu dämlich.“ Ich lege den Hörer zurück in die Einfassung. Eigentlich erwarte ich mir gleich einen zweiten Anruf von ihm, aber er bleibt aus. Ich schlürfe an der Tasse mit dem restlichen lauen Kaffee, dann rufe ich Harro an und erzähl ihm den Dialog.

„Wenn du mehr wissen willst, musst du den Jungen sprechen oder du lässt das Ganze. Wäre wahrscheinlich sowieso besser.“

„Hast du schon was über Kornfeld raus gebracht?“, frag ich ihn.

„Bernie, ich hab hier alle Hände voll zu tun. Das kommt vielleicht heute Abend dran. Nerv mich nicht!“

„Ich überleg mir was, wie ich an den Jungen rankomme.“

„Wusst ich doch, dass du weiterwursteln wirst! Tschüss!“

HenningEisele rüttelt mich vom Dösen auf. Mein Handy hatte auf dem Tisch getanzt. „Der Chinese hat Moussad doch reingelegt“, sagt er. „Er hat praktisch eine Hypothek auf die Hypothek genommen. Moussad und sein Notar haben die Villa zu früh übertragen. Die Banken überbieten sich manchmal an Blödheit. Das Haus ist verkauft und übertragen, ohne dass ein Euro an Moussad gegangen ist. Die Chinesen ziehen jetzt sicher ein neues Restaurant in der Menterschwaige auf und machen das noch dazu mit dem Hypothekenkredit auf Moussads Haus. ’Ne Menge Chinesen werden das Haus absichern.“

„Bist du mit deinem Latein am Ende?“

„Einerseits, ja! Der Auftrag ist ja erfüllt. Moussad wollte nur die Hintergründe wissen. Er wird auch zahlen. Ich schlage ihm aber vor, der Sache weiter nachzugehen. Der Notar ist nicht ganz koscher und ein gewisser Bankangestellter auch nicht.“

„Mach das, Henning!“ Bevor ich das Gespräch beende, kommt mir ein Gedankenblitz: „Henning, wo steckst du gerade?“

„In einem Café am Isartorplatz, warum?“

„Ich brauch dich sofort.“

„Ich habe aber …“ Eisele hat immer was um die Ohren. Nachaußen hin wirkt er wie die Ruhe selbst, aber er braucht immer Action. Er war bis vor drei Jahren Agent beim BKA. Bei mir verdient er heute viel besser.

„Geht ausnahmsweise nicht anders. Du fährst in die Nähe der Theresienwiese, und zwar in die Haydnstraße. Dort gibt’s eine Schule, die sichDeutsch-Schweizer Kollegiumnennt. Geh dorthin und sieh zu, dass du unbemerkt ins Schulgebäude gelangst. Wahrscheinlich wird die Schule beobachtet. Melde dich beim Direktor und sag ihm, du müsstest dringend einen Jürgen Kornfeld für eine Minute sprechen. Datumabstimmung für irgendein Familienereignis der Kornfelds oder so was ähnliches, Na, dir fällt schon was ein.“

„Und wenn ich diesen Jürgen vor mir habe?“

„Sagst du, er soll mit mir wieder Kontakt aufnehmen, entweder in der Kosmos – da soll er aber sehr vorsichtig sein – oder per Handy.“

„Welche Nummer?“

„Die du gerade gewählt hast.“

„Bernie, ist es wirklich so wichtig …“

„Im Moment sitzt du im Café und lässt dir’s gut gehen. Das reicht jetzt! Bring deinen Hintern in Bewegung. Vor zwölf brauch ich deinen Bericht!“

„Na gut, Chef!“, knurrt er leicht zerknirscht.

*

Ali Moussad tut mir eigentlich leid, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass er so blöd ist, sich die Villa abluchsen zu lassen. Was weiß ich, wer da Fallen stellt? Ich mag ihn gern, obwohl ich oft glaube, dass er mir was vorspielt. Wegen seiner drei libanesischen Restaurants in München, Bochum und Bremen habe er sich den arabischen Namen Ali Moussad zugelegt. Eigentlich heißeer Tommaso Angelotti. Das würde besser zu den beiden bestens laufenden Pizzerias passen, die er in München betreibt. Wenn ich dort hinkomme, küsst er mich immer; auch auf den Mund, was mir vor den anderen Gästen immer unangenehm ist. Natürlich vermuten Eisele und ich, dass er zur Mafia gehört, zur kalabrischen ’Ndrangheta; denn er ist aus San Luca, und das liegt in Kalabrien. Was uns aber schwanken lässt, ist, dass er uns nie um unseriöse Dienste gebeten hat. Deshalb lassen wir auch noch die Version gelten, dass er von der Mafia ausgenützt wird und Schutzgeld zahlt, um seine Ruhe zu haben. Komisch ist andererseits, dass geradeerPizzas anbietet, die in Kalabrien gar nicht gegessen werden. Na ja, wenn es in München plötzlich Krieg gegen die Chinesen geben sollte, wissen Henning und ich bald mehr.

