Im nächsten Leben wird alles besser - Hans Rath - E-Book

Im nächsten Leben wird alles besser E-Book

Hans Rath

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Beschreibung

Im beschaulichen Leben von Arnold Kahl bricht urplötzlich eine neue Zeitrechnung an: Über Nacht wird der 53-jährige ins Jahr 2045 katapultiert. Ist das ein Alptraum? Oder eine physikalische Anomalie? Arnold weiß nur: Ab sofort ist er ein alter Sack, der die Welt nicht mehr versteht. Künstliche Intelligenz steuert sämtliche Lebensbereiche, humanoide Serviceroboter erledigen die Arbeit. Wer sich die reale Welt nicht mehr leisten kann, der zieht nach Times Beach, einem virtuellen Freizeitpark. Arnolds persönlicher Assistent heißt Gustav. Der charmante Uralt-Roboter hilft bei der Rekonstruktion von Arnolds Lebens, das sich als ein Desaster entpuppt. Arnold hat es gründlich verbockt. Seine Ehe und Familie sind Geschichte, sein Leben ein Jammertal. Er wünschte, er könnte die letzten 25 Jahre zurückdrehen – aber wie?

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Im nächsten Leben wird alles besser

Der Autor

Hans Rath, geboren 1965 im niederrheinischen Straelen, studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin, wo er unter anderem als Drehbuchautor tätig ist. Mit der Romantrilogie »Man tut, was man kann«, »Da muss man durch« und »Was will man mehr« etablierte sich Rath zum Bestseller-Autor – zwei der Bücher wurden fürs Kino verfilmt. Sein Roman »Und Gott sprach: Wir müssen reden« ist sein bislang erfolgreichstes Buch – und Auftakt der »Gott-sprach«-Trilogie, einer Komödie über die großen Fragen der Menschheit.

Das Buch

Im beschaulichen Leben von Arnold Kahl bricht urplötzlich eine neue Zeitrechnung an: Über Nacht wird der 53-Jährige ins Jahr 2045 katapultiert. Ist das ein Albtraum? Oder eine physikalische Anomalie? Arnold weiß nur: Ab sofort ist er ein alter Sack, der die Welt nicht mehr versteht. Künstliche Intelligenz steuert sämtliche Lebensbereiche, humanoide Serviceroboter erledigen die Arbeit. Wer sich die reale Welt nicht mehr leisten kann, der zieht nach Times Beach, einem virtuellen Freizeitpark. Arnolds persönlicher Assistent heißt Gustav. Der charmante Uralt-Roboter hilft bei der Rekonstruktion von Arnolds Leben, das sich als ein Desaster entpuppt. Arnold hat es gründlich verbockt. Seine Ehe und Familie sind Geschichte, sein Leben ein Jammertal. Er wünschte, er könnte die letzten fünfundzwanzig Jahre zurückdrehen – aber wie?

Hans Rath

Im nächsten Leben wird alles besser

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

ISBN 978-3-8437-2249-0© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Alle Rechte vorbehaltenCovergestaltung: semper smile, MünchenCovermotiv: © shutterstock/ Karin Hildebrand Lau; Vladimir SviracevicAutorenfoto: © Mirjam KnickriemE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

1 Ein Mann liegt falsch

2 Ein Mann bricht auf

3 Ein Mann haut ab

4 Ein Mann liegt richtig

Epilog

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Cover

Titelseite

Inhalt

1 Ein Mann liegt falsch

1 Ein Mann liegt falsch

1

Eigentlich ist es überhaupt nicht meine Art, in fremden Betten zu landen. In fast fünfundzwanzig Ehejahren habe ich Kathrin kein einziges Mal betrogen. Gut, drei Mal war ich nah dran, und dann gab es noch zwei weitere Male, da war es sogar noch knapper. Aber ich habe im letzten Moment immer die Kurve gekriegt. Selbst im vorletzten Sommer, als ich mich in einem Anflug von jugendlicher Schwärmerei in eine jüngere Frau verguckt hatte. Damals habe ich sogar ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Kathrin zu verlassen und ein neues Leben anzufangen. Aber ich bin geblieben.

Ich liebe meine Frau, auch wenn unsere Beziehung seit zwei oder drei Jahren nicht mehr ganz rundläuft. Da ist was eingesickert. Ein Zweifel, ein Argwohn, eine gewisse Schwere. Vielleicht liegt es am Alter – wohlgemerkt an meinem, nicht an ihrem. Kathrin wird im nächsten Jahr fünfzig, hat aber überhaupt keine Probleme mit dem Älterwerden. Kein Wunder, denn sie ist eine attraktive Frau, die trotz ihrer Falten und der angegrauten Haare jugendlich und vital wirkt. Meditation und Yoga sorgen dafür, dass sie in Zeitlupe altert. Ganz im Gegensatz zu mir. Wenn ich morgens vor dem Spiegel stehe, dann sehe ich wie die heruntergekommene Version vom Weihnachtsmann aus. Und das, obwohl ich meinen grauen Bart inzwischen wieder kurz trage. Dabei bin ich nur drei Jahre älter als Kathrin. Aber damit auch schon so gut wie Mitte fünfzig. Eigentlich kann ich den Sechzigsten schon vor mir sehen. Wenig später werde ich in Rente gehen, danach meinen Siebzigsten feiern und dann klopft auch schon der Sensenmann an die Tür. Kurz gesagt, es ist nur noch ein kleiner Spaziergang, bis ich diese Welt wieder verlassen muss. Dabei fühlt es sich an, als hätte ich sie gerade erst betreten. Und ja, ich gebe zu, das gibt mir schon zu denken.

Kathrin behauptet, meine schlechte Laune liegt nicht am Alter, sondern an meiner Schwarzseherei. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Stimmt schon, es kommt momentan alles zusammen. Die digitale Revolution, die Überbevölkerung, der Klimawandel. Wo man auch hinsieht, überall kriselt es. Und ich sehe niemanden, der die Probleme meistern könnte. Die Welt wird von Hütchenspielern regiert, die nur die nächste Partie durchbringen und sich dann mit dem ergaunerten Geld aus dem Staub machen wollen. Wie soll man da noch gute Laune haben?

2

Ich stelle also mit Schrecken fest, dass ich in einem fremden Bett liege, obwohl ich jeden Eid darauf schwören würde, dass ich mich gestern Abend neben Kathrin in mein eigenes Bett gelegt habe. Was ist hier los?

Ich spüre eine bleierne Müdigkeit in den Knochen, fühle mich steinalt und völlig ausgelaugt. Die leise Angst, die mich nun überkommt, lässt meine Gedanken abschweifen. Unwillkürlich muss ich an mein Lebensende denken. Ich stelle mir vor, dass es mir eines Tages so ergehen wird wie jetzt gerade: Ich liege verbraucht und müde in einem fremden Bett und warte darauf, dass die Zeit verstreicht. Bestimmt ist uns von allen Möbelstücken das Bett am nächsten. Wahrscheinlich wird es deshalb auch in Tausenden Jahren noch immer das sein, was es heute ist. Wobei die Menschen von morgen vielleicht einen Weg finden werden, den Schlaf auszutricksen. Wenn niemand mehr schlafen muss, dann braucht man auch weniger Betten. Und weniger Schlafzimmer. Was die Wohnungssuche in Zukunft einfacher machen dürfte. Andererseits werden uns die Betten beim Sex fehlen – falls es Sex dann überhaupt noch gibt. Vielleicht verschwindet das, was wir heute Sex nennen, ebenso still und heimlich wie unser Nachtschlaf. Betten kriegen dann nur noch die Neugeborenen, die Kranken und die Todgeweihten.

Oh Gott, bin ich etwa tot? Bin ich letzte Nacht gestorben? Ist das hier das Vorzimmer zum Himmel? Oder zur Hölle? Der Raum wirkt eigentlich recht freundlich. Wenn das hier die Hölle ist, dann habe ich sie mir definitiv anders vorgestellt.

Ich lasse den Blick durch das fremde Zimmer schweifen. Holzfußboden, getünchte Wände, ein lichtgrauer Schrank und eine dazu passende Kommode, über der ein hauchdünner Flachbildschirm hängt. Ich höre leise, beruhigende Musik, weiß allerdings nicht, woher sie kommt. Könnte ein Hotelzimmer sein. Oder auch ein Apartment der gehobenen Preisklasse. Den Geräuschen von draußen nach zu urteilen, bin ich nicht in der Stadt, sondern irgendwo auf dem Land. Ich kann das Rauschen von Bäumen und den fernen Klang von Kirchenglocken hören. Auch das ist verwunderlich. Kathrin und ich wohnen zwar in einem ruhigen Stadtteil. Dennoch sind die Geräusche der Stadt allgegenwärtig. Statt Glocken hört man in der Ferne Sirenengeheul, statt Blätterrauschen das Klingeln der Straßenbahn. Ich liege also nicht nur im falschen Bett und in der falschen Wohnung, womöglich befinde ich mich sogar im falschen Stadtteil oder gleich in der falschen Stadt. Vielleicht bin ich nicht einmal im richtigen Land, wer weiß?

Das große Fenster links von mir wird durch eine Jalousie verdunkelt. In den Ritzen bricht sich das Sonnenlicht. Der Tag muss längst begonnen haben. Es ist warm. Viel zu warm für Februar. War es nicht gestern noch kühl und regnerisch? Ich meine mich zu entsinnen, dass ich das Grau in Grau verflucht habe. Oder war das vorgestern? Egal, eigentlich verfluche ich das Wetter ständig. Es ist zu nass oder zu kalt, dann wieder zu heiß oder zu trocken. Daran ist nur der verdammte Klimawandel schuld. Wer hätte gedacht, dass die Menschheit eines Tages vom Wetter ausradiert werden könnte? Wobei das ja noch nicht raus ist. Ein brandneues Killervirus oder ein Krieg der Computer sind auch noch in der Los-Trommel für die Apokalypse.

Wie dem auch sei, es bleibt die ungeklärte Frage, warum ich in diesem fremden Bett hier liege. Tatsache ist, dass ich mich gestern nach einem Krach mit Kathrin neben sie ins eigene Bett gelegt habe. Oder spielt mir mein Kopf einen Streich? Worum ging es denn noch gleich bei diesem Streit? Ich erinnere mich dunkel, dass sie mich irgendwann allein in der Küche zurückgelassen hat. Allein mit meinem Frust und dem Rest der Flasche Rotwein. Aber was ist danach passiert? Habe ich etwa weitere Flaschen entkorkt und mich sinnlos besoffen? Bin ich noch um die Häuser gezogen? Einerseits fühlt es sich nicht so an, als ob ich einen Kater hätte, andererseits habe ich mich schon lange nicht mehr so matt und müde gefühlt wie heute Morgen. Habe ich vielleicht Drogen eingeworfen oder irgendwas in der Art? Hat mir jemand was in den Drink gekippt? Wann und wie bin ich in diesem fremden Bett gelandet? Habe ich eine Dummheit begangen? Oh Gott, steht mir etwa gleich eine peinliche Begegnung bevor?

Ein Geräusch vor der Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Ich horche. Kommt mir vor, als hätte ich Schritte gehört. »Hallo? Ist da jemand?«

3

Der Krach am Abend zuvor entzündet sich an einer lapidaren Bemerkung von Kathrin: »Musst du denn schon wieder damit anfangen?«

Es ist einer ihrer Standardsätze, wenn sie mich auf die Palme bringen will. Und es gelingt ihr auch diesmal. Ich reagiere genervt: »Was soll das heißen: schon wieder damit anfangen? Ich habe doch nur erwähnt, dass das Wetter mir die Laune verhagelt. Ist dir aufgefallen, dass inzwischen nur noch zwei Wetterlagen existieren? Entweder ist es brüllend heiß, oder es regnet in Strömen. Ich glaube nicht, dass es der Natur guttut, wenn sie abwechselnd gegrillt oder ertränkt wird.«

»Genau das meine ich«, sagt Kathrin und schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Das Wetter wird nicht dadurch besser, dass du dich ständig darüber aufregst. Außerdem ist deine chronisch schlechte Laune eine echte Geduldsprobe. Ich weiß nicht, ob ich das noch lange ertrage.«

»Die Probleme, die der Klimawandel mit sich bringt, werden jedenfalls nicht dadurch verschwinden, dass man sie ignoriert«, verkünde ich.

»Dein Gejammer wird den Klimawandel aber auch nicht stoppen«, erwidert sie lapidar.

»Ich jammere nicht, ich warne nur davor, dass der Klimawandel die Zukunft der gesamten Menschheit bedroht. Vielleicht werden wir verdursten. Oder ertrinken. Und ja, ich finde, das sollte man durchaus hin und wieder erwähnen, damit es nicht in Vergessenheit gerät.«

»Du erwähnst es aber ständig«, wirft Kathrin ein und gießt das Nudelwasser ab. »Ist dein Tomatensalat fertig?«

»Noch nicht ganz«, sage ich.

Sie wirft einen Blick zum Küchentisch, wo ich mit einem Glas Rotwein vor einer Schüssel Tomaten und einem unberührten Schneidebrett sitze. »Du hast ja noch nicht mal angefangen.«

»Weil ich mich gerade aufrege«, erwidere ich.

»Der Klimawandel ist sogar schuld daran, dass du mit dem Salat nicht fertig wirst?«, fragt sie spitz.

»Gewissermaßen«, improvisiere ich. »Gäbe es keinen Klimawandel, müssten wir nicht darüber diskutieren. Und dann könnte ich mich voll und ganz auf den Salat konzentrieren.«

»Genug Zeit, um in aller Ruhe eine Flasche Wein zu entkorken, hattest du offensichtlich trotzdem«, stellt Kathrin fest.

»Ja. Zum Glück«, füge ich bockig hinzu.

Sie zuckt mit den Schultern. »Ach, egal. Essen wir eben keinen Salat. Wenn wir sowieso alle vom Klimawandel hinweggerafft werden, wozu dann jetzt noch auf eine ausgewogene Ernährung achten, nicht wahr?«

»Machst du dich gerade über mich lustig?«, frage ich.

»Allerdings«, erwidert sie. »Du sitzt da selbstgefällig mit deinem chilenischen Rotwein, der um die halbe Welt geschippert worden ist, und tust so, als wärst du ein Experte für Klimafragen. Bist du aber gar nicht.«

»Warte nur ab«, sage ich. »Wenn uns das arktische Schmelzwasser erst bis zum Hals steht, dann wirst du noch an meine Worte denken.«

»Bestimmt«, sagt Kathrin, stellt zwei Teller mit Spinat-Tortelloni auf den Tisch und setzt sich. »Falls ich die Sintflut überlebe, du aber nicht, dann würde ich auf deinen Grabstein meißeln lassen: Hier ruht Arnold Kahl. Er hat alles ganz genau kommen sehen. - Wäre das in deinem Sinne?«

»Mach dir keine Hoffnungen«, sage ich. »Auch ich habe gute Chancen, die Sintflut zu überleben. Immerhin gehöre ich zu den wenigen Menschen, die sie überhaupt für möglich halten. Ich bin also mental bestens vorbereitet.«

»Das merke ich«, erwidert Kathrin. »Ich glaube trotzdem, dass du bei dem verzweifelten Versuch, deinen geliebten Weinkeller zu evakuieren, leider, leider ertrinken wirst.«

Oha, da ist was dran, denke ich. Vielleicht sollte ich beizeiten die wertvollsten Flaschen in eine der oberen Etagen umlagern. Am besten noch heute.

»Ich weiß ganz genau, was du jetzt denkst«, sagt Kathrin. »Aber vergiss es. Der Wein bleibt im Keller.«

So ist das nach fast fünfundzwanzig Ehejahren. Zuerst teilt man das Bett, dann auch den Tisch, dann Freud und Leid und dann alles, was man je besessen hat und je besitzen wird. Am Ende teilt man sogar die Gedanken. »Guten Appetit.«

»Wünsche ich dir auch«, sagt Kathrin und gießt sich Wein ein.

»Hast du eigentlich nie Angst vor der Zukunft?«, frage ich.

»Doch. Ich habe sogar vor denselben Dingen Angst wie du auch. Aber niemand weiß, was die Zukunft bringt, nicht einmal du. Vielleicht wirst du weder von einem mörderischen Tsunami noch von einer tödlichen Hitzewelle hinweggerafft, sondern stattdessen einfach vom Bus überfahren.«

»Du willst mich wohl unbedingt tot sehen, was?«

Sie muss lächeln. »Du weißt genau, was ich sagen will. Können wir nicht einfach genießen, dass es uns gut geht?«

»Stimmt. Es geht uns zwar gut, aber wie lange noch? Ich meine, wir wissen, dass der Planet vor dem Kollaps steht, aber das ignorieren wir einfach.«

»Und die Alternative ist, dass wir uns mit deinen Horrorszenarien jeden Tag aufs Neue die Laune versauen?«

»Du hast recht, wir könnten uns auch auf den Standpunkt stellen, dass uns all diese Probleme nichts mehr angehen. Wir sind schließlich alt, und …«

»Ich bin nicht alt«, unterbricht Kathrin barsch. »Ich bin neunundvierzig, und das heißt, ich bin vielleicht nicht mehr ganz jung, aber sicher auch noch nicht alt.«

»Ich meinte ja auch nur, dass …«

Wieder grätscht sie mir dazwischen. »Hast du mir zugehört, Arnold? Wenn du dich unbedingt steinalt fühlen möchtest, dann ist das ganz allein deine Sache. Aber zieh mich da gefälligst nicht mit rein.«

»Ja, habe ich verstanden«, sage ich. »Aber was ist mit unseren Kindern und Kindeskindern?«

Kathrin, die gerade die Gabel zum Mund führen wollte, hält inne. »Was soll mit denen sein?«

»Na, wir hinterlassen ihnen einen Berg von ungelösten Problemen.«

»Genau. So wie unsere Eltern uns einen Berg von Problemen hinterlassen haben. Und die wiederum haben die Probleme ihrer Eltern geerbt. Und so geht das immer weiter. Jede Generation will der folgenden zwar ein besseres Leben ermöglichen, aber das gelingt nur selten. Manchmal geht es sogar fürchterlich in die Hose. Deshalb muss jede neue Generation aufs Neue ihren eigenen Weg finden. Wir können nur versuchen, unseren Kindern dabei zu helfen. Das ist der Gang der Welt, Arnold.«

»Aha. Und was haben wir den nachfolgenden Generationen zu bieten? Sinnlose Handyspiele, lustige Katzenvideos und steigende Meeresspiegel?«

»Sieh doch nicht immer alles so schwarz. Ich habe gelesen, insgesamt gesehen, geht es mit der Menschheit bergauf«, erwidert Kathrin. »Wir leben beispielsweise immer länger und bleiben länger fit.«

»Genau. Noch so ein Problem«, ereifere ich mich. »Niemand weiß, wie die Überalterung der Gesellschaft finanziert werden soll. Stell dir vor, wir werden alle hundert Jahre alt. Unsere winzige Rente wird dann doch vorn und hinten nicht reichen. Meinen Laden wird es längst nicht mehr geben. Also müssten wir zuerst die Wohnung verkaufen und dann den Kindern auf der Tasche liegen. Tolle Vorstellung, findest du nicht?«

Kathrins Gesicht verdüstert sich. »Weißt du, was ich an der Vorstellung, hundert Jahre alt zu werden, am schlimmsten finde?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Dass ich mir noch weitere fünfzig Jahre lang dein Gejammer anhören muss. Dabei steht es mir schon jetzt bis hier.« Sie illustriert den Pegelstand, indem sie ihre Hand ans Kinn legt. »Und damit höher, als es das arktische Schmelzwasser jemals tun wird.« Sie nimmt den Teller und das Weinglas und steht auf. »Ich esse übrigens vorm Fernseher. Allein. Ich habe nämlich keine Lust mehr, mir noch länger deine Apokalypsen anzuhören.«

4

Keine Reaktion auf mein Rufen. Also versuche ich es erneut.

Jetzt wird die Tür geöffnet, und ein fremder junger Mann erscheint. Er ist vielleicht Ende zwanzig, schlank, mittelgroß, dunkelblond, halblanges Haar. Ein Durchschnittstyp. Er begrüßt mich mit einem freundlichen Lächeln. »Guten Morgen, Arnold.«

Der Durchschnittstyp kennt also meinen Namen. Interessant. Er hat ein Glas Saft und einen Kaffee dabei, angerichtet auf einem kleinen Porzellantablett. »Wie geht es dir?«

»Kennen wir uns?«, frage ich.

Er stellt das Tablett auf den Nachttisch und sieht mich forschend an. »Selbstverständlich kennen wir uns. Geht es dir gut, Arnold?«

»Na ja, ich bin gerade etwas verwirrt«, antworte ich.

»Das merke ich.« Er reicht mir das Glas. »Hier. Trink einen Schluck.«

»Danke«, sage ich und greife nach der Tasse. »Lieber zuerst Kaffee.«

Er stellt den Saft zurück. »Fühlst du dich etwa krank?«

Ich schüttele den Kopf. »Ein bisschen müde, vielleicht. Eigentlich sogar sehr müde. Aber krank? Nein, krank eher nicht. Allerdings würde ich gern wissen, wie ich in dieses Bett gekommen bin.«

»Ganz einfach. Es ist dein Bett. Du hast dich gestern hineingelegt, so wie jeden Abend.«

»Das hier ist ganz sicher nicht mein Bett«, erwidere ich. »Und auch dieses Zimmer sehe ich zum ersten Mal.«

Er wirkt erstaunt. »Du weißt nicht, wo du bist?«

»Nein. Sag ich doch.«

»Weißt du denn, wer ich bin?«

»Leider nicht.«

»Du hast mich nie zuvor gesehen?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Weißt du, welcher Tag heute ist?«

»Sonntag.«

»Sonntag. Aha. Und kennst du auch das Datum?«

Ich überlege. »Der 16. Februar, glaube ich.«

»Wie heißt du?«

»Arnold.«

»Und wie weiter?«

»Kahl. Arnold Kahl«, antworte ich leicht genervt.

»Bist du genervt, Arnold?«

»Ein bisschen.«

»Warum?«

»Ich frage mich, wann ich mal an der Reihe bin. Ich hätte da nämlich auch ein paar Fragen.«

Er ignoriert meine Bemerkung. »Bist du sicher, dass heute Sonntag ist?«

»Ja«, antworte ich. »Allerdings würde ich nicht beschwören, dass heute der Sechzehnte ist. Ich müsste mal kurz nachrechnen. Also, nächste Woche feiern Kathrin und ich Silberhochzeit, und zwar am …«

»Silberhochzeit?«, fragt der junge Mann. Es klingt wie: Bist du noch ganz bei Trost?

»Ja. Silberhochzeit«, bestätige ich. »Kathrin und ich haben am 21. Februar 1995 geheiratet, also feiern wir am 21. Februar 2020 unsere Silberhochzeit.«

»Aha. Und deshalb denkst du, heute ist Sonntag, der 16. Februar 2020.«

»Genau.«

»Verstehe«, erwidert der junge Mann. »Gut.«

»Was heißt: Gut?«

»Gut heißt, ich rufe jetzt einen Arzt.«

»Warum?«, frage ich entgeistert.

»Weil du offenbar ein paar Aussetzer hast. Zwar zeigen deine Vitalfunktionen keine Auffälligkeiten, aber du weißt nicht, wo du dich befindest oder welcher Tag heute ist. Ganz zu schweigen davon, dass du mich nicht kennst. Das müssen wir abklären. Und zwar sofort. Der Arzt ist gleich da.«

»Was soll das heißen, Aussetzer? Was geht hier vor?«, frage ich überfordert.

»Genau das wollen wir herausfinden«, antwortet der junge Mann höflich.

»Schon gut. Vielleicht sagen Sie mir trotzdem erst einmal, wer Sie sind und was hier eigentlich los ist«, schlage ich vor.

»Ich heiße Gustav«, sagt der junge Mann. »Ich bin dein persönlicher Assistent, und normalerweise duzen wir uns …«

»Seit wann hab ich einen persönlichen Assistenten?«

»Seit fünfzehn Jahren«, antwortet Gustav. »So lange arbeite ich nämlich schon für dich.«

»Wir kennen uns seit fünfzehn Jahren?«

»Ganz genau.«

Ich schüttele verständnislos den Kopf. Vielleicht hat der junge Mann recht, und ich leide wirklich unter Ausfallerscheinungen. Das alles hier könnte eine Wahnvorstellung sein, ausgelöst durch einen Hirnschlag oder einen schrecklichen Unfall. Vielleicht liege ich in Wirklichkeit im Koma und bilde mir nur ein, dass ich gerade in dieser fremden Wohnung aufgewacht bin. »Heute ist also nicht Sonntag, der 16. Februar 2020?«

»Nein«, erwidert Gustav freundlich. »Heute ist Donnerstag, der 16. Februar 2045.«

»2045«, wiederhole ich und spüre ein panisches Zucken im Mundwinkel.

»2045«, bestätigt Gustav lächelnd.

5

An dem Abend vor dem Krach mit Kathrin bin ich wie an jedem zweiten Freitag mit Freunden zum Bowlen verabredet. Das heißt, in Wahrheit bowlen wir nicht. Wir treffen uns zwar in einer Bowlinghalle, verbringen aber den Abend damit, uns zu unterhalten, ohne auch nur einen einzigen Pin abzuräumen. Ursprünglich wollten wir tatsächlich bowlen. Es war der sportliche Minimalkonsens. Zum Dartspiel hätten wir zwar gleich in unserer Stammkneipe bleiben können, aber wir wollten unsere gemeinsame Freizeit aktiver gestalten. Leider haben sich die guten Vorsätze schnell in Luft aufgelöst. Die Bowlingbahn ist trotzdem als Treffpunkt geblieben. Das Rollen der Kugeln, das Krachen der Pins und das Lärmen der Gäste verschaffen uns die Illusion von Aktivität. Auch wenn man nur herumsitzt, hat man das Gefühl, den Abend nicht völlig untätig verbracht zu haben. Und wer weiß? Vielleicht reicht ja allein die Absicht, sich sportlich zu betätigen, um den Körper in einen leichten Erregungszustand zu versetzen und so die Kalorienverbrennung zu aktivieren. Das würde auch erklären, warum man sich schon bei dem Gedanken, Mitglied in einem Sportclub zu werden, gleich viel fitter fühlt.

Der Vorschlag, bowlen zu gehen, kam von Olaf, der mit achtundfünfzig Jahren der Älteste in unserer Runde ist und als passionierter Raucher und Stubenhocker niemals zu einem Sport zu bewegen gewesen wäre, der auch im Freien ausgeübt werden kann. Olaf unterrichtet Latein, Geschichte und Mathematik, darüber hinaus engagiert er sich für schulische Indoor-Aktivitäten wie die Bücherei oder die Theater-AG. Eigentlich arbeitet er aber beharrlich daran, in den Vorruhestand gehen zu können.

Ulrich, den alle Uli nennen, hat sich diesen Traum bereits erfüllt, dabei ist er erst einundfünfzig und somit deutlich weiter vom Rentenalter entfernt als Olaf. Uli ist Privatier. Wie er selbst gern betont, war er nie ein sonderlich begabter Unternehmer. Er hatte bei seinen Geschäften einfach mehr Glück als Verstand. Knapp die Hälfte eines vom Vater geerbten Fertigungsbetriebs für Autoteile hat Uli kurz vor dem Ausbruch der Finanzkrise zu einem sehr guten Preis verscherbelt. Den Rest ist er losgeworden, als die Finanzkrise vorbei war, die Autokrise aber noch nicht begonnen hatte. Seitdem verwaltet Uli sein Vermögen, und auch hier ist das Glück auf seiner Seite. Ein großer Teil seines Geldes steckt ausgerechnet in Berliner Immobilien, weshalb Uli sein schon zuvor nicht unbeträchtliches Vermögen binnen weniger Jahre noch einmal mehr als verdoppelt hat.

Olaf kann seinen Neid auf Uli manchmal nur mühsam verbergen. Uli hat bereits erreicht, wovon Olaf schon lange träumt. Und sollte Olaf eines fernen Tages doch noch seinem tristen Berufsleben