Im Herzen so kalt - Sandra Åslund - E-Book
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Im Herzen so kalt E-Book

Sandra Åslund

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Beschreibung

Eine schwedische Ermittlerin mit deutschen Wurzeln, ihre Freundin am Abgrund und ein Fall, bei dem nichts ist, wie es scheint Die Kriminalinspektorin Maya Topelius wird zusammen mit ihrem Partner Pär Stenqvist in die verschneiten Wälder Nordschwedens gerufen, wo ein bekannter Umweltaktivist erschossen wurde. In Östersund treffen sie auf eine Mauer des Schweigens, die örtlichen Polizisten wollen nicht mit ihnen zusammenarbeiten. Während Maya mit Pär im Lobby-Dickicht der Forstindustrie ermittelt, wird ihre Freundin Sanna in Stockholm Opfer eines Übergriffs. Bei dem Versuch, der Freundin zu helfen, kommt Maya einem alten Geheimnis auf die Spur. Als Maya die Parallelen zwischen den aktuellen Ermittlungen und ihrer Vergangenheit erkennt, ist es fast zu spät: Ein kleines Mädchen verschwindet im Wald, und ein Schneesturm zieht auf. "Hochspannung im eiskalten schwedischen Winter: ein brisanter Pageturner!" Romy Fölck Eine getriebene Ermittlerin, ihre drei Freundinnen und ein dramatischer Vorfall, der sie seit ihrer gemeinsamen Jugend verfolgt - die einzigartige Schwedenkrimi-Serie von Sandra Åslund: In Band 1 weht ein eiskalter Winter über Nordschweden: Im Herzen so kalt, Erscheinungstermin 26.10.2023 In Band 2 lauert ein gefährlicher Mittsommer in den Schären: Still ist die Nacht, Erscheinungstermin 31.10.2024 In Band 3 zieht ein düsterer Herbst über Öland: Dann ruhest auch du, Erscheinungstermin 30.10.2025 

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Im Herzen so kalt

Die Autorin

SANDRA ÅSLUND hat als Maskenbildnerin deutschlandweit an Theatern und Opernhäusern gearbeitet, ehe sie ein Fernstudium an der Textmanufaktur absolvierte. Seither hat die passionierte Frankreich-Reisende zwei Krimireihen veröffentlicht, die an der südfranzösischen Atlantikküste  spielen. Mit ihrem schwedischen Mann und der gemeinsamen Tochter zog sie im März 2020 von Berlin nach Südschweden aufs Land und lebt dort nun in einem typischen roten Holzhaus, mit Katze, Hühnern und großem Garten, umgeben von den Wäldern Smålands. 

Von der Autorin sind in unserem Hause außerdem erschienen: Mord in der Provence · Tödliche Provence · Verhängnisvolle Provence

Unter dem Pseudonym Sandrine Albert sind in unserem Hause erschienen: Mord au Vin · Mord in Bordaeux

Sandra Åslund

Im Herzen so kalt

Ein Schweden-Krimi

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage November 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Autorenfoto: © Kerstin MuthE-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-3048-8

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1 

Kapitel 2

Kapitel 3 

Kapitel 4

Kapitel 5 

Kapitel 6

Kapitel 7 

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10 

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13 

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27 

Glossar

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Rezept Mayas Favorit-Smörgåstårta

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Välkommen!

Willkommen, liebe Leserin, lieber Leser! Ich freue mich, dass Du Dich für dieses Buch entschieden hast. Solltest Du beim Lesen über einen schwedischen Begriff stolpern, findest Du die Bedeutung im Glossar am Ende.

Med vänliga hälsningar

Sandra Åslund

  

Für Viktor, Rebecca und Dorothee

Ohne euch hätte ich das nicht geschafft.

  

De klara stjärnor skåda nedi vinternattens glans så saligt leende som om ej död på jorden fanns.

Die hellen Sterne schauen herab in die Pracht der Winternacht,so selig lächeln sie, als ob es keinen Tod auf Erden gäb.

Zacharias Topelius (1852), Vintergatan / Milchstraße

Kapitel 1 

Freitag, 26. Januar

Der Schulbus bremste und stoppte an den Zwillingsbirken. So nannte Frida die beiden mächtigen Bäume, die aus einem gemeinsamen Stamm wuchsen. Wie immer war sie die Letzte, die ausstieg. Richtige Haltestellen gab es auf der schmalen Landstraße nicht. Meistens hielt der Bus gleich vor den Häusern, in denen die Kinder wohnten. Fridas Zuhause lag jedoch ein Stück in den Wald hinein. Dort konnte ein so großes Fahrzeug nicht wenden.

»Tschüs, Frida, hab ein schönes Wochenende!«

»Tschüs, Pelle!« Frida schulterte ihren Rucksack und stieg aus. Sie mochte den glatzköpfigen Busfahrer, der immer ein nettes Wort für sie hatte. Ganz egal, welches Wetter war, sie hatte ihn selten schlecht gelaunt erlebt. Sein Markenzeichen waren seine Kopfbedeckungen. Sobald er von der Wollmütze zur Baseballkappe wechselte, war der Winter offiziell beendet. Leider oft erst Ende April. Bis dahin hatte sie noch einige dunkle Monate durchzustehen, in denen die dicke Schneedecke das Einzige war, was ein bisschen Helligkeit in die langen Stunden ohne Sonnenlicht brachte.

»Grüß deine Mutter von mir.« Pelle zwinkerte ihr zu, dann schlossen sich die Türen, und der Bus setzte sich in Bewegung.

An der nächsten Kreuzung würde er wenden und zurück nach Östersund fahren. Vorausgesetzt, er blieb nicht in den Schneemassen stecken, die die Räumfahrzeuge achtlos an den Straßenrändern zusammengeschoben hatten. So manchen Morgen wartete Frida eine kleine Ewigkeit auf Pelle, wenn er mal wieder die Hinterräder freischaufeln musste.

Er hatte ein Auge auf ihre Mama geworfen, das war Frida schon lange klar. Die Erwachsenen meinten zwar, Kinder würden solche Dinge nicht mitbekommen. Doch sie irrten sich. Bloß weil sie erst neun war, bedeutete das nicht, dass sie nicht begriff, was sich zwischen den Männern und Frauen um sie herum abspielte. Irgendwo hatte sie neulich den Ausdruck feine Antennen gehört. Das gefiel ihr. Ich habe feine Antennen für das, was zwischen den Menschen ist, dachte sie manchmal, wenn sie ihr Umfeld beobachtete. Dass sie von den Erwachsenen unterschätzt wurde, machte ihr nichts aus. Eigentlich passte es ihr sogar ganz gut. So konnte sie deren Verhalten ungestört studieren, ohne dass diese misstrauisch wurden.

Was Pelle betraf, war sich Frida allerdings sicher, dass Mama nicht an ihm interessiert war. Oft genug hatte sie betont, dass sie keinen Mann an ihrer Seite brauchte. »Nur wir beide. Das reicht doch, oder nicht? Haben wir es nicht gemütlich miteinander?«

Frida nickte dann immer. Natürlich hatten sie das. Und trotzdem – hin und wieder wünschte sie sich einen Familienalltag, wie ihre Freundinnen ihn hatten. Mama, Papa und mindestens zwei, drei Kinder. Ein großer Esstisch, beim Abendessen redeten alle durcheinander, es wurde gelacht und gescherzt. Bei Frida und ihrer Mutter war es still. Harmonisch, aber still. Doch diese Gedanken behielt sie für sich. Ihre Mutter hatte es eh schon schwer genug. Frida schämte sich für ihre geheimen Wünsche. Sie wusste, ihre Mutter hätte gern mehr Zeit mit ihr verbracht, anstatt Extraschichten im Büro der Holzfabrik zu schieben. Nur durch solche Überstunden konnten sie ab und zu verreisen.

Von der Landstraße bog Frida in einen Waldweg ein. Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter den Sohlen ihrer dick gefütterten Stiefel. Sie zog den Schal enger unter dem Kinn zusammen, band einen Knoten hinein und tastete in der Jackentasche nach dem Aventurin. Mama hatte ihn ihr zum ersten Schultag geschenkt. »Er ist der Schutzstein der Waage-Geborenen.« Mit diesen Worten hatte sie den grünen Stein auf Fridas Handfläche gelegt und ihr die Finger darum geschlossen. Er hatte sich glatt und überraschend warm angefühlt.