Clara kommt mit einem Sonnenschein-Lächeln und einer weiteren Tasse Kaffee herein. Sie berichtet mir von Rolf Herkelrad, von Anton Wesselhard und Dimitri Janoscu. Es sind außer Eisele drei weitere Detektive, die ich momentan in grundverschiedenen Angelegenheiten im Einsatz habe. Auch sie scheinen gut voranzukommen. Insofern – und das ist jetzt ein Beschluss – kann ich mich um Kornfeld kümmern. Hoffentlich hatEisele Erfolg und kann den Jungen abfangen.

In diese Gedanken hinein –, Clara steht gerade in der Tür – ruft Clarissa herein: „Polizei-Oberrat Herrlinger. Es sei dringend!“

Ich nehme sofort den Hörer in die Hand. Er klingt aufgebracht aber nicht grimmig: „Hab den Rüffel schon abbekommen!“

„Vom Polizeipräsidenten?“

„Höher! Vom Staatssekretär im Innenministerium.“ Ich warte, dass er weiterspricht. Aber es dauert eine Weile, bis er fortfährt: „Wir würden Kornfeld beobachten. Warum und weswegen? Vorgeschichte und all die peinlichen Fragen.“

„Was hast du denn gesagt?“, frage ich ihn vorsichtig.

„Wir würden einem Tipp aus dem Milieu nachgehen, auch weil Kornfeld so viele Bodyguards beschäftigt. Dir hätte man das gesteckt und du hast mich gefragt, ob du der Sache mal nachgehen solltest und dem hätte ich nicht widersprochen. Wahrscheinlich hättest du aber zu auffällig agiert.“

„Sehr freundlich!“

„Sei nicht beleidigt. Er kennt dich ja und hat dich sofort in Schutz genommen oder besser gesagt, gelobt. Dass ihn das bei Bernie Hofrege wundern würde. Du wärst doch immer top gewesen.“ Das gefällt mir natürlich.

„Und jetzt?“, frage ich.

„Muss ich das noch beantworten?“

„Ich soll also die Finger davon lassen. Was heißt das genau?“

„Du kannst dich nicht auf mich berufen.“

„Aha!“

„Außer du bringst schwerwiegend Belastendes aufs Tapet, aber unabhängig von mir.“

Vieles geht mir in diesen Momenten durch den Kopf, am meisten, dass mich der Fall immer mehr interessiert. Ein Mann, namens Kornfeld, der so schnell an die höchsten Stellen gelangt … Da kann irgendwas nicht mit rechten Dingen zugehen. Bald hätte ich Harros Nachsatz durch meine Gedanken verpasst: „Dazu brauchst du aber einen Auftrag und einen Auftraggeber.“

„Beschaff ich.“

„Von einem Siebzehnjährigen?“

„Vielleicht ist er ja schon achtzehn. Außerdem: An wen soll er sich denn wenden? In seiner Lage bestimmt nicht an die Polizei.“

Herrlinger brummte etwas Unverständliches. „Was hältst du davon“, frage ich ihn, „dass er sofort ganz oben durchkommt?“

„Ich hab im Register herumgestöbert. Kornfeld gibt’s öfter. Peter Kornfeld scheint außer seiner Kanzlei noch zwei Firmen zu betreiben. Klingen etwas dubios, Connectund …“

„Ich kenn sie“, unterbreche ich ihn, „auch mit was sie sich angeblich beschäftigen.wahrscheinlich beide Briefkasten-, oder Scheinfirmen oder …“

„Sei nicht voreilig, Bernie!“

„Noch was?“

„Ein paar Kornfelds scheinen nicht ganz stubenrein gewesen zu sein. Vor allem gibt’s einen mit Vornamen Gilbert und einen anderen, der Peter heißt. Spielen eine Rolle im Hamburger und Düsseldorfer Milieu. Prostitution, Drogen. Es gab aber immer nur Verdachtsmomente. Alles wurde bisher fallen gelassen. Unser Münchner Kornfeld scheint bislang eine reine Weste zu haben. Spielt auch manchmal in der Promi-Welt mit. Daher wahrscheinlich auch die Kontakte. Die Auto-Nummer ist okay. Letztes Jahr angemeldet.“

