Im Liede wehet ihr Geist - Peter Horn - E-Book

Im Liede wehet ihr Geist E-Book

Peter Horn

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Beschreibung

Schon früh hat man bei Hölderlin den Zug zu einer mehr und mehr esoterischen und hermetischen Sprache bemerkt. Hölderlins Bestreben, in der Poesie Dinge auszusagen, die nie vorher in der Poesie ausgesprochen worden waren, trug dazu bei, ihn immer näher an jenen Abgrund des Schweigens heranzuführen, in dem das Ungesagte und Unsagbare ruht. Wenn Hölderlin philosophische Begriffe zu poetisieren suchte, dann weil ihm die Ansätze Spinozas, Rousseaus, Kants und bis zu einem gewissen Grade auch die Fichtes und vor allem die philosophischen Gedankengänge seiner Freunde Schelling und Hegel wesentliche Kategorien in die Hand gaben, mit deren Hilfe er sich die Welt deutete. Aber auch Hölderlins Krankheit (eine Psychose) - zunächst latent aber in einigen Symptomen wahrnehmbar, dann mit deutlichem psychotischen Schub und schließlich mit einer destruktiven Endphase - hat seinen Sprachgebrauch und seine Denkgewohnheiten ohne Zweifel sowohl positiv (im Sinne einer Steigerung seiner Kreativität) als auch negativ (im Sinne einer gelegentlichen Inkohärenz und Dunkelheit der Aussage) geprägt.

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Peter Horn

Im Liede wehet ihr Geist

Hölderlins späte Hymnen

ATHENA

Beiträge zur Kulturwissenschaft

Band 26

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

E-Book-Ausgabe 2014

Copyright der Printausgabe © 2012 by ATHENA-Verlag, Copyright der E-Book-Ausgabe © 2014 by ATHENA-Verlag, Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagabbildung: Hölderlin nach dem Pastell von Franz Karl Hiemer (1792)

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-89896-471-5 ISBN (ePUB) 978-3-89896-808-9

This material is based upon work supported financially by the National Research Foundation. Any opinion, findings and conclusions or recommendations expressed in this material are those of the author and therefore the NRF does not accept any liability in regard thereto. / Mein Dank gilt vor allem der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für ein Stipendium, das es mir erlaubte, meine Forschungen zu Jean Paul an der Technischen Universität Berlin fortzusetzen, und Herrn Professor Norbert Miller, dessen Gast an der TU ich war.

Darum ist der Güter Gefährlichstes, die Sprache dem Menschen gegeben …[1]

In neuerer Zeit endlich, da der Scharfsinn so sehr emporkommt, ists beinahe Mode geworden, dass jeder glückliche Ausleger auch eine eigne glückliche Hypothese habe. (Herder)

Zur Interpretation von Hölderlins Gedichten

Die Interpretation von Dichtung, auch der von Hölderlin, steht vor der Frage, ob die philosophisch-begriffliche Erkenntnis eine der ästhetischen Erfahrung überlegene Form der Wirklichkeitsaneignung ist oder ob eine Interpretation, die sich der begrifflichen Verallgemeinerung zu entziehen versucht, um das Besondere zu treffen, nichts weiter ist als eine Paraphrase des Gedichteten selbst. Beißner (1954, 26) fordert zwar, dass die Fragen, die die Interpretation stellt, beantwortet werden sollten, dass die Antworten aber nicht ›genauer‹ sein sollten als der Text. Man kann natürlich raten, was der Dichter ›hat sagen wollen‹, aber letztlich kann man sich nur auf das berufen, was er gesagt hat, auch wenn sich das manchmal dem Verstehen versagt.[2] Der Text selbst setzt eine Grenze, über die man nicht hinaus interpretieren darf, oder wie Rilke am 23. April 1923 an seine Frau schrieb: »Wo ein Dunkel bleibt, da ist es von der Art, dass es nicht Aufklärung fordert, sondern Unterwerfung.«[3]

Soll man also, wie de Man (1956, 29) meint, davon ausgehen, Hölderlin sei es nach einer Periode des Suchens, Wachsens und des Experimentierens gelungen, direkt und einfach zu sagen, was er sagen musste, und dass keine Paraphrase das überbieten könne? Er beruft sich auf Martin Heideggers Werk, das gezeigt habe, man könne Hölderlins Werk mit einer rein internen Exegese auslegen. Das Verstehen liege bei der Fähigkeit des Lesers, die spirituelle Erfahrung nachzuvollziehen, die mit der größten Klarheit ausgesagt wird. Nur auf diese Weise kann die Interpretation die »tagesüblichen metaphysischen Interpretationen« und die »Beliebigkeit des marktgängigen Tiefsinns« (Adorno 1981, 447) vermeiden. Nun ist aber gerade Heidegger ein Beispiel einer Interpretation, bei der der Interpret seinen eigenen Tiefsinn ohne Rücksicht auf das im Gedicht Gesagte diesem überstülpt.

Der Interpret Hölderlins sieht sich heute mit der Tatsache konfrontiert, dass schon so viele ausgezeichnete Kritiker Interpretationen geliefert haben, aber sich meist dennoch über wesentliche Aspekte vieler Gedichte nicht einigen konnten und an dem schwierigen Symbolismus und der oft kaum auflösbaren Syntax gescheitert sind. Ob das einen weiteren Versuch rechtfertigt, diese Gedichte erneut zu interpretieren, kann nicht von vornherein behauptet werden, sondern muss sich zeigen. Dazu kommt noch, dass die Methoden, Theorien und Modelle sich schneller als die Kleidermoden verschleißen und ständig wechseln.

In seiner Rezension von Pellegrinis Hölderlin’s ›Bild in der Forschung‹ weist Bernhard Böschenstein (1965–6b, 178) auf die Gefahren hin, die sich ergeben, wenn man auf positivistische Methoden in der Germanistik völlig verzichtet. Die damals übliche werkimmanente Interpretation versuchte Dichtung autonom aus dem Text und ohne Bezug auf die historische Situation des Autors zu begreifen und ihn so von seiner geistigen Umgebung abzuschneiden. Staiger (1955, 13) betonte, dass die Dichtung aus keiner Verkettung von Ursache und Folge, also auch nicht aus historischen Zusammenhängen, abgeleitet werden könne, und dass jegliche geschichtliche Forschung immer und ausschließlich ein Weg zur Annäherung an die Welt des Dichters bleiben werde. Staiger schreibt, wenn wir Literaturwissenschaft betreiben, »dann müssen wir uns entschließen, sie auf einem Grund zu errichten, der dem Wesen des Dichterischen gemäß ist, auf unsere Liebe und Verehrung, auf unserem unmittelbaren Gefühl«.[4] Eine der Forderungen an die Interpretation war die Benjamins (1977, 105), dass der Kritiker »die innere Form, dasjenige, was Goethe als Gehalt bezeichnete« erfassen müsse. Adorno (1981, 450 f.) lobt an der werkimmanenten Kritik: »In der Literaturwissenschaft bereitete die Wiederentdeckung jenes Prinzips ein genuines Verhältnis zum ästhetischen Gegenstand überhaupt erst vor, wider eine genetische Methode, welche die Angabe der Bedingungen, unter denen Dichtungen entstanden, der biografischen, der Vorbilder und sogenannten Einflüsse, mit der Erkenntnis der Sache selbst verwechselte.« Daher zieht Adorno (453) den Schluss: »Was wahr und möglich ist als Dichtung, kann es nicht buchstäblich und ungebrochen als Philosophie sein«. Auch wenn letztlich das genaue Lesen der Texte die entscheidende Qualität der Interpretation sein muss, kann eine genaue Kenntnis des intellektuellen Umfelds des Dichters – und damit eine durchaus positivistische Forschung einschließlich einer Auseinandersetzung mit Fragen der Edition – nicht umgangen werden, um so weniger als so viele Texte Hölderlins fragmentarisch geblieben sind und die Handschriften schwer lesbar sind. Das »unmittelbare Gefühl« trügt gerade dort, wo das im Gedicht Gesagte uns fremd und oft auch unheimlich ist – wie das bei den Aussagen von Psychotikern fast immer der Fall ist. Eine Empathie und damit ein Verständnis stellt sich erst her, wenn wir beginnen die psychotischen Denkstrukturen mit Hilfe des Psychologie zu verstehen. (Kudszus 1969, 31)

Letztlich ist es aber das Gedicht und nicht die Interpretation, was zu verstehen bleibt. Pellegrini (1965, 486) verlangte daher von der Kritik: »Auf jeden Fall ist es erforderlich, den Wert und die Bedeutung des einzelnen Worts, das Hölderlin verwendet, in den verschiedenen Satzzusammenhängen festzustellen«. »Die apriorität des Individuellen / über das Ganze« gilt auch für den Interpreten, seine Leistung ist gerade daran zu messen, wie sehr er das Individuelle jedes einzelnen Gedichts zu erfassen vermag, das eben in seiner Individualität auch das Fremdeste ist. Als Interpreten sind wir immer nicht nur mit der wesentlichen Fremdheit des Anderen sondern auch mit der des Eigenen konfrontiert. In der Einleitung zur Acta Germanica verweist Anette Horn (2008, 6 f.) auf Die Amsel von Robert Musil, wo es heißt: »Wenn ich den Sinn wüsste, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen«. Ähnlich haben sich immer wieder Dichter gegen die Auffassung gewandt, dass die Philosophie eine Art Voraussetzung oder Hilfe beim Schreiben sei. Im Gegenteil, das bereits Geordnete verdeckt die Strukturen, um die es im Roman oder Gedicht geht. Gegen diese Vorstellung wendet sich scharf und ausgesprochen Beckett: »There is no key or problem. I wouldn’t have had any reason to write my novels, if I could have expressed their subject in philosophical terms.« Elias Canetti schreibt in Die Fliegenpein kurz und bündig: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod.« Und Jean Paul sekundiert im Hesperus: »Wahrlich der Unsinn spielt Versteckens leichter in den geräumigen abgezogen Kunstwörtern der Philosophen – da die Worte, wie die sinesischen Schatten, mit ihrem Umfange zugleich die Unsichtbarkeit und die Leerheit ihres Inhalts vermehren – als in den engen grünen Hülsen der Dichter.« Immer wieder haben Dichter und Romanschreiber darauf bestanden, dass Theorie, z. B. die Psychoanalyse, keinerlei Hilfe für den Schriftsteller ist (Kafka, Musil), sondern eher ein Hindernis, da bereits ausgearbeitete Strickmuster der Seele die Vorgänge, an denen der Dichter interessiert ist, nur verdecken. »Dieser grundsätzliche Einwand vieler Schriftsteller gegen Philosophie und Theorie als etwas, was sie einschränkt und nicht frei macht, macht uns nachdenklich.« (Ebd.)

