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Göteborg 1926: Ein unbeschwerter Familienausflug ins Naturhistorische Museum wird zum Alptraum, als die neunjährige Alice spurlos verschwindet. Während die Familie verzweifelt nach Antworten sucht, übernimmt Hauptwachmeister Nils Gunnarsson den Fall. Doch die labyrinthartigen Gänge des Museums und seine uneimlichen Exponate bergen mehr als nur Rätsel - sie erzählen Geschichten, die besser verborgen bleiben sollten.
Unterstützt von der Journalistin Ellen, folgt Nils einer Spur aus Geheimnissen, die nicht nur das Schicksal von Alice betreffen, sondern tief mit dem Museum selbst verwoben sind.
Wird es ihnen gelingen, das Mädchen zu finden, bevor die dunklen Schatten der Vergangenheit erneut zuschlagen?
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Seitenzahl: 472
Veröffentlichungsjahr: 2025
Marie Hermanson
Im Finsterwald
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.
Erste Auflage 2025Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. kg, Berlin, 2025© Marie Hermanson 2024
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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagabbildungen: Unsplash/Rothfos & Gabler, Hamburg
eISBN 978-3-458-78289-6
www.insel-verlag.de
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Informationen zum Buch
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Kommentar der Autorin
Informationen zum Buch
Im Finsterwald
Maj trug den kleinen Ingmar auf der Hüfte und betrachtete die Käfer hinter der Scheibe. Es war, als würde sie in eine Schatzkiste schauen, voller bunter Edelsteine, Smaragde, Saphire und Rubine. Sie stellte sich vor, wie kühl die glänzenden Steine sich in der Hand anfühlten, wie sie klirrten, hart und gläsern, wenn man sie zwischen den Fingern hindurchfallen ließ. Wahrscheinlich würden sie kaputtgehen, am Ende nur noch Krümel sein. Sie waren sehr empfindlich.
Sie war lieber hier auf der Galerie als in den großen Sälen mit den Säugetieren, wo die ausgestopften Tiere mit ihren künstlichen Augen leer vor sich hin starrten. Warum interessierten die Menschen sich so sehr für tote Tiere? Die Tiere selbst scherten sich nicht um andere tote Tiere, nicht einmal um ihre eigenen Jungen. Für Tiere zählt nur das, was lebt. Außer den Hyänen und Aasgeiern, für die sind tote Körper Futter.
Es war still im Museum, die Scheiben der Vitrinen reflektierten das blasse winterliche Licht. Das Baby auf ihrer Hüfte legte den Kopf an ihre Schulter und gähnte. Auch Maj war müde. Ihr Blick fiel auf die Vitrine mit dem Bienenstock aus Stroh. Der sah richtig gemütlich aus! Wie wunderbar wäre es, in den warmen Honigduft zu kriechen und zum leisen Summen der Bienen einzuschlafen.
Sie schüttelte ein wenig den Kopf, wie um sich selbst zu wecken, dann schaute sie um sich, ob alle Kinder da waren.
In einer Ecke stand Tore und betrachtete einen riesigen Termitenbau im Querschnitt. In der schützenden Scheibe sah sie das Spiegelbild seines geöffneten Mundes und seiner großen, erstaunten Augen unter dem Schirm der Tweedmütze.
Britt und Marianne liefen umher, in ein unbegreifliches Spiel vertieft, sie stießen kurze, begeisterte Rufe aus, die in der Stille widerhallten. Britts Kleider waren von geschmolzenem Schnee durchnässt, aber das schien sie nicht zu merken. Maj durfte nicht vergessen, sie sofort umzuziehen, wenn sie zu Hause waren, damit sie sich nicht erkältete.
Alice, die Älteste, blond gelockt und mit einem roten Mantel wie ein kleiner Soldat, lehnte an einem Schrank mit Schmetterlingen und schaute die lange Galerie entlang. Ruhig, beinahe gelangweilt, jedoch mit einer unberechenbaren Energie.
Maj versuchte, sie für die Schmetterlinge zu begeistern, da tauchte einer der Wärter auf.
»Seid ihr noch da!«, sagte er. »Wir haben geschlossen.«
Es war der nette Wärter, nicht der barsche, er sah eher erstaunt als ärgerlich aus. Er hatte schon einmal gesagt, sie würden in fünf Minuten schließen, daran erinnerte Maj sich jetzt.
»Oje, ist es schon so spät!«, rief sie aus. »Wir gehen gleich.«
Der Wärter nickte und trottete weiter.
»Kommt, Kinder, wir müssen jetzt gehen! Alice, nimm Marianne an die Hand. Tore, du nimmst Britt.«
Mit Ingmar auf dem Arm ging sie nun voran durch die Galerie, auf den Ausgang zu und schaute über die Schulter zurück.
Tore riss sich widerwillig vom Termitenbau los und nahm Britt an die Hand.
Alice stand immer noch an den Schmetterlingsschrank gelehnt, sie schien nicht gehört zu haben, was Maj gesagt hatte.
Maj trat zu ihr hin und sagte, so leise und sanft sie konnte: »Wir müssen gehen, Liebes.«
Alice schloss die Augen, biss die Zähne zusammen und schüttelte heftig den Kopf.
»Wir können bald wieder herkommen«, fuhr Maj fort und legte die freie Hand um ihre Schultern, um sie mitzunehmen.
Das Mädchen zuckte zusammen, als hätte man sie geschlagen. Sie drehte sich so heftig um, dass das Glas der Schmetterlingsvitrine klirrte, und lief durch die Galerie davon.
»Alice! Nicht in die Richtung!«, rief Maj ihr nach.
Aber Alice lief einfach weiter in die Galerie, immer schneller, mit fliegenden Locken und laut knallenden Schuhsohlen.
Maj blieb hilflos mit den anderen Kindern stehen und sah, wie sie zwischen den Schränken aus Eichenholz und Glas verschwand.
Das Jahr 1926 hatte für Wachtmeister Nils Gunnarsson nicht gut angefangen.
Am Samstag, den 2. Januar, war er ins Stadtzentrum gefahren, um einen neuen Wintermantel zu kaufen. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Mantel, den er haben wollte, zu teuer war.
Der Verkäufer hatte ihm einen billigeren gezeigt. »Ausgezeichnete Qualität für den Preis. Sehr beliebt.«
Der Mantel war in Ordnung, er war bestimmt warm und bequem. Aber er wollte nun mal den teuren haben. Er beschloss, bis zum nächsten Zahltag zu warten. Dann würde er wieder Geld haben. Er hatte das Geschäft verlassen und war die Kungsgatan hinaufgegangen, er fror in der feuchten Kälte. Als er an der Kathedrale vorbeikam, bemerkte er vor der Kirche eine Gruppe Menschen. Sie wären ihm gar nicht aufgefallen, wenn nicht einer der Herren einen sehr eleganten Mantel getragen hätte. Sein Blick war auf Mäntel eingestellt. Was so einer wohl kostet, hatte er gedacht.
Dann erkannte er den Mann im Mantel. Es war Ellens Bruder. Und die ältere Dame, mit der er sich unterhielt, war ja Ellens Tante. Es handelte sich ganz offensichtlich um eine familiäre Zusammenkunft, und da niemand Trauerkleidung trug, ging er davon aus, dass es eine Hochzeit war. Da trat auch schon das Brautpaar aus der Kirche. Sie blieben vor der Tür stehen und lächelten und winkten den Hochzeitsgästen zu. Der Bräutigam war sehr elegant, im Frack und mit dunklen, zurückgekämmten Haaren. Der Schleier der Braut lag dicht am Kopf an und war mit einem silbrig glitzernden Stirnband mit Stoffblumen an den Ohren befestigt, sie glich einer orientalischen Prinzessin. Auf den Schultern trug sie eine weiße Pelzboa, vielleicht Nerz. Ja, natürlich war es Nerz. Die Braut war Ellen, Nils’ ehemalige Verlobte. Und der Bräutigam war der Direktor Georg Forsell.
Er hatte gewusst, dass sie verlobt waren. Aber als er das letzte Mal von ihr gehört hatte, irgendwann Ende Oktober, schien sie keine Hochzeitspläne zu haben, im Gegenteil. Und jetzt, zwei Monate später, war sie also verheiratet.
Wäre es nicht besser gewesen, mit der Hochzeit bis zum Frühjahr oder Sommer zu warten? Warum diese Eile? Vermutlich aus dem üblichen Grund.
Unwillkürlich trat er näher, er stand hinter den anderen Gästen und schaute zu, wie das Brautpaar die Glückwünsche entgegennahm. Er hatte hier nichts verloren, aber er blieb wie verhext stehen, konnte den Blick nicht vom Brautpaar lösen.
»Ich brauche Zeit zum Nachdenken«, hatte Ellen ihm in einem Brief geschrieben.