„Und warum leistet er sich Bodyguards?“

„Könntest du auch. Da ist nichts Verwerfliches dran. Vielleicht hat er Angst, dass sein Sohn auf dem Weg zur Schule entführt wird. Was weiß ich? Also, ich hab’s dir gesagt und damit Punkt!“

Gut, er hatte seine Pflicht erfüllt, aber abgeneigt war er auch nicht, mehr über diesen Kornfeld herauszubekommen. Unglaublich, wie schnell Kontakte wirken können, sag ich mir. Unglaublich!Jetzt erst recht!ist meine Reaktion und der Nagerich teilt meine Meinung; denn er sagt kein Wort. Trotzdem bin ich zunächst sauer, weil ich nicht mehr unmittelbar auf Herrlinger zählen kann. Man hat mir sozusagen die Flügel gestutzt. Mal sehen, ob der Kerl nochmals anruft und mich daran erinnert.

Ich lehne wieder halb ausgestreckt in meinem Bürosessel und überlege, was mir schwerfällt, da ich Kopfschmerzen habe. Die schleichen sich immer bei Föhn ein, sind erst dumpf und fangen dann zu hämmern an. Ich widerstehe dem Versuch, mir aus der obersten Schreibtischschublade ein Aspirin zu holen und es mit dem Kaffee hinunter zu schlucken. Ich warte auf den Anruf von Eisele. Bald nisten sich auch Gedanken zu Helene in meinem gepeinigten Schädel ein. Schon drei Tage rief sie nicht mehr an. Der Streit, den wir hatten, setzte ihr anscheinend doch mehr zu, als ich dachte. Sie ist sechsunddreißig, ziemlich hübsch oder besser gesagt interessant. Auch lange Beine, wie Clarissa. Manchmal ist sie brünett, manchmal blond, manchmal strähnig. Sie war schon zweimal verheiratet, was darauf hindeutet, dass sie sehr starrköpfig und einnehmend ist. Sie hat zwei schnippische Töchter von dreizehn und vierzehn Jahren. Um die geht’s letzten Endes immer, wenn wir streiten, und das geht mir langsam auf die Nerven. In letzter Zeit spricht sie immer von einem älteren Freund aus dem Reisebüro, für das sie Rechtsfragen bearbeitet. Sie ist nämlich Juristin. Sie hätte noch nichts mit ihm, betont sie, aber alle vier waren schon mal zusammen einen Tag lang am Tegernsee. Ein voller Erfolg sei dieser Ausflug gewesen. Er habe viel Verständnis für die Töchter gehabt, ganz anders als ich.

Ich mag Helene sehr gern, auch weil sie gut vögelt. Aber mit dem älteren Freund – er muss ja noch älter als ich sein, wenn sie dasältereigens betont – würde ich nicht um sie kämpfen. Schon gar nicht um die Töchter. Sollen sie doch nächstens um den Ammer- oder Starnbergersee kurven.

Ich gehe auf die Toilette, da der Kaffee treibt, und sehe mich beim Händewaschen im Spiegel an. Zwei recht tiefe Kerben in der Mitte der Stirn und links auf der Seite, auf der ich immer schlafe, unter dem Auge fünf bis sechs parallele Fältchen. Und natürlich ansehnliche Augenringe. Die hab ich immer, wenn ich am Abend zuvor einen Whisky zu viel trank, so wie gestern. Auch der Mund wirkt leicht griesgrämig. Ich wasche mir das Gesicht mit einem Schwapp kaltem Wasser ab und trockne es mit einem Papier-Handtuch.