Auch Hölderlin sah die Grenzen des Versuchs der Philosophie, alles durch einen logischen Zusammenhang zu erklären und zu systematisieren und rekurrierte auf eine ›Total-Vorstellung‹ (StA IV, 183), die vom Intellekt nicht durch Zergliederung völlig aufgelöst werden kann. (Gilby 1973, 21) Eine ungebrochene Übersetzung des Dichterischen in die Philosophie oder in eine Theorie verfehlt die Dichtung. Der Dichter ist immer der Saboteur philosophischer Selbstgewissheit. Es gilt im Auge zu halten, was Hölderlin in Patmos [Bruchstücke der späteren Fassung] schreibt. Dort heißt es: »Grausam nemlich hasset / Allwissende Stirnen Gott.« (FHA 7, 406)

Jennings (1983, 559) geht davon aus, dass das Gedicht selbst niemals umfassend ist und dass daher der Kritiker nicht nur berechtigt, sondern gezwungen ist, sich über die Elemente und Beziehungen des Gedichts hinaus auszubreiten. Die Kritik ist notwendig, denn viele Elemente sind im Gedicht nur potenziell präsent, und die Wahrheit des Gedichts kann daher nur durch den Akt der Kritik dargestellt werden. Er beruft sich auf Benjamins (II, 1, 106) Vorstellung, dass die Kritik die »Verbindungsmöglichkeiten« im »Gedichteten« ausnützen müsse. Benjamin eröffne damit einen Pfad für eine Kritik, die sich frei auf vielen Ebenen der Konnotation und der Referenzialität bewegt. In seiner Vorlesung über das Gedicht Der Ister sagt dagegen Heidegger, dass alle Bemerkungen über ein Gedicht nur eine Begleitung sind, die nicht in der Dichtung selbst enthalten sind, und dass daher diese Bemerkungen niemals eine »Interpretation« sein können.

Adorno (1981, 453 f.) kritisiert aber auch zu Recht die »ins Maßlose gesteigerte Ehrfurcht vor Hölderlin« und deren Konsequenz, der Glaube, »was der Dichter sagt, wäre so, unmittelbar, buchstäblich«. Daher, so Adorno, werde allzu oft das Ästhetische der Dichtung Hölderlins vernachlässigt. Gerade dadurch aber würde »die genuine Beziehung Hölderlins zur Realität, die kritische und utopische, weggeschnitten.«[5] Adorno (1981, 451) macht geltend, dass die »Wahrheit eines Gedichts […] nicht ohne dessen Gefüge, die Totalität seiner Momente« ist. Und fährt fort: die Wahrheit des Gedichts

ist aber zugleich, was dies Gefüge, als eines von ästhetischem Schein, übersteigt: nicht von außen her, durch gesagten philosophischen Inhalt, sondern vermöge der Konfiguration der Momente, die, zusammengenommen, mehr bedeuten, als das Gefüge meint.

Adorno (1981, 452 f.) kritisiert zu Recht, dass Heidegger einerseits »den Begriff des Gedichteten dergestalt akzentuiert, ja dem Dichter selbst die äußerste metaphysische Dignität zumisst«, andererseits aber höchst gleichgültig gegen das spezifisch Dichterische bei Hölderlin ist. Auch Warminski (1990, 193 ff.) hat darauf hingewiesen, dass Heideggers Hölderlin-Interpretation Zeilen willkürlich aus dem Kontext reißt und sie etwas bedeuten lässt, was sie im Kontext nicht bedeuten. Auch Pellegrini (1965, 206) kritisiert zu Recht, dass Heidegger die Dichtung Hölderlins zum Vorwand für Betrachtungen nimmt, »die außerhalb der Philologie und einer ausgefeilten methodologischen oder künstlerischen Lektüre stehen.«[6]

Adorno (1981, 452 f.) findet es daher erstaunlich, dass sich keiner an dem ausgesprochen Amusischen der Erläuterungen Heideggers geärgert hat. Er kritisiert »Phrasen aus dem Jargon der Eigentlichkeit« – wie die, dass Hölderlin ›in die Entscheidung‹ stelle – man fragt vergebens, in welche und vermutet, es sei »keine andere als die klappernd obligate zwischen Sein und Seiendem«. Adorno spürt die ominösen ›Leitworte‹ auf und ›das echte Sagen‹, findet bei Heidegger Clichés aus der minderen Heimatkunst wie ›versonnen‹, hochtrabende Kalauer wie: ›Die Sprache ist ein Gut in einem ursprünglicheren Sinne. Sie steht dafür gut, das heißt: sie leistet Gewähr, dass der Mensch als geschichtlicher sein kann‹, macht sich über professorale Wendungen lustig wie ›aber sogleich erhebt sich die Frage‹ und findet, dass die Benennung des Dichters als ›Hinausgeworfenen‹ ein humorlos unfreiwilliger Witz bleibt, auch wenn sie eine Belegstelle aus Hölderlin für sich anführen kann. Zu Recht wirft Adorno Heidegger weiter vor, er beginne mit »dem manifest von Hölderlin Gedachten, anstatt dessen Stellenwert im Gedichteten auszumachen.« Nun könnte man sagen, auch Adorno kann von diesem Vorwurf nicht ganz frei gesprochen werden, der bedeutet, dass auch er Hölderlin »zurück in die Gattung Gedankendichtung Schillerscher Provenienz« (ebd.) versetzt.

Adorno (1981, 453 f.) kritisiert Heideggers Umgang mit Hölderlins Dichtung, weil bei ihm die »Beteuerungen des Dichterischen« gegenüber dem von Heidegger tatsächlich Geübten »wenig ins Gewicht« fallen. Heideggers Interpretationen richten sich an den »gnomischen Elementen in Hölderlin« aus. Zugegebenermaßen sind solche sententiöse Prägungen auch in die späten Hymnen eingelassen: »Stets ragen Sentenzen aus den Dichtungen heraus, als wären sie Urteile über Reales.« Heidegger versucht sein ästhetisches Defizit durch diese Sentenzen auszugleichen, um sich so in eine »Position über dem Kunstwerk zu manövrieren.« Adorno zielt auf die immer wieder geübte Praxis, das Gedichtete durch einen »Kurzschluss, in recht gewalttätiger Paraphrase« zu einem Gedachten umzudeuten, wie etwa Heidegger (1996, 42), der so eine Empedokles-Stelle als die Wirklichkeit des Gedichteten verkündet und sagt: »Dichtung erweckt den Schein des Unwirklichen und des Traumes gegenüber der greifbaren und lauten Wirklichkeit, in der wir uns heimisch glauben. Und doch ist umgekehrt das, was der Dichter sagt und zu sein übernimmt, das Wirkliche.«

Adorno (1964, 453 f.) kritisiert weiter an Heidegger (1996, 42 ff.) dass er das »Wirkliche der Dichtungen«, ihren »Wahrheitsgehalt« solcher Erläuterung mit dem unmittelbar Gesagten vermischt. »Das verhilft zur billigen Heroisierung des Dichters als des politischen Stifters, der die Winke, die er empfängt, ›weiter [winkt] in sein Volk‹: ›indem Hölderlin das Wesen der Dichtung neu stiftet, bestimmt er erst eine neue Zeit‹.« Deswegen wird das »ästhetische Medium des Wahrheitsgehalts« zum Verschwinden gebracht und »Hölderlin auf den von Heidegger zu autoritärem Behuf ausgewählten angeblichen Leitworten aufgespießt. Dem Gedichteten jedoch gehören die Gnomen bloß vermittelt an, in ihrem Verhältnis zur Textur, aus der sie, selber Kunstmittel, herausstechen.« Wenn Hölderlin »das Wirkliche« sage, dann trifft das auf den »Gehalt des Gedichteten; nie auf Thesen« zu. »Treue, die Tugend des Dichters, ist die zum Verlorenen. Sie setzt Distanz zur Möglichkeit, es sei jetzt und hier zu ergreifen. Soviel steht bei Hölderlin selbst.« (Adorno 1981, 453 f.)

Weiterhin hat Th. W. Adorno (1981, 447 ff.) bereits 1963 an der Herauslösung Hölderlins aus dem idealistischen Kontext scharfe Kritik geübt. In Heideggers 1980 veröffentlichten Vorlesungen über Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein aus dem Wintersemester 1934/35 (nach der Rektoratsniederlegung im Frühjahr 1934!) behandelt er z. B. Hegels und Hölderlins Verhältnis zu Heraklit, einen Bezug, den er überbetont, weil er die Religionsgeschichte und -philosophie des 18. Jahrhunderts und der Goethezeit, die Spinozarenaissance etwa, völlig außer acht lässt. (Jamme 1981, 632)[7]

Jamme (1981, 632) meint, Heidegger benutze die Dichtung Hölderlins, um ihr eine unmittelbare Aussage über das »Sein« zu unterstellen:

Der Heidegger nach der ›Kehre‹[8] wollte mit Hölderlin über die Sprache der Metaphysik hinaus und also auch Hegel überwinden, in dessen reifem System er die Vollendung der abendländischen Metaphysik erblickte. Hölderlin sei nicht, so betont Heidegger (1996, 90, Ergänzung P. H.) an verschiedenen Stellen, aus dem deutschen Idealismus zu verstehen, vielmehr manifestiere sich in ihm eine wahrere (als die Schellingsche oder Hegelsche) Tradition, die Idee nämlich der ›vergänglichen Ewigkeit‹, die Einsicht, dass Gott Zeit sei.