Alarmiert blieb Frida stehen. Wo war er heute? Hatte sie ihn in der Schule liegen lassen? Oder am Ende gar verloren? Ihr Herz schlug schneller, das durfte nicht sein! Auf diesen letzten Metern nach Hause, die sie durch den dichten Nadelwald zurücklaufen musste, hielt sie ihn doch immer fest in der Hand.

Sie kramte tiefer in der Tasche und atmete auf. Da war er. Rasch schloss sie ihre Faust um ihn und lief in den dunklen Wald hinein.

Die Sonne war bereits verschwunden. Momentan ging sie gegen halb vier unter. Anfang Januar war es noch eine Stunde früher gewesen. Tag für Tag kamen ein paar Minuten dazu. Frida freute sich über jede Sekunde mehr Licht. Würde der Schnee nicht liegen, wäre es schon jetzt pechschwarz um sie herum. So aber zog sich ein weißes Band wie ein Lichtstrahl durch den düsteren Forst.

Vor sich auf dem Weg entdeckte Frida Spuren von Hasen und Rehen. Auf der rechten Seite, da, wo im Sommer die Wilderdbeeren, die smultron, wuchsen, war die Erde aufgewühlt. Vielleicht Wildschweine? Bislang hatten sie hier oben wenig Probleme mit ihnen gehabt. Doch in den letzten Jahren sah man ab und an welche. Schwarzwild nannten sie die Jäger. Das hatte sie in der Schule gelernt. Und auch, dass sich die Tiere allmählich Richtung Norden ausbreiteten. Frida hatte Gespräche zwischen Mama und Tante Kerstin mitbekommen, die in Südschweden lebte. Ohne Wildschweinzaun ging dort gar nichts. So etwas besaßen sie hier bisher nicht. Aber einen Jagdschein, den hatte Mama.

An der nächsten Gabelung bog Frida nach rechts ab, in einen noch dichteren Tannenwald hinein. Es knackte im Unterholz. Beklommen schaute sie sich um. Wie eine schwarze Front rahmten die Bäume sie zu beiden Seiten der Schotterstraße ein. Schon oft hatte sie sich ausgemalt, wie es wohl aussehen würde, wenn sie umgeben von Mischwäldern leben würden. Mit Laubbäumen, die im Winter ihre Blätter abwarfen und damit mehr Licht durchließen. Die weitläufigen Wälder Jämtlands waren stellenweise undurchdringlich wie Urwälder. Auf keinen Fall sollte man einfach so versuchen, eine Abkürzung quer hindurch zu nehmen, das hatte Mama ihr immer wieder eingebläut. Zumindest nicht, wenn man sich nicht auskannte. Sobald sie laufen konnte, hatte Frida eingeschärft bekommen, auf den Wegen zu bleiben. Mittlerweile jedoch kannte sie das Gelände rund um ihr Zuhause so gut wie den Inhalt ihres Spielzeugschranks. Trotzdem erzählte sie Mama besser nicht, dass sie ihren Heimweg das letzte Stück abkürzte. Ein großer Felsbrocken markierte die Stelle, an der sie nach links ins Dickicht abbog.

Unter dem Dach der Tannenzweige hatte sich nur eine feine Schneedecke gebildet. Frida wusste, dass sie über dicke, weiche Kissen aus Moos lief. Dazwischen wuchsen Blaubeeren, die jetzt ihren Winterschlaf hielten. Im Spätsommer würde sie wieder Beeren sammeln und mit ihrer Mutter Marmelade kochen. Die würden sie auf frisch gebackene Pfannkuchen –

Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen. Mitten hi­nein in das Bild der schneebedeckten Mooskissen schob sich etwas am Rande ihres Blickfeldes. Etwas, das nicht dahin gehörte.

Frida drehte den Kopf nach rechts. Sie kniff die Augen leicht zusammen, um besser sehen zu können, und erstarrte. Keine zwei Meter von ihr entfernt konnte sie Umrisse ausmachen. Lag dort ein Tier? Womöglich ein toter Elch? Sie zog ihr Handy heraus, streifte den rechten Handschuh ab und schaltete die Taschenlampe ein. Zaghaft richtete sie den dünnen Lichtstrahl auf den Boden vor sich. Ein gewaltiger Schreck durchfuhr sie, als sie erkannte, um was es sich handelte: ein Paar schwere Arbeitsschuhe, schlammverkrustet. Eine Khakihose, ein anthrazitgrauer Anorak. Darüber eine Wollmütze, aus der blondes Haar hervorlugte. In der Mitte des Rückens schimmerte es verdächtig dunkel und feucht.

All dies registrierte Frida im Bruchteil einer Sekunde. Sie trat einige Schritte näher, ihre Augen konnten sich nicht von dem riesigen Fleck auf der Winterjacke lösen. Kein Zweifel – der Stoff war mit Blut getränkt. Ein eisiger Schauer jagte in ihr hoch.

Wenn man so aufwuchs wie sie, dann war der Tod von früh auf ein Begleiter. Unzählige Vögel und Mäuse hatte Frida schon von klein auf im hintersten Winkel des Gartens beerdigt. Manchmal auch einen Hasen. Einmal hatte sie mitten auf dem Weg eine tote Eule gefunden. Sie war nach Hause gelaufen, hatte eine Schaufel geholt und sie neben einer Tanne bestattet, feierlich mit einem Kreuz, das sie aus zwei Ästen und einem Stück Seil gebastelt hatte.

Doch nie zuvor hatte sie einen toten Menschen gesehen. Trotzdem war sie sich absolut sicher: In dem Körper, der bäuchlings mit dem Gesicht nach unten zwischen verrottenden Tannennadeln, Farnkraut und Gräsern lag, pulsierte kein Leben mehr. Frida konnte sich nicht von der Stelle rühren. Das Blut glänzte im schwachen Schein ihres Handys. Ihr wurde übel.

Es war ein großer, kräftiger Mann, und so frisch, wie das Blut aussah, konnte er noch nicht lange dort liegen. Die Erkenntnis kroch in Fridas Bewusstsein, bis sie ihr einen Schlag versetzte. Ihr Herz begann zu rasen. Hektisch sah sie sich nach allen Seiten um. Was verbarg sich in der dunklen Wildnis?

Erneut schaute sie auf den Toten. Ihre Gedanken stoben wild durcheinander, ließen sich nicht ordnen, ihre Muskeln gehorchten ihr nicht. Sie wollte wegrennen, schreien, vor allem aber dieses Bild wieder loswerden, das sich gerade in ihr Gehirn einbrannte und sie in ihren Träumen verfolgen würde, das Bild eines getöteten Menschen, nicht weit von ihrem Zuhause entfernt. Und doch stand sie weiterhin bloß da und blickte auf den leblosen Körper, der sie festzuhalten schien, als wolle er ihr etwas mitteilen.

Abermals knackte es. Fridas Kopf flog herum. War hier noch jemand außer ihr? Jemand, der gesehen hatte, dass sie den Toten entdeckt hatte? Wie von selbst setzten sich ihre Beine in Bewegung. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, als sie aus dem Dickicht taumelte. Sie strauchelte, stolperte auf den schneebedeckten Weg zurück und rannte los. Hinter der nächsten Ecke lag ihr Zuhause. Abrupt blieb sie wieder stehen, sah auf das Handy in ihrer Hand. Musste sie nicht die Polizei rufen? Unschlüssig stand sie da, ihre Gedanken ein einziges Chaos. Schrecken, Furcht und zugleich ein Hauch von … Verantwortung. Sie hatte gerade einen Toten gefunden. Nur sie wusste bisher davon.

Der blutige Rücken – was war da wohl passiert? Frida jagten Bilder durch den Kopf von Krimis, die Mama im Fernsehen ansah. Wenn sie nicht einschlafen konnte, schlich sie sich manchmal zur Wohnzimmertür und schaute von dort heimlich mit. War der Mann erschossen worden?

In diesem Moment hörte sie etwas in der Ferne, ein Motorengeräusch, das rasch anschwoll. Ruckartig wandte Frida sich um. Hinter ihr tauchten Lichter auf. Vermutlich war es einer der wenigen Nachbarn, die weiter den Wald hinein lebten. Oder war das etwa …?

Es fühlte sich an, als würde eine kalte Faust ihr Herz quetschen, und plötzlich waren Fridas Gedanken glasklar: Sie musste hier weg, sofort! Handy und Handschuh immer noch in der Hand, sprintete sie los, so schnell sie konnte. Doch der Schnee auf dem Weg bremste sie. Es war wie in einem dieser Träume, in denen man wegrennen wollte und am Boden festzukleben schien. Die Scheinwerferlichter in ihrem Rücken kamen näher und näher.