Um halb elf ruft Henning an. Er verrät mir, dass die mittleren Klassen hinter dem Gebäude auf einem weiteren Schulhof stehen, wenn Pause ist. Dort könnten sie heimlich rauchen. Es sei die Seite, von der aus am Morgen der Müll abgeholt wird; eine nicht betonierte Straße, die zu diesem Zweck die Hintereingänge einiger Häuser und der Schule bedient und für die sonstige Durchfahrt gesperrt ist. FürEisele eine Gelegenheit, zum Hintereingang der Schule zu gelangen und dort eine Klingel zu betätigen. Der Hausmeister habe geöffnet und ihn gegen ein großzügiges Entgelt zum Direktor begleitet. Jürgen sei dann aus der 12 b geholt worden. „Hab ihm alles gesagt.“

„Wenn er in der Zwölften ist, könnte er ja schon achtzehn sein?“

„Kann durchaus sein!“

„Und wird er mich anrufen?“

„Gesagt hat er’s. Er schien sich sogar zu freuen. Vielleicht kommt er auch in die Kosmos. Ich hab ihn aber ausdrücklich gewarnt.“

„Na, warten wir’s ab. Tschüss!“

Gutgemacht,Henning! Sag ich mir. Er ist wirklich einer meiner Besten. Kapiert schnell und weiß sofort, wie er ein Problem angehen muss.

Draußen wurde es inzwischen recht dunkel. Ein Gewitter, das auf München zurollt. Ich knipse die Schreibtischlampe an. Es gäbe einiges an neuer Post, aber ich habe keine Lust, sie durchzusehen. Der Fall – obwohl es noch gar keiner ist – hat mich gehörig im Griff. Eigenartigerweise; denn sonst reagiere ich eher analytisch, wenn Probleme an mich herangetragen werden. Hab ich mir schon vor vielen Jahren angewöhnt. Ganz stur bin ich da geworden! Das passierte, als ich merkte, dass mich emotionale Schilderungen von erregten Menschen oft einseitig sensibilisierten und in die falsche Richtung galoppieren ließen. Als Detektiv lernte ich schnell, dass, wenn einer über seinen Widerpart herzieht, Vorsicht geboten ist. Denn es gibt immer auch die andere Seite der Medaille, die Position des angeblichen Schweinehunds und die gilt es aufzuspüren und mit der des Auftraggebers abzuwägen, worin auch meist die Lösung liegt. Frei von Gemütserregungen bin ich natürlich auch nicht. Oft hilft mir mein Nagerich, sie zu bändigen.

Nachdem ich nochmals am Thema Helene festklebte, es dann aber vorerst abhandelte, kehre ich zu Jürgen Kornfeld zurück. Ich fühle mich ratlos, weil sich mein Kopf um etwas dreht, was noch keine Konturen annahm. Und der Nagerich schweigt vorerst, während ich mir sage: Noch kannst du es auf sich beruhen lassen. Alles! War sogar Harros Rat. Dann sagt er aber klipp und klar:Machst du ja doch nicht. Kannst du gar nicht.Einen guten Tipp nenn ich das nicht.

Ein grünes Lämpchen an der Telefon-Konsole blinkt. Gleichzeitig zeichnet ein Blitz eine lange, glitzernde Schlange über dem nächsten Dach auf den Himmel. Als Clarissa hereinschaut, explodiert der Donner, sodass ich sie nicht gleich verstehe. „FrauKornfeld-Mehling möchte Sie sprechen“, wiederholt sie.

*

3. Kapitel

Die Stimme ihrer ersten Worte wirken gedehnt, etwas blasiert sogar. Sie sei die Mutter von Jürgen Kornfeld und mache sich Gedanken darüber, dass ein Detektiv ihm zur Schule nachfährt. Ich schweige noch, um genauer festzustellen, wo sie der Schuh drückt. „So was ist doch ganz ungewöhnlich“, ergänzt sie leicht ungehalten und immer noch überheblich.

„Nicht alles muss immer Sinn geben, gnädige Frau“, sage ich tiefgründig.

„Was soll das denn heißen?“, fährt sie – jetzt temperamentvoll – hoch.

„Beruhigen Sie sich bitte. Das Ganze war ein Missverständnis, Teil einer Recherche, die inzwischen abgeblasen wurde.“ Es bleibt eine Weile still.

„Eine polizeiliche Recherche?“

„Warum rufen Sie bei uns an, gnädige Frau. Wissen Sie nicht von Ihrem Mann, dass es sich bei dem Ganzen um einen Irrtum handelte?“ Ich kann jetzt ihren Atem hören. Erregt, wie mir scheint. Es hört sich so an, als wüsste sie im Moment nicht weiter. Deshalb bleibt es zunächst ruhig. Dann fängt sie sich: „Kennen Sie Jürgen?“, fragt sie.

„Nein!“, eine Lüge!

„Und meinen Mann?“

„Nein!“, die Wahrheit!