Er hatte ihr Zeit gelassen.
Er bereute zutiefst, ihr eine Weihnachtskarte geschickt zu haben, als diskrete Erinnerung an seine Existenz. Ein buckliger Weihnachtswichtel mit dem Gruß »Frohe Weihnachten wünscht Nils«. Er hatte eine Neujahrskarte zurückbekommen. Eine aufwändige Karte mit einer Engelsschar vor einem nachtblauen Himmel und glitzernden Sternen, nebst dem Gruß »Ein gutes neues Jahr wünscht Ellen«. Sie musste schon mitten in den Hochzeitsvorbereitungen gewesen sein, als sie das schrieb.
Während man vor der Kirche wartete, hatte es angefangen zu schneien. Große, weiche Flocken. Es war bisher ein schneearmer Winter gewesen, hauptsächlich Regen und Wind und feuchte Kälte. Alle blickten in den Schneefall hinauf. Ein junges Mädchen hob ihre behandschuhte Hand hoch und fing die Flocken auf, dabei lachte sie entzückt.
»Schnee in der Brautkrone, was bedeutet das?«, fragte jemand.
»Bedeutet das nicht Tod?«, sagte das junge Mädchen, das die Schneeflocken gefangen hatte, ihre Stimme klang leicht und unschuldig.
»Still, das bedeutet es überhaupt nicht!«, zischte ein anderes Mädchen. »Ich habe gehört, es bedeutet Fruchtbarkeit. Das Brautpaar wird viele Kinder bekommen.«
Ein leichter Wind wehte, die Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Ein glänzender Cadillac fuhr auf den Platz vor der Kirche, die Hochzeitsgäste traten zur Seite. Der Chauffeur sprang heraus und hielt dem Brautpaar die Tür auf. Die Braut strahlte und winkte zum Abschied mit ihrem Strauß, dann stieg sie ein, gefolgt von ihrem frischgebackenen Ehemann.
Da brach die Verzauberung, Nils wandte sich zum Gehen, bevor jemand ihn bemerkte.
»Reichtum«, hörte er hinter sich. Eine trockene, resolute Stimme, es musste Ellens Tante sein. »Schnee in der Krone der Braut bedeutet Reichtum.«
Das könnte stimmen, dachte Nils und ging schnellen Schritts Richtung Straßenbahnhaltestelle. Ellen würde zweifellos eine wohlhabende Frau.
Er fror in seinem abgetragenen Mantel. Er hätte den billigen Mantel kaufen sollen, den der Verkäufer ihm empfohlen hatte. Es war noch lange bis zum nächsten Zahltag.
Der Cadillac verschwand im Schneetreiben der Västra Hamngatan. Er wurde den Gedanken nicht los, dass hier ein schrecklicher Irrtum begangen und eine Spur im Universum neu gezeichnet wurde.
Würde er Ellen jemals wieder begegnen?
Einen Monat später ergab sich die Gelegenheit.
Die Kälte hielt die Stadt in einem eisernen Griff. Das ganze Kattegat war zugefroren. Von Vinga aus hatte man eine Fahrrinne bis in den Hafen aufgebrochen, auf dem größeren der beiden städtischen Eisbrecher arbeitete die Besatzung vierzehn Stunden am Tag, um die Zufahrt offen zu halten.
Nils ging die Treppe hinauf zu seinem Arbeitszimmer im ersten Stock des Polizeireviers. Er hatte Spätschicht, von ein Uhr am Nachmittag bis neun Uhr am Abend. Diese Arbeitszeit war ihm sehr recht. Er konnte morgens ausschlafen und am Vormittag ein paar Dinge erledigen. Nach der Arbeit fuhr er direkt nach Hause, aß noch ein Brot und ging dann direkt zu Bett. Und hoffte, dass das Kleinkind der Nachbarn eine ruhige Nacht hatte und er im wohligen Schlaf versinken konnte. Mit einer ganzen Nacht zusammenhängendem Schlaf konnte er nicht rechnen. Diese Gottesgabe war ihm schon lange nicht mehr vergönnt, eine Folge der vielen Jahre unregelmäßiger Dienste, zu allen Tages- und Nachtzeiten. So leise wie möglich ging er den Flur entlang. Er war früh dran. Das passierte ihm oft, er kam zu früh und ging spät nach Hause. Die Zeit, die er allein in seinem kleinen Zimmer verbrachte, tat ihm gut. Er konnte sich vorbereiten und nachdenken. Hauptsache war, dass sein Chef im Nebenzimmer ihn nicht hörte. Das Haus war alt, die Böden knarrten, aber Nils wusste, welche Dielen gefährlich waren, und wich ihnen geschickt aus. Lautlos wie eine Katze setzte er seine großen, in Stiefeln steckenden Füße ab und erreichte Schritt für Schritt die Tür. Er drückte langsam die Klinke herunter, öffnete – und lief Kommissar Nordfeldt direkt in die Arme. Die Tür, die ihre Zimmer verband, stand weit offen und das Licht von Kommissar Nordfeldts Schreibtischlampe strömte in Nils’ Zimmer.
»Guten Mittag, Herr Hauptwachtmeister«, sagte Nordfeldt und lächelte triumphierend.
Hatte der Kommissar ihn durch das Fenster gesehen? Er hatte ihn nicht im Flur hören können. Nils war sicher, er hatte sich lautlos bewegt.
»Guten Mittag, Herr Kommissar. War der Vormittag ruhig?« Er nahm seinen Hut ab, schüttelte leicht den Schnee von der Krempe und hängte ihn an einen Haken an der Wand.
»Nein, hier war der Teufel los. Im Naturhistorischen Museum ist ein kleines Mädchen verschwunden.«
»Im Museum?«
»Dort ist sie auf jeden Fall zuletzt gesehen worden.«
»Und wann?«
»Gestern, um drei Uhr, als das Museum geschlossen wurde. Verdammt merkwürdige Geschichte. Ihr Vater rief heute gegen halb elf an und meldete sie als verschwunden.«
»Warum hat er nicht schon gestern angerufen?«, fragte Nils erstaunt.
»Unglückliche Umstände. Er war gestern Abend nicht zu Hause und bemerkte erst heute, dass die Kleine vermisst wurde.«
Der Kommissar war nicht so groß wie Nils, aber er war breitschultrig und muskulös. Wenn sie nebeneinanderstanden, wurde es sehr eng in dem kleinen Zimmer.
Nils bemerkte, dass er immer noch seinen Mantel anhatte. Er zog ihn aus, hängte ihn auf und konstatierte, dass sein Dienst bereits begonnen hatte.
»Und die Mutter?«, fragte er und machte die Lampe auf seinem Schreibtisch an.
»Schwer krank. Bettlägerig. Ein Kindermädchen kümmert sich um die Kinder. Sie war mit ihnen im Museum. Das Mädchen verschwand in den Ausstellungsräumen, als das Kindermädchen mit den jüngeren Geschwistern beschäftigt war. Seither wurde sie nicht mehr gesehen. Die Wärter haben alle Räume durchsucht, sie jedoch nicht gefunden, man muss also davon ausgehen, dass sie das Museum verlassen hat. Die Familie wohnt in der Nähe, in der Nordenskiöldsgata. Das Mädchen hatte vielleicht die Absicht, nach Hause zu gehen, ist möglicherweise irgendwo stehen geblieben, um zu spielen, und dann versehentlich in einem Keller oder so eingeschlossen worden.«
»Heute Nacht waren es vierzehn Grad minus, wir wollen also hoffen, dass sie die Nacht nicht im Freien hat zubringen müssen«, sagte Nils. »Wie alt ist sie?«
»Neun. Ich habe Öberg und Hellström losgeschickt, sie sollen sich in der Gegend umhören. Und ein paar Männer, die Keller, Brunnendeckel und so untersuchen. Der Vater sucht ebenfalls in der Umgebung. Ich habe ihn gebeten, herzukommen und eine formelle Anzeige zu erstatten, aber er sagte, er habe keine Zeit, er müsse suchen. Er klang verdammt nervös.«
»Das kann ich verstehen.«
»Ich habe ihn gebeten, das Kindermädchen herzuschicken, ich möchte ihre Version hören.«
Kommissar Nordfeldt holte seine Taschenuhr hervor, betrachtete sie mit gerunzelter Stirn und brummte: »Ich verstehe nicht, wo sie bleibt. Ich habe dem Vater gesagt, er soll sie sofort herschicken.«
»Weiß sie, wo das Polizeirevier ist?«
Nordfeldt schnaubte. »Das weiß doch jeder. Vielleicht hat sie sich verlaufen. Schlampiges Mädchen. Erst geht das Kind, auf das sie aufpassen soll, verloren und dann sie selbst.« Er schaute noch einmal auf die Taschenuhr. »Sie sind früh dran, Gunnarsson.«
»Ich habe Papierarbeit zu erledigen.«
Der Kommissar nickte und ließ die Taschenuhr in seine Westentasche gleiten. »Na, dann fangen Sie mal an damit.«
Er drehte sich auf dem Absatz um, ging in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Nils setzte sich und holte seine Mappen hervor.