»Ich nehme eine Pannacotta und einen Espresso. Danke.« Maya klappte die Speisekarte zu und reichte sie dem Kellner des Da Luigi, ihres Lieblingsitalieners unweit des Mariatorget auf Stockholms südlicher Insel Södermalm.

Emely, die ihr gegenübersaß, tat es ihr nach. »Für mich bitte einmal das Sorbetta di frutta.«

»Bloß kein Koffein mehr um diese Zeit, nicht wahr?« Maya zwinkerte der Freundin zu.

»Gott bewahre! Ich würde die ganze Nacht wie ein aufgezogenes Duracell-Häschen durch meine Wohnung hüpfen.« Emely schüttelte ihre hellblonde Lockenpracht zurück. »Ich werde nie verstehen, wie du damit klarkommst.«

Maya zuckte mit den Schultern. »Da bin ich so was von abgestumpft. Selbst direkt vor dem Schlafengehen würde ich nix merken.«

»Magst du auch noch etwas haben?« Der Kellner richtete seine Aufmerksamkeit auf Sanna, die neben Emely saß, und völlig in ihre Karte vertieft zu sein schien.

Ruckartig schaute Sanna auf. In ihren grauen Augen lag ein Ausdruck, als wäre sie gerade ganz woanders gewesen. »Wie bitte?«

»Dolce, formaggio, caffè.« Maya unterstrich ihre begrenzten Italienischkenntnisse mit ausladenden Gesten.

»Äh, nein, nichts Süßes. Einen Grappa, bitte.« Sanna lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. Ihre goldenen Armreife klimperten am Handgelenk.

Maya warf Emely über den Tisch hinweg einen raschen Blick zu. Sanna hatte noch nie auf ein Dessert verzichtet. Überhaupt war sie an diesem Abend auffallend einsilbig gewesen.

Nachdenklich stützte Emely den Ellbogen auf und sah Sanna von der Seite an. »Ist alles in Ordnung?«

»Passt.« Das Lächeln der Freundin wirkte angestrengt.

»Du kommst mir heute irgendwie … abwesend vor. Als ob dich etwas bedrückt.«

»Echt?« Sanna straffte die Schultern und probierte es erneut mit einem Lächeln, das immer noch ein wenig schief aussah. »Nee, es ist alles gut.«

»Du hast noch gar nicht erzählt, was bei dir gerade so im Job los ist.« Maya lehnte sich nach vorn und musterte Sannas Gesicht, das sie seit der Pubertät nicht mehr ungeschminkt gesehen hatte.

»Ach, nur das Übliche – eine Projektbesprechung jagt die nächste.« Fahrig schob Sanna ihr Weinglas von links nach rechts.

Maya wechselte einen weiteren Blick mit Emely. Für gewöhnlich gab Sanna erfrischende Anekdoten aus ihrem Arbeitsalltag bei einem exklusiven Stockholmer Designlabel zum Besten. So wortkarg und in sich gekehrt kannten sie die Freundin überhaupt nicht. Im Gegenteil: Normalerweise war sie kaum zu bremsen. Wortgewaltig hatte eine Lehrerin sie in der Schulzeit einmal genannt. Doch da sie momentan offenbar nicht erzählen wollte, was sie beschäftigte, hakte Maya vorerst nicht nach.

»Wir bieten nächstes Wochenende einen Achtsamkeits-Workshop für Frauen an. Das wäre vielleicht was für euch.« Emely, die als Yogalehrerin in einem angesagten Studio im Stadtbezirk Östermalm arbeitete, ließ nichts unversucht, um ihre Freundinnen zu mehr Spiritualität im Alltag zu inspirieren. »Ein paar Plätze sind noch frei. Ihr bekommt natürlich wie immer Rabatt. Es ist ein tolles Programm, fantastische Dozenten.« Sie kramte in ihrer riesigen Korbtasche und legte für jede einen Flyer auf den Tisch.

Maya griff danach und las: Weniger Stress – mehr Gelassenheit. Wie du mit simplen Tricks deinen Alltag entschleunigst. »Entschleunigung könnte ich gebrauchen.« Sie drehte den Flyer um. »Klang-Meditation, Kakao-Zeremonie – das klingt abgefahren. Ich schaue mal in den Dienstplan.«

»Ich überleg’s mir ebenfalls.« Eingehend besah sich Sanna den Zettel. »Sag mal, wer gestaltet eigentlich eure Flyer?«

»Keine Ahnung. Wieso?«

»Da könnte man noch einiges optimieren. Ich gebe euch gern ein paar unserer Kontakte.« Das war wieder ganz die Sanna, die sie kannten.

»Hm, warum nicht?« Emely legte ihre Fingerspitzen aneinander. »Schick sie mal rüber, dann leite ich sie weiter.«

Der Kellner erschien mit ihrer Bestellung, und während er alles verteilte, betrachtete Maya ihre Freundinnen. Die grazile Emely mit ihrer Alabasterhaut und dem Engelshaar hatte von klein auf eine ätherische Aura umgeben. Anders als bei den meisten blonden Kindern ihrer Klasse, waren Emelys Locken nie nachgedunkelt. Sanna hingegen ließ sich ihre inzwischen dunkelblonden Haare regelmäßig von einem Stockholmer Starfriseur mit Strähnen in verschiedenen Blondtönen so kunstvoll und dezent aufpeppen, dass sie aussahen wie natürlich von der Sonne aufgehellt. Sie war die Größte von ihnen, überragte sogar Maya um ein paar Zentimeter und sah aus wie eine schwedische Sophia Loren. Wo immer sie gemeinsam auftauchten, zog Sanna die Blicke sämtlicher Männer und Frauen auf sich. Doch nicht nur äußerlich hätten sie kaum unterschiedlicher sein können. Während Emely vollkommen in der Esoterik aufging und sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als den Jahresurlaub asketisch meditierend in einem indischen Ashram zu verbringen, war Sanna vollständig in der materiellen Welt verhaftet und bevorzugte Luxushotels mit Rund-um-die-Uhr-Service. Nicht zum ersten Mal fragte Maya sich, ob sie wohl zueinandergefunden hätten, wenn sie sich erst als Erwachsene kennengelernt hätten.

»Hast du in letzter Zeit mit Clara gesprochen?« Emely kostete von ihrem Sorbet und verdrehte seufzend die Augen. »Himmlisch!«

Clara war die Vierte im Bunde. Die Einzige, die noch in ihrer gemeinsamen Heimat wohnte, dem ländlich-idyllischen Småland, knapp fünf Autostunden südlich von Stockholm. Bodenständig, wie Maya zu sagen pflegte, was Emely wiederum geerdet nannte. Clara war außerdem die Einzige von ihnen, die in geordneten Strukturen lebte, wie Sanna sich ausdrückte. Immerhin erfüllte sie den klischeehaften Anspruch, der nach wie vor gesellschaftlich – und steuerlich gefördert – wie ein imaginärer mahnender Zeigefinger über den Köpfen junger schwedischer Männer und Frauen schwebte: Spätestens mit dreißig zu heiraten und kurz hintereinander zwei Kinder in die Welt zu setzen.

»Bei unserem letzten Telefonat hatte der alltägliche Wahnsinn zwischen Familienleben und Beruf sie wie gewohnt voll im Griff.« Maya gab einen Löffel Zucker in ihren Espresso und rührte um. »Wir sollten sie mal wieder da rausholen. Etwas zu viert unternehmen.«

»Wie wär’s mit einem gemeinsamen Wellnesswochenende? Das letzte liegt schon ewig zurück.« Emelys strahlend blaue Augen bekamen einen schwärmerischen Ausdruck. »Vielleicht irgendwann im März, da könnten wir gleich eine kleine Reinigungskur einbauen.«

Maya grinste. »So was wie Frühjahrsputz für den Körper?«

»Genau. Du glaubst gar nicht, wie effektiv das ist.« Emely zwinkerte Sanna zu, die gerade das Weinglas gegen den Grappa tauschte. »Würde dir sicherlich auch guttun.«

»Ich werde garantiert nicht heilfasten, wenn es das ist, worauf du hinauswillst.«

»Davon spricht doch kein Mensch! Da gibt es ganz verschiedene Ansätze. Ich denke eher an ayurvedische Ölmassagen, Aufgüsse, eine vegane Ernährung, die individuell auf die Konstitution des Einzelnen abgestimmt ist. So was in der Richtung halt. Es gibt da zum Beispiel ein fantastisches Hotel in der Nähe von Växjö.«

»Also, Mädels, wie sieht’s im Frühjahr bei euch aus?« Maya zückte ihren Terminkalender. »Ich habe noch ein paar Urlaubstage übrig, wenn ich die jetzt einreiche, habe ich gute Chancen.«

»Ich richte mich gern nach euch.« Emely war mit dem Juniorchef des Studios liiert und würde problemlos freibekommen.