„Wirklich nicht?“

„Wirklich nicht!“, die halbe Wahrheit, wenn sie sich auf beides bezieht. Die kurzen Fragen kamen ziemlich hastig. Mein Gefühl sagt mir, dass sie irgendwas will. Aber was? Noch kneift sie. Zumindest die nächsten zehn Sekunden. Dann fragt sie – mehr im Flüsterton: „Können wir uns mal treffen?“

Für einen Moment bin ich – zugegeben – sprachlos. Lege deswegen selbst eine Pause ein, bevor ich antworte: „Natürlich, gnädige Frau. Um was geht es denn?“, eine unsinnige Höflichkeitsfloskel. Kein künftiger Klient hat mir je beim ersten Telefonat genau erklärt, um was es wirklich gehe.

„Nicht am Telefon!“, sagt sie prompt.

„Gut! Und wo?“

Sie flüstert jetzt noch leiser: „In der Sendlingerstraße 30 gibt es einen Physiotherapeuten, Dr. Ernst Gottschalk. Neben diesem Hauseingang gibt es ein kleines Café. Mein Gott, ich weiß gar nicht, wie es heißt. Also, jedenfalls daneben. Um sechzehn Uhr, vielleicht ein paar Minuten später. Wäre Ihnen das recht?“

Ich studiere meinen Kalender und sage ihr, ich käme. Was sie dann sagt, lispelt sie nur noch: „Ich habe Angst.“

„Vor was?“

„Angst um meinen Mann, um Jürgen und …“, es dauert ein paar Sekunden „… auch um mich.“ Es klickte. Sie hatte das Gespräch beendet. Ich sitze vor dem Schreibtisch, drücke mit Ferse und Gesäß den Sessel nach hinten und lege die Füße vorsichtig auf die Lederauflage des Schreibtischs. Versuche mir einen Reim aus allem zu machen. Wie kommt sie auf mich? Doch nur über Jürgen. Oder doch nicht? Nein, Jürgen hat ihr anscheinend nicht gesagt, dass er bei mir war und auch nicht, dass ihn Henning abfing. Vielleicht hörte sie beim Telefonieren zu, als ihr Mann mit dem Staatssekretär sprach. Da hätte mein Name durchaus fallen können. Andererseits, wenn sich ihr Mann beim Staatssekretär über polizeiliche Beschattung entrüstet, warum hat sie dann Angst um ihren Mann, um Jürgen und um sich?

Beim nächsten Donnergrollen gehe ich zum Fenster. Jetzt trommelt der Regen an die Scheiben. Das Geräusch gefällt mir immer. Was mir nicht gefällt ist der Toyota dort unten, dort, wo sonst nie ein Auto steht. Ich habe keine Lust, mich auf derStraße zu zeigen. Bei dem Wetter sowieso nicht. Also verzichte ich darauf, was zu essen. Carla und Clarissa bleiben auch im Büro und knabbern an Keksen, von denen ich zwei mit einer weiteren Tasse Kaffee abbekomme.

Es ist ein Uhr mittags. Muss der Toyota nicht zur Schule, um Jürgen abzuholen oder ihn zu beschützen, so ähnlich wie heute Morgen? Warum steht er überhaupt da? Herrlinger hat doch … Da fällt mir ein, ob ich’s Harro sagen soll, auch dass Kornfelds Frau anrief und sich mit mir treffen will? Der Nagerich meldet sich:Wart erst mal ab, was sie zu sagen hat!Darauf wäre ich wahrscheinlich auch ohne den Klugscheißer gekommen. Ich sag’s Harro also zunächst nicht. Gemeinsamer Beschluss! Aber vielleicht später. Wenn es wirklich mein Fall werden sollte. Interessiert ist er ja an der Sache, das spüre ich. Und seine Hilfe – welcher Art die auch sein mag – brauche ich bestimmt noch.

Wie auf Kommando fährt der Toyota beim nächsten Donnerschlag los. Ich trete automatisch einen Schritt vom Fenster zurück. „Was wollen die noch von mir?“, frag ich mich. Mir andeuten, was mir blühen könnte, wenn ich weitermache? Es ist grotesk, in was ich da hineingeraten bin.Selbst verschuldet!, ohrfeigt mich der Nagerich. Erst der Sohn und jetzt die Mutter! Unabhängig voneinander, wie es scheint. Was mache ich, wenn mich beide engagieren wollen. Jeder für sich? MeinNagerich meint:Wenn der Junge noch keine achtzehn ist, kannst du’s ja ablehnen!„Und warum hab ich dann Henning auf ihn angesetzt?“War eben wieder voreilig!Jetzt bin ich verärgert und lass ihn das auch im Ton spüren: „Hast du geahnt, dass seine Mutter anruft?“ Keine Antwort. „Siehst du, Naseweis!“, füge ich hinzu. Bevor er sich weiter verteidigt, gehe ich ins Internet, um zu googeln. Unterconnectsoll es 72.400.513 Eintragungen geben. Handy-Marken, Navigationssysteme, Partneragenturen, ein Ford Transit Connect Electric, Werbefirmen, Unternehmen mit Netzwerktechnik und so weiter. Also, wo soll ich Kornfelds Connect finden?