Dagegen betont Ernst Cassirer, (1961, 79 ff.) dass Hölderlin schon durch seinen äußeren Lebensgang mit der Geschichte des deutschen philosophischen Idealismus aufs engste verknüpft sei. Das bedeute aber nicht, dass die Lyrik Hölderlins »nur der dichterische Reflex bestimmter zeitgenössischer Philosopheme« sei, oder dass man deswegen auf die »Behauptung einer wahrhaft selbstständigen geistigen Eigenart Hölderlins Verzicht« leisten müsse. Außerdem stehe Hölderlin dem Idealismus nicht nur rein empfangend gegenüber, sondern er bereichere ihn mit einem neuen positiven Gehalt.[9]

Adorno (1981, 461) argumentiert weiter, Heidegger versuche, die Wahrheit der Dichtung aus der Zeitlichkeit herauszunehmen ohne Rücksicht auf den geschichtlichen Kern des Wahrheitsgehaltes selbst. Dass Hölderlin den deutschen Idealismus (z. B. Kant und Fichte) nicht nur rezipiert, sondern seinerseits Hegel und Schelling wichtige Anstöße gegeben hat, ist nicht zu übersehen. In Urtheil und Seyn schreibt Hölderlin in der Auseinandersetzung mit Fichte:

Urteil ist im höchsten und strengsten Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellektualen Anschauung innigst vereinigten Objekts und Subjekts, diejenige Trennung, wodurch erst Objekt und Subjekt möglich wird, die Ur-Teilung. (StA VI, 203)

Auf Fichte und die Teilung in Ich und Nicht-Ich bezogen heißt es dann:

Im Begriffe der Teilung liegt schon der Begriff der gegenseitigen Beziehung des Objekts und Subjekts aufeinander, und die notwendige Voraussetzung eines Ganzen wovon Objekt und Subjekt die Teile sind. ›Ich bin Ich‹ ist das passendste Beispiel zu diesem Begriffe der Urteilung, als Theoretischer Urteilung, denn in der praktischen Urteilung setzt es sich dem Nicht-ich, nicht sich selbst entgegen.[10] (StA VI, 203)

Daraus ergibt sich die Folgerung:

Wirklichkeit und Möglichkeit ist unterschieden, wie mittelbares und unmittelbares Bewusstsein. Wenn ich einen Gegenstand als möglich denke, so wiederhohl’ ich nur das vorhergegangene Bewusstsein, kraft dessen er wirklich ist. Es gibt für uns keine denkbare Möglichkeit, die nicht Wirklichkeit war. Deswegen gilt der Begriff der Möglichkeit auch gar nicht von den Gegenständen der Vernunft, weil sie niemals als das, was sie sein sollen, im Bewusstsein vorkommen, sondern nur der Begriff der Notwendigkeit. Der Begriff der Möglichkeit gilt von den Gegenständen des Verstandes, der der Wirklichkeit von den Gegenständen der Wahrnehmung und Anschauung. (StA VI, 203)

In seinen philosophischen Briefen will Hölderlin dann »den Widerstreit zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen unserem Selbst ›verschwinden machen‹.« (StA VI, 203) Hölderlin spricht also von einer ästhetischen intellektualen Schau, in der Subjekt und Objekt vereint sind. Die Synthese von Poesie und Philosophie in der ästhetisch erfahrbaren ›Intellectualen Anschauung‹, die die Zerstörung der präreflexiven, kosmischen Einheit durch die ›Urteilung‹ rückgängig machen kann, ist aber ein Prozess, der nie völlig abschließbar ist. Eine Möglichkeit, diesen Mangel im Subjekt auszugleichen, ist die Mythologie und die Poesie. (Vgl. Roth 1991, 252 f.)

Es ging Hölderlin um die Erkenntnis, dass Subjekt und Objekt notwendige Teile eines Ganzen sind, die als Ganzes in der ›intellektualen Anschauung‹ zu erfahren sind. In dieser Erkenntnis sind Spuren von Platon, Spinoza und Schiller zu erkennen. In ihrer Zusammenarbeit in Frankfurt haben Hegel und Hölderlin die abendländische Überlieferung in je verschiedener Weise aufgenommen. (Jamme 1981, 634) Auch wenn Hölderlin Kant schon in Tübingen gelesen hat, seine eigentliche Auseinandersetzung mit Kant beginnt in Waltershausen: »Meine einzige Lektüre ist Kant für jetzt. Immer mehr enthüllt sich mir dieser herrliche Geist.« (StA Bd. VI:1, 128) Und in einem Brief an Hegel: »Kant und die Griechen sind beinahe meine einzige Lektüre. Mit dem ästhetischen Teile der kritischen Philosophie such’ ich vorzüglich vertraut zu werden.« (StA Bd. VI:1, 114; Roth 1991, 116) Jennings (1983, 546) schreibt über Hölderlins Beziehung zur Kantischen Philosophie, dass Hölderlin Kant einerseits als ›Moses unserer Nation‹ (StA VI:1, 304) verehrte, aber sich andererseits nicht mit der völlig unerkennbaren Natur des Noumenalen zufrieden geben konnte.[11] In dem Essay Über Religion setzt Hölderlin die Existenz eines ›höheren, mehr als mechanischen Zusammenhangs‹ (StA IV:1, 275) voraus – den er normalerweise als ›das All‹ oder ›das Ganze‹ bezeichnet. Hölderlin ist hier durchaus Teil seiner Generation, die sich nach Kant mit der Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Idee, Mensch und Welt auseinandersetzen musste. (Jennings 1983, 546)

Das will Heidegger aber nicht wahrhaben, er folgt, so Adorno (1981, 460)

der obsoleten Abneigung des Idealismus gegen das Seiende als solches; im gleichen Stil, in dem Fichte mit dem Realen, der Empirie verfährt, die zwar vom absoluten Subjekt gesetzt, zugleich aber als bloßer Anstoß zur Tathandlung, wie schon bei Kant das Heteronome, verachtet wird.

Heidegger (1996, 90) suggeriert, der Zusammenhang mit der historischen Realität sei fürs Gedichtete unerheblich:

Inwieweit das in diesen Versen gedichtete Gesetz der Geschichtlichkeit sich aus dem Prinzip der unbedingten Subjektivität der deutschen absoluten Metaphysik Schellings und Hegels herleiten läßt, […] deren Lehre das Bei-sich-selbst-sein des Geistes erst die Rückkehr zu sich selbst und diese wiederum das Außer-sich-sein vorausfordert, inwieweit ein solcher Hinweis auf die Metaphysik, selbst wenn er ›historisch richtige‹ Beziehungen ausfindig macht, das dichterische Gesetz aufhellt oder nicht eher verdunkelt, sei dem Nachdenken nur vorgelegt.

Adorno (1981, 460) gibt zwar zu, dass sich Hölderlin in »sogenannte geistesgeschichtliche Zusammenhänge« nicht auflösen lässt, noch dass »der Gehalt seiner Dichtung auf Philosopheme abzuziehen ist«. Aber er besteht darauf, dass sich Hölderlin andererseits aus den kollektiven Zusammenhängen nicht entfernen lässt, in denen sein Werk sich bildete und mit denen es bis in die sprachlichen Zellen hinein kommuniziert.

Zu diesen Zusammenhängen gehören Aufklärung und Romantik. Edward Youngs The Complaint or Night Thoughts on Life, Death and Immortality (1742–1745) hatten einen ungeheuren Erfolg in ganz Europa; Hölderlin nennt ihn mit Klopstock als einen der Großen, denen er als Dichter nachfolgen will. (Gaier 1993, 384) Die Nachtgedanken werden gerade durch das Licht der Aufklärung freigesetzt, »das Unbegrenzte und Unbestimmte gegenüber dem Begrenzten und Bestimmten, die Ewigkeit gegen die Dauer, den Grund und Ursprung gegen die Kausalität und den Anfang.« Daraus darf man aber nicht den Schluss ziehen, dass Hölderlin »die Nacht mit der archaischen Kultur- und Religionsform in Beziehung« setzt. (Gaier 1993, 382 & 385) Auch Gehrmann (2009, 19) macht auf die ambivalente Bedeutung der Nacht aufmerksam: Für Hölderlin ist die Nacht einerseits Götterferne; andererseits ist sie die ›heilige Nacht‹, in der durch das Vergessen der Tageswirklichkeit die Möglichkeit des Erinnerns an den Göttertag (Goldenes Zeitalter) eröffnet wird. Platos Politikos (Staatsmann) stellt nicht nur eine Theorie des besten Staates auf, sondern führt auch die zugrundeliegende Metaphysik vor. Danach hat es eine glückselige Herrschaft des Kronos gegeben, ein ›müheloses‹ Zeitalter.[12]

Hölderlin sieht die Dichtung als Möglichkeit, Geist und Stoff miteinander in Beziehung zu setzen. Diese Beziehung kann sich in der Dichtung in verschiedenen ›Tönen‹ äußern: »naiv, idealisch, heroisch«. Die direkte Umsetzung der Wirklichkeit in Dichtung ist naiv, die Darstellung der Notwendigkeit ist heroisch und die Erfahrung einer (utopischen) Möglichkeit ist idealisch. Versuche, diese Begriffe auf Hölderlins Gedichte anzuwenden, enden meist in pedantischen Schulmeistereien, (Vgl. z. B. Hof 1956, 201, 420) weil »die jeweiligen Töne des Geistes sich nicht in den ihnen entsprechenden Tönen des Stoffs ausdrücken, sondern dass der Geist sich in einem ihm entgegengesetzten Bereiche des Stoffs ausdrückt.«[13]