Das mit dem eigenen Zimmer hatte schon seine Vorteile, auch wenn es nicht viel größer war als ein Schrank. Nils hatte keine Probleme mit engen Räumen und Alleinsein, im Gegenteil, es vermittelte ihm ein Gefühl von Ruhe und Konzentration. Manchmal dachte er, er wäre der ideale Gefangene. Wenn nur sein Zimmer nicht Wand an Wand mit dem des Chefs gelegen hätte, und auch noch mit einer Tür dazwischen.
Er hatte nie um ein eigenes Zimmer gebeten. Aber der Kommissar hatte ihn unter seine schützenden Fittiche genommen, das war bisweilen angenehm, aber oft auch anstrengend. Manchmal wäre es ihm lieber, er würde in dem großen Raum am Ende des Flurs sitzen, da, wo die anderen Polizisten saßen, in der Gesellschaft von klingelnden Telefonen und kollegialem Gekabbel. Er wusste nicht, wie sie über ihn sprachen, konnte es sich jedoch vorstellen.
Als er noch Streifenpolizist gewesen war, war eifrig über das sogenannte »System der krummen Rücken« geredet worden, das darauf hinauslief, dass die einzige Möglichkeit zum Aufsteigen darin bestand, vor den Vorgesetzten zu kriechen, die Kameraden wegen des geringsten Fehlers anzuzeigen und dem Chef gegenüber loyal zu sein, auch wenn der sich grobe Fehler zuschulden kommen ließ. Niemand wollte ein Weichrücken sein, aber wenn man sich weigerte, konnte man den Gedanken an einen Aufstieg vergessen und wegen einer Bagatelle aus dem Dienst entfernt werden. Das System begünstigte die Feigen und Ungeeigneten und verdarb das ganze Polizeiwesen von unten nach oben.
Hoffentlich würde das mit dem neuen Polizeigesetz, das gerade in Kraft getreten war, besser werden. Danach würden die gleichen Regeln für alle Polizisten im ganzen Land gelten, gleiche Uniformen und Dienstmarken, eine einheitliche Ausbildung und ein Ende der willkürlichen Kündigungen und Beförderungen. Es war wirklich an der Zeit, dass der lange Arm des Gesetzes ein eigenes Gesetz bekam und ein wenig Ordnung auch bei der Ordnungsmacht einkehrte.
In aller Ruhe ging er seine Papiere durch. Aber er kam nicht weit, sondern unterbrach sein Tun und spitzte die Ohren. Eigenartige Geräusche waren aus dem Zimmer von Kommissar Nordfeldt zu hören. Plötzliches Rumpeln, helles Lachen, protestierende Rufe von Nordfeldt und … Babygeschrei!
Nils stand auf, klopfte an die Tür und rief:
»Herr Kommissar? Alles in Ordnung?«
»Kommen Sie rein, verdammt, Gunnarsson!«, rief sein Chef mit einer Andeutung von Verzweiflung in der Stimme.
Nils trat ein. Im Zimmer herrschte ein schreckliches Durcheinander. Ein kleines Mädchen im Wollmantel und mit Ohrenschützern auf den goldroten Locken war auf Nordfeldts Schreibtisch geklettert und stand jetzt da, rosenwangig und breitbeinig, und schaute triumphierend um sich. Ein weiterer kleiner Schlingel war unterwegs zum Bücherregal, wo er, vielleicht war es auch eine Sie, einen Ordner ergriff, ihn öffnete, sodass alle Papiere herausfielen. Ein etwas älterer Junge knuffte das Kind, es fiel hin, dann sammelte er mit einem entschuldigenden Blick zum Kommissar die Papiere auf und ließ das Kind schreien.
»Lass sie in Ruhe, Tore«, rief eine junge Frau mit einem Baby auf der Hüfte.
Sie eilte zu dem schreienden Kind. Um es zu trösten, musste sie das Baby auf den Boden setzen. Das Baby war in dem Alter, wo man noch nicht alleine stehen kann, aber gerne Gegenstände in der Nähe als Stütze benutzt. Es krabbelte in Richtung der Beine von Kommissar Nordfeldt, packte seine Hose und zog sich hoch.
In diesem Moment hatte das kleine Mädchen auf dem Schreibtisch genug Mut gefasst und stürzte sich nach einigen wilden Armbewegungen mit Todesverachtung in die Tiefe. Sie landete vor Nils’ Füßen. Zusammengesunken schaute sie zu ihm auf und lächelte ihn mit tiefen Grübchen an.
»Ich bin gesprungen!«, sagte sie stolz.
Nils blinzelte ihr zu.
»Ja, tatsächlich.«
»Sie hat die Skispringer an der Brageschanze gesehen«, erklärte die junge Frau ruhig.
»Gehen Sie Fräulein Brickman suchen und holen sie her«, flüsterte Kommissar Nordfeldt heiser.
Er stand mitten im Zimmer, völlig unbeweglich, die rundlichen Arme des Babys umschlossen das eine Bein mit festem Griff. Nils hatte seinen Chef schon in vielen gefährlichen Situationen erlebt. Aber noch nie hatte er einen solchen Ausdruck von purer Angst in den hellgrauen Augen gesehen. Als würde jemand eine ungesicherte Browning auf ihn richten. Er musste an sich halten, um nicht zu lächeln.
Kommissar Nordfeldt lebte in einer kinderlosen Ehe. Seine Welt bestand ausschließlich aus Erwachsenen, viele davon dumm, verlogen oder gewalttätig, aber dennoch mit einer Sicht auf die Welt, die seiner eigenen glich. Jetzt war er von Wesen umgeben, die ganz anders dachten. Unbegreiflich und völlig unvorhersehbar. Er wusste nicht, wie er sie ansprechen sollte, sie schienen nicht einmal seine Sprache zu verstehen.
»So beeilen Sie sich doch, Gunnarsson«, zischte er.
»Fräulein Brickman ist auf der Beerdigung ihres Vaters in Småland«, sagte Nils.
»Verdammt, war das heute?«
Nordfeldt stand mit geschlossenen Augen da, die junge Frau beugte sich zu dem Kind hinunter und löste vorsichtig dessen Arme von den Hosenbeinen des Kommissars.
»Dann rufen Sie jemand anders her«, rief er, als das Kind wieder in den Armen der jungen Frau ruhte. »Irgendwer muss sich um die Kinder kümmern, damit wir das Kindermädchen in Ruhe verhören können. Die Frau von Hauptwachtmeister Rahm wohnt doch in der Nähe. Rufen Sie sie an. Die haben neun Kinder, sie hat Erfahrung mit so was.«
Er bürstete das Hosenbein mit der Handfläche ab.
»Sie hat genug mit den neun eigenen zu tun«, sagte Nils.
»Man wird doch Herrgott noch mal irgendeine Frau auftreiben können!«, rief Nordfeldt verzweifelt aus.
Nils dachte nach. »Ich will es versuchen, Herr Kommissar.«
Die Haushälterin nahm ab.
»Sechs, eins, acht, zwei, fünf. Direktor Forsell ist im Moment nicht zu Hause«, sagte sie hochtrabend.
»Hier ist Hauptwachtmeister Gunnarsson. Ich möchte nicht mit dem Herrn Direktor sprechen. Ich suche Frau Forsell«, sagte Nils.
Frau Forsell. So eigenartig, eine Frau so zu nennen, deren nackten Körper er so eng an seinem gespürt hatte und die so bestimmt erklärt hatte, niemals die Ehefrau von jemandem zu werden.
»Einen Moment, ich werde nachsehen, ob die gnädige Frau zu sprechen ist.«
Er hörte Ellens Stimme im Hintergrund.
»Meine Güte, Maggie, natürlich bin ich zu sprechen. Wer ist es denn?«
»Ein Hauptwachtmeister Gunnarsson, gnädige Frau.«
Stille, undeutliche Kratzgeräusche. Und dann, sehr deutlich, ein erstauntes Keuchen in seinem Ohr:
»Nils? Bist du es?«
Sein Herz überschlug sich, aber es gelang ihm, ruhig und professionell zu klingen. »Störe ich?«
»Nein, nein. Ich bin nur überrascht.«
»Ich werde mich kurz fassen. Wir würden hier auf dem Revier deine Hilfe brauchen. Nichts Gefährliches dieses Mal.«
Er erklärte ihr rasch, worum es ging.
»Ich bin in zehn Minuten da«, sagte Ellen und legte auf.
Nils ging zurück ins Zimmer des Kommissars und teilte ihm mit, das Problem sei gelöst.