Und direkt in der Plinganserstraße anrufen, ohne richtigen Grund? Das wäre zu auffällig. Außerdem fällt mir Harros Anruf ein. Da wäre schnell wieder der Staatssekretär mit von der Partie und ich bekäme eins auf die Rübe.

Untercoliprofinde ich alles Mögliche, was so ähnlich geschrieben wird. Insgesamt einhundertelf Mal. Es gibt auch einen Eintrag auf Spanisch. Darunter steht:Vertema,verlassieteentradas!“, aber es tut sich nichts, als ich die grüne URL anklicke. Eine weiße Seite öffnet sich lediglich. Guiseppe Colipro gibt es auch. Ein italienischer Orthopäde. An siebzigster Stelle heißt es dann unterwww.colipro.com: Transportschrauben-, bolzen, Werkzeug, Maschinenteile. Nachdem ich es angeklickt habe, erscheint in allen Farben, wie ich sie auch in der Werbung für Karibikhotels finden könnte, in geschwungener Schrift:Wir helfen Ihnen bei Exporten aller Art, wenn Sie in der Leicht- und Schwermetall-Industrie aktiv sind. Vertrauen Sie uns!Es folgt die Telefonnummer der Plinganserstraße.

Reichlich mysteriös! Welcher Metall verarbeitende Betrieb soll sich denn zu dieser Adresse hin verirren? Ich drucke die Seite aus.

Draußen ist es wieder heller geworden. Blaue Lücken tun sich am Himmel auf. Carla steckt den Kopf herein. „Gehen Sie doch noch essen? Es regnet nicht mehr.“

Ich überlege; denke daran, dass Jürgen anrufen könnte und dass ich ja vor vier im Café sein könnte, um ein Stück Kuchen zu essen. Außerdem möchte ich mein Gewicht halten. Viel joggte ich in letzter Zeit nämlich nicht. Also lasse ich die Mittagsmahlzeit ausfallen, eine Entscheidung, die der Nagerich beflissen mit seinem zustimmenden Kommentar versieht. „Ja, ja!“, murmle ich ihm zu und sage Carla: „Nein! Ich bleibe hier.“

Im Laufe des Nachmittags rufe ich meine beiden Assistentinnen zu mir und informiere sie über diesen sogenannten Fall, auch über Harros Anruf und dessen offiziellen Befehl, mich aus der Sache raus zu halten. Ich informiere sie auch, wo ich mich bald mit Frau Kornfeld-Mehling treffen werde und dass sie Angst hat. „Sie arbeiten also gegen die Anordnung von Polizei-Oberrat Herrlinger weiter?“, bemerkt Clarissa lächelnd.

„Alle interessieren sich für mich, meine Lieben. Die Männer im Toyota, Jürgen und Mutter Kornfeld und ihr Mann spricht sogar mit dem Staatssekretär über mich. Wie soll ich mich da raushalten können?“ Sie lachen mich beide an und sehen dabei frivol aus. Ich mag sie, weil sie keinen einfältigen, kichernden oder arroganten Stil pflegen. Sie sind geradeheraus und sagen jederzeit ihre Meinung, wenn ihnen danach ist. Außerdem sind beide hübsch, zwar ganz verschieden, aber jede auf ihre Art mit Freude anzusehen, was sich auch auf ihre Mode bezieht. Kaum jemals erscheinen sie zwei aufeinanderfolgende Tage in gleicher Montur.

„Sie warten jetzt auf den Anruf von Jürgen Kornfeld?“, fragt Carla. Ich nicke und denke an das Gespräch mit seiner Mutter in einer Stunde.

„Irgendwie hab ich den Eindruck, dass mich beide engagieren wollen, aber ohne dass es der andere weiß oder wissen darf“, mutmaße ich.

„Da steckt mehr dahinter!“, meint Carla mit zweifelnder Miene und wiegt den Kopf.