In der Moderne seit Nietzsche nimmt die Metapher eine Zentralstellung (auch in der Philosophie) ein, dagegen wurde sie lange Zeit in der klassischen Philosophie abgewertet: »A metaphoris autem abstinendum philosopho« – »Der Philosoph aber hüte sich vor Metaphern«. (George Berkeley in Riedel) Riedel (1999, 57 f.) sieht den Ursprung dieser Feindschaft in Platons Ausschluss der Rhetorik (in Gestalt der Sophistik) und der Dichtung aus dem Gebiet des Wissens und der Erkenntnis. Plato versucht, die Philosophie als alleinigen Wissens-Diskurs durchzusetzen und damit die Dichtung abzuwerten. Platon trennte so den wahren Erkenntniswege vom falschen, das ›Wissen‹ (episteme) vom ›Meinen‹ (doxa) und ›Vermuten‹ (eikasia): »Während das letztere am ›Schein‹ (eikos) der Dinge haften bliebe, ergreife das Wissen deren ›Wesen‹ (ousia), ihre ›Wahrheit‹. Es werde erlangt durch ›Denken‹ (dianoia), also nur mit Hilfe von ›Worten und Gedanken‹ (logos), nicht durch sinnliche Wahrnehmung (aisthesis).«

Die Kunst sehe nur

den ›sichtbaren‹ (horatos) ›Wechsel‹ (metabole) der Erscheinungen, die Ephemera des ›Werdens‹ (gignomenon); dem reinen Denken hingegen zeige sich das zeitlos ›Seiende‹ (ontos on), die ›unsichtbare‹ (aeides), weil nur ›denkbare (noetos) Welt der ›Ideen‹ (eide).

Auch Aristoteles sieht in der Poetik die Metapher als eine ›uneigentliche‹ (allotrios) Wortverwendung. Und ›Allotria‹ darf nicht sein unter ernsthaften Wissenschaftlern und Philosophen. (Ebd., 6 f.) Aber: »Hier in der grundsätzlichen Metaphorizität der Sprache liegt wohl der Bereich, in dem eine Annäherung der Dichtung an Philosophie und Theorie möglich sein müsste, denn auch die Theorie weiß es natürlich nur annäherungsweise.« (Ebd., 6 f.) Dagegen meint Hölderlin: »Wenn dir als Schönheit entgegenkömmt, was du als Wahrheit in dir trägst, so nehm es dankbar auf, denn du bedarfst der Hülfe der Natur«. (Hyperions Jugend, FHA 10, 211)

Vom Abgrund und der Tiefe

Dichtung ist eine Fremdsprache, auch wenn sie sich oberflächlich der gleichen Worte bedient wie die Umgangssprache oder die Wissenschaftssprache. Bei der Übersetzung in eine Literaturkritik oder Literaturtheorie entstehen immer Fehler, weil gleichlautende Worte in der Dichtung und der Theorie oder Philosophie den Übersetzer in die Irre leiten. Die Übersetzung der Dichtung oder des Mythos in eine Theorie oder Dogmatik verfehlt notwendigerweise die Besonderheit der Namen und der Geschichten. (Blumenberg 2006, 189) In Hölderlins Dichtung wird zudem die verfremdende Wirkung der Dichtung, die meistens unsichtbar ist, sichtbar. (Clark 2001, 107)

Wilhelm Michel (1943, 17) schreibt, dass die Sprache für Hölderlin zu einer Macht wird, die dem Dichter selbst fremd zu sein und ihn zu bedrohen scheint. Da es bei den Göttern um die Unmöglichkeit eines adäquaten Sprechens geht, wird »die prägnante Unlesbarkeit der Zeichen […] zur Signatur einer authentischen und reellen Selbstartikulation«. (Hofmann 1996, 248) Zwar zügelt und besiegt die Dichtersprache das Chaos, weil sie den Dingen einen Namen gibt. Aber: »Es gibt keinen Inhalt, der nicht irgendwie Chaos wäre. Es gibt keine Form, die nicht irgendwie Sänftigung, Bändigung und Rhythmisierung des Chaos wäre.« Die Götter, aus dem Chaos geboren, sind der Versuch, der konkreten Erfahrung Form und Gestalt zu geben. Die Götter, Söhne des Chaos, werden dem Chaos feind und bestätigen die Gültigkeit einer kosmischen Ordnung, die ihrerseits in der poetischen Form eine symbolische Gültigkeit annimmt: Sprache wird. Über die Götter bei Hölderlin sagt Guardini (1961, 186), »dass Götter nichts Beliebiges sind. Sie werden nicht erfunden oder erdacht, sondern angetroffen.« Er behauptet, Götter »entstammen nicht der bloßen Fantasie; bedeuten weder Allegorien noch künstlerische Verdichtungen von Gefühlen und Sinnverhalten, sondern etwas Objektives.« In Sokrates und Alkibiades (FHA 4, 44) schreibt Hölderlin: »Wer das Tiefste gedacht, [ehrt] liebt das Lebendigste.«

Wo aber findet die Dichtung die Götter? Der Ort der Geburt ist die Quelle, der Ort, wo Sprache noch Chaos ist, überhaupt erst zu werden beginnt.[14] Nur langsam nähert sich Hölderlins Dichtung jenem Bereich der Gefahr am Ursprung, an der »Quelle«. Rehm (1943, 92) entdeckt in der frühen Dichtung Hölderlins den Orkus, das Chaos, den Abgrund und die Tiefe und hört in ihr »das dumpfe Grollen dieser chthonischen Raummächte und Tiefengewalten«. Er erinnert daran, dass diese Gewalten »Opfer annehmen, vielleicht auch einmal verderbenbringend Opfer heischen können«. Immer vernehmbar bleibt in Hölderlins Dichtung »der ›geheime Geist der Unruh‹, der in der Brust der Erde und der Menschen zürnt und gärt, losbricht und sein vernichtendes Unwerk tut.« Hölderlin kannte die Erzählung vom Vatergott, der dem Patriarchen Abraham das Opfer des einzigen und späten Sohnes abverlangt hatte, und der dann das Opfer seines eigenen einzigen Sohnes Jesus verlangte, um einen verjährten Frevel im Paradies gutzumachen, ganz zu schweigen von all den anderen Göttern, die blutige Opfer (auch Menschen) verlangten. (Blumenberg 2006, 25 f.)[15] Pigenot (1923, 47) hatte versucht, Hölderlins Dichtungen auf einen heidnischen Kult und die frühe religiöse Verehrung der Helden, Ahnen und Stadtgötter zurückzuführen. Auch die lichten Götter der polytheistischen Hochkultur wurzeln in chthonischen Erd- und Toten-Kulten. Die mythische Schau geht auf diese Quellen zurück. Die Dichtung ist Totenkult, der Dichter Mittler zwischen den Lebenden und dem Totenreiche. Der Dichter muss »hinuntersteigen in die Nacht der ›Toten‹ und sie allmählich heraufführen zum Licht. Er muss ihnen das Tote, die ›positive‹ Überlieferung, gut deuten«. (Hof 1956, 206)

Den Abgrund spürt Ryan (1962, 72) in »einigen späteren, großenteils unvollendeten Gesängen«. In diesen späten Gedichten spürt er, wird »der Ton nun noch dunkler und schwerer, die Satzzusammenhänge gespannter, komplizierter, die Aussage hintergründiger, verschlüsselter«. Ryan begründet das damit, dass es »im Jahre 1803 (oder noch später) dem von der geistigen Umnachtung Überschatteten immer schwerer fiel, die Helle des prophetischen Wissens zu bewahren.« Ryan verfolgt diesen Prozess »auch an einigen Überarbeitungen« und behauptet vor allem von den späteren Überarbeitung, der Zusammenhang des Gedankens sei nur schwer nachzuvollziehen.

Mittner (1954, 34 & 49) spricht vom dämonischen Bewusstsein des späten Hölderlin, der Kunst der plötzlichen Einschnitte, der gewaltigen Erleuchtungen in den großen Hymnen und der Unmöglichkeit des Dichters, das Chaos der eigenen Dichtung und in der eigenen Seele zu zügeln.[16] Ohne diese Nähe zum Dunkel allerdings ist große Dichtung nicht möglich. Die kreative Kraft beruht auf einer manischen Begeisterung, »die offene, unstillbare Ekstatik des Eros ist das eigentlich erzeugende Prinzip des menschlich Vollkommenen unter den Bedingungen seiner Endlichkeit.« (Hofmann 1996, 96 f.) Das Neue erschließt sich nicht der Ratio, die in der Lage und notwendig ist, das Neue auf seine Stimmigkeit zu überprüfen, sondern dem manischen, erotischen Dämon, der nach Plato »die Mitte seines Wesens nur außerhalb seiner selbst zu finden vermag.« (Hofmann 1996, 97)

Gert Hofmann (1996, 52) definiert diesen Unterschied als den Paradigmawechsel von der klassizistischen Aisthesis des statuarischen Gottes Apollo zur Poiesis der dionysischen Begeisterung. Hölderlin erfährt im Dionysos die Signatur des Lebendigen in der Poesie. Dionysos ist der kommende Gott. Hölderlin versuchte »jener Seher zu sein, der zum Ausgleich der geschichtlichen Religionen gelangt, indem er die gesamte religiöse Überlieferung der Vergangenheit auslegt«. (Pellegrini 1965, 358) In der Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie seiner Zeitgenossen schreibt Hölderlin: »Jene unendlicheren mehr als notwendigen Beziehungen des Lebens können zwar auch gedacht, als nur nicht bloß gedacht werden; der Gedanke erschöpft sie nicht«. (KTA 14, 37) Die Dunkelheit des Dionysischen kommt aus dem Rausch. Dionysos ist ein Gott der Veränderung und Verwandlung. »Er erfüllt den Menschen mit einer Art von reinigendem (kathartischem) Wahnsinn, der alle Grenzen aufhebt, der Vergessen, Überfluss, Trunkenheit herbeiführt, dionysischen Taumel.« (Lachmann 1966, 22)[17]