Er war zufrieden mit seiner Idee. Falls der Grund für Ellens rasche Eheschließung der war, den er vermutete, würde ein wenig Übung sicher nicht schaden.
Es dauerte eine Weile, die Kinder aus dem Zimmer des Kommissars und die Treppe hinunter zu bugsieren. Der Junge hatte eine kleine Schwester an der Hand, Nils das andere Mädchen und schließlich folgte das Kindermädchen mit dem Baby auf dem Arm.
Kaum waren sie unten angelangt, da öffnete sich die Tür und Ellen trat ein, sie trug einen wadenlangen Mantel aus teurem Pelz mit passendem Hut. Sie war rasch gegangen und ein wenig außer Atem. Gesund und rotwangig. Wunderbar.
»Wie toll, dass du kommen konntest, Ellen. Das ist das Kindermädchen, von dem ich dir erzählt habe. Maj Stenberg. Und das ist Frau Forsell, sie wird sich um die Kinder kümmern«, erklärte Nils, an das Kindermädchen gewandt. »Ihre Schützlinge sind bei ihr in den allerbesten Händen, während Sie mit dem Kommissar sprechen.«
Maj machte einen Knicks und nahm Ellens ausgestreckte Hand.
»Wir können in den Kungspark gehen«, sagte Ellen und lächelte den Kindern zu.
»Das gefällt ihnen ganz bestimmt«, sagte Maj. »Tore kann sich um die Kleinen kümmern. Er ist sechs Jahre alt und sehr reif für sein Alter.«
Der Junge stellte sich vor Ellen hin. Er trug eine Wollmütze mit Ohrenklappen, unter seinem Mantel steckte ein Plüschteddy, der wie ein Känguru aus dem Ausschnitt schaute.
»Und das sind Britt, drei Jahre, und Marianne, zwei Jahre. Und dann noch Ingmar, neun Monate.« Das Kindermädchen schaute das Kleinste auf ihrem Arm liebevoll an. »Die Mädchen haben einen Schlitten dabei. Und Ingmar seinen Wagen.«
Sie nickte in Richtung eines Kinderwagens und eines Schlittens, die in einer Pfütze aus Schmelzwasser im Eingang standen.
»Ich habe mich nicht getraut, sie draußen zu lassen, auch wenn das hier eine Polizeistation ist. Es gibt einfach böse Menschen, und ich wüsste nicht, was ich mache, wenn jemand sie stehlen würde. Der gnädige Herr wird bestimmt keine neuen besorgen. Marianne kann auf dem Schlitten sitzen und Tore wird ihn ziehen. Britt läuft selbst, sie ist stark für ihr Alter. Sie schafft schon richtig weite Strecken.«
»Seid ihr so den ganzen Weg von der Nordenskiöldsgatan hierher gegangen?«, fragte Nils.
»Ja, sicher. Die Kinder sind so brav.« Sie klopfte Tore auf die Schulter. »Und so haben wir das Geld für die Straßenbahn gespart. Meinen Sie, dass Sie zurechtkommen, Frau Forsell? Wenn etwas ist, können Sie einfach Tore fragen.«
»Das wird schon gut gehen«, sagte Ellen.
Sie beugte sich zu dem Baby, das Maj auf dem Arm hatte, und strich ihm vorsichtig über die runde Wange. Es schaute sie erstaunt an, sie zog sich zurück, um es nicht zu ängstigen.
»Er ist ein richtiges Marzipanstückchen, nicht wahr?«, sagte Maj lachend und kniff ihm in die andere Wange.
Nils hob den Kinderwagen und den Schlitten auf die Straße. Das Kindermädchen packte Ingmar in sein Lammfell im Wagen, und Nils verstaute Marianne auf dem Schlitten.
»Seid schön brav und gehorcht Frau Forsell. Wir sehen uns bald wieder«, sagte Maj und gab jedem Kind einen Abschiedskuss.
Dann machte die kleine Gesellschaft sich auf den Weg, die Östra Hamngatan entlang. Nils folgte ihnen mit den Augen. Der Anblick von Ellen, von einer Kinderschar umgeben, stach wie ein Dorn in sein Herz. Er hatte sich immer vorgestellt, dass sie ihren gemeinsamen Kindern eine gute Mutter sein würde.
Ich reiße die Wunde auf, dachte er. Immer wieder. Wie um mich selbst zu quälen.
Ihm war sein eigenes Verhalten zuwider.
»So, ja«, sagte er und wandte sich dem Kindermädchen zu. »Jetzt gehen wir hinauf zum Kommissar.«
Kommissar Nordfeldt saß am Schreibtisch und versuchte, die Papiere zu sortieren, die er vom Boden aufgesammelt hatte. Sein Blick hatte etwas Verwirrtes, als hätte er sich noch nicht von den Kindern erholt.
»Aha, da sind Sie also. Setzen Sie sich, Fräulein«, sagte er und zeigte auf den Besucherstuhl. »Nein, Gunnarsson, bleiben Sie!«, rief er, als Nils sich zur Tür wandte. Es klang eher wie eine Bitte als wie ein Befehl. »Sie können Notizen machen und ich kümmere mich um das Verhör. Es gibt immer was zu lernen«, sagte er dann noch in einem etwas strengeren Ton.
»Selbstverständlich, Herr Kommissar.« Nils nahm den Stift und den Block, den der Kommissar ihm reichte, holte einen Stuhl und setzte sich neben Nordfeldt an den Schreibtisch.
»Also«, begann der Kommissar. »Sie sind also Maj Stenberg, Kindermädchen der Familie Guldin?«
»Genau, Herr Kommissar.«
»Warum haben Sie so lange gebraucht, um herzukommen? Und finden Sie es wirklich angemessen, die Kinder mitzubringen?«
Maj schaute ihn erstaunt an. »Ich konnte sie doch nicht ohne Aufsicht zu Hause lassen, Herr Kommissar. Als ich sie gerade alle angezogen hatte, musste Marianne auf den Topf. Und während ich mit ihr im Badezimmer war …«
»Danke, bitte keine Einzelheiten. Jetzt sind Sie auf jeden Fall hier. Wie alt sind Sie?«
»Ich werde im Mai siebzehn.«
»Im Mai? Wir haben jetzt Februar. Sie sind also sechzehn?«
»Ja, Herr Kommissar.«
»Dann sagen Sie das. Seit wann arbeiten Sie als Kindermädchen bei der Familie Guldin?«
»Seit zweieinhalb Jahren.«
Maj Stenberg antwortete ruhig und lächelnd auf die Fragen des Kommissars, seine brüske Art schien sie nicht zu stören.
Nils betrachtete sie. Sie hatte ein großes, rundes Gesicht und kastanienbraune, nach hinten gekämmte Haare. Die Augen lagen unter den dichten dunklen Brauen weit auseinander. Die Lippen waren füllig, wohlgeformt und natürlich dunkelrot. Ein lebhaftes Gesicht, die Natur hatte nicht mit Formen und Farben gespart.
Hin und wieder zog sie die dunklen Brauen zusammen, dachte über eine Frage nach, und wenn sie die Antwort gefunden hatte, kehrten die Züge wieder zu einem Lächeln zurück, als wäre dies ihr angeborener Gesichtsausdruck, der nur mühsam verändert werden konnte.
Sie ist die Art von Mädchen, die beim Tanzen immer aufgefordert wird, dachte Nils. Gesund, unkompliziert und fröhlich. Ein Mädchen, bei dem Männer sich geborgen fühlen. Die freundlich lacht, wenn man ihr auf die Füße tritt, und die Annäherungen so leicht und elegant zurückweist, dass man sich danach besser fühlt, als wenn sie nachgegeben hätte.
»Erzählen Sie, was ist gestern im Museum passiert«, sagte Kommissar Nordfeldt.
»Wir waren zum Schlittenfahren im Schlosspark. Aber es war schrecklich kalt, deshalb sind wir ins Museum gegangen. Das machen wir recht oft. Die Kinder lieben es. Besonders Alice. Kinder unter sieben Jahren haben freien Eintritt. Ja, Alice ist zwar schon neun, aber sie sieht jünger aus. Wenn der nette Wärter am Eingang sitzt, darf ich auch umsonst rein.« Sie schwieg und schaute plötzlich ängstlich drein. »Das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen.«
»Weiter«, murmelte Nordfeldt mit einer ungeduldigen Geste. »Erzählen Sie, wie das Kind verschwunden ist. Wo haben Sie es zuletzt gesehen?«
»Im Erdgeschoss. Bei den Schmetterlingen und Käfern. Der Wärter hatte zu uns gesagt, das Museum habe geschlossen und wir sollten gehen. Ich habe den Kindern erklärt, dass wir gehen müssen, aber Alice wollte nicht. Sie ist sehr eigensinnig, müssen Sie wissen. Sie ist ein sehr liebes Mädel, nicht böse. Aber sie kann unglaublich wütend werden, wenn sie nicht bekommt, was sie will. Ich versuchte, auf sie einzureden, aber da lief sie davon. Und ich konnte ja nicht … ich konnte ihr nicht gleich hinterherlaufen, ich musste mich ja um die anderen … Kinder kümmern.« Bei den letzten Worten brach ihre Stimme und sie schwieg. Ihr Gesicht zog sich zusammen, sie biss sich auf die Unterlippe, als würde sie gegen das Weinen ankämpfen.