Nach unserer Informationsrunde melden sich Rolf, Anton, Dimitri und auch Henning. Alle vier wollen über ihre Fälle berichten. Sie sind gut drauf. Ich will sie heute Abend zusammen im Büro sehen. Neunzehn Uhr. Sie sind einverstanden.

*

Die attraktive Frau mit diesem intensiven Blick aus grünen Augen passt nicht in dieses kleine Café namensbelami. Kleingeschrieben, wohlgemerkt! Klein sind auch Stühle und Tische, auf denen kaum zwei Kännchen Kaffee und die Tassen Platz haben. Schon bei einem Stück Käsekuchen, das ich aß, bevor Frau Eliane Kornfeld-Mehling ins Café trat, wurde es eng.

Mit ihrem Erscheinen fühle ich sofort ein wohliges Prickeln in der Magengegend und anderswo. Ich kann nicht umhin, einzugestehen, dass diese Frau, ihre ganze Erscheinung, mein sonst so ausgeprägtes Selbstbewusstsein im Moment etwas ausdünnt. Ich merke das an meiner blechernen Stimme, als ich mich vorstelle und ihr dabei aus einem beige Tweed-Trenchcoat-Mantel helfe und ihr das Stühlchen unterschiebe. Der schwarze Hosenanzug aus Nappaleder steht ihr bestens, auch wenn er mit dem Dekolleté etwas geizt, das sich erst zum Hals hin im Dreieck öffnet. Frau Kornfeld-Mehling ist groß und schlank, etwa einsachtzig, schätze ich. Seidiges, brünettes Haar mit weit nach außen toupierten Locken umrandet ihr Gesicht. Die Stirn ist bis zum Haaransatz frei, was die zwei eleganten Kurven ihrer permanent einziselierten Augenbrauen, die langen, aber echten Wimpern und besonders die breiten Backenknochen betont. Es ist schwierig, ihr Alter einzuschätzen. Um die fünfunddreißig würde ich sagen. Als sie mir gegenübersitzt und mich ansieht, fühle ich immer noch eine gewisse Unterlegenheit, was sonst nicht oft vorkommt. Ich übertünche sie, indem ich behutsam mit einem Löffel die Milch in der Tasse verrühre. Ob sie merkt, dass ich nervös bin? Langsam finde ich aber zu meinen ureigensten Tricks zurück und kann sie ansehen. Es dauert dennoch lange, bis die ersten Worte gesprochen werden, vielleicht weil jeder damit auf den anderen wartet.

„Sie wundern sich“, beginnt sie erneut mit dieser gedehnten Stimme, „dass ich Sie sprechen will.“

„Zugegeben!“, erwidere ich kurz.

„Es ist auch schwer zu erklären“, sagt sie.

„Versuchen Sie’s trotzdem!“, antworte ich, während ich ihre glatte feinporige Haut bewundere. Kaum Fältchen. Auch sie lässt jetzt den Löffel in der Tasse kreisen, sieht aber immer wieder direkt in meine Augen. Das Grüne in den ihren könnte es sein, was mich irritiert. Ob sie über deren Kraft, die sie ausstrahlen, weiß und sie als Waffe gegenüber selbstsicheren Männern nutzt, um sie kleinzukriegen? Langsam gelingt es mir einigermaßen, meine Befangenheit zu kaschieren.

„Sie haben Angst, sagten sie am Telefon“, ermuntere ich sie zum Reden.

„Vielleicht war das etwas übertrieben. Es ist mehr so ein Gefühl, dass sich etwas zusammenbraut.“

Ihr Mund, in dem makellose Zähne aufgereiht sind, formt diese Worte mit einem leicht bayrischen Akzent. Vielleicht spricht sie deshalb etwas gedehnt, um sie nicht gleich einem Bundesland zuordnen zu können.

„Wie sind Sie auf mich gekommen?“

„Lassen Sie mich meine Geschichte loswerden, okay?“, fragt sie und zieht eine Augenbraue leicht nach oben, dann nippt sie an der Kaffeetasse. Es fällt ihr sichtlich schwer zu beginnen. Anscheinend verliert sie gerade etwas von ihrer Selbstsicherheit, was mir wiederum mehr Souveränität zurückgibt.

„Wie Sie wollen“, antworte ich.