Schon in der Theorie der Antike gab es eine Einsicht in die notwendige Dunkelheit der prophetischen Dichtung (Fuhrmann, 1966, 47 ff.) und die Verklammerung von Dunkelheit und Erhabenheit. Eine Tradition dieser obscuritas wurzelt in der Inspirationsmantik der apollinischen Orakel, die andere in der Kunst der Verrätselung. Der Orakelsphäre entstammt der vates: Der Dichter bedient sich einer ernst-pathetischen Sprache, die der Auslegung bedarf. (Möller 2003, 198)[18] »Seine Dichtung als verrätselte Aussage schließt als Bedingung wissend ein, dass sie nicht vernommen wird.« (Kommerell 1944, 332) Hölderlins späte Gedichte sind voll von Verschlüsselungen und Verrätselungen. »Götter sind etwas Rätselhaftes. Nicht nur etwas Geheimnisvolles; das Geheimnis gehört zur Natur alles Religiösen. Sie sind mehr; sie sind rätselhaft. Der prüfende Geist weiß nicht, woran er mit ihnen ist.« (Guardini 1961, 185)[19] Beißner (1954, 41) hofft, dass die rätselhaften Texte sich in der Zusammenschau gegenseitig erhellen möchten. Aber vielleicht bleiben sie letztlich der Interpretation notwendigerweise ebenso verschlossen wie die rätselhaften Botschaften von Delphi.

Die Quelle: die Herstellung einer neuen Sprache

Unsere Zeit ist modern, weil sie für das Neue in der Zukunft lebt. Dieses Neue ist ein fundamentaler Bruch mit der Vergangenheit. Die Aufteilung der Zeit in eine lineare Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist zerbrochen: Was wir von der Zukunft erwarten, kann nicht mehr von dem abgeleitet werden, was es in der Vergangenheit gab. Die Zeit ist nicht mehr einfach das Medium, in dem alles stattfindet, sondern eine eigenständige dynamische Kraft, und die Gegenwart hat die Qualität einer neuen Epoche. Der Ausdruck neue Zeit, der im 18. Jahrhundert aufkam, bezeichnet einen Übergang, in dem das Neue und Unerwartete ständig passierte. Die Zukunft ist nicht unbedingt besser als die Vergangenheit, aber auf alle Fälle anders. (Michaelis 1999, 540 f.)

Jamme (1981, 633) meint, »dass Hölderlin mit der Mythisierung einen »Sprachraum« schafft, in dem zur Sprache kommt, wofür es heute keine Sprache mehr gibt; denn erst wenn die Natur wieder zur Sprache geworden ist, werden wir aufhören, sie zu beherrschen und für unsere Zwecke auszubeuten: »In unserer Welt der dinglichen Erfahrung hat die Natur keine Sprache«. Hölderlin ist der Dichter »einer neuen logischen Bewusstseinsstufe, in der wir Menschen in Frieden leben könnten und zum ersten Mal die Freiheit gewinnen würden, einer dann nicht mehr gefolterten Natur gegenüber offen zu sein.« (Liebrucks 1979, 602 & 503)

Man muss sich in Erinnerung rufen, welche Vorbildfunktion die Antike noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte – trotz der Querelle des anciens et des modernes – um zu sehen, in welche moderne und innovative Richtung Hölderlins Dichtung schließlich ging. Zunächst glaubte auch Hölderlin diese Möglichkeit in der Vergangenheit verwirklicht und hoffte auf eine Wiederkehr des Vergangenen. Mehr und mehr aber kam er zur Überzeugung, dass eine bloße Wiederkehr der Antike nicht ausreichen würde. Das frühromantische Interesse an der antiken Mythologie war keineswegs durch die Vorstellung einer Wiederherstellung motiviert. Die griechische Kultur ist nicht so einfach auf das 18. Jahrhundert zu übertragen, deswegen musste man eine neue Mythologie schaffen. (Roth 1991, 287)

Hölderlin hat sich die Welt der Antike bereits im jugendlichen Alter angeeignet. Die Bedeutung der 1800 begonnenen Übersetzung der Pindarischen Hymnen hängt noch mit der Überzeugung zusammen, dass die griechische und die deutsche Sprache aufs innigste miteinander verwandt sind. Beim Abfassen der Übersetzung musste sich aber dann der Irrtum dieser Annahme zeigen.[20] Dadurch wurde Hölderlin zum Nachdenken über Verwandtschaft und Unterschied der Sprachen angeregt (Pellegrini 1965, 275) und so kommt er schließlich zu »der Einsicht der grundsätzlichen Verschiedenheit des antiken Geistes zum modernen«. (Wackwitz 1985, 114)

Die Metapher der Quelle als Ort an dem nicht die Gemeinplätze, sondern das wirklich Neue sprudelte, war Hölderlin bekannt, und so ist zum Beispiel die sprudelnde Quelle der Donau ein Bild für die Dichtkunst selbst. Das Fließen und Überfließen der Imagination als Quelle des Neuen findet sich z. B. auch in einer bekannten Aussage von Wordsworth im Vorwort zur zweiten Auflage der Lyrical Ballads (1800), die zumeist als programmatisch für die Auffassung der Dichtkunst der Romantiker überhaupt betrachtet wird: »For all good poetry is the spontaneous overflow of powerful feelings«. Und auch eine weniger bekannte Aussage Herders im Briefwechsel über Ossian ( 1773) enthält das gleiche Bild, in dem es heißt, daß »sein [des Dichters] Gedicht aber Ausströmung der Leidenschaft und Empfindung [fodert]«. (Schier 2000, 164 f.; Wordsworth 1955, 387; Herder 1969, II, 217)

Auf der Suche nach diesem Neuen schreibt Hölderlin im Grund zum Empedokles:

es ist nicht mehr der Dichter und seine eigene Erfahrung, was erscheint, wenn schon jedes Gedicht […] aus poetischem Leben und Wirklichkeit, aus des Dichters eigener Welt und Seele hervorgegangen seyn muss, weil sonst überall die rechte Wahrheit fehlt. (FHA 13, 869)

Das Neue muss also (auch) in der Erfahrung des Dichters liegen, auch wenn es ihm in der Manie geschenkt wird, und damit seine eigene Erfahrung überschreitet. »Manie« und »Inspiration« heißt hier nicht eine völlige Abkehr vom Erfahrenen und Erlebten, von der Geschichte: »Das Wahre ist auch in der Geschichte erfahrbar und dort kann stets etwas je Neues auftreten.« (Jamme 1984, 191)[21]

Kerényi erinnert daran, dass Poiesis in ersten Linie machen bedeutet, Poiesis blickt nicht auf das Urbild zurück, sondern auf das eigene Schaffen, das das Werk als Neues hervorbringt. (Kerényi 1971, 13) Natürlich ist auch das »Neue« Hölderlins nicht ohne Vorbilder, denn Hölderlin hält sich, gerade in den Hymnen, immer wieder an antike Vorbilder, z. B. Pindar.[22] Dennoch beklagt er: »wir träumen von Originalität und Selbstständigkeit, wir glauben lauter Neues zu sagen, und alles ist doch Reaktion, gleichsam Rache gegen die Knechtschaft, womit wir uns verhalten haben gegen das Altertum«, (KTA 14, 59) und er klagt darüber, »dass ihre [der Griechen] Originalität, ihre(r) eigene(n) lebendige(n) Natur erlag unter den Formen, unter dem Luxus, den ihre Väter hervorgebracht hatten, das scheint auch unser Schicksal zu sein«. (KTA 14, 59)

In der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet Kant (1977, Bd. 3, 149) zwischen einer produktiven und einer reproduktiven Einbildungskraft:

So fern die Einbildungskraft nun Spontaneität ist, nenne ich sie auch bisweilen die produktive Einbildungskraft, und unterscheide sie dadurch von der reproduktiven, deren Synthesis lediglich empirischen Gesetzen, nämlich denen der Assoziation, unterworfen ist, und welche daher zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori nichts beiträgt, und um deswillen nicht in die Transzendentalphilosophie, sondern in die Psychologie gehört.

In Kants Darstellung gibt es daher, wie Strack zeigt, einen Platz sowohl für das produktive als auch das reproduktive Vermögen:

Allerdings ist die bloße Apprehension allein nach Kant noch nicht fähig, ein Bild und ›Zusammenhang der Eindrücke‹ hervorzubringen, dazu bedarf es eines ›subjektiven Grundes‹, ›eine Wahrnehmung, von welcher das Gemüt zu einer anderen übergegangen, zu den nachfolgenden herüberzurufen; und so ganze – Reihen derselben darzustellen.‹ (Strack 1976, 53)

Hölderlin fragt nicht weiter nach der Möglichkeit dieses Vermögens, das die Vorstellungen und Bilder liefert, und steht damit »Kants transzendental-theoretischer Perspektive ebenso fremd gegenüber wie Schiller.« (Strack 1976, 55) Es ist deutlich, dass Hölderlin »die Einbildungskraft als ›produktives‹ Vermögen zu kostbar war, um sie im theoretischen Bereich aufzuzehren.« Auch bei Kant erhält die Einbildungskraft ›als produktives Erkenntnisvermögen‹ eine zusätzliche Funktion:

Die Synthesis überhaupt ist, […] die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind. (Kant 1977, Bd. 3, 117)

Ohne die Einbildungskraft wären wir unfähig die vielen Perzeptionen zu einem Ganzen zu synthetisieren:

Das erste, was uns zum Behuf der Erkenntnis aller Gegenstände a priori gegeben sein muß, ist das Mannigfaltige der reinen Anschauung; die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft ist das zweite, gibt aber noch keine Erkenntnis. (Kant 1977, Bd. 3, 117)

Interessanter für die Analyse von Kunst sind aber Kants Auffassungen über das Genie. In der Kritik der Urteilskraft definiert Kant das Genie als

das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angebornes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt. (Kant 1977, Bd. 10, 241 f.)

