Im Leben nebenan - Anne Sauer - E-Book

Im Leben nebenan E-Book

Anne Sauer

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Beschreibung

Wie wäre das Leben verlaufen, hätte man die eine entscheidende Abzweigung nicht genommen? Eines Morgens erwacht Toni nicht wie gewohnt neben ihrem langjährigen Freund in ihrer kleinen Altbauwohnung, weil die Dielen knarren und die Nachbarn viel zu laut sind. Nein. Zu ihrer Verwunderung befindet sie sich in einer großzügig geschnittenen Wohnung. Alles hell, ordentlich, teuer eingerichtet. Und der Blick aus dem Fenster? Seltsam vertraut. Antonia versteht: Sie ist wieder in dem Dorf ihrer Kindheit. Nach und nach erfährt sie, dass sie hier ein beschauliches Leben führt, bürgerlich geordnet, mit Auto vor der Tür, Schwiegermutter nebenan und Kind auf dem Schoß. Kind auf dem Schoß? Antonia kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ist das etwa ihr Baby? Und der Vater dazu? Offenbar ihre erste große Liebe – ein Mann, den sie nie ganz vergessen konnte. Anne Sauer erzählt davon, wie das eigene Leben verlaufen könnte, hätte man die eine entscheidende Abzweigung nicht genommen. ‹Im Leben nebenan› spiegelt zwei Lebensszenarien einer jungen Frau, erzählt im Wechsel von zwei Versionen eines Lebens und nimmt dabei mit gebotenem Humor, Gefühl und Leichtigkeit den Horror von gewollter und ungewollter Mutterschaft in den Blick: das große Glück mit Kind, aber auch: ohne Kind zu leben.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 295

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

»Antonia ist nicht verrückt. Sie ist einfach nur eine kinderlose Frau, die heute mit einem Baby aufgewacht ist. In einer Wohnung mit gebügelten Gardinen und akkurat gefliestem Bad. Verheiratet mit ihrer ersten großen Liebe.

Das glaubt mir doch niemand, ahnt sie jetzt.

Niemand wird ihr glauben.«

 

Eine junge Frau erwacht eines Tages in einem anderen Leben: nicht mehr in der kleinen Stadtwohnung mit ihrem langjährigen Partner, nein, im Heimatdorf mit ihrer Jugendliebe und Baby auf dem Schoß. Wäre ihr Leben etwa so verlaufen, hätte sie die eine entscheidende Abzweigung nicht genommen?

In ihrem Romandebüt erzählt Spiegel-Bestseller-Autorin Anne Sauer in einer klugen Was-wäre-wenn-Story davon, wie es gehen kann: zwischen Abschied und Schmerz Glück zu finden.

 

»Anne Sauer zu lesen ist wie Serie schauen: mitreißend und süchtig machend!« Ruth-Maria Thomas

»Mit beeindruckender Konsequenz, Einfallsreichtum und Verve verwebt Anne Sauer beklemmend und präzise, abgründig und soghaft ein Frauenleben mit und ohne Kind. Dieses Buch erzählt berührend und sehr überraschend von Sehnsucht, Freiheit und Zumutung.« Maria-Christina Piwowarski

Anne Sauer

Im Leben nebenan

Roman

Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, dass ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will.

Marlen Haushofer, Die Wand

I need my empty halls to echo with grand self-mythology

’Cause I am no mother, I am no bride,

I am king

Florence + The Machine, King

Ich verlasse den Schreibtisch, lächele meine Kollegin an. »Bin gleich wieder da.« Niemand sonst ist im Raum, als ich die Toilettentür zuziehe, schon ganz zittrig den Riegel vorschiebe. Niemand kriegt mit, wie ich meine Jeans aufknöpfe, wie ich beim Anblick des rotbraunen Streifens auf dem Slip sofort die Augen schließe.

 

Warum ist da jetzt

Blut.

 

Im Hals nur Enge. Bitte, bitte nicht. So vorsichtig war ich doch, warum ist da jetzt, noch ein Krampf, stärker dieses Mal, meine rechte Hand an der Wand, die andere vor den Mund gepresst, Tränen, Spucke, ein Stöhnen, alles will raus, ich laufe über vor Schmerz. Unter meinen nackten Schenkeln nur die kalte Klobrille. Und dann, dunkelrote Klumpen auf weißem Porzellan.

 

Niemand hört, wie ich weine, niemand kriegt mit, wie ich versuche, mein Blut vom Körper zu wischen. Einmal, noch einmal, Papier abreißen und wischen, abreißen und wischen, weil da so viel ist, so viel Rest. Ich wische, bis nichts mehr an mir klebt, keine Hoffnung, keine Vorfreude. Und dann ist endlich alles weg.

 

Wie soll ich wieder rausgehen, so leergelaufen. Wie soll ich mich wieder hinsetzen, wie soll ich weiterarbeiten, wie funktionieren. Wie. Wie sagen, dass alles okay ist, obwohl ich es nicht halten konnte. Nicht mehr halten werde. Verloren. Abgestoßen. Runtergespült.

 

Ich werde eine Nachricht schreiben müssen. Einen Termin vereinbaren. Mich wieder hinlegen und untersuchen lassen, kühles Gel auf meinem Unterleib spüren, das Schweigen der Ärztin aushalten, bevor sie mir bestätigen wird, was ich ohnehin schon weiß:

Was elf Wochen lang in mir gewachsen ist, ist jetzt weg.

1

Dieses Baby gehört mir nicht.

Auf Antonias Brust liegt ein kleiner, flaumiger Kopf, der sich mit ihrer Atmung sachte senkt und hebt. Ein winziger Arm klammert sich an die Seite, der andere klebt unter dem Babykörper, der kaum etwas wiegt und bedrückend viel Wärme ausstrahlt. Dieses Baby gehört mir nicht, denkt sie wieder. Sie atmet ein, schließt noch einmal die Augen, atmet aus. Das muss ein Traum sein. Gähnend reibt sie sich über das Gesicht und wartet, dass die Sicht verschwimmt. Rechnet jede Sekunde mit der Realität. Das Traumbabykörperding rutscht ihr seitlich von der Brust, Antonia lässt es rutschen, denn gleich wacht sie sicher auf. Doch dann schlägt das Baby seine dunklen Augen auf, holt Luft, es vergeht nur eine Sekunde zwischen Himmel und Was-zur-Hölle, es schreit, und Antonia ist hellwach.

1

Es ist der Sex von oben, der sie aus dem Schlaf holt. Das rhythmische Quietschen irgendeines Ikea-Lattenrostes, das halbherzig unterdrückte Stöhnen ihrer Nachbarin. Toni tastet nach ihrem Handy, es ist noch nicht einmal halb acht. Für einen Moment glaubt sie, die Geräusche noch eine Weile ignorieren zu können, bis sie kurz vorm Höhepunkt dann doch aufgibt. Sie zieht den einen Ohrstöpsel heraus, den anderen hat sie wohl schon nachts verloren. Das Wasser von gestern Abend schmeckt schal, sie trinkt das Glas trotzdem in einem Zug aus, bevor sie ihr Telefon aus dem Flugmodus erlöst. Keine neuen Nachrichten. Sie dreht sich zu Jakob, legt sich ganz nah an seinen Rücken, riecht den noch warmen Schlaf in seinem Nacken. Küsst ihn sanft entlang der feingliedrigen Silberkette, die er auch nachts nie ablegt. Mit der Nasenspitze spürt Toni seine Haut durch das kleine Loch im Kragen seines Schlafshirts. Über ihr ist es jetzt ganz still, bis dumpfe Schritte das Bett in Richtung Bad und Küche verlassen. Sie hört deutlich, wie der Nachbar über ihrer Schlafzimmerdecke den Wasserkocher mit Leitungswasser befüllt, auf die Station zurückstellt und den Hebel umlegt. Dann das Klirren der Tassen, bevor er eine davon auf der Arbeitsplatte platziert. Toni schließt noch einmal die Augen, sie weiß, was als Nächstes kommt. Das Geräusch der elektrischen Kaffeemühle, die sich energisch durch die Bohnen beißt. Einer der ganz wenigen Sounds, die sie schon frühmorgens mag.

Sie liebt ihre Wohnung, schönste Dielen, günstige Miete. Ein Glücksgriff, den die beiden schon seit Jahren ihr Zuhause nennen. Zeit gelassen hatten sie sich, mit dem Zusammenziehen. Während ihre Freundinnen und Bekannten sich mutig in das nächste Level ihrer Beziehungen stürzten, führten sie jahrelang eine zwischen viel zu weit entfernten U-Bahn-Stationen. Sie schlief zu gerne allein und er war zu oft unterwegs. Und sie brauchte ihren Freiraum. Es graute ihr vor der Langeweile im Alltag zu zweit, vor Mundgeruch am Morgen und sinnlosen Streits über falsch eingeräumte Spülmaschinen. Niemals sollte ihre Liebe nur praktisch, nur die Folge von logischem Abwägen sein. Sie wollten nicht zusammenziehen, um Zeit und, im besten Fall, auch Geld zu sparen. Es sollte nur dann passieren, wenn die Vorstellung, ohne einander zu sein, nicht mehr auszuhalten wäre. Sie hielten es für Schicksal, als ihnen ihre Wohnung zugespielt wurde. Groß genug für sie beide und gerade noch bezahlbar. Es musste Bestimmung sein. In dieser Stadt, bei diesem Wohnungsmarkt. Zum ersten Mal in ihrem Leben leistete sich Toni ein Umzugsunternehmen. Gemeinsam mit Jakob baute sie feierlich Schränke und Regale auf, räumte Bücher, Platten und Klamotten ein, ließ neue Lampenschirme monatelang in der Ecke stehen und ärgert sich heute nur noch manchmal über achtlos vergessene, noch feuchte Handtücher auf dem Bett oder Bartstoppeln auf ihrem Puderpinsel. Sie füllten ihre drei Räume nach und nach mit sich selbst, breiteten sich aus, legten sich im Sommer auf den Dielenboden und im Winter unter drei Decken ins Bett. Sie streiften durch ihr neues Viertel, gingen auf ihrer Route mal links-, manchmal rechtsherum. Heute weiß Jakob schon zehn Meter vorher, wann Toni die Straßenseite wechseln will. Die Speisekarte des teuren Italieners, die im Glaskasten neben der Eingangstür hängt, kennen sie auswendig. Dort essen waren sie noch nie.

»Wenn es die Wohnung nur ohne vögelnde Nachbarn gäbe.«

»Vielleicht doch zurück aufs Dorf ziehen.« Ein kleines Häuschen mit Vorgarten, in dem sie an den Wochenenden knien und Blumenzwiebeln pflanzen würden. Wo die Nachbarn nicht hinter der Schlafzimmerwand, aber hinter Hecken lauern würden. Leise wäre es aber.

Einige Meter weiter, am anderen Ende ihrer Wohnung, wird die Tür von gegenüber lautstark aufgerissen, zugeschlagen und gleich wieder aufgerissen. Toni schreckt auf, muss wohl noch einmal eingenickt sein, denn die Familie nebenan verlässt nie vor halb neun das Haus. Sie löst sich von Jakob, der sich nun auch langsam ins Wachsein kämpft. Ganz zaghaft weicht ihm der Schlaf aus den Gliedern, der letzte Traum löst sich auf im Nichts. Aus dem Hausflur dringt jetzt das Kindergeschrei zu ihnen durch, es sind die Zwillinge, die wie jeden Tag nicht in die Kita wollen. Sie hören auch das Muttergeschrei, das mit Schuheanziehen und Jackeanziehen und Aufstehen-bitte und Wie-oft-muss-ich-euch-noch dagegenhält. Ein letztes Mal fällt die Tür der Nachbarn scheppernd ins Schloss, abgeschlossen wird nie. Keine Zeit, sie sind wie immer spät dran, poltern schnell die Treppe hinunter, auch auf der Straße entkommt niemand dem Gezeter.

Toni seufzt, knipst die Nachttischlampe an, die leicht flackernd immer heller wird. Nacken dehnen links, Nacken dehnen rechts, wann ist Schlafen eigentlich so anstrengend geworden. Dreimal war sie nachts aufgewacht. Die Arbeit der letzten Wochen immer noch laut aufgedreht in ihrem Kopf. Heute ist ihr erster freier Tag, von dem sie noch nicht weiß, was sie mit ihm macht. Nur vom ersten Kaffee weiß sie, dass sie ihn jetzt kochen will.

In der Küche ist es noch dunkel und kalt, nur widerwillig schaltet Toni das Deckenlicht an, erspäht im Gelbstich der Glühbirne das vergessene Stillleben von gestern Abend. Gähnend räumt sie die eingeweichten Teller in die Spülmaschine, auch die Pfanne mit dem angetrockneten Soßenrand. Auf dem schmalen Tisch noch die zwei Weingläser, ihres leer, seins mit Rest. »Der ist nicht mehr gut, schmeckt drüber«, hatte Jakob gesagt, beim Schlucken leicht die Nase gerümpft, während Toni ihren Beerensaft trank. Es war ihr erster gemeinsamer Abend seit Wochen, an dem er endlich mal nicht auf Reisen war. Mit Koffergepolter zwängte er sich durch die Tür, schmiss Rucksack und Jacke in den freien Raum zwischen Wand und Wäscheständer. Zwischen seinem »Hi« und dem ersten Kuss sein übliches Schimpfen auf den riesigen Kinderwagen unten im Treppenhaus.

»Bis ihr so weit seid, sind wir ausgezogen«, hatte die Zwillingsmutter von nebenan einmal gelacht, während sie den breiten Wagen in die einzig freie Treppenhausparklücke manövrierte. Wie sie so selbstverständlich davon ausging. Ein junges Paar: Was sollten sie auch sonst tun mit ihrer Zukunft.

Toni lässt ihre Schultern kreisen, wartet darauf, dass sich der Kaffee auf dem Herd erhitzt. Ihr Blick fällt auf den Fettfleck an der Wand, knapp über der Bodenleiste. Denkt an die Flasche Olivenöl, die ihr damals aus der Hand gerutscht ist, denkt an Jakob, wie er die Scherben vom Boden aufgelesen hat. Erinnert sich, wie er die Nachbarin nach Öl fragen wollte und beim Öffnen ihrer Wohnungstür das Heulen der Zwillinge durch den Hausflur hallte.

»Weißt du, was richtig gut wäre? So ein Probemonat. Baby-Abo abschließen, bisschen ausprobieren und alles mitnehmen, was Spaß macht«, hatte sie gesagt, während er das Öl von der Nachbarin in die Pfanne tröpfeln ließ. »Parenthood Prime! Und wenn’s nervt, wieder: Ciao!«

Sie hatten beide gelacht, Toni hatte an ihrer Schorle genippt, wurde dann ganz still. Sie hatte Jakob betrachtet, wie er die Carbonara zusammenrührte. Hatte ihn sich vorgestellt, so als Vater. Wie er mit Baby in der Trage durch die Stadt flaniert, diesem niedlichen Accessoire, das ihn im Ansehen der anderen sofort nach oben heben würde. Augenringe und Dreitagebart, ein junger Papa, der sich kümmert. Der seiner Partnerin Arbeit abnimmt, obwohl es zu fünfzig Prozent sowieso seine ist. Wie er nicht so werden will wie die Väter, die Sätze sagen wie: »Es ist so schön, wenn sie ihre Stimme entdecken.« Oder: »Wenn du erst mal Kinder hast, dann.« Sie hatte sich neben den in der Pfanne umherrührenden Jakob gestellt, ihren Kopf auf seiner Schulter, den duftenden Soßendampf im Gesicht.

»Wir würden das schon irgendwie meistern. So im Team halt«, hatte er dann plötzlich in Richtung Nudelpfanne gemurmelt. Hellhörig hatte sie ihr Kinn aufgestützt, sofort gemerkt, wie irgendetwas in ihr kippte.

»Ich hab nur Angst, dass es was mit uns macht. Dass wir uns dann gar nicht mehr wieder erkennen.« Und ich hab Angst um unsere Liebe, hatte sie heimlich hinterher gedacht. Dass ein Kind Seiten in mir weckt, die du hassen wirst.

»Aber das kann uns ja immer passieren, auch ohne Kind.«

Als der Espressokocher vor sich hin röchelt, erlöst ihn Toni von der heißen Platte. Erwärmt noch kurz die Milch, mag nicht mehr an den Fettfleck denken, stellt zwei ungleiche Tassen auf den Tisch, will nicht mehr das Kindergespräch von damals im Kopf haben und auch nicht ihren nächsten Termin bei der Gynäkologin. Sie kippt den letzten Schluck der Weinschorle zu den aufgeweichten Essensresten in den Abfluss und denkt dabei natürlich doch an alles. Sie dreht am Hahn, lässt klares Wasser den sauren Geruch wegspülen, gießt erst die Milch, dann den Kaffee in die Tassen, als Jakob gerade in die Küche kommt.

Und Toni hält sich fest an diesem Anblick. Wie er dasteht, wie er müde lächelnd und mit abstehendem Haar am Türrahmen lehnt und sein erster Blick des Tages nur ihr allein gehört.

2

Sie liegt nicht in ihrem Bett, sondern auf einem Sofa. An ihrer Seite zetert ein Baby, das gerade eben noch schlief. Auf ihr. Jetzt weint es und schreit, besteht nur noch aus einem einzigen, anklagenden Brüllen. Antonia hebt den Blick, wartet, dass jemand in dieses Zimmer kommt, dieses Kind beruhigt, besänftigt. Wartet auf die Mutter. Doch in der Wohnung bewegt sich nichts, nicht mal sie selbst. Sie starrt nur weiter auf den in Rosa-Beige verpackten, bebenden Babybauch, auf die wütend geballten Fäuste und die knubbeligen Beine, die wild entschlossen durch die Luft treten. Ein Fuß ist nackt, am anderen hängt nur noch an zwei Zehen die kleinste Socke der Welt. Antonia blinzelt, löst sich endlich aus der Schockstarre und schiebt ihre Hände sachte unter den schmalen Rücken, erinnert sich an diesen Kopfstützgriff, damit die kleine Wirbelsäule nicht reißt. Sie hebt das erhitzte kleine Babypaket hoch, das Weinen ebbt ab. Ergeben sackt der Kinderkopf nach vorne, verneigt sich mit sehnsüchtigem Stieren vor Antonias Brust. Sie zieht es näher zu sich heran und lässt es über ihre Schulter gucken, imitiert intuitiv, was sie so oft beobachtet hat. Eine Hand legt Antonia unter den kleinen Po, die andere tätschelt vorsichtigängstlichberuhigedichwasmacheichhier den Rücken. Wo ist sie hier? Als großes behäbiges Gebilde stehen sie ganz langsam auf und ein Schmerz durchzieht Antonias Unterleib. Sie stöhnt und krümmt sich, atmet scharf aus. Und doch verlassen sie irgendwann in Zeitlupe die riesige Sofaliegewiese, die überwachsen ist mit einem Dickicht aus Stoff-, Feucht- und Taschentüchern. Wie eine Knospe sprießt ein Schnuller aus der Ritze, langsam, auf jede schmerzhafte Bewegung bedacht, pflückt sie ihn, pustet ihn kurz ab, weiß gar nicht, ob das erlaubt ist, und hält ihn dem Baby vor die Nase wie ein Probierhäppchen am Buffet. Sie stupst die feucht glänzenden Lippen an, das Kind geht in die Falle, saugt die Kunststoffzitze ein und nuckelt zufrieden drauflos. Baby erfolgreich zugestöpselt. Antonia atmet tief durch und wagt dann einen Schritt in den fremden Raum, der sich ihr entgegenstreckt. Unter ihren zaghaften Schritten beginnt kühles Holz zu knarren. Vor einem hell marmorierten Tisch bleibt sie stehen, begutachtet zuerst die Bücher, die sich darauf stapeln, Babyratgeber, Elternratgeber, Kindergesundheitsratgeber. In der Mitte des Tisches thront so ein Liegewippding, an dessen Tragegriff ein halber Plüschzoo baumelt. Vorsichtig legt Antonia das Kind in den gepolsterten Sitz, beim Nachhintenkippen streicheln Löwe, Pinguin und Giraffe den kleinen Kopf. Das Baby starrt in die Luft, bleibt ruhig. Dann entdeckt sie einen Schreibblock, Seite für Seite bedruckt mit einer Art Stundenplan, Kästchen für Kästchen akribisch ausgefüllt. Schlafen, stillen, baden. Sie blättert um, versucht, die in die Lücken gequetschten Zeiteinheiten zu entziffern. Die anfangs sorgfältige Schrift lässt auf Seite zwei schon nach. Hat Antonia das so eingetragen? Oder war das –

Jakob. Natürlich. Er muss doch hier irgendwo sein, Antonia, schau dich um. Und Antonia dreht sich um, sieht wieder das Sofagrauen, an der Wand darüber ein Mosaik aus ordentlich gerahmter Kunst. Schnell weiterdrehen. Großgewachsene Pflanzen in noch größeren Keramiktöpfen und Kerzen in allen Nuancen von Beige in mattschwarzen Ständern, den Blick noch weiter schweifen lassen, endlich, ein Regal. Ein Regal mit wenigen Büchern und reihenweise Bilderrahmen. Fotografien, auf denen eindeutig Antonia zu sehen ist, nur selten alleine, dafür oft mit einem Mann an ihrer Seite. Der nicht Jakob ist. Sie blinzelt mehrmals, doch das Gesicht bleibt das gleiche. Antonia erkennt einen, den sie schon als Teenager kannte, jahrelang liebte und mit einundzwanzig verließ. Auf einem der Fotos trägt sie weiß, sie leuchtet und strahlt, einen Blumenstrauß wie eine Trophäe in die Luft gereckt. An ihrer anderen Hand: Adam. Direkt daneben steht eine gerahmte Nahaufnahme ihrer Hände, die sich elegant aneinanderschmiegen, eine zarte Verbundenheit, die Ringe glänzend in Sonnenlichtszene gesetzt. Antonia überprüft ihre Hände. Ein goldener Ring umklammert tatsächlich ihren rechten Ringfinger.

Als sich Antonia streckt, um eines der anderen Bilder vom Regal zu nehmen, wird aus dem Ziehen in ihrem Unterbauch ein Reißen, klappt sie einfach so zusammen. Sie entlässt den Bilderrahmen aus ihrem Griff, er fällt zu Boden, und natürlich zerspringt das Glas. Da liegt es nun, das junge Paar. Ihr wird übel und heiß. Mit geschlossenen Augen stützt sie sich am Regalbrett ab. Wasser, denkt sie, bevor der Schwindel sie auf alle viere zwingt. Sie krabbelt, aus dem Wohnzimmer auf den Flur, schaut sich schwer atmend um wie ein verwundetes Tier. Wo ist das Bad in dieser übergroßen Wohnung? Ihre Knie schubbern über das harte Holz, alles ist Schmerz und Verwirrung. Vorsichtig drückt Antonia gegen eine der Türen, zieht sich in Zeitlupe am Türgriff hoch, dahinter grau gefliestes Eigenheim-Glück. Sie sieht die geräumige Eckbadewanne, die ebenerdige Dusche mit dunkler Armatur, cremefarbene Handtücher über einem breiten Trockenständer. Sie betritt den Raum, dreht sich um, sucht sich im Spiegel. Da ist sie, die blonden Locken in einen losen Dutt gewickelt, eine fettige Strähne hängt ihr sehnig über der Schulter. Sie ist blass, sieht aus wie ausgesaugt. Die Lippen spröde, ein kurzer Kratzer ziert ihr Kinn. Antonia dreht den Wasserhahn auf und trinkt, schluckt gierig und spritzt sich Wasser ins Gesicht. Mit beiden Händen stützt sie sich auf das Waschbecken, lehnt sich leicht dagegen. Einatmen, ausatmen. Der Schmerz weiter unten ist noch da, pocht gegen das kühle Porzellan. Sie blickt an sich hinunter, erst jetzt fällt er ihr auf, der gewölbte Bauch. Sie greift nach dem Saum ihres T-Shirts, hebt den Stoff hoch. Beugt sich nur ein Stück vor, erkennt nicht alles, schaut geradeaus in den Spiegel und sieht: Ein braungelb verfärbtes Stück Haut, geschwollen, knapp oberhalb des Schambeins. Mitten im Hämatomgemälde: eine lange Narbe, die Antonia hämisch grinsend in zwei Hälften teilt.

Sie hört ein Geräusch aus dem Wohnzimmer, sie dreht den Kopf, dann ein Wimmern, das in ihr eigenes einstimmt. Verlässt taumelnd den verspiegelten Raum, hat keine Zeit mehr zu verharren, zu verlieren. Antonia eilt widerwillig und doch so schnell wie möglich zu dem Baby, das quengelt, sich windet und streckt. Auf dem Boden liegt er, der ausgespuckte Schnuller. Ein Vorwurf aus fleischfarbenem Kautschuk. Das Knotterkind lässt sein Gesicht rot anlaufen, die Lippen sind fest zusammengepresst, ganz seltsam windet sich der kleine Körper. Dann hört Antonia den Pups, langgezogen und erleichternd. Plötzlich wieder munter, wedelt das Baby mit den Armen, als würde es sich selbst applaudieren. Dirigiert Antonias Blick weg von sich, lässt sie weiter durch die Wohnung wanken. Zu der Wand mit deckenhohen Fenstern, wo sie die schweren sandfarbenen Gardinen zur Seite wuchtet. Jede Bewegung ein brennender Schmerz in der Narbenregion. Sonnenschein dringt ein, verhüllt ihr die Sicht, es dauert einige Sekunden, bis sie versteht: Das ist ihr Heimatdorf, da draußen. Antonia erkennt die Straßenecke, den Spielplatz. Hinter der Kurve kommt der Bäcker, der mit den guten Laugenbrezeln und den Quarktaschen, die zur Sonntagssuppe am besten schmecken. Sie weiß genau, wo sie ist. Nur warum, das weiß sie nicht. Antonia fasst nach dem Baby in seiner Wippe, hebt es heraus und starrt ihm ins Gesicht. Inspiziert Nase, Kinn, Stirn und Ohren, die gekräuselten Lippen, schaut dem Kind direkt in die dunklen Augen. Sie hat von Frauen gelesen, die für verrückt gehalten wurden. Die ihre Kinder leugnen, abstoßen, sich selbst entziehen müssen aus diesem Katastrophenzustand. Postnatale Depression. Dann wird eingewiesen, Verständnis vorgaukelnd zugehört, Pillen werden verabreicht, Rücken getätschelt, mit Komm-zurück-ins-Familienglück gelockt. Du bist jetzt Mutter. Du gewöhnst dich dran. Doch Antonia ist nicht verrückt. Sie ist einfach nur eine kinderlose Frau, die heute mit einem Baby aufgewacht ist. In einer Wohnung mit gebügelten Gardinen und akkurat gefliestem Bad. Verheiratet mit ihrer ersten großen Liebe.

Das glaubt mir doch niemand, ahnt sie jetzt.

 

Niemand wird ihr glauben.

2

Toni leckt sich den Popcornzucker von den Fingern, bevor sie sich zu Jakob auf den Boden legt. Nur kurz die Beine ausruhen. Sie dockt ihre Stirn an seiner Schulter an, verhakt ihre Füße mit seinen, beide schweigen. Den ganzen Sonntag hatten sie miteinander verbracht. Spätes Frühstück, Haushalt, ein Spaziergang durch die halbe Stadt, Kino. Am liebsten gingen sie tagsüber, wenn wenig los war. Verließen es genau rechtzeitig, wenn es sich lärmend für den Abend füllte. Bis zum Ende des Abspanns saßen sie im Saal, drückten sich wortlos aus den roten Sesseln, blieben draußen vor dem Kino stehen und fingen erst da an zu reden. Die Kamera, der Schnitt, was für eine Schauspielleistung, das Ende hab ich nicht gerafft, du?, sprudelte es aus ihnen heraus, während in Tonis Hand noch die Popcorntüte baumelte. Den Film heute hatte sie ausgesucht, sie hatte noch einen gut. Haare schneiden für Jakob, Gratiskino für sie, das war ihr Deal. Etwa alle acht Wochen saß er nur in Boxershorts auf dem Küchenstuhl, die weißen Sportsocken in den Hauslatschen und um seine Schultern ein Handtuch, während Toni ihm mit konzentriertem Blick so etwas wie eine Frisur verpasste. Er schloss entspannt die Augen, wenn sie ihm mit Fingern und Kamm durch die Haare fuhr, die nassen Strähnen scheitelte und schnitt. Verzieh ihr, wenn sie mit der Schere aus Versehen seine Haut streifte. »Wie hättest du es denn gern?«, fragte sie vorher. »Wie immer, was es halt wird«, sagte er dann. Zum Schluss rasierte sie ihm vorsichtig den Nacken aus, pustete Härchen weg und drückte ihm einen erleichterten Kuss hinters Ohr, wenn es geschafft war.

Sieht doch ganz gut aus, denkt sie jetzt, vielleicht ihr bisher bestes Werk. Der kleine Patzer fällt kaum auf, sie spürt ihn nur, während sie Jakob durch die Haare streichelt. Toni liebt es, ihn anzusehen. Wenn sie ihn dann fragt, an was er so denke, denkt Jakob angeblich an nichts. So unbedingt wollte sie das auch können: einfach mal an nichts denken, nur liegen und atmen und sein. Sich selbst aushalten. Ohne dass irgendetwas ziept. Wenn es zwischen ihnen still war, so wie jetzt, während sie auf dem Dielenboden lagen, ihr Gesicht nah an seinem, seine Augen zu und die genau richtig warme Sonne auf seiner schönen Nase, den Lippen und der Stirn, dann war es in Tonis Kopf trotzdem selten leise. Manchmal ging sie in Gedanken schon durch, was sie als Nächstes tun würde, dass sie beim Gang in die Küche gleich die Kaffeetassen und das Glas und dann noch den Staubsauger aus der Ecke, und dass sie dort das abgestandene Wasser in die Pflanze, bevor sie also Tassen und Glas … Manchmal dachte sie auch an Gespräche und Unausgesprochenes, sie dachte an dieses eine Video bei Instagram, dessen Sound sie einfach nicht mehr loswurde. Oder sie dachte daran, dass es ihr Angst machte, wenn Jakob »nichts« sagte, dass er doch bestimmt an irgendetwas denken musste, und was ihn dazu brachte, sie einfach so, ohne zu zögern, nicht daran teilhaben zu lassen. Sie küsst seine aufgewärmte Schläfe und bleibt noch für drei, vier Sekunden an ihm dran, denkt weder an Tassen noch an Pflanzen, sondern an alles, was Jakob für sie ist.

Toni fragt leise »Willst du auch einen Tee?«, will sich auf den Rücken drehen. »Nee«, flüstert Jakob zurück, zieht sie noch ein bisschen fester an sich ran. »Nur noch fünf Minuten.«

 

Als sie jünger war, dachte Toni, man müsste den einen Menschen finden. Dass es einen gäbe, den Richtigen, den sie heiraten würde, Haus, Kinder, volles Programm. Eine Vorstellung von Romantik, die jedes Verlieben mit Erwartungen erstickte und ihr vor allem immer wieder vermittelte: Das war es noch nicht, dein Happy End. Fang von vorne an, du Liebesloserin. Viele Trennungen später hielt sie nichts mehr von Happy Ends, von richtig und falsch. Toni war nicht bitter, sie war bloß älter geworden. Hob abwehrend die Hände hoch, wenn ihr Freund Eddi die Augen verdrehte und ihr lachend vorwarf, dass sie ihren Sinn für Romantik verloren habe. Das sei doch alles nur progressive Pose, unterstellte er ihr. Jeder glaube doch insgeheim an die eine große Liebe. Sie musste schmunzeln. Sie war die zweitgrößte realistische Romantikerin, die sie kannte, gleich hinter Jakob, denn der sagte Sätze wie: »Ich glaube nicht an Schicksal, ich entscheide mich jeden Tag aufs Neue für uns.« Ihr Zusammenbleiben war fordernd. Ihre Liebe verlangte eine andauernde Instandhaltung, ein gegenseitiges Prüfen und Einander-Versichern, dass ihre Zukunftsvorstellungen noch ineinandergriffen, dass der Motor noch lief.

Wie es sich anfühlte, wenn so eine Maschine plötzlich stehen blieb, wenn sie von jetzt auf gleich einfach aufhörte zu laufen, wusste Toni, seit sie zweiundzwanzig war. An der kalten WG-Tapete hatte sie gelehnt, steif im rechten Winkel auf dem Ausklappsofa gesessen und die Beine in der Wollstrumpfhose von sich gestreckt, während ihr Freund neben ihr mit ihr Schluss machte. Sie nicht einmal ansah, als er sagte, ihre Beziehung sei »Arbeit« geworden. Dann hatte Toni die Beine zu sich herangezogen, sich vor ihm eingeklappt und stumme, hilflose Tränen auf ihre Knie geflennt. Damals dachte sie, es sei ihre Schuld. Dass sie anstrengend sei. Heute weiß sie es besser. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich von dem Schock erholt hatte, dass dieser Typ, der das dünne Haar mittlerweile schulterlang und einen komischen Schnurrbart trug, eben nicht der Richtige für sie gewesen war. In unregelmäßigen Abständen gab Toni die Namen ihrer Ex-Freunde bei Google ein, zumindest von denjenigen, auf die sie ab und zu noch sauer war. Zu keinem hatte sie noch Kontakt, warum auch. Adam war die Ausnahme. Mit ihm hatte sie sich alles-alles vorgestellt, ausgemalt, sogar mit potenziellen Kindernamen. Wenn es ein Mädchen wird, dann. Sie waren sechzehn, sie wussten alles und wirklich überhaupt nichts.

Jakob kam, als sie schon längst gelernt hatte, wie Alleinsein geht, also genau zur richtigen Zeit. Sie war Mitte zwanzig und schon eine Weile angekommen in der Stadt, wusste bereits, welche U-Bahn-Linien wohin führten, welche Cafés gemütlich und welche zu laut für sie waren. Samstags stand sie morgens früh auf, machte sich einen schwarzen Tee mit Milch und setzte sich mit Tasse und einem Buch wieder zurück ins Bett. Manchmal schaute sie einfach nur dem Wetter zu. Toni war gern allein. Und sie war gut im Zu-Hause-Bleiben geworden. In unregelmäßigen Abständen schickte sie ihrem Vater Nachrichten in die Heimat, mir gehts gut, alles in Ordnung hier, ich bin zufrieden und meinte es so, freute sich über den erhobenen Daumen, den er jedes Mal zurückschickte. Sie hatte keinen Bock mehr, sich an den Wochenenden in Bars und Clubs herumzutreiben, sich festzuhalten an schlecht gemixten Cocktails, während sich der suchende Blick im Raum verliert. Sie hatte keinen Bock mehr, die nächste Enttäuschung mit nach Hause zu nehmen, den nächsten Typen, der nichts Festes wollte. Bis sie Jakob traf.

 

Das Festival war Eddis Idee, und Toni hatte sich überreden lassen. Sich einigermaßen widerwillig Glitzer ins Gesicht geschmissen, die Jeanshotpants und ihren alten Meshbody aus der Kommodenschublade gezogen und zum Vorglühen Wein und Wodkashots getrunken. Kichernd saßen sie in der S-Bahn, bunt und lebendig. Toni fühlte sich hervorragend, weshalb machten sie das nicht häufiger, sie und Eddi, ein Freundschaftskribbeln in ihr wie zu Unizeiten. Und dann kamen sie an, der Weg von der S-Bahn-Station bis zum Festivalgelände war viel zu weit für ihren Pegel, der jetzt Schritt für Schritt gen Keller sank. »Nachschub!«, hatte Eddi noch gerufen, bevor er gleich hinter der Einlasskontrolle in der Menge verschwand und Toni alleine ließ in ihrem löchrigen Body, der plötzlich überall zwickte und sie daran erinnerte, dass sie sich nicht angezogen, sondern bloß verkleidet hatte. Eine halbe Stunde stand sie so im schwülen Sommerwetter und hasste alles, den wummernden Bass aus Bühnenrichtung, ihre dünnen Sneakersohlen auf dem spitzen Kies, die vielen schönen Menschen um sie herum, sich selbst und Eddi, der nicht mehr wiederkam. Auf ihrem Handy kein einziger Balken Empfang. Sie steuerte das Merchandisezelt an, um sich irgendein T-Shirt zu kaufen. Weil es keine Schlange gab, lehnte Toni an der Theke, den Blick geradeaus auf die an der Wand angepinnten Shirts, Pullover und Beutel gerichtet. Sie musste sofort aus diesem Body raus, dachte sie und weil der Verkäufer sie lachend begrüßte mit: »Das Gefühl kenne ich!«, bemerkte sie, dass sie diesen Gedanken offenbar nicht für sich behalten hatte. Sein Lächeln war sehr schief und Toni sofort sehr nervös. Und weil sie noch nie gut im Flirten war, lachte sie unbeholfen mit und sagte dann: »Einmal das von Florence + The Machine in L, bitte.« Er nickte und duckte sich, tauchte wieder auf und hielt ihr das Shirt entgegen. Beide Unterarme voll mit Tattoos, eine Silberkette am linken Handgelenk. Toni spürte einen Tropfen im Nacken. Wird schon passen, dachte sie. Und dann brach der Regen los. Einige kreischten, hielten sich halbherzig Taschen und Fächer über den Kopf, während sie lachend durch die Gegend rannten und sich unter den schmalen Dächern der Foodtrucks drängten. Toni zahlte und zog das Shirt über, das ihr fast bis zu den Knien reichte. So stand sie jetzt da, halb T-Shirt, halb Mensch und schaute dem Wolkenbruch zu, bis der Verkäufer hinter ihrem Rücken einfach fragte: »Willst du vielleicht reinkommen?«

Toni nahm die Rhabarberschorle, die er ihr anbot, obwohl sie es nicht mochte, wie Rhabarberschorle sich in ihrem Bauch anfühlte. Trotzdem nippte sie daran, während sie über das Wetter, das Festival und ihre Jobs redeten. Ihm gehörte dieses Zelt, er mache das Merchandise, und sie sagte Sachen wie »ach krass« und »cool«, als er auf die Shirts deutete, die er selbst gestaltet hatte. Es war vielleicht das langweiligste erste Gespräch aller Zeiten, doch Toni fühlte sich wohl, hier drinnen im Zelt, während der Regen heftig gegen die Plane prügelte.

bin im merchandisezelt, schrieb sie Eddi und hoffte, dass die Nachricht noch eine Weile nicht durchgehen würde. Gelegentlich kamen Leute herein, dann schaute Toni ihm dabei zu, wie er Pullover und Beutel aus Stapeln zog, mochte seine Bewegungen und immer dieses Lachen dabei, mochte am liebsten, wie er sich jedes Mal kurz die Hände an die Brust legte und sich ganz leicht verbeugte, wenn wer ein Design besonders lobte. Der Regen ließ nach, Tonis Rhabarberschorle war leer und dann stand Eddi doch auf einmal vor dem Zelt und winkte ihr irritiert zu. Sie bedankte sich bei dem Verkäufer, stellte die leere Flasche in den Kasten und kaufte noch ein zweites Shirt, eins von seinen, aber eine Nummer kleiner. Er grinste noch einmal sehr schief und schön, packte alles für sie in eine Papiertüte. »Danke, das war wirklich nett, mach’s gut.«

Wochenlang stand die Tüte so in Tonis Küche, ohne dass sie den Flyer darin bemerkte, bis er ihr vorm Pfandautomaten schließlich vor die Füße segelte. Jakob stand da in Kugelschreiberschrift, dahinter ein Smiley und elf Ziffern. Es hatte nur einen Blick von Eddi gebraucht, der mit hochgezogenen Augenbrauen ganz laut »Alter, das ist wie in ’ner RomCom, ruf den Typ jetzt sofort an!« schrie. Doch Toni rief Jakob nicht an, sie googelte ihn. Fand seine Website, Fotos von ihm und seinen Designs auf Instagram, fand heraus, wo er die letzten Wochen unterwegs gewesen war und vor allem, dass er gerade nicht in ihrer Stadt war. Ihr konnte nichts passieren, er war weit genug weg. Also schrieb sie ihm eine Nachricht, am nächsten Tag. Den vierten Versuch schickte sie ab. Er antwortete sofort.

Sie trafen sich, wenn er da war, und telefonierten, wenn er weg war. Sie schickten sich Fotos von ihren Mittagessen und zum Einschlafen manchmal Sprachnachrichten, die Toni immer abends und gleich morgens noch einmal abspielte. Jakob klebte kleine Briefchen an Laternen in allen Städten, die er betourte. »Damit du was zum Lesen hast«, sagte er dann, wenn Toni selbst irgendwann in diese Städte reisen würde. Zuerst hatte sie sich in seine Augen verknallt und dann in seinen Blick verliebt, der seitdem Jahr für Jahr weicher geworden war. Ihre Körper passten zueinander wie zwei ineinandergeschobene Salz- und Pfefferstreuermännchen. Er lernte schnell, dass sie oft Raum für sich brauchte, und sie, dass er vorm Schlafengehen keine ernsten Themen besprechen wollte. Sie kannten ihre jeweiligen Familiengeschichten, beide kompliziert, und nach Jahren noch immer nicht ihre Schuhgrößen. Von zu viel Zucker bekam Jakob Ausschlag, dann lag manchmal tagelang ein weißer Cremefilm über seinen Tattoos. Wenn Toni traurig war, verließ er das Zimmer und kam mit dem Würfelbecher zurück. Sie war sich sicher, dass er sie im Kniffel gewinnen ließ, auch wenn das bei Glücksspielen ja kaum möglich war. Sie waren beide gut in Kreuzworträtseln, lagen oft bäuchlings im Bett und schoben sich das Rätselheft hin und her. Mit Jakob unter der Woche viermal den Wecker zu verschmusen, war für Toni das Normalste und Schönste auf der Welt geworden. Nach sieben Jahren hatten sie ihre Körper krank, kotzend, blutend und kaputt gesehen, hatten sich Suppen ans Sofa gebracht und Blinddarmnarben beim Heilen beobachtet. Hatten sich gegenseitig Pflaster auf Wunden geklebt, sich selbst aneinandergelegt, wenn Verbände nicht halfen. Sie kannten ihre Körper mit weniger und mehr Gewicht, sie tanzten voreinander in Unterwäsche, und Toni freute sich, dass sich Jakob immer noch zu ihr ins Badezimmer schlich, sobald sie nackt aus der Dusche stieg.

Jakob zuckt jetzt leicht mit den Beinen, gleich würde er einschlafen. Toni legt eine Hand auf seinen Oberkörper, er legt seine darüber, wie immer warm und weich.

Ohne Jakob wäre alles nichts.

Sie würde lernen müssen, wieder normal zu sprechen, mit anderen Menschen und nicht mit ihm, in den Worten, die nur sie beide verstanden. Toni spürt die kriechende Kälte an ihren Füßen, gleich würden sie ganz im Schatten liegen, Hunger hatte sie so langsam auch. Sie wischt die Melodramatik beiseite. Morgen war Montag, morgen musste sie zur Gynäkologin. Toni saugt Jakobs Duft ein, der jetzt, ganz leise schnarchend, wirklich schläft.

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