Fragend sahen sie Sanna an.

»Ich weiß noch nicht genau … Entschuldigt, ich bin heute Abend nicht ganz fit. Es war eine heftige Woche. Außerdem – ich glaube, ich muss mal früher nach Hause.«

»Vielleicht setzt dir der Vollmond nächste Woche zu.« Emely schenkte ihr einen mitfühlenden Blick. »So ein Löwe-Vollmond kann manchmal im Vorfeld ziemlich fordernd sein.«

»Hm, vielleicht.« Sanna zog ihre Kreditkarte aus dem goldenen Smartphone-Etui.

Spätestens jetzt war Maya überzeugt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Wenn Sanna nicht wie gewöhnlich mit Sarkasmus auf Emelys astrologische Anwandlungen reagierte, dann musste etwas Gravierendes vorgefallen sein. Sie nickte ihr zu. »Von mir aus können wir gern aufbrechen. Ich muss morgen früh raus.«

»Hast du schon wieder Bereitschaft?« Emelys Empathie richtete sich nun auf sie. »Ehrlich, man zahlt einen ziemlich hohen Preis, um bei der Polizei zu sein.«

Maya zuckte mit den Schultern. »Man weiß ja vorher, worauf man sich einlässt. Und keiner zwingt einen zu bleiben. Ich zum Beispiel habe öfter mal Phasen, in denen ich mindestens einmal pro Woche innerlich kündige. Aber solange die Phasen dazwischen deutlich länger sind, ist alles in Ordnung.« Seit der Jugend hatte sie davon geträumt, im Kommissariat der Hauptstadt zu arbeiten. Ein Traum, der vor drei Jahren in Erfüllung gegangen war.

Vor dem Restaurant verabschiedete sich Emely von ihnen. Sie wohnte im westlichen Teil Södermalms, nahe dem Skinnarviks­parken, während Sanna und Maya beide auf der Ostseite der Insel lebten.

Nachdem sie die Hälfte des Weges schweigend über den freigeschaufelten und gestreuten Fußweg zurückgelegt hatten, blieb Maya an der Kreuzung zur Götgatan stehen. »Sanna, bitte, magst du mir nicht sagen, was los ist?«

»Ach …« Sanna verschränkte die Arme vor der Brust.

»Hey, du weißt doch, du kannst mir alles anvertrauen.«

»Ich habe – es gibt …« Mit der Spitze ihrer sicherlich sündhaft teuren Winterstiefeletten malte Sanna unsichtbare Muster in den graubraunen Schneematsch. »Da sind ein paar Sachen im Job, die mich belasten.« Sie hielt den Blick gesenkt, als suche sie im Rinnstein nach einem Ausweg.

»Ich verstehe.« Maya verstand überhaupt nichts. Bisher hatte Sanna sämtliche beruflichen Probleme mit einem Fingerschnippen gelöst. Wenn irgendjemand der Bezeichnung toughe Businessfrau entsprach, war es ihre scharfzüngige Freundin. »Magst du erzählen, was das für Sachen sind?«, hakte sie vorsichtig nach.

Sanna hob den Kopf, sah Maya kurz an, als wöge sie ab, wie viel sie preisgeben sollte. Dann schweiften ihre Augen die Einkaufsstraße mit den hippen Geschäften und Cafés entlang. »Da ist so ein Kollege, er – vermutlich ist es bloß Neid, das wäre ja nicht das erste Mal. Ich hatte – ach, es ist nicht so wichtig.« Solche Worthülsen hatte sie noch nie von sich gegeben.

Maya versuchte es mit Humor: »Also, für gewöhnlich pflegst du doch deine Konkurrenten mit drei Sätzen ungespitzt in den Boden zu rammen.« Als Sanna nicht reagierte, wurde sie wieder ernst: »Hast du schon mit Olivia darüber gesprochen?« Maya wusste, dass Sanna ein sehr gutes, fast freundschaftliches Verhältnis zu ihrer Chefin hatte.

»Nein, ich …« Sanna nagte an ihrer Unterlippe. »Ich denke, ich schaffe das schon allein.« Sonderlich überzeugt wirkte sie nicht.

»Bist du sicher? Du kannst mir gern –«

»Ach, lass uns über etwas anderes reden.« Sie hakte sich bei Maya unter. »Aber vor allem: Lass uns weitergehen. Bei dieser verdammten Kälte verbringe ich ungern auch nur eine Minute länger als unbedingt nötig draußen.«

»Schon mal was von Abhärtung gehört?«

»Wird völlig überbewertet.«

An der nächsten Ecke trennten sich ihre Wege. Sanna musste weiter geradeaus bis zur Katarina Bangata, während Maya links in die Tjärhovsgatan einbog.

Zu ihrer Linken lag Björns Trädgård, ein von hohen Kastanien eingerahmter Park mit Skaterrampen, einem großen Spielplatz, einer Kita und gleich dahinter Stockholms größter Moschee. Einige Jahre nach deren Eröffnung war sie mehrfach in Kritik geraten wegen antisemitischer Äußerungen und Kontakten zu islamistischen Terrororganisationen. Immer wieder tauchte die Moschee in der Presse auf, wie beispielsweise 2016, als bekannt geworden war, dass dort Gelder zur Unterstützung von Dschihadisten gesammelt wurden. Nach Einbruch der Dunkelheit vermied Maya es inzwischen, den Park zu durchqueren.

In ihrer Anfangszeit in der Hauptstadt hatte sie sich wenig Gedanken gemacht, wenn sie nachts nach Hause lief. Sie hatte sich auf den Straßen Södermalms sicher gefühlt. Das ehemalige Arbeiterviertel, das mittlerweile zu den angesagtesten Bezirken der Stadt gehörte, beherbergte in erster Linie Kreativschaffende, Menschen aus der Werbebranche und der Medienwelt. Doch in den letzten zwei Jahren hatte die Kriminalität auch hier zugenommen. Rivalisierende Banden unterschiedlicher Nationalitäten spannten ihre Netze nunmehr über ganz Stockholm.

Als Maya am Tor zum Kinderspielplatz vorbeilief, hörte sie von dort aufgeregte Stimmen. Im Dunkeln konnte sie mehrere schemenhafte Umrisse bei den Schaukeln ausmachen. Sie sah genauer hin und erkannte drei Männer, die sich um eine junge Frau scharten. Die Frau stieß einen von ihnen weg, der aber lachte nur. Es war ein ekelhaft hartes, dreckiges Lachen. Die anderen beiden packten sie rechts und links an den Armen.

»Zier dich bloß nicht!« Der Linke grapschte nach ihrer Brust. »So, wie du aussiehst, hast du’s ewig nicht mehr von ein paar Kerlen ordentlich besorgt bekommen.«

Nun lachten alle drei. Die Frau versuchte, sich loszureißen, woraufhin der Dritte wieder näher herantrat und ihr ins Gesicht schlug. »Je mehr du dich sträubst, desto härter wird’s für dich.«

Heiße Wut stieg in Maya hoch. Entschlossen öffnete sie das schmiedeeiserne Tor. »He, lasst die Frau in Ruhe!«

Kapitel 2

»Kümmer dich um deinen Kram, Schlampe!« Drohend kam der Typ mit der widerlichen Lache auf Maya zu. Er hatte die Kapuze seiner Winterjacke tief in die Stirn gezogen.

Maya stellte sich breitbeinig hin und griff nach ihrem Smartphone. »Lasst sie in Ruhe, oder in drei Minuten ist die Polizei da.« Gleichzeitig wappnete sie sich innerlich für einen möglichen Angriff.

»Du willst mir drohen?«

»Nur warnen.«

»Ich zeig dir mal, was ich mit solchen wie dir mache.«

Er holte aus, doch Maya war vorbereitet. Geschickt wich sie seinem Schlag aus, wirbelte herum und kickte ihm seinerseits einen Fuß so gezielt in die Rippen, dass er zurücktaumelte. Die Überraschung über ihre blitzschnelle Reaktion spiegelte sich in seinem Gesicht, als er sich schwer atmend wieder aufrichtete.