»Sie ist also weggelaufen? In welche Richtung?«
»Sie ist ins Museum gelaufen«, fuhr das Kindermädchen fort, beinahe flüsternd. »Ich rief sie natürlich, aber sie kam nicht zurück. Ich ging ihr nach, mit Ingmar auf dem Arm und den anderen Kindern neben mir, sie waren alle sehr folgsam. Der Wärter half mir suchen, und wir suchten und riefen sie alle zusammen.« Sie sprach jetzt lauter, schnell und ängstlich. »Dann fing Ingmar an zu weinen, er brauchte auch eine frische Windel. Die Wärter sagten, wir sollten nach Hause gehen. Sie würden weitersuchen und anrufen, wenn sie Alice gefunden hätten. Ich gab ihnen die Telefonnummer und ging mit den Kindern nach Hause.« Sie stolperte beinahe über die Worte. »Ich dachte, Alice hat vielleicht das Museum verlassen, ohne dass die Wärter sie bemerkten, und sie würde zu Hause auf uns warten. Aber das tat sie ja nicht …«
Nordfeldt stoppte sie mit einer Handbewegung. »Können Sie folgen, Gunnarsson?«
Nils nickte und schaute von seinem Notizblock hoch.
Nordfeldt wandte sich wieder dem Kindermädchen zu. »Wann haben Sie den Eltern erzählt, dass das Mädchen verschwunden ist?«
»Frau Guldin ist sehr krank. Sie schlief, als wir nach Hause kamen. Ich wollte sie nicht beunruhigen, habe also nichts gesagt. Ich dachte, Alice würde bald nach Hause kommen.«
»Und Herr Guldin?«
»Er war nicht zu Hause. Ich bin den ganzen Abend aufgeblieben und habe auf ihn gewartet, aber er war offenbar mit seinen Freunden im Restaurant, und da wird es meistens spät. Schließlich bin ich im Sessel eingeschlafen und erst aufgewacht, als Ingmar gegen fünf Uhr weinte. Ich machte ihm ein Fläschchen und schaute ins Schlafzimmer des gnädigen Herrn, aber er war nicht nach Hause gekommen. Dann legte ich mich in mein Bett im Kinderzimmer und schlief bis acht Uhr, danach machte ich Frühstück für die Kinder. Da lag auch der Herr in seinem Zimmer und schlief. Ich versuchte ihn zu wecken, aber das war nicht möglich. Er schlief sehr tief.«
»War er betrunken?«
Maj zuckte unangenehm berührt mit den Schultern. »Kann schon sein. Er war voll angezogen eingeschlafen. Das kommt recht oft vor. Gegen zehn Uhr konnte ich ihn endlich wecken. Es dauerte eine Weile, bis er verstand, was ich sagte. Als er begriffen hatte, dass Alice verschwunden war, schimpfte er mich aus und rief die Polizei an.«
»Hätten Sie nicht selbst schon früher die Polizei anrufen können?«, fragte Nils.
»Ich?« Maj schaute ihn erstaunt an. »Das wäre doch nicht an mir gewesen. Ich musste es doch zuerst dem gnädigen Herrn erzählen. Er wäre außer sich gewesen, hätte ich ohne sein Wissen die Polizei gerufen. Ich wartete, dass er nach Hause kam. Und dann wartete ich, bis er aufwachte.«
»Und jetzt«, sagte Nordfeldt und schaute besorgt auf seine Taschenuhr, »ist sie also seit fast einem Tag verschwunden. Das ist eine lange Zeit für ein Kind. Kann sie zu jemandem nach Hause gegangen sein? Zu einem Spielkameraden?«
»Alice hat keine Spielkameraden.«
»Gibt es Erwachsene, die sie kennt?«
Maj schüttelte den Kopf.
»Hätte sie einen Grund, sich zu verstecken?«
»Nein.« Die Antwort kam schnell und ohne jeden Zweifel, ihr Blick hatte jedoch ein wenig geflackert, als würde die Frage des Kommissars etwas in ihr anrühren.
»Aha, so, so. Sie haben einen gründlichen und guten Bericht abgegeben. Haben Sie alles mitgeschrieben, Gunnarsson?«
»Ich glaube schon, Herr Kommissar.«
»Wir werden sie finden, ganz bestimmt«, sagte Nordfeldt selbstsicher.
»Danke, Herr Kommissar«, sagte Maj.
Und jetzt lächelte sie wieder, strahlend und warm, wie wenn die Sonne nach einem Regenschauer hervorbricht.
Ellen war keine fünfzig Meter weit gekommen, als sie einsehen musste, dass sie die Probleme, die ihr Auftrag mit sich brachte, unterschätzt hatte.
»Britt ist stark, sie kann weit gehen«, hatte das Kindermädchen gesagt. Schon, aber wohin ging sie? Auf jeden Fall nicht in die gleiche Richtung wie Ellen. Mit erstaunlicher Energie flitzte sie hin und her. Sie fand einen vereisten Schneeklumpen und versuchte, ihn auf die Möwen auf dem zugefrorenen Kanal zu werfen. Dann kletterte sie auf einen Schneewall, stand da oben mit rudernden Armen. Wenn ihr großer Bruder nicht so geistesgegenwärtig gewesen wäre und sie heruntergezogen hätte, dann wäre sie geradewegs auf die Fahrbahn und vor ein Auto gesprungen.
Nach einem Spaziergang, der unter normalen Umständen fünf Minuten gedauert hätte und für den sie jetzt vier Mal so lange brauchten, waren sie angekommen und Ellen konnte aufatmen. Der Park lag unter einer Schneedecke. Am Abhang zum Wallgraben versuchte eine Gruppe Kinder, eine Festung aus Schnee zu stürmen, die tapfer von einer anderen Gruppe verteidigt wurde.
Der kleine Ingmar war unter seinem Lammfell eingeschlafen. Ellen parkte den Kinderwagen auf dem Weg und versuchte, einen Schneeball zu rollen, der schnell größer wurde.
»Schaut mal, der Schnee ist perfekt für einen Schneemann«, rief sie.
Die kleinen Mädchen liefen umher und bewarfen sich mit Schnee, Ellen und Tore bauten derweil einen Schneemann.
»Wie schön er geworden ist«, sagte Ellen.
»Er hat keinen Hut«, bemerkte Tore.
»Braucht er einen?«
»Alle Schneemänner haben einen Hut.«
»Aber vielleicht ist es gar kein Mann, vielleicht ist es ein Bär«, sagte Ellen.
Sie nahm ein wenig Schnee auf und formte daraus zwei runde Bärenohren. Dann machte sie einen kleinen Schneeball, drückte ihn fest und formte ihn, bis er aussah wie eine Schnauze.
»Ein Schneebär«, sagte sie zufrieden.
»Aber es gibt keine Schneebären«, sagte Tore. »Nur Eisbären. Und Braunbären und Grizzlybären und Nasenbären.«
»Und Teddybären«, sagte Ellen und stupste den Plüschbären, der aus der Jackenöffnung des Jungen herausschaute.
Er drehte sich weg. »Der Nasenbär ist allerdings kein richtiger Bär. Er ist ein Kleinbär«, sagte er sachkundig.
»Was du alles weißt! Wo hast du das gelernt?«
»Im Museum. Da gibt es jede Menge Tiere.«
»Geht ihr oft ins Museum?«
»Ja. Aber ich mag das Museum nicht. Dort gibt es gefährliche Tiere.«
»Aber die sind doch nicht lebendig«, sagte Ellen. »Die können sich nicht bewegen.«
»Doch, können sie wohl! Wenn man sie rauslässt, bewegen sie sich.« Er klang sehr sicher.
Ellen hockte sich zu ihm in den Schnee, schaute ihm in die Augen und sagte sanft: »Die Tiere im Museum sind tot, Tore. Sie sehen lebendig aus, aber sie sind nicht lebendiger als dein Teddybär.«
Er legte schnell die Hände über den Bären, als wolle er ihn vor weiteren Berührungen schützen.
»Putte ist lebendig«, sagte er verletzt.
Ellen merkte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. »Selbstverständlich. Ich meine nur, die Tiere im Museum können deiner Schwester nichts tun. Hast du davor Angst? Ich bin sicher, die Polizei wird sie finden. Sie wird zurückkommen, Tore.«
Der Junge schaute an ihr vorbei in die Luft, die Arme hatte er über seinem Bären verschränkt. Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Sie werden sie nicht finden. Sie ist weg. Und das ist gut so. Ich will nicht, dass sie zurückkommt.«
»Warum sagst du das?«, fragte Ellen erstaunt.