„Sie müssen mein Leben kennen, um zu verstehen, warum ich … na ja, warum ich etwas in Sorge bin. Obwohl, ich bin mir noch gar nicht klar darüber, ob ich mich Ihnen anvertrauen kann.“

Endgültig wieder Herr meiner Sinne sage ich: „Das liegt allein bei Ihnen, gnädige Frau!“

„Lassen Sie das mit der gnädigen Frau, bitte!“

„Wollen Sie oder wollen Sie lieber nicht?“, hake ich nach.

„Kann alles unter uns bleiben?“

„Berufsethos!“ Wieder nippt sie an der Tasse, ihre Hand zittert jetzt leicht.

„Peter, mein Mann, also Herr Doktor Kornfeld“, sprudelt sie plötzlich los, „hatte eine gut gehende Anwaltskanzlei inSchwabing. In der Ungererstraße. Wir haben uns vor sechs Jahren zufällig wieder getroffen. Vor vier Jahren haben wir geheiratet.“

„Sie kannten sich schon früher?“

Sie geht nicht auf meine Frage ein, sondern fährt fort: „Vor acht Jahren verschwand Peters erste Frau Evelyn spurlos. Sie war Engländerin und wollte ihre Eltern in England besuchen, in Manchester. Eigenartigerweise flog sie nicht direkt dorthin, sondern von München nach London. Dort hat sie noch den Koffer vom Band genommen und seither verliert sich jede Spur von ihr. Es war lange Zeit Stadtgespräch in München.“

Ich nicke, da mir der Fall auch bekannt vorkommt.

„Um es vorwegzunehmen“, fährt sie fort, „die Ehe wurde vor fünf Jahren gerichtlich für aufgelöst erklärt. Deshalb konnten wir auch ein Jahr später heiraten. In Hamburg.“

„In Hamburg?“

„Peter hatte begonnen, zunächst eine Woche im Monat in einer Kanzlei in Hamburg als Strafverteidiger zu arbeiten. Nach einem Jahr bot man ihm eine Partnerschaft an. Bald war er dann nur noch eine Woche in München. Nach und nach gab er dann alle Fälle hier ab und wir zogen nach Hamburg.“

„Und jetzt ist er wieder in München oder auch noch in Hamburg?“, frag ich sie.

„Manchmal ist er noch in Hamburg, obwohl er kein Partner mehr in der Kanzlei ist.“

Sie nestelt jetzt mit einem ihrer langen rot lackierten Finger an dem Kaffeekännchen herum. Irgendwie wirkt sie nun unsicher, obwohl ihr Blick noch intensiv aber jeweils weniger lang auf mich gerichtet ist. „Wie haben Sie und Ihr Mann sich wiedergetroffen?“

„Wir kannten uns vom Jurastudium her. Hier an der LMU in München. Ich habe vor der Referendarzeit das Studium abgebrochen und mich einer ertragreichen Beschäftigung angeschlossen, was natürlich im Nachhinein betrachtet ein Riesenfehler war.“

„Und, was war das für ein Job?“ Jetzt wirft sie ihren Kopf nach oben und es dauert ganze zehn Sekunden, bis sie ihn wieder senkt. „Escort!“, flüstert sie mir dann zu.

Ihr Blick konzentriert sich jetzt auf die Kaffeetasse, nicht auf mich. „Anfangs war ich nur Begleiterin. Eine seriöse Angelegenheit. Interessante Menschen, Opernbesuche, die besten Restaurants, Ausflüge nach Garmisch und Tegernsee und ein ausgezeichneter Verdienst.“ Nicht eine Sekunde sieht sie mich bei diesem Bericht an. Ich sage nichts. „Ich kam in Versuchung, hatte einen schicken MG-Sport. Und so nahm die Sache ihren Lauf. Ich warf das Studium endgültig hin und … na ja, den Rest können Sie sich ja denken … Edelnutte, nennt man das, nicht wahr?“, jetzt sieht sie mich wieder an, aber der Blick hat seine Strahlkraft verloren.

„Weiter!“, sage ich wie ein Psychiater zu seinem Opfer.

„Es kam zu vielen scheußlichen Szenen mit reichen Männern, widerliche Kerle, die sich dann über mich beschwerten, ohne ihre abnormen Wünsche, die ich nicht erfüllen wollte, zu erwähnen. Ich plante meinen Ausstieg aus diesem Milieu, als ich merkte, dass ich dabei war, all meinen Stolz zu verlieren und in Depressionen verfiel. Mein letzter Kunde war Peter. Er war noch immer am Boden zerstört wegen Evelyn und suchte Ablenkung bei Escort.“