»Verdammte Hacke!« Aus dem Hintergrund tauchte ein weiterer Mann auf, der offenbar das Sagen hatte. »Haltet euch an das, was euch gesagt wird! Schluss mit diesen Egotrips!«

Die beiden anderen ließen von der Frau ab und verschwanden in seine Richtung. Widerwillig folgte auch Mayas Angreifer. »Das wird dir noch leidtun!«, schrie er im Weglaufen. »Ich finde dich!«

Den Rest seiner Drohung verschluckte die Nacht. Maya stieß kräftig die Luft aus ihren Lungen, um einen Teil des Adrenalins loszuwerden. Sie sah sich nach der jungen Frau um, die wie paralysiert bei den Schaukeln stand. Rasch ging sie zu ihr hinüber. Unter ihrer löchrigen Wollmütze schaute ein dicker, schwarzer Zopf hervor.

»Alles okay?« Maya blieb ein Stück von ihr entfernt stehen und blickte ihr prüfend ins Gesicht. »Wenn du Hilfe brauchst, ich kann –«

»Nee, passt schon.« Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und eingefallene Wangen. Eine markante Narbe in Form eines liegenden L verlief vom linken Kiefer über ihr Kinn. Obwohl sie deutlich jünger war als Maya, wirkte sie energielos und verlebt. Sie vergrub die Hände in den Taschen ihres zerschlissenen Winterparkas und trottete in Richtung Parkausgang los.

Maya lief neben ihr. »Du solltest die Kerle anzeigen.«

Von der Seite her warf sie Maya einen abschätzigen Blick zu.

»Ernsthaft! Die dürfen mit so was nicht –«

»Zu den Bullen geh ich bestimmt nicht!« Sie sprach mit unverkennbar osteuropäischem Akzent.

»Aber …«

Müde winkte sie ab. »Lass gut sein. So jemandem wie mir hört man dort nicht zu.«

»Ich könnte dir –«

Barsch fuhr sie Maya an: »Du brauchst dich nicht mehr zu kümmern. Ich komme schon klar.«

Maya lag auf der Zunge, dass sie diesbezüglich ihre Zweifel hatte, doch sie schluckte den Kommentar hinunter. Sie blieb stehen. »Pass auf dich auf.«

Die junge Frau schlurfte weiter durch den Schnee in Richtung Medborgarplatsen. Nach ein paar Metern drehte sie sich noch einmal zu Maya um. »Dass du dazwischengegangen bist – so was passiert nicht oft.« Sie zog die Mundwinkel ein winziges Stück nach oben. »Ganz schön mutig.« Damit setzte sie ihren Weg fort und hob die Hand im Weggehen zu einem kurzen Abschiedsgruß.

Maya sah ihr hinterher. Sie hätte ihr mit verschiedenen Anlaufstellen helfen können: Kolleginnen bei der Polizei, die für Gewalt gegen Frauen zuständig waren, Kontakte zur Drogenberatung, die Adresse von einem Frauenhaus. Wenn die Frau nur gewollt hätte. Nach wie vor fiel es Maya schwer zu akzeptieren, dass in ihrem Beruf so manche wohlgemeinte Hilfe am Gegenüber abprallte. Von Dienstjahr zu Dienstjahr schrumpfte ihr Idealismus angesichts der Realität.

Sie schaute zum Spielplatz zurück. Ein Kinderspielplatz! Wie sich doch die Welt nach Einbruch der Dunkelheit verkehrte.

Nicht zum ersten Mal dankte Maya im Stillen ihrer Mutter, die sie im Alter von sieben Jahren zum Karate geschleppt hatte. Damals hätte sie viel lieber wie Clara Reiten gelernt. Schnell hatte sie jedoch Gefallen an den geschmeidigen Bewegungen gefunden. Anders als ihre Freundinnen hatte sie von da an eine tiefe Sicherheit in sich gespürt, wissend, dass sie sich auf ihre Selbstverteidigungstechniken verlassen konnte.

Auf dem restlichen Heimweg kontrollierte Maya alle paar Meter, ob ihr jemand folgte. Aber ihr fiel niemand auf. Schließlich erreichte sie das apricotfarbene Haus in der Nytorgsgatan, in dem sie wohnte. Es war eines der klassischen Gebäude mit dem typischen Altbaucharme, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in diesem Viertel erbaut worden waren. Sie zog den Schlüsselbund aus der Jackentasche, schloss auf und lehnte sich gegen die massive Eingangstür. Wie gewohnt ignorierte sie den Fahrstuhl und nahm die Treppen zum dritten Stock.

Maya öffnete die Tür zu ihrer geräumigen Zweizimmerwohnung, streifte sich die Winterboots von den Füßen und warf die Daunenjacke über einen der großen Haken links neben der Tür. In Wollsocken lief sie über die Holzdielen durch den langen Flur ins Wohnzimmer und ließ sich auf die breite Couch fallen. Müde und aufgewühlt zugleich starrte sie an die hohe Decke. In ihrem Kopf vermischten sich Bruchstücke des Abends. Das Essen mit den Freundinnen, Sannas Verschlossenheit, die Auseinandersetzung auf dem Rückweg, die leicht hätte eskalieren können, die junge Frau, die ebenfalls keine Hilfe von ihr wollte – weswegen reagierten speziell Frauen oftmals so zurückweisend auf Unterstützung? War es Scham? Oder hatten sie zu sehr verinnerlicht, es aus eigenem Antrieb schaffen zu müssen?

Ein penetrantes Klingeln drang an ihr Ohr. Maya öffnete die Augen. Sie lag immer noch auf dem Sofa, komplett angekleidet. Über ihre Grübeleien musste sie eingeschlafen sein. Das Klingeln riss nicht ab. Mühsam stand sie auf, tappte in den Flur und kramte in den Jackentaschen. Endlich fand sie ihr Handy.

»Hallo?«

»Habe ich dich geweckt?«

Maya brauchte einen Moment, um die Stimme zu erkennen. »Sanna?«

»Sorry, ich dachte …«

»Kein Problem.« Maya ging ins Wohnzimmer zurück und setzte sich in den maisgelben Ohrensessel am Fenster, den ihre Mutter vor vielen Jahren restauriert hatte. Es war eines ihrer ersten Stücke gewesen, ehe sie sich mit aufgearbeiteten Vintagemöbeln selbstständig gemacht hatte.

»Du hast recht.« Sanna räusperte sich. »Es ist etwas nicht in Ordnung.«

»Ich bin ganz bei dir.«

»Dieser Kollege, den ich vorhin erwähnt habe. Er … er …« Sie brach ab.

Schlagartig hatte Maya die Szene in Björns Trädgård vor Augen. Eine düstere Ahnung beschlich sie. Vorsichtig setzte sie an: »Hat er dich belästigt?«

Am anderen Ende blieb es still.

»Sanna?«

»Ich … es ist … er hat …« Ihre Stimme klang ungewöhnlich hoch.

Maya schloss die Augen. Ausgerechnet Sanna. Bei ihr hätte sie etwas Derartiges am wenigsten erwartet. »Es ist schwer, darüber zu sprechen, das verstehe ich. Glaub mir, das geht den meisten Frauen so, denen so was passiert. Alle spüren diese Scham, viele suchen die Schuld bei sich.«

»Na ja, es kann schon sein«, Sanna zögerte, »dass ich … falsche Signale ausgesendet habe.«

»Egal, ob du geflirtet hast oder was auch immer. Wenn ein Mann eine Grenze überschritten hat, gegen deinen Willen, dann ist das überhaupt nicht deine Schuld. Ein Nein ist ein Nein.«

Sanna räusperte sich. »Ich war nicht darauf gefasst, dass er so weit gehen würde. Er ist mir gefolgt, als ich – ach, ich muss von vorn anfangen.« Sie machte eine kurze Pause, ehe sie neu ansetzte: »Es war in Berlin, letztens, weißt du noch? Ich bin für eine Woche dort gewesen.«

»Ich erinnere mich. Das war im Advent. Du hast Fotos vom Weihnachtsmarkt geschickt.« Maya spürte eine unterschwellige Unruhe. Was würde Sanna ihr gleich anvertrauen? Es war eine vollkommen andere Sache, wildfremde Frauen im Präsidium zu befragen, dort konnte Maya ihre berufliche Distanz wahren. Auch wenn sie sich so manches Mal danach auf der Toilette eingeschlossen und ihren Tränen freien Lauf gelassen hatte. Doch Sanna, Clara und Emely waren Teil ihrer Familie. Würde einer von ihnen etwas Schlimmes passieren, Maya wusste nicht, wie sie mit einer solchen Situation umgehen würde, ob sie sich beherrschen oder einfach nur rotsehen würde.

»Richtig. Der Glühweinstand. Da war noch alles in Ordnung.« Sanna lachte bitter auf. Dann redete sie weiter: »Also, ein Kollege von unserer dortigen Filiale, er war mein Ansprechpartner. Wir haben uns auf Anhieb ganz gut verstanden. Zweifellos, er sieht gut aus. Aber etwas hatte er an sich, das mich instinktiv auf Abstand gehen ließ. Ich weiß, das klingt …« Sie brach ab.

Maya wartete. In derartigen Fällen war es enorm wichtig, den Frauen Zeit zu geben. Oft suchten sie nach den passenden Worten, um das auszudrücken, was ihnen widerfahren war. Zu viele Fragen störten bloß.

Tatsächlich fuhr Sanna nach wenigen Augenblicken fort: »Es ist am letzten Abend passiert. Wir hatten mit mehreren Kollegen einen Glühwein am Gendarmenmarkt getrunken. David, so heißt er, schlug vor, noch in irgend so einen angesagten Laden in Kreuzberg weiterzuziehen, aber ich war müde. Die Tage waren anstrengend gewesen, und mein Flug ging früh am nächsten Morgen. Die anderen verabschiedeten sich ebenfalls. Ich war auf dem Weg zu meinem Hotel, es lag nicht weit entfernt, doch ich musste an einem Park vorbei. Plötzlich tauchte David neben mir auf. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Er war …«, sie hielt kurz inne, »er wirkte wie ausgewechselt. Als hätte er irgendwas genommen, Koks oder was weiß ich.« Sie räusperte sich erneut. »Jedenfalls legte er seinen Arm um mich und zog mich fest an sich. Er meinte, ich sei eine fantastische Frau, und bevor ich wieder abreise, wolle er unbedingt Sex mit mir haben.«

»Na, das nenne ich mal direkt. Wie hast du reagiert?«

»Ich habe ihm klar und deutlich gesagt, dass ich keine Lust hätte. Dass ich ihn als Kollegen schätzte, aber darüber hinaus nicht interessiert sei. Doch er blieb hartnäckig und versuchte, mich zu überreden. Irgendwann bin ich stehen geblieben und habe gesagt, er solle mich jetzt in Ruhe lassen. Da hat er nur gelacht und gemeint, ich solle mich doch nicht so anstellen. Was ich mich denn so zieren würde. Ich würde wohl eher auf Kerle stehen, die nicht lang fackeln. Und dann hat er …« Am anderen Ende wurde es still.

Als mehrere Sekunden verstrichen waren, fragte Maya behutsam: »Sanna?«

»Er … er hat mich gegen einen Baum gepresst und meine Arme festgehalten. Er wollte, er hat versucht …« Erneut brach sie ab.

Maya hörte ihr Schluchzen durchs Telefon. Wut auf diesen Unbekannten packte sie.

Es dauerte eine Weile, ehe sich Sanna wieder beruhigt hatte. Schließlich fuhr sie mit gefassterer Stimme fort: »Irgendwie habe ich es tatsächlich geschafft, ihn von mir zu stoßen. Dann bin ich weggerannt. Ich weiß nicht, ob er mir noch gefolgt ist, ich bin einfach gerannt, bis ich das Hotel erreicht hatte.«

Maya ließ Sannas Sätze in sich nachwirken. Es war ein furchtbares Erlebnis, zweifellos. Doch gleichzeitig war sie erleichtert, dass es nicht noch schlimmer gekommen war. »Danke, dass du dich mir anvertraut hast.«

»Das ist noch nicht alles.« Sanna atmete hörbar aus. »Heute habe ich erfahren, dass er nächsten Monat bei uns anfängt.«

»Dieser David kommt nach Stockholm?« Maya fuhr aus dem Sessel hoch.

»Er wird schon ab Montag da sein, um sich ein paar Tage einzuarbeiten. Zwar ist Olivia weiterhin meine Chefin, aber er ist definitiv in einer höheren Position als ich.«

»Ich verstehe. Du befürchtest, dass er seine Macht ausnutzen wird, um dir weiter nachzustellen?«

»Oder um sich zu rächen, weil ich ihn abgewiesen habe. Ehrlich, Maya, ich habe zum ersten Mal Angst, zur Arbeit zu gehen.«

»Du musst unbedingt mit Olivia darüber sprechen. Habt ihr nicht auch eine Frauenbeauftragte bei euch?«

»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«

»Hey, dieser Typ sollte Angst vor dir haben! Schließlich hat er keine Ahnung, mit wem du womöglich schon über sein ekelhaftes Verhalten gesprochen hast.«

Sanna schnaubte empört. »Du weißt doch, wie diese Welt funktioniert. Emanzipation hin oder her, da gelten noch immer die alten Regeln.«

»Ich rate dir dringend, noch am Wochenende mit deiner Chefin zu reden. Lass es nicht zu, dass er die Oberhand gewinnt. Gibt ihm keine Macht über dich. Jetzt kannst du die Weichen für seinen Start bei euch stellen.«

Aber Sanna blieb zögernd, egal, wie sehr Maya sich bemühte, ihr zuzureden. Schließlich verabschiedeten sie sich, und Sanna versprach, sich am nächsten Tag zu melden.

Eine ganze Weile saß Maya im Sessel und sah aus dem Fenster in die wolkenverhangene Winternacht. Zwei Belästigungen an einem Abend, das war ein krasser Schnitt.

Als sie merkte, dass ihre Lider schwer wurden, stand sie auf und ging ins Schlafzimmer hinüber. Träge zog sie ihre Kleider aus und warf sie auf einen stummen Diener, der unter einem Sammelsurium verschiedenster Kleidungsstücke bloß noch zu erahnen war, schlüpfte in eine Sweathose und ein T-Shirt, putzte sich die Zähne und legte sich ins Bett. Gerade als sie eingeschlafen war, klingelte ihr Handy erneut. Schlaftrunken tastete sie nach dem Gerät auf dem Nachttisch.

»Sanna?«

»Maya?« Am anderen Ende ertönte eine männliche Stimme. »Tut mir leid, dich wecken zu müssen.« Mayas Chef Lasse räusperte sich. »Es gibt einen neuen Fall für Pär und dich.«

Mit einem Schlag war Maya hellwach. Ein kurzer Blick aufs Display: Es war halb fünf. Immerhin hatte sie doch knapp drei Stunden geschlafen. Mit der freien Hand rieb sie sich die Augen. »Worum geht es?«

»Männliches Opfer. Tödlicher Schuss in den Rücken. Ein Mädchen hat die Leiche im Wald gefunden.«

Ruckartig setzte Maya sich auf. »Und wo?«

»Pack die Thermounterwäsche ein. Ihr fahrt nach Östersund.«

Kapitel 3 

Samstag, 27. Januar

»Okay, was wissen wir bisher?« Maya blinzelte über ihren Kaffeebecher hinweg zu Pär, der genauso verschlafen aussah, wie sie sich fühlte.

Sie saßen an einem der kleinen Tische vor einem Kaffeestand in der Abflughalle von Stockholms Flughafen Arlanda. Beide hatten eine braune Papiertüte vor sich liegen. Für einen Moment hatte Maya mit einer Kardemummabulle geliebäugelt und sich dann doch vernunftshalber für eine belegte Ciabatta und gegen das zucker- und butterlastige Gebäck entschieden.

Pär schwenkte seinen Kaffee. »Bei dem Opfer handelt es sich um Mats Anderberg, dreißig Jahre alt.«

»Mats Anderberg? Der Name kommt mir bekannt vor.« Maya runzelte die Stirn. »Ich kann ihn aber gerade nicht einordnen.«

»Er war Politiker und Umweltaktivist, kommt ursprünglich aus Östersund und ist erst vor Kurzem wieder dorthin zurückgezogen. Zwischenzeitlich hat er einige Jahre hier in Stockholm gelebt.«

Maya gab seinen Namen in der Suchmaske ihres Smartphones ein, während Pär fortfuhr: »Er hat hier studiert und sich in der Zeit schon stark politisch engagiert. In erster Linie hat er sich dafür eingesetzt, die Forstwirtschaft nach ökologischen Aspekten umzukrempeln. Er war das Aushängeschild der Organisation Rädda vår skog. Rettet unseren Wald, wenn dir das was sagt? Zurück zum Ur-Wald ist einer der Slogans der RVS.«

»Ach, der – den hab ich sogar mal live erlebt, bei einer Kundgebung am Kungsträdgården.« Zufällig war Maya an der Parkanlage bei der Königlichen Oper vorbeigekommen, als dort die Naturschützer der Initiative Rettet unseren Wald mit ihren Anhängern demonstriert hatten. Der Redner auf der Bühne war so eloquent und überzeugend gewesen, dass sie stehen geblieben war und ihm eine ganze Weile zugehört hatte. Eindrücklich hatte Mats Anderberg erklärt, wie wichtig es war, dass die Schweden jetzt und auf der Stelle ihren Umgang mit den Wäldern änderten. Auf Mayas Display ploppten zahlreiche Bilder und Links auf. Sie klickte eines der Fotos an und betrachtete nachdenklich Mats Anderbergs Gesicht. Ein kantiger Kiefer mit ausgeprägten Wangenknochen. Alles in diesem Gesicht war markant angelegt, über die klassisch griechische Nase bis zu den buschigen Brauen auf der breiten Stirn. Dazu ein intensiver Blick aus stahlblauen Augen. Maya scrollte sich durch die anderen Aufnahmen. Mats Anderberg war ein Gewinnertyp gewesen. Einer, der vor Saft und Kraft gestrotzt hatte, wie Mayas deutsche Großmutter es formuliert hätte. Dessen Leben viel zu früh ein Ende gesetzt worden war und der nun in der Gerichtsmedizin aufgebahrt lag.

Im Nu war Mayas Müdigkeit verflogen. Eine eisige Energie durchströmte sie, nüchtern und treibend zugleich, die sie nur zu gut kannte. Am Anfang eines jeden neuen Falles gab es einen solchen Moment, der Maya gefangen nahm für die Suche nach dem Täter und sie nicht eher ruhen ließ, bis er überführt sein würde.

Rasch überflog sie einige der Artikel aus dem Netz. Die Lokalpresse berichtete über Demonstrationen, bei denen die Umweltschützer mit den Forstwirten und Arbeitern aus der Holzbranche aneinandergeraten waren. »Sein Engagement scheint in seiner Heimat nicht gut angekommen zu sein.«

»Das kann ich mir gut vorstellen.« Pär kratzte sich am Kinn, wo sich silbergraue Stoppeln zeigten. Zum Rasieren hatte die Zeit heute früh offensichtlich nicht gereicht. »Die Leute dort oben sind größtenteils abhängig von der Waldindustrie. Was sich nach wie vor in Monokultur und Flächenrodungen niederschlägt.«

»Ist bei uns im Süden leider nicht viel anders.« Maya dachte an den Lieblingswald ihrer Kindheit gleich hinter dem Haus ihrer Eltern, der vor ein paar Jahren komplett abgeholzt worden war. Nun wuchsen dort kleine Tannen in Reih und Glied. Noch immer tat es ihr geradezu körperlich weh, wenn sie in der Heimat zu Besuch war und unweigerlich an den magischen Feenwald erinnert wurde, in dem sie damals mit Sanna, Emely und Clara alle erdenklichen Märchen nachgespielt hatte. Sie schüttelte das Bild aus ihren Gedanken. »Das heißt, ein erstes mögliches Mordmotiv könnten wir bei den Besitzern der Wälder und Holzverarbeitungsfirmen finden. Ich nehme mal an, Mats Anderberg ist denen mit seinen Umweltschutzplänen auf die Füße getreten.«

»Überhaupt bin ich gespannt, wie sie auf uns reagieren.« Pär nahm ein Sandwich aus seiner Tüte. »Die Leute dort oben reden generell nicht so gern mit Fremden. Schon gar nicht mit uns Hauptstädtern.«

»Vermutlich wird es nichts nützen, wenn ich auf meinen småländischen Dialekt umschwenke?« Maya zwinkerte ihrem Partner zu, mit dem sie seit Beginn ihrer Zeit im Polishuset Stockholm zusammenarbeitete. Es war Usus, dass jungen Polizisten ein erfahrener Teamkollege an die Seite gestellt wurde. Anfänglich hatten sie sich einpendeln müssen, aber mittlerweile hatten sie ihre gegenseitigen Stärken und Schwächen gründlich erforscht und festgestellt, dass sie sich ziemlich gut ergänzten.

Pär lachte. »Wohl kaum. Außerdem – Stockholmer Kripo ist und bleibt Stockholmer Kripo, da ist es ganz egal, wo du aufgewachsen bist. Selbst wenn man wie ich aus Dalarna stammt.«

»Na, wunderbar, ich dachte, du bist unser Türöffner.« Maya klickte den Mailaccount auf ihrem Handy an. »Ah, hier sind die Infos, von denen Lasse gesprochen hat. Mats Anderberg ist verheiratet, seine Frau Idun stammt aus Uppsala, sie arbeitet als Krankenschwester. Kinder haben die beiden keine.«

»Lasse sagte, ein Mädchen habe die Leiche gefunden?«

»Richtig.« Maya scrollte in der Mail nach unten. »Frida Nordström heißt sie. Neun Jahre alt. Sie war auf dem Heimweg von der Schule. Der Tote lag im Unterholz, neben dem Weg.«

»Hoffentlich ist sie an einen einfühlsamen Kollegen geraten. Manche da oben können ganz schön raubeinig sein.« Pär schwieg einen Moment. »Zurück zum Fall: Der Tote lag also im Unterholz, erschossen – steht dazu noch mehr in Lasses Nachricht?«

Mayas Augen flogen über den Text. »Der anwesende Rechtsmediziner, ein Christoffer Hall, hat einen Jagdunfall ausgeschlossen. Vor Ort sollen wir uns an einen Hilding Elofsson wenden. Er erwartet uns im Polizeirevier von Östersund.«

Überrascht stellte Pär den Kaffeebecher, aus dem er gerade trinken wollte, wieder auf den Tisch. »Ich dachte, die Abteilung für Schwerverbrechen in Östersund wird von einer Frau geleitet?«

»Keine Ahnung.«

»Warte mal kurz.« Er klickte auf seinem Handy herum. »Ah, hier steht es ja. Siehst du, ich wusste es doch: Tova Salomon.«

»Seltsam. Eigentlich müsste sie doch bei einem solchen Fall präsent sein.«

»Vielleicht ist sie krank? Wir werden es sicher bald erfahren.« Pär wippte mit seinem rechten Fuß. »Welche Wochenendpläne zerschießt dir unser Einsatz im hohen Norden eigentlich?«

Maya schluckte den letzten Bissen ihrer Ciabatta runter. »Nichts Besonderes. Ich hätte eh Bereitschaftsdienst gehabt. Und bei dir?«

»Bloß ein Familiending.« Pär trank seinen Kaffee aus und zerknüllte den Becher. »Eigentlich wären Vera und ich heute zu Nina und Josh gefahren.«

»Wie alt ist die Kleine jetzt?«

»Fünf Monate.« Der Großvaterstolz strahlte aus seinen braunen Augen. »Ist schon Wahnsinn, wie die Zeit rast. Wenn ich Ada in den Armen halte, habe ich das Gefühl, es sei erst gestern gewesen, dass ich Tilda und Nina in den Schlaf gewiegt habe.«

»Oma würde ich auch gern irgendwann werden. Schade, dass man das mit dem Kind dazwischen nicht überspringen kann.«

Pär lachte auf. »Entweder … oder. Wenn es keine leiblichen Enkel sein müssen, könntest du dir ja auch jemanden suchen, der schon erwachsene Kinder hat. Dann kann das ganz schnell gehen.«

»Schnell geht bei mir in Beziehungsdingen gar nix, wie du weißt.«

»Was ist jetzt eigentlich mit deinem Schauspieler?«

»Jonas ist so was von gar nicht MEIN Schauspieler. Momentan ist er auf Tournee. Und was das bedeutet …« Maya pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Verstehe. Kein Thema für die nächsten Tage.« Demonstrativ fegte Pär ein paar Krümel vom Tisch. »So gesehen kommt dir also unser Trip nicht mal ungelegen – Tapetenwechsel, vielleicht noch ein kleiner Flirt mit ’nem flotten Jämtländer …«

»Nicht, wenn ich im Dienst bin! Ich habe meine Prinzipien.«

Sie feixten sich an.

Maya griff nach ihrer Umhängetasche. »Auf geht’s, Partner, unser Flieger wartet nicht.«

Schweißgebadet fuhr Sanna hoch. Wieder dieser Albtraum, schon das dritte Mal in dieser Woche! Sie schaute auf ihr Handy. Es war Viertel nach acht. Seufzend ließ sie sich in die Kissen zurücksinken. Doch sie wusste bereits, dass das mit dem Einschlafen nichts mehr werden würde. Stattdessen würden sich finstere Gedanken wie ein Krebsgeschwür in ihr ausbreiten. Sie versuchte es trotzdem, aber nach einer Weile gab sie auf. Ausgerechnet an einem Samstag!

Missmutig schlug Sanna die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Sie schlüpfte in ihre Fellpantoffeln, hüllte sich in ihren Morgenmantel und lief in die Küche. Rasch steckte sie eine Kaffeekapsel in die Maschine und trat ans Fenster.

Während sich der Kaffeeduft allmählich in der Küche ausbreitete, betrachtete sie die um diese Zeit noch menschenleere Straße. Die Katarina Bangata war etwas Besonderes. Zwischen den schmalen Fahrspuren befand sich ein breiter Mittelstreifen mit mehreren Baumreihen und einem Weg für Fußgänger und Fahrradfahrer. Auf dem sogenannten Skulpturenweg von der Götgatan bis zum Greta Garbos Torg passierte man acht Statuen verschiedener Künstler. Hier war the one and only Garbo als Mädchen immer zur Schule gelaufen. Wenn Sanna vom Küchenfenster aus auf die Straße sah, dachte sie oft über die ikonische Schauspielerin nach. Wie hätte sie wohl reagiert, hätte ihr in der Schulzeit jemand eine Weltkarriere prophezeit? Hatte sie schon damals die Einsamkeit gesucht wie in späteren Jahren? Und welche Monster hatte sie insgeheim mit sich getragen?

Sanna drehte sich um und ging zur Arbeitsfläche hinüber. Sie schäumte Milch auf und bereitete sich einen Cappuccino zu. Mit dem Kaffeebecher setzte sie sich auf die Bank neben dem alten Kachelofen, zog die Beine an, breitete eine Wolldecke über sich aus und griff nach einem Hochglanzmagazin, das vor ihr auf dem Küchentisch lag.

Doch heute langweilten sie die Reportagen über die neueste Mode, die angesagtesten Make-up-Trends und die Einblicke in Luxusvillen. Den Becher in den Händen haltend, überlegte sie, was sie mit den beiden freien Tagen anfangen wollte. Maya hatte Bereitschaftsdienst und Emely gab Kurse. Shoppingtour? Museumsbesuch? Im Fotografiska gab es eine Ausstellung über die Arbeiten der jungen chinesischen Modefotografin Chen Man, die sie noch nicht besucht hatte.

Mit einem Mal fühlte Sanna sich einsam. Ein Gefühl, das sie in den vielen Jahren, in denen sie nun schon allein lebte, nicht heimgesucht hatte. Im Gegenteil, sie hatte es immer genossen, niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Ihre Freiheit war ihr heilig. All die Händchen haltenden Paare hatte sie insgeheim müde belächelt. Von Familien ganz zu schweigen. Der bloße Gedanke, ihren Tagesablauf mit jemandem – womöglich gar mehreren Menschen – abstimmen zu müssen, ließ ihr den kalten Schweiß ausbrechen. Wenn sie beispielsweise an Clara mit ihren zahllosen Verpflichtungen dachte: Mutter von zwei kleinen Kindern, für die sie sich regelrecht aufopferte, unterstützte sie auch noch ihren Mann bei seinem Projekt, den elterlichen Hof auf biologischen Anbau umzustellen. Dabei war sie doch selbst mit ihrer Ponyreitschule voll ausgelastet. Wo blieben da Zeit und Raum zum Ausspannen? Mal etwas für sich zu tun – schier unmöglich. Für kein Geld der Welt hätte Sanna auch nur eine Woche mit Clara getauscht.

Woher kam dann plötzlich dieses Verlassenheitsgefühl? Seit Neuestem tauchten in Sanna regelmäßig Bilder auf, die sie so viele Jahre erfolgreich unterdrückt hatte. Von denen sie geglaubt hatte, dass sie niemals mehr die Oberhand gewinnen würden. Nun drängte mit einem Mal alles wieder hoch, und es wollte ihr nicht wie sonst gelingen, die Gefühle unter Kontrolle zu halten. Warum funktionierten ihre gewohnten Mechanismen nicht länger? Es war, als wäre in ihr ein Rädchen gebrochen, ein Seilzug gerissen, und jetzt spulten sich die Filmrollen mit den alten Erinnerungen ungehindert ab.

Sanna stellte den Becher auf den Tisch, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte den Kopf in die Hände. Sie schloss die Augen und atmete konzentriert ein und aus. Es hatte gutgetan, mit Maya zu reden. Auch wenn sie lediglich die Oberfläche angekratzt hatte. Zu mehr war sie gestern nicht in der Lage gewesen. Würde sie sich jemals jemandem anvertrauen können? Niemand kannte die tiefere Wahrheit, die unter allem in ihr schlummerte.

Das Gute an den Samstagen war, dass es keinen Wecker gab, der um halb sieben klingelte. Frida konnte ausschlafen, so lange sie wollte. In den Sommermonaten wachte sie meist trotzdem ganz früh auf, denn das Sonnenlicht fiel durch die Vorhänge und kitzelte sie an der Nase. Da sprang Frida immer putzmunter aus dem Bett und lief barfuß in den Garten hinaus, ewig, bevor Mama aus ihrem Zimmer kam. Doch im Winter schob sie das Aufstehen am Wochenende vor sich her. Solange es draußen finster war, drehte sie sich lieber noch mal um und versank in ihren Traumwelten.

Wohlig kuschelte sie sich in ihre Wolldecke, als schlagartig die Erinnerungen an den gestrigen Tag zurückkehrten. Der leblose Körper mit dem großen, dunklen, feucht glänzenden Fleck mitten auf dem Rücken – sie brauchte nur daran zu denken, und sofort sah sie alles wieder vor sich. Rasch presste sie ihr Kuschelreh an sich.

Gestern Abend war Mama bei ihr geblieben, bis sie eingeschlafen war. Jetzt wollte Frida am liebsten zu ihr hinüberlaufen und in ihr Bett kriechen, doch sie traute sich nicht aufzustehen. Stocksteif blieb sie unter der Decke liegen.

Der Polizist, der mit ihr gesprochen hatte, war nett gewesen. Er hatte gesagt, dass Frida sehr mutig gehandelt hätte. Und dass sie alles tun würden, um den Täter zu fassen. Sie solle aber in den nächsten Tagen besser nicht allein in den Wald gehen. Er hatte ihr eine Menge Fragen gestellt. Ob sie den Mann gekannt hätte, zum Beispiel. Mats Anderberg – als Frida seinen Namen gehört hatte, da waren ihr sogleich die Plakate eingefallen, die ab und zu in der Stadt hingen. Allerdings hätte sie das Bild des Mannes darauf mit dem Lachen, das auf sie immer irgendwie falsch gewirkt hatte, nicht mit der Gestalt in Verbindung gebracht, die dort zwischen den Tannennadeln lag. Mats Anderberg. Warum hatte man ihn getötet? Wieso taten Menschen einander solche schrecklichen Dinge an? So viele Fragen, die Frida im Kopf herumschwirrten. Die ihr der Polizist, Hilding hieß er, nicht beantworten konnte.

Wie es sich wohl anfühlte zu sterben? Die Vorstellung, dass man irgendwann nicht mehr da war, fand sie ganz komisch. Ging es dann irgendwo anders weiter? In der Schule hatten sie über die Sache mit dem Himmel und der Hölle gesprochen. Mama hatte gesagt, das sei Quatsch. Aber irgendwas musste doch danach kommen!

Um sich abzulenken, griff Frida nach dem Buch auf ihrem Nachttisch. Eine Geschichte über ein Mädchen mit magischen Kräften, das sein Pony jede Nacht in einen Pegasus verwandelte und mit ihm zusammen Abenteuer erlebte. Frida träumte davon, auch einfach so wegfliegen zu können. Erst als sie Mama in der Küche mit dem Geschirr klappern hörte, klappte sie das Buch zu und kroch aus dem Bett.