»Sie war böse und dumm. Sie hat das Glas eingeschlagen und es kam heraus. Dann ist sie davongelaufen.«
Ellen schaute ihn verblüfft an. »Was kam heraus?«
»Es«, sagte Tore. Dann flüsterte er: »Das Untier.«
Er schaute Ellen an, und als er bemerkte, wie erschrocken sie war, lächelte er vorsichtig, wie um sie zu beruhigen.
Er macht sich über mich lustig, dachte Ellen.
Da fiel ihr auf, wie ruhig es war. Sie drehte sich um. Die Kinder an der Schneefestung waren nach Hause gegangen. Die kleine Marianne auf dem Schlitten lutschte am Daumen. Es hatte angefangen zu schneien, heftig und dicht, die großen weichen Flocken schluckten fast alle Geräusche. Die Autos fuhren langsam, fast im Kriechtempo, die Allee entlang. Obwohl alles um sie herum weiß war, hatte Ellen das Gefühl, von Dunkelheit umgeben zu sein.
»Wo ist Britt?«, fragte Tore.
Ellen sah sich rasch in dem verlassenen Park um. Ein paar Sekunden schien ihr Herz stillzustehen.
»Da!«, rief Tore.
Er zeigte auf einen großen Baum, hinter dessen Stamm sich etwas bewegte. Ellen lief hin und bekam eine heftig kichernde Britt zu fassen, die Verstecken spielte. Gott sei Dank! Es wäre schrecklich gewesen, zum Polizeirevier zurückzukommen und berichten zu müssen, dass noch ein Kind der Familie Guldin verloren gegangen war.
Es war jetzt an der Zeit, umzukehren. Ellen ging zum Kinderwagen und schaute unter das Verdeck. Das kleine runde Gesicht war unter dem Lammfell kaum zu sehen. Der Junge lag ganz still da. Er war doch nicht erstickt? Sie musste seine Lippen und seine Nase berühren, um seinen Atem zu spüren. Ingmar wachte auf und fing sofort zu schreien an. Er weinte auf dem ganzen Weg zurück zum Polizeirevier.
In dem frisch gefallenen Schnee glitt der Schlitten viel besser, Tore konnte die beiden Mädchen ziehen. Mit dem Kinderwagen ging es nicht so gut, der Schnee klebte an den Rädern, die drehten sich nicht mehr, Ellen musste immer wieder stehen bleiben und den Schnee wegtreten.
Das Kindermädchen und Nils standen vor dem Polizeirevier und warteten auf sie.
»Du liebe Zeit, er hat Hunger«, sagte Maj und beugte sich über das schreiende Baby. »Er müsste schon lange gefüttert worden sein.«
»Ist alles gut gegangen?«, fragte Nils in einem munteren Ton, der Ellen ärgerte.
Sie holte tief Luft. Sie war schweißgebadet. »Das geht so nicht, Nils. Sie können nicht zu Fuß zur Nordenskiöldsgatan zurückgehen. Die Polizei muss sie transportieren.«
Nils lachte. »Für so etwas stehen wir normalerweise nicht zu Diensten.«
»Dieses Mal müsst ihr es einfach machen. Die Polizei hat sie herbestellt, und ihr seid dafür verantwortlich, dass sie heimkommen. Lass den Streifenwagen kommen!«
Nils betrachtete die schniefenden kleinen Mädchen auf dem Schlitten, ihren müden großen Bruder und die wütende Ellen. Das Baby schrie, dass der Kinderwagen wackelte.
»Hm«, sagte er vor sich hin. »Ist nicht sicher, dass der Streifenwagen frei ist. Aber ich will sehen, was ich tun kann. Wartet hier.«
Er ging ins Revier.
Eine Viertelstunde später kam ein großer blauer Wagen mit vergitterten Fenstern und dem Wappen der Stadt Göteborg auf den Seiten. Ein uniformierter Polizist stieg aus, öffnete die hintere Tür und klappte die Fußstütze aus.
»Bitte sehr, meine Damen und Herren«, sagte Nils.
Tore stieg fröhlich ein und Nils hob den Schlitten in den Wagen. Aber das Kindermädchen schüttelte heftig den Kopf und zog die beiden Mädchen zu sich.
»Nein«, sagte sie. »Nein, nein.«
In einem Fahrzeug zu fahren, in dem sonst Diebe und Verbrecher transportiert wurden, beunruhigte sie offenbar.
»Hab keine Angst, Maj. Ich fahre auch mit«, sagte Ellen.
Nils und die Polizisten hoben den Kinderwagen mit Ingmar hinein, Ellen nahm Britt an die Hand, und nach kurzem Zögern stieg auch Maj mit Marianne auf dem Arm ein. Sie setzten sich einander gegenüber auf die Bänke, den Schlitten und den Kinderwagen zwischen sich.
Die Türen wurden geschlossen, dann rollten sie los. Der Kinderwagen schaukelte heftig. Maj hielt ihn am Lenker fest, aber dem Baby schien das Schaukeln zu gefallen, und nach ein paar Schluchzern hörte es auf zu weinen.
Tore blickte interessiert um sich. »Wozu braucht man die?«, fragte er und zeigte zur Decke.
Im schwachen Licht der vergitterten Fenster sah man lange Ketten, die über den Bänken aufgewickelt waren.
»Ich glaube, an denen befestigt man die Handschellen der Verbrecher«, sagte Ellen. »Damit sie nicht abhauen können.«
»Oho«, sagte Tore beeindruckt.
Maj schien einer Ohnmacht nahe zu sein. Das lag vielleicht daran, dass der Streifenwagen wegen der schlechten Straßenverhältnisse sehr unruhig fuhr, oder an dem ekligen Geruch nach Erbrochenem und billigem Scheuerpulver, der immer intensiver wurde, je länger sie fuhren.
Die kleine Marianne streckte die Hand aus und streichelte Ellens Pelz. »Bist du ein Tier?«, fragte sie.
Alle lachten.
Sie stiegen an der Haustür der Familie Guldin in der Nordenskiöldsgatan aus. Maj dankte den Polizisten fürs Nachhausefahren und Ellen fürs Kinderhüten, aber nun erreichte das Lächeln ihre Augen nicht mehr. »Alice ist jetzt vielleicht nach Hause gekommen«, murmelte sie und suchte nervös nach dem Schlüssel in der Manteltasche. »Sie sitzt vielleicht da oben und wartet auf uns.«
Sie warf einen Blick hinauf zu den Fenstern. Das bläuliche Schneelicht zeigte Schatten unter ihren Augen, die Ellen bisher nicht bemerkt hatte. Maj war offensichtlich sehr müde.
Ingmar im Wagen fing auch wieder an zu weinen.
»Ich komme mit hoch in die Wohnung«, sagte Ellen.
»So ein kleiner Schlingel«, sagte Ellen lachend, als Ingmar den Löffel, den sie ihm hinhielt, zur Seite schlug, sich stattdessen zum Teller vorbeugte, und sich eine Handvoll Kartoffelbrei ins Gesicht drückte.
»Stell den Teller weiter weg, damit er nicht drankommt«, rief Maj vom Herd. »Er wirft ihn sonst auf den Boden.«
Sie ging zu Ingmar, wischte sein Gesicht mit einem Lappen sauber und schöpfte dann Suppe in die Teller der anderen Kinder.
»Ich kann ihn gleich nehmen«, sagte sie und band Marianne und Britt ihre Lätzchen um.
»Ich schaff das schon«, sagte Ellen. »Setz dich hin und iss selbst etwas.«
Seit sie die große, schöne Wohnung betreten hatten, war Maj unentwegt in Bewegung gewesen. Nachdem sie festgestellt hatte, dass Alice nicht da war, hatte sie den Kindern die Mäntel ausgezogen, die beiden Mädchen auf je einen Topf im Badezimmer gesetzt, dem Baby die Windeln gewechselt, den Kachelofen im Kinderzimmer angefeuert, die nassen Kleider davor auf Stuhllehnen gehängt, danach war sie in die Küche geeilt, um die Suppe aufzuwärmen und eine Kartoffel für den Brei des Kleinsten zu schälen.
Ellen hatte geholfen, so gut es eben ging, vor allem, indem sie die Kinder unterhielt. Als die kleine Marianne auf einmal weg war, hatte Ellen sie im Flur gefunden, das Gesicht in ihren Pelzmantel gedrückt, sie schien ganz besessen davon zu sein. Um sie zu erfreuen, hatte Ellen den Pelzmantel angezogen und war auf allen vieren im Kinderzimmer umhergekrochen, sie hatte großen Erfolg als Bär. Maj hatte sich in der Küche zu schaffen gemacht, die begeisterten Kinder durften auf dem Bären reiten und sein Fell streicheln. Georgs luxuriöses Weihnachtsgeschenk war noch nie so geschätzt worden.
Maj setzte sich mit den anderen Kindern an den Tisch.
»Ich mag keine Suppe«, sagte Britt.
»Wir hatten gestern auch schon Suppe«, bemerkte Tore.
»Aber das ist keine Blumenkohlsuppe«, sagte Maj fröhlich. »Das hier ist eine ganz andere Suppe. Das ist eine Gold-Silber-Bronze-Suppe.«
Sie setzte sich zwischen die Mädchen und fütterte Marianne.
Tore schaute verblüfft auf seinen Teller, die dunklen Stirnfransen bedeckten seine Augen. Aus Gold, Silber und Bronze machte man Medaillen, wie Skifahrer und andere Sportler sie bekamen. Wie passte das zu einer Suppe?
»Siehst du nicht die Bronzestückchen?«, fragte Maj.
Sie nahm ein viereckiges Karottenstückchen auf Mariannes Löffel und hielt ihn Tore hin, dann schob sie ihn schnell der kleinen Schwester in den Mund.
»Vielleicht hast du keine Bronzestückchen in deiner Suppe, Tore? Man bekommt nicht immer welche«, fuhr sie fort und wandte sich dann an Britt, die auf der anderen Seite saß.
»Hast du Bronzestückchen?«, fragte sie und rührte mit dem Löffel in Britts Suppe. »Aber schau nur«, rief sie dann begeistert aus. »Hier gibt es ja Silberstückchen!«
Sie hielt den Löffel mit zwei Stückchen Pastinake hoch, sodass alle um den Tisch ihn sehen konnten.
»Goldstückchen hat wohl niemand? Wisst ihr, wie die aussehen?«, fragte sie und führte den Löffel zu Britts Mund, die ihn aus purem Erstaunen öffnete.
»Ist es vielleicht das?«, fragte Tore und zeigte mit dem Löffel auf ein paar Steckrübenstückchen.
Maj beugte sich vor und nickte eifrig. »Ja, das sind welche. Du hast Goldstückchen gefunden«, sagte sie. »So was essen die Sportler. Gold-Silber-Bronze-Suppe. Jetzt werdet ihr so stark und so schnell wie sie.«
»Außer Ingmar«, sagte Britt.
»Ja, er ist noch zu klein. Gold-Silber-Bronze-Suppe ist nur für große Kinder.«
Konzentriert suchte Tore nach Edelmetall und schlürfte gierig die Suppe. Auch Britt löffelte eifrig, und die kleine Marianne machte den Mund auf und schluckte folgsam jeden Löffel Suppe, den Maj zu ihrem Mund führte. Innerhalb weniger Minuten hatten alle ihre Suppe aufgegessen.
Nach dem Essen schaute Maj nach Frau Guldin, die krank in ihrem Schlafzimmer lag, dann kam sie zurück und ließ heißes Wasser zum Abspülen ein. Die Familie schien keine Haushälterin zu haben, was Ellen erstaunte, wenn man bedachte, wie groß und elegant die Wohnung war. Ellen bot sich an, abzuwaschen, aber das wollte Maj auf keinen Fall.
»Ich bin so dankbar, Frau Forsell, dass Sie mir mit den Kindern geholfen haben. Das ist mehr als genug«, sagte sie.
Ja, auf diese Lausebande aufzupassen, das war wirklich mehr als genug, dachte Ellen. Sie hätte sich nicht vorstellen können, dass Kinderhüten so anstrengend sein konnte.
»Sie sind so lieb. Und nenn mich bitte nicht Frau Forsell. Ich heiße Ellen. Ich kann mich um sie kümmern, während du den Abwasch machst.«
Das Kinderzimmer war hell und luftig. Obwohl Betten für das Kindermädchen und die drei Kleinsten darin standen, gab es reichlich Platz zum Spielen. Ellen holte ein paar Kuscheltiere aus einer großen Kiste und setzte sich mit Marianne und Ingmar auf den Boden.
Britt holte ein Spielzeug nach dem anderen hervor und hielt es Ellen stolz vors Gesicht, und Ellen sagte jedes Mal »Oh, wie schön!« und »Das gefällt mir!«.
»Willst du meinen Meccano sehen?«, fragte Tore.
Mit Ingmar auf dem Arm folgte sie ihm in das angrenzende Zimmer, das er mit seiner älteren Schwester teilte. Die beiden Betten waren ordentlich gemacht, an der Wand hingen zwei Morgenmäntel aus kariertem Flanell, darunter je ein Paar Pantoffeln. Auf einer Kommode stand so ein dreistöckiges, komplett möbliertes Puppenhaus, wie Ellen es sich immer gewünscht, aber nie bekommen hatte. Sie wollte es sich genauer anschauen, aber Tore zog sie zum Schreibtisch. Darauf stand eine offene Kiste und daneben ein kleines Bauwerk aus Balken, Platten und Kugellagern, die mit Schrauben und Muttern zusammengefügt waren.
»Das wird ein Kran«, erklärte Tore.
Er faltete eine Zeichnung auf dem Schreibtisch auf.
»Oh, das sieht schwierig aus«, sagte Ellen.
»Ja, ist es auch. Ich habe den Meccano-Baukasten von meinem Papa zum vierten Geburtstag bekommen.«
Ellen fand, dies war ein sehr anspruchsvolles Geschenk für einen Vierjährigen.
»Aber als ich fünf wurde, habe ich nichts bekommen, denn da hatte er kein Geld mehr.« Er betrachtete seine Konstruktion auf dem Schreibtisch und dann die Zeichnung des fertigen Krans und fügte entschuldigend hinzu: »Ich habe erst gestern mit dem Bauen angefangen, weil ich wusste, dass Alice nicht nach Hause kommen würde. Sie macht immer alles kaputt, was ich baue. Ich werde wohl ungefähr eine Woche brauchen, um ihn fertig zusammenzuschrauben.«
»Aber Tore!«, protestierte Ellen. »Du hast doch nicht wissen können, dass Alice nicht nach Hause kommt?«
»Doch«, sagte Tore kurz.
Er schaute die Zeichnung an und suchte konzentriert nach dem passenden Teil.
Ellen blieb stehen und wartete auf eine Erklärung, aber er ging voll und ganz in seinem Tun auf und schien ihre Anwesenheit vergessen zu haben. Sie betrachtete die kleinen Finger, die in der Schachtel suchten, und sah die Begeisterung im Gesicht des Jungen, wenn er gefunden hatte, was er brauchte. Ein so frühreifes Kind sollte doch verstanden haben, wie ernst das Verschwinden der Schwester war, dachte Ellen. Aber er schien sich keine Sorgen darüber zu machen, was mit ihr passiert war.
Ellen ging verblüfft zurück ins Kinderzimmer und schloss die Tür hinter sich.
Britt hatte ein neues Spielzeug gefunden, einen kleinen Soldaten, der an einem Fallschirm aus dünnem Stoff hing. Immer wieder warf sie ihn in die Luft, der Fallschirm entfaltete sich und segelte zu Boden, das Spiel schien Ingmar und Marianne zu gefallen, sie waren ganz aufgeregt. Jedes Mal, wenn der Soldat auf dem Teppich landete, gab es Streit. Als Maj ins Kinderzimmer kam, seufzte Ellen erleichtert.
»Hört mal, ich glaube, wir machen jetzt etwas Ruhiges, Gemütliches«, sagte das Kindermädchen, als hätte sie Ellens Gedanken gelesen. »Wie wäre es mit Vorlesen?«
Sie holte Die Katzenreise von Ivar Arosenius und setzte sich in einen Lehnstuhl. Britt und Marianne krochen auf ihren Schoß, Ellen setzte sich mit Ingmar im Arm auf eines der Betten. Mit großer Einfühlung las Maj die einfachen Verse und schien sehr überrascht, was für spannende Dinge passierten. Als sie beim Krokodil angelangt waren, hörte man schwere Schritte im Flur, ein Mann um die vierzig trat ins Kinderzimmer. Er trug einen mit Lammfell verbrämten Mantel und Stiefel und war hochrot im Gesicht. Die rotblonden Haare hatte er mit Pomade nach hinten gekämmt, ein paar Strähnen hatten sich gelöst und hingen über dem einen Auge.
»Ist sie nach Hause gekommen?«, fragte er atemlos.
»Leider nicht, gnädiger Herr«, sagte Maj und schaute vom Bilderbuch hoch.
Der Mann, ganz offensichtlich Herr Guldin, seufzte schwer.
»Ich war auf dem Polizeirevier und habe mit einem Kommissar gesprochen«, fuhr Maj fort. »Frau Forsell war so freundlich, mich nach Hause zu begleiten und mir mit den Kindern zu helfen.«
Herr Guldin warf Ellen einen uninteressierten Blick zu.
»Mit einem Kommissar? War das dieser unfähige Idiot, mit dem ich telefoniert habe? Und was hat er gesagt? Gab es Neuigkeiten?«
»Nein, er wollte von mir wissen, was passiert war.«
»Aber das weiß er doch! Ich habe doch mit ihm gesprochen! Sie ist inkompetent, die ganze Polizei. Völlig inkompetent.«
Er stiefelte aus dem Kinderzimmer und hinterließ nasse, schmutzige Schuhabdrücke auf dem Teppich.
»Es gibt noch Suppe, wenn der gnädige Herr welche möchte«, rief Maj ihm nach.
Die Eingangstür schlug mit einem Knall zu, und Herr Guldin war weg.
»Papa«, sagte die kleine Marianne. Sie rief nicht nach ihm, es war eher eine kurze, sachliche Feststellung. Dann steckte sie den Daumen in den Mund.
Maj holte einen Besen und eine Schaufel und versuchte, den Schmutz vom Teppich zu kehren. Als sie fertig war, setzte sie sich mit den kleinen Mädchen in den Sessel und las ihnen weiter aus dem Bilderbuch vor, mit der gleichen engagierten Stimme wie vor der Unterbrechung. Sie besaß die bewundernswerte Gabe, in Gegenwart der Kinder bei Laune zu bleiben.
Dann war es an der Zeit, die Kleinsten ins Bett zu bringen. Während Maj die Mädchen badete, hatte Ellen den kleinen Ingmar auf dem Schoß. Er roch wunderbar nach Babyseife und Babyhaut. Sie legte ihre Wange an seinen Kopf und dachte, vielleicht wäre es doch ganz schön, Kinder zu haben. Aber nicht mehr als eins. Georg wollte viele Kinder, das hatte er gesagt.
Ach ja, Georg. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, wahrscheinlich war er schon nach Hause gekommen. Sie hatte sich noch nicht so recht daran gewöhnt, verheiratet zu sein.
Als Maj aus dem Badezimmer kam, gab Ellen ihr das Baby und sagte, sie müsse nun nach Hause gehen. Sie klopfte an Tores Tür, um sich zu verabschieden. Er saß immer noch am Schreibtisch, mit seinem Meccano-Bauwerk beschäftigt. Es war nicht gewachsen, eher kleiner geworden, seit sie es zuletzt gesehen hatte.
»Ich habe es auseinandergeschraubt und noch einmal angefangen«, erklärte Tore. »Ich habe wohl irgendwo einen Fehler gemacht.«
»Du bist gründlich und hartnäckig, das ist gut«, sagte Ellen. »So lernt man etwas.«
»Heute sind draußen jede Menge Polizisten herumgelaufen«, sagte Tore, nickte in Richtung Fenster und schraubte eine Mutter fest.
Ellen schaute in den Hof hinunter. Über den Eingängen zum Hinterhaus brannten Lampen.
»Sie haben sogar in den Mülltonnen gesucht!« Tore lachte vor sich hin, als wäre das lustig.
»Sie müssen überall suchen«, sagte Ellen. »Kinder können sich gut verstecken.«
»Ja, Alice ist sehr gut im Verstecken.«
Ellen schaute ihn nachdenklich an. Er war ein hübscher Junge mit erstaunlich langen und dunklen Wimpern. Er schaute amüsiert und ein wenig überheblich.
»Tore«, sagte sie. »Weißt du, wo Alice ist?«
Er nickte langsam, ließ seine Konstruktion jedoch nicht aus den Augen.
»Wo ist sie?«
»Sie hat sich versteckt«, sagte Tore leichthin.
»Wo hat sie sich versteckt?«
»Im Laub. Ganz tief im Wald. Bei den Elchen.«
»Jetzt machst du dich aber über mich lustig. In welchem Wald? Du musst es sagen, damit die Polizei sie finden kann.«
»Ich will gar nicht, dass die Polizei sie findet«, sagte er ärgerlich. »Ich will meinen Kran fertig bauen.«
»Tore«, sagte Ellen bittend. »Du musst …«
»Ich möchte meinen Kran fertig bauen.« Er klang jetzt richtig ärgerlich. »Du störst mich, ich mache dauernd Fehler!«
»Entschuldige. Ich gehe jetzt nach Hause. Ich wollte nur ade sagen. Und wenn du etwas weißt …«
»Ade«, sagte Tore kurz und schraubte konzentriert zwei Teile zusammen.
Als Ellen nach Hause kam, war es schon halb acht und sie hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass sie einen Ehemann hatte, der zu Hause auf sie wartete.
»Georg! Ich bin jetzt zu Hause!«, rief sie fröhlich und zog ihren Mantel aus.
Maggie, die Haushälterin, trat in den Flur.
»Guten Abend, gnädige Frau. Der gnädige Herr ist nicht zu Hause, er macht heute Überstunden«, erklärte sie.
»Ach ja«, sagte Ellen und tat so, als wüsste sie das eigentlich.
Was nicht der Fall war. Aber es war ihr ganz recht, dass er nicht da war. Sie war zu müde, um ihm von ihren Erlebnissen zu berichten.
Sie legte den Hut auf die Ablage und richtete vor dem Spiegel ihre Frisur, bis Maggie sich entfernte. Dann nahm sie den Telefonhörer ab, rief auf dem Polizeirevier an und fragte, ob Hauptwachtmeister Gunnarsson noch anwesend sei. Kurz darauf hörte sie seine ruhige, wohlbekannte Stimme.
»Nils«, sagte sie. »Ich glaube, ihr sucht am falschen Ort nach dem Mädchen. Ihr Bruder sagt, sie ist im Wald.«
Um acht Uhr am nächsten Morgen saß Nils Gunnarsson im Besucherstuhl vor dem Schreibtisch von Kommissar Nordfeldt. Der Kommissar fasste die Lage zusammen.
»Das Mädchen ist jetzt seit zwei Nächten verschwunden. Das ist sehr beunruhigend«, sagte er. »Ich habe gerade eine Suchmeldung herausgegeben. Aber Filip Guldin ist uns zuvorgekommen. Er hat Annoncen in der Göteborgs-Posten, der Handelstidningen und der Ny Tid aufgegeben.«
»Auf dem Weg hierher habe ich handgeschriebene Zettel gesehen«, sagte Nils.
»Er hat sie in der ganzen Stadt aufgehängt.«
Nils versuchte, sich an die hingeschmierten Zeilen mit der Personenbeschreibung zu erinnern:
9-jähriges blondes Mädchen verschwunden. Sie wurde zuletzt am Sonntag, den 31. Januar, im Naturhistorischen Museum gesehen, sie trägt einen roten Mantel. Beobachtungen bitte melden: Herr Filip Guldin, Telefonnummer 2915.
Kein Wort über Frau Guldin oder die Polizei.
»Wir haben überall im Museum und um die Wohnung herum gesucht«, fuhr Nordfeldt fort. »Wahrscheinlich war sie auf dem Weg nach Hause oder zu einer Freundin.«
»Das Kindermädchen sagte, sie hätte keine Freundinnen«, gab Nils zu bedenken.
»Woher will sie das wissen? Als ich Kind war, da hatte ich Freunde, von denen meine Eltern keine Ahnung hatten. Oh ja, wenn die gewusst hätten!« Nordfeldt grinste verschlagen.
»Aber Sie waren ein Junge«, bemerkte Nils. »Alice ist ein Mädchen. Aus einer feinen Familie. Sie läuft nicht einfach so herum.«
»Von wegen fein. Unsere Beamten sind gestern in der Gegend von Tür zu Tür gegangen. Die Haushälterin im Stockwerk darunter wusste so einiges über die Familie Guldin zu berichten. Sie war mit Guldins früherer Haushälterin gut befreundet. Sie gingen immer zusammen in die Markthalle zum Einkaufen, und sie tratschten natürlich ausgiebig über ihre Arbeitgeber.«
»Und was konnte sie über die Familie Guldin berichten?«
»Dass die Familie früher sehr vermögend war. Neben der Haushälterin und dem Kindermädchen arbeitete eine Köchin für sie. Wenn man Feste feierte, wurde noch zusätzliches Personal angestellt. Was ziemlich oft geschah. Guldins hatten einen großen Bekanntenkreis und veranstalteten vornehme Feste. Der gnädigen Frau gehörte das Geld. Sie hat offenbar ein Vermögen geerbt, das ihr Mann ziemlich schnell durchgebracht hat. Das Paar lebte über seine Verhältnisse und verschuldete sich, um die Fassade aufrechtzuerhalten.«
»Und das alles wusste die Haushälterin der Nachbarn?«, fragte Nils erstaunt.