Man sieht hieraus, daß Genie

1) ein Talent sei, dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen: nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden kann; folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse.

2) Dass, da es auch originalen Unsinn geben kann, seine Produkte zugleich Muster, d. i. exemplarisch sein müssen; mithin, selbst nicht durch Nachahmung entsprungen, anderen doch dazu, d. i. zum Richtmaße oder Regel der Beurteilung, dienen müssen.

3) Dass es, wie es sein Produkt zu Stande bringe, selbst nicht beschreiben, oder wissenschaftlich anzeigen könne, sondern daß es als Natur die Regel gebe; und daher der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiß, wie sich in ihm die Ideen dazu herbei finden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken, und anderen in solchen Vorschriften mitzuteilen, die sie in Stand setzen, gleichmäßige Produkte hervorzubringen. (Daher denn auch vermutlich das Wort Genie von genius, dem eigentümlichen einem Menschen bei der Geburt mitgegebenen schützenden und leitenden Geist, von dessen Eingebung jene originale Ideen herrührten, abgeleitet ist.)

4) Dass die Natur durch das Genie nicht der Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel vorschreibe; und auch dieses nur, in sofern diese letztere schöne Kunst sein soll. (Kant 1977, Bd. 10, 242 f.)[23]

Strack (1976, 60) ist der Auffassung, Hölderlin »habe, dem Kantischen Begriff des Genies gemäß, dessen freie Assoziation (als solche ließe sich ungezügelte ästhetisch produktive Einbildungskraft deuten) einem sittlichen Ordnungsprinzip unterstellen wollen«. Andererseits wusste Hölderlin von der Gefahr des Gesetzes, die Produktivität zu verhindern: »Öde stehn und dürre / Wo die Blüten das Gesetz erzwingt«.

Es geht nicht darum frei zu assoziieren, sondern etwas zu produzieren, was die Natur als Stoff nimmt, aber etwas Neues schafft, was die Natur übertrifft:

Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. Wir unterhalten uns mit ihr, wo uns die Erfahrung zu alltäglich vorkommt; bilden diese auch wohl um: zwar noch immer nach analogischen Gesetzen, aber doch auch nach Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen (und die uns eben sowohl natürlich sind, als die, nach welchen der Verstand die empirische Natur auffasst); wobei wir unsere Freiheit vom Gesetze der Assoziation (welches dem empirischen Gebrauche jenes Vermögens anhängt) fühlen, nach welchem uns von der Natur zwar Stoff geliehen, dieser aber von uns zu etwas ganz anderem, nämlich dem, was die Natur übertrifft, verarbeitet werden kann. (Kant 1977, Bd. 10, 250)

Die Hymne: gesanghafter Ausdruck eines Begeisterungszustands

Eine Hymne (griechisch ὕμνος) gehört in den Zusammenhang des antiken griechischen Kults und ist ein Lobgesang, ein Preisgesang auf die Götter oder Helden oder Sieger im Wettkampf, abgeleitet von ὕμνειν, preisen, feiern oder ein Fest vorbereiten. Eine Hymne ist gesanghafter Ausdruck eines Begeisterungszustands. Hölderlin selbst sieht die Dichtkunst »in ihrem ganzen Wesen, in ihrem Enthusiasmus, wie in ihrer Bescheidenheit und Nüchternheit« als einen »heiteren Gottesdienst.« (StA III, 467 f.) Die lyrische Sprache der Hymne hat vor allem eine Aufgabe, nämlich die Verherrlichung der Götter. Das Fehlen der Götter wird für Hölderlin zum existenziellen Problem. Pellegrini (1965, 293) meint, Hölderlin habe »Christus zusammen mit den andern Göttern verherrlicht« ohne zu sagen, woher Hölderlin diese »anderen Götter« hätte nehmen können, oder inwiefern griechische Götter um 1800 geglaubt werden konnten. Sind solche Götter ein rein ästhetisches Spiel, oder geht es um mehr. »Unter den Bedingungen der Neuzeit, die keine Götter und kaum noch Allegorien erfinden kann, heißt das, an die Stelle der alten Namen neue abstrakte bis hochabstrakte zu setzen: das Ich, die Welt, die Geschichte, das Unbewusste, das Sein.« (Blumenberg 2006, 319) Gaier (1993, 398) meint, Hölderlin antworte auf dieses Dilemma »mit dem Gedanken von der Sprachartigkeit, der Logoshaftigkeit der Kultur und der von ihr erzeugten Göttervorstellungen«.

Im Zentrum von Heideggers Auffassung der Dichtung Hölderlins (wie Jamme ihn versteht) steht der Satz: »Ihr Wort ist: das Heilige. Es sagt von der Flucht der Götter. Es sagt, dass die entflohenen Götter uns schonen. Bis wir gesonnen sind und vermögend, in ihrer Nähe zu wohnen.« (Jamme 1988, 660) Heidegger sieht in Hölderlin den Dichter der kommenden Zeit, der in der ›dürftigen Zeit der Weltnacht‹ den entflohenen Göttern den Weg bereitet für eine neue Ankunft: »Die Erde soll wieder zur Heimat werden, denn, so der Philosoph 1966 im ›Spiegel‹-Gespräch, ›alles Wesentliche und Große‹ sei ›nur daraus entstanden […], dass der Mensch eine Heimat hatte und in seiner Überlieferung verwurzelt war‹.« (Jamme 1984, 193)

Mythos, Hymnen und die Vehemenz göttlicher Einwirkung

Blumenberg (2006, 9 ff.) sieht den Ursprung des Mythos darin, dass der Mensch die Bedingungen seiner Existenz nicht in seiner Hand hatte und die Übermächtigkeit des Anderen erfahren hat. Der Mythos ersetzt das Unvertraute durch das Vertraute, das Unnennbare durch das Benannte: »Was durch den Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher herausgehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen.« Daraus schließt er: »Welt zu haben, ist immer Resultat einer Kunst.« Aber: »Mythen antworten nicht auf Fragen, sie machen unbefragbar.« (Ebd., 142) Im geschlossenen Raum der Dichtung, in der magischen Höhle erfährt der Dichter die Realität von Gestalten, die Herrschaft des Wunsches, der Magie, der Illusion, die Überschätzung der eigenen seelischen Vorgänge. (Ebd., 14) Nicht immer ist die Grenze zwischen dem Mythos und dem Logos auszumachen, sie bleibt imaginär, ja man kann sagen: »Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos.« (Ebd., 18)[24] Die Wirklichkeit zeigt sich als das Andere, das nicht beherrschbar ist, aber noch nicht als der Andere, zu dem sie erst durch die Interpretation wird. Die Sache, die Natur, wird durch die Metapher als ein anderes Ich erschlossen, und damit »beginnt eine Weltauslegung, die den erfahrenden Menschen in die Geschichte des erfahrenen Anderen verwickelt.« (Ebd., 28) Friedrich Schlegel schreibt über die ersten Ahnungen des Unendlichen und Göttlichen, sie haben die Menschen »nicht mit frohem Erstaunen, sondern mit wildem Entsetzen erfüllt.«[25] (Ebd., 71) Während die Aufklärung dazu neigte, den Mythos und die Religion als Priesterbetrug zu entlarven, besteht Blumenberg darauf: »Wer entmythisiert, läuft Gefahr, nichts in der Hand zu behalten.« (Ebd., 538)

Hölderlin hat versucht, Platos mythische Bilderwelt im Phaidros zu entmythologisieren, und versucht, die traditionellen Mythen als Chiffren moderner Bewusstseinsphänomene zu deuten. Sie sollten »als bildliche Evokationen dessen begriffen werden, was die neue Philosophie rational entwickelte«. Hölderlins Griechenbegeisterung kann nur richtig verstanden werden in diesem komplementären Bezug antiker Mythen und moderner Bewusstseinsphilosophie. Schon die Tübinger Stiftler wollten die alten Mythen, auch die Christlichen, auf eine rationale Grundlage stellen. »Die traditionellen bildlichen Überlieferungen sollten durch die moderne Philosophie ihre transzendentale Grundlage erhalten.« Oder wie Hegel (1979, Bd. 1, 235 f.) sagt: »wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muss im Dienste der Ideen stehen, sie muss eine Mythologie der Vernunft werden.« Aber auch umgekehrt sollten die transzendentalen Wahrheiten wieder in neue Mythen, die unserem Denken entsprachen, eingekleidet werden. (Strack 1976, 130) Wo ist aber dann der Gott zu finden, und wo ist sein Ort nach den Mythen der Menschheit und den Lehren der Religion? Mit welchen Gedanken und rhetorischen Tropen können wir diesen Ort ansprechen, der keine Adresse hat und daher ein Nicht-Ort (Utopia) ist, unendlich weit entfernt von den Gemeinplätzen und öffentlichen Räumen, die man immer wieder besuchen kann? (de Vries 1994, 445) Das wirft die Frage auf: »Was ist Gott? / Was ist Gott? unbekannt, dennoch / Voll Eigenschaften ist das Angesicht / Des Himmels von ihm«. (KTA, Bd. 9, 24) Und in Heimkunft schreibt Hölderlin: »es fehlen heilige Nahmen« (FHA 7, 229) – das sollte nicht im Sinn der Tradition einer negativen Theologie gelesen werden (Pseudo-Dionysius, Eckhart, Levinas und Marion), die es mit der Schwierigkeit zu tun hatte, Begriffe und Namen zu gebrauchen, wenn man von Gott sprach. Und es geht auch nicht darum, dass diese Namen einfach nicht zur Hand oder vorhanden sind. Der Tod Gottes ist unwiderruflich und die Götter kehren nur als Idole oder als Kitsch zurück. (Vgl. de Vries 1994, 452)[26]

Walther F. Otto (1942) fand in Hölderlin einen ›Mitwisser der Urreligion‹ und wies hin auf die ›Urphänomene‹ des Kultes und der Feier in seinem Werk. (Ryan 1962, 5) Wackwitz (1985, 124) betont vor allem »die Sphäre des Halbgöttlichen« die seiner Meinung nach »in die hymnische Gattung« gehört, »weil sich in ihr der Gott mit den Menschen versöhnt hat; der Mythos erklärt die Existenz von Halbgöttern mit der Liebe eines Gottes zu einer menschlichen Frau«. Jaspers (1949, 132 & 136) geht davon aus, dass die mythische Welt Hölderlin gegenwärtig gewesen sei, und dass sie sich in seinen freien Strophen »mit einer durch traditionelle Formen ungehemmten Wucht« entfaltet habe. Er spricht von der »Vehemenz göttlicher Einwirkung« und von einer »Erfahrung von der drohenden Überwältigung durch göttliche Offenbarung«. Hölderlin selbst war sich dieser Gefahr durchaus bewusst und formulierte sie als Anspielung auf den antiken Mythos: »jetzt fürcht ich, dass es mir nicht geh’ am Ende, wie dem alten Tantalus, dem mehr von den Göttern ward, als er verdauen konnte« (Dezember 1801) Das Kalkül ist gerade deswegen notwendig, weil der Dichter sich einer äußersten Gefahr aussetzt: »Wo der Mythos einen Menschen erfasst, sprengt er die Grenze seines Verstands.« (Häussermann 1959, 99 f.)

Hölderlin denkt poetisch, d. h. mythisch: »In der Weltanschauung Hölderlins ist von früh an ein tiefes Bewusstsein von der Verwandtschaft des Menschen mit der Natur, mit dem Griechentum, mit dem Göttlichen. Diese drei Welten sind letzthin für ihn eine, alle drei dasselbe«. Die ursprüngliche Einheit der sinnlich und empirisch wahrnehmbaren Welt mit dem, was er das Göttliche nennt, formt sein Weltverständnis: »Er erfährt eine mythische Gegenwärtigkeit, in der die sogenannte Wirklichkeit des naturalistisch eingestellten Menschen nicht getrennt ist von der Gegenwart des Absoluten, Göttlichen.« (Jaspers 1949, 132) Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die bipolare Psychose eine besondere Empfindlichkeit schafft: »Diese Entwicklung ist nun vielleicht durchaus verstehbar aus Hölderlins ursprünglichen Telos, aber ihr kommt entgegen, was durch Schizophrenie in vielen Fällen spontan auftritt.« (Jaspers 1949, 133)

Blumenberg (2006, 264) sieht »die mythische Denkform gekennzeichnet durch die fast unbegrenzte Vereinigungsfähigkeit heterogener Elemente unter dem Titel des ›Pantheon‹«. Das unterscheide den Mythos vom Dogma einer institutionalisierten Kirche: »Alles, was das Dogma fordert, erlässt der Mythos. Er fordert keine Entscheidungen, keine Bekehrungen, kennt keine Apostaten, keine Reue.« Er meint, Polytheismus sei ein Versuch, in der protestantischen Welt einen Ersatz für die fehlenden Heiligen zu schaffen, die ihrerseits im Katholizismus ein abgeschwächter Ersatz für die Vielzahl der Götter sind.

Aber auch die Bibel ist ja schon nicht ganz frei vom Polytheismus, auch wenn das meist entweder durch die Übersetzung kaschiert oder beim Lesen verdrängt wird. Im ursprünglichen, hebräischen Text wird für »Gott« das hebräische Wort »Elohim« verwendet, was unzweifelhaft »Götter« bedeutet. (Und diese Elohim waren tiergesichtig, und spielten als Widder und Ziegenbock auch weiterhin eine wichtige Rolle als Opfertiere). In der katholischen Einheitsübersetzung lesen wir deshalb (5. Mose 32,8): »Als der Höchste (der Götter) die Völker übergab, als er die Menschheit aufteilte, legte er die Gebiete der Völker nach der Zahl der Götter fest.« Ein klares Zugeständnis an die Vielgötterei. Martin Luther missfielen diese Zugeständnisse an den Polytheismus und er ersetzte recht eigenmächtig die »Götter« durch die »Söhne Israels«. An Moses Ausruf hingegen änderte er nichts (5. Mose 10,17): »Denn der Herr, euer Gott, ist der Gott aller Götter.« Und am Berg Sinai verlangt das Volk: »Auf, mach uns Götter, die vor uns hergehen sollen.« Das Kalb ist zudem ein Gott, den man essen kann.

Dabei ist Mythos nicht als eine verschwommene Auffassung eines Irrationalen zu verstehen, sondern wie Gerhard (1855, § 626) gezeigt hat als durchaus mit genau begrenzten geografischen und ethnografischen Gehalten verbunden. »Die Substanz des Mythos liegt weder im Stil noch in der Erzählweise oder der Syntax, sondern in der Geschichte, die darin erzählt wird. Der Mythos ist Sprache, aber eine Sprache, die auf einem sehr hohen Niveau arbeitet, wo der Sinn, wenn man so sagen darf, sich vom Sprachuntergrund ablöst«. (Lévi-Strauss 1967, 231) Der Mythos verknüpft in Namen und Bildern eine symbolische und ethische Färbung des Orts und der Heroengestalten und ihrer Taten. Land und Boden betreffend, sind die Geschlechtsregister griechischer Sagen neben allgemeinen physischen Angaben mit mancher Andeutung gefüllt, wie die Vorzeit des Landes ans Licht und Dunkel zum Tag der Geschichte erwachsen sei. Auf solche Heroen mit ihrer Gottähnlichkeit, auf Lichthelden, auf neptunische, auf Erd- und Mondgöttinnen, greift Hölderlin zurück. Licht und Feuer, solarische und siderische Symbole, zyklische Naturfeste, Wasser, Erdgeburt in Schlangengestalt, plutonische Wildheit, weibliche Mond- und Erdkraft sind Teile dieses mythologischen Universums. Die Taten dieser gottähnlichen Heroen handeln von den ältesten Göttersymbolen, Schlange und Stier, die sie überwinden müssen, um die Erde bewohnbar zu machen. In diesen mythischen Bildern sieht Benjamin (1977, 109) die »innere Einheit von Gott und Schicksal« und daran »ist der Mythos erkennbar.« Der Mythos vollzieht sich schicksalhaft, man erkennt den Mythos »am Walten der Ἀνάγκη.« Und daher gilt: »Es gehen in gewichtig sehr abgehobenen Ordnungen Götter und Sterbliche in entgegengesetztem Rhythmus durch das Gedicht«. (Ebd., 113) Hofmann (1996, 88) meint, der Mythos sei konkret, weil er immer schon wörtlich ist. Der Myhos ist praktisch und kommunikativ und interpretiert auf diese Weise die Wirklichkeit. Der Mythos braucht keine Abstraktion, sondern produziert Geschichten. Der Mythos ist ein Diskurs des Fremden und erzeugt immer nur einen vorläufigen Sinn.

Hölderlin hat sich schon in seiner Jugend die Gedanken Herders zum Mythos zu eigen gemacht und sich überlegt, wie sich neben die antike und biblische Mythologie eine eigene stellen lässt. Aber der Mythos ist auch eine Gefahr für die deutsche Kritik seit Herder, weil er nämlich dazu verleitet, eine »notwendige Übereinstimmung zwischen der mythischen Welt der Griechen und der Germanen« vorauszusetzen und leicht zu der Überzeugung verführt, dass »die deutsche Seele und das deutsche Leben, von allen christlichen Einflüssen gereinigt, wiederum zu den Ursprüngen des germanischen Mythos zurückkehren müssten.« (Pellegrini 1965, 176 & 177) Pellegrini findet in Hölderlins Dichtung »die Verherrlichung der Naturkräfte« aber »in ihrer durch den Mythos erfolgten Verwandlung.« Er meint, dass Hölderlin »die Natur zu einer Idee im platonischen Sinn erhebt, in der sich die Einheit mit dem Geiste begründet.« Andererseits ist er der Auffassung, dass der Platonismus Hölderlins ein Element von Heraklit mit enthält, das jenes sich in der Idee ausdrückende parmenidische übertönt; »damit gelangen wir zu einem Fließen, einem Sich-Bewegen, einem fortgesetzten und stets veränderten Leben in jedem Teile der Natur«. (Pellegrini 1965, 179)[27] In den Fragmenten des Parmenides aus Elea konnte Hölderlin die Aussage finden: »Ein Gemeinsames [Zusammenhängendes] aber ist mir [das Seiende,] wo ich auch beginne. Denn dahin werde ich wieder zurückkommen.« (Diels 1922, Bd. 1, 151) Über das Seiende sagt Parmenides:

So bleibt nur noch Kunde von Einem Wege, dass [das Seiende] existiert. Darauf stehn gar viele Merkzeichen; weil ungeboren, ist es auch unvergänglich, ganz, eingeboren, unerschütterlich und ohne Ende. Es war nie und wird nicht sein, weil es zusammen nur im Jetzt vorhanden ist als Ganzes, Einheitliches, Zusammenhängendes [Kontinuierliches]. Denn was für einen Ursprung willst Du für das Seiende ausfindig machen? Wie und woher sein Wachstum? [Weder aus dem Seienden kann es hervorgegangen sein; sonst gäbe es ja ein anderes Sein vorher], noch kann ich Dir gestatten [seinen Ursprung] aus dem Nichtseienden auszusprechen oder zu denken. Denn unaussprechbar und unausdenkbar ist es, wie es nicht vorhanden sein könnte. Welche Verpflichtung hätte es denn auch antreiben sollen, früher oder später mit dem Nichts zu beginnen und zu wachsen? So muss es also entweder auf alle Fälle oder überhaupt nicht vorhanden sein. (Diels 1922, Bd. 1, 154 f.)

Und in den Fragmenten des Heraklit aus Ephesus heißt es: »Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, hat kein Gott und kein Mensch geschaffen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen erglimmend und nach Maßen erlöschend.« (Diels 1922, Bd. 1, 84)

Wer wissen will, ob Hölderlin ein Religionsgründer sein wollte, auch wenn er in Wirklichkeit keine Religion gegründet hat, kann nicht nur fragen, ob er »die Rückkehr der antiken Götter durchsetzen wollte«. Etwa gleichzeitig mit Hölderlins Anstrengungen um den Mythos sind die mythologischen Arbeiten Georg Friedrich Creuzers (1810),[28] z. B. die Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, entstanden. Auch wenn Hölderlin dieses Werk nicht kannte, so liegen hier doch zum Teil interessante Parallelen vor. Creuzer sah die Götter der Mythen einerseits als Naturkräfte, so z. B. wenn die Menschen die am Firmamente strahlenden göttlichen Sterne und die in der Natur wirksamen Kräfte als Götter verehrten, und die Wesen, zu denen sie sich aus Dankbarkeit hingezogen fühlen, leibhaftig in ihrer Nähe haben wollten, um ihre Knie zu umfassen und ihnen ihre Opfergaben darzubringen. Die Götterbilder waren im Mythos keine symbolischen Zeichen, die an das unbekannte Wesen der Gottheit erinnern sollten; es waren ikonische Abbildungen der Götter selbst. Andererseits wurden auch Stammesheroen von den Griechen mit den Gottheiten vermengt und das Wesen der Götter gleichsam auf ihre Person übertragen. Hölderlin bezeichnet die ›heilige Natur‹ als die ›Göttermutter‹, die alles ›Leben der Welt‹ in sich schließt. Guardini (1955, 467) argumentiert aber, »man darf nicht meinen, [die Götter] auf ein gar zu einfaches Prinzip zurückführen zu können, so als seien sie nichts anderes als die vergöttlichten Elemente oder eine anthropomorph gesehene Natur.« Er sieht die bei Hölderlin beschriebenen Kräfte als »kosmisch und göttlich«. Aber Symbole und ein ›objektiver Traum‹ sind natürlich noch keine Religion. Böckmann (1943, 21) sieht die ›Natur‹ als »den umfassenden Begriff, der die Vielfalt der Götter in sich vereinigt«. »Nach Strauß (1927, 339 ff., Ergänzung P. H.) war Hölderlins religiöses Erlebnis die Offenbarung der Natur als Gottheit.« (Pellegrini 1965, 118) Man kann selbstverständlich Aussagen wie »Denn immer lebt / Die Natur« (Griechenland, StA II, 256) als Hinweise auf die Denkungsart Hölderlins nehmen und benutzen, um seine Gedichte zu interpretieren. Dass der Begriff und die Anschauung der »Natur« als letztlich gültige Macht im Leben bei Hölderlin eine zentrale Rolle spielen, kann man kaum leugnen. Hölderlins Naturauffassung ist allerdings von jener der von Rousseau beeinflussten Romantiker verschieden. (Pellegrini 1965, 175) Zunächst einmal muss man analysieren, was bei Hölderlin Natur bedeutet, »da unter dem Wort Natur das Verschiedenste verstanden werden kann. Der Rousseauismus der Stürmer und Dränger, der Lebensglaube der Romantiker, der wissenschaftliche Positivismus und Biologismus des 19. Jahrhunderts«. (Ebd.) Böckmann (1961, 249) betont: »Für Hölderlin bleibt die Natur selbstgenügsamer und fremder, ohne deshalb an seelischer Übergewalt einzubüßen; er nennt sie mit dem Götternamen«. Strack (1976, 21) versucht scheinbar Unvereinbares doch zusammenzusehen: »Es blieb unerklärlich, wie seine emphatische Naturbegeisterung und Griechenverehrung mit Revolutionsenthusiasmus und Transzendentalphilosophie zusammenstimmen sollten. Und doch sind es gerade diese vier Komplexe, die Hölderlin mit Hilfe der Kantischen Moralphilosophie auf einen Nenner zu bringen versucht, indem er sie einem Gesetz, das er ›Gesetz der Freiheit‹ nennt, unterstellt.«

Sokrates und Plato nahmen folgende Ordnung der Wesen an: Götter, Dämonen, Heroen und Menschen. Bei den Griechen gelten solche göttlich-menschliche Zwischengestalten, die bei Hölderlin eine wichtige Rolle spielen – wie Herakles und Dionysos – als die jüngsten Götter, obwohl Herodot aufgrund seiner Forschungen in Ägypten meint, dass Herakles ein uralter Gott sei. Die Heraklesreligion war zur Zeit Jesu in Syrien, Griechenland und von Rom bis zum Rhein bekannt. Seine Mutter Alkmene und der Adoptivvater Amphitryon reisten zur Entbindung von Mykenai nach Theben, so wie Josef und Maria von Nazareth nach Bethlehem. Göttervater Zeus hatte Herakles’ Geburt vorausgesagt, so wie die Propheten des Alten Testaments das Kommen Jesu angekündigt hatten. Und kaum war er auf der Welt, wurde auch Herakles von seinen Feinden gesucht und verfolgt. Herakles wie auch Jesus zogen sich vor ihnen in die Einsamkeit zurück. Dort erkannten sie ihre Berufung und widerstanden der Versuchung des Bösen. Beide gehorchten einem göttlichen Vater, wandelten übers Wasser und wurden Heiland und Friedensbringer genannt. Dem Johannesevangelium zufolge starb Jesus mit den Worten (Joh. 19,30) »Es ist vollbracht«, während die Erde bebte und der Himmel sich verdunkelte. Herakles’ letzte Worte, bevor er zum Vater in den Himmel schwebte, waren genau dieselben. Angeblich starb er in Anwesenheit seiner Mutter und seines Lieblingsjüngers Hyllos. Der Schuldige an seinem Tod hängte sich wie Judas nach seinem Verrat aus Reue auf. Für Hölderlin besonders wichtig ist die Thematik des Heroischen und der Halbgott Herakles ist ihr zentrales poetisches Bild, in dem sich die Einheit aktiv, kämpferisch, im Prozess ihrer Realisierung ausdrückt. Der Heros verwirklicht sich in einer zerrissenen Welt; seine Taten vereinigen Subjektivität und Welt und er wird damit zu einem Symbol der neuen, revolutionären Welt, deren heroisch-antike Selbstdarstellung in Frankreich von Hölderlin vereinigungsphilosophisch ausgedeutet wird.« (Wackwitz 1985, 59) Herakles ist »deutlich ein Heilbringer; nicht dass er die Menschen reinigt, er reinigt die Welt für sie, wie die Ställe des Augias.« (Blumenberg 2006, 129)

Hölderlin benutzt den Mythos von Herakles als ordnende Macht gegenüber den Titanen und dann in der Annäherung zwischen Herakles und Christus. Die Herrschaft des Zeus beginnt mit der Niederwerfung des Kronos und der Titanen, und Herakles bezähmte den Aufruhr der chthonischen Mächte. (Pellegrini 1965, 467) Der Herakles der späten Hymnen ist der Reiniger und der Überwinder des Chaos, der den wiederkehrenden Göttern den Weg bereitet.

Dionysos, der Sohn des Gottes Zeus und einer irdischen Frau namens Semele, war ebenfalls das Ergebnis einer Jungfrauengeburt.[29] Dionysos wurde in einen Korb, Jesus in eine Krippe gebettet. Und auch Dionysos verwandelte Wasser in Wein, starb am Kreuz und stand danach von den Toten auf. Der Kult um Dionysos war im Mittelmeerraum weit verbreitet und man huldigte ihm von Syrien bis nach Spanien. In vielen griechischen Städten standen Heiligtümer und in Rom lebten einige tausend bekennende Dionysos-Anhänger. Hofmann (1996, xi) betont, dass Hölderlin in Dionysos das Paradigma des »kommenden Gotts« verkörpert sieht, den Gott, der als »kommender« gegenwärtig ist, und der das Fremde im Eigenen reflektiert und damit bei Griechen wie »Hesperiern« »das Höchste der Kunst« hervortreibt. Angesichts dieser Tendenz zum Polytheismus fragt Guardini (1955, 326 f.):

Welche Bedeutung und welches Aussehen hat das Christusbild in seiner Dichtung: Die Religiosität des Dichters ist durch den Mystizismus und den Pietismus gebildet worden, und zwar vermittels der pantheistischen[30] und idealistischen Synthese seiner Tübinger Freunde Hegel und Schelling […] nach dem Verfall seines christlichen Glaubens tauchen wiederum die heidnischen Gottheiten auf.

Beißner behauptet daher, bei Hölderlin solle »Christus […] die Menschen wieder zu den Göttern allen hinleiten, zu den Göttern im Plural!« Wenn Pellegrini (1965, 198) meint, der »Polytheismus und Animismus Hölderlins, der Glaube an heidnische Gottheiten, die sich zu einer einzigen vereinigen, der Natur,« leugne in ihrer Gesamtheit das Christentum, dann übersieht er, wie Hölderlin dennoch immer wieder Christus in das Zentrum seiner Religiosität stellt. Allerdings entsteht daraus für ihn »das Problem, Christus einen Platz auf seinem Olymp zuzuweisen.« Hölderlin spricht zwar seine Liebe zu Christus aus, so z. B. in Der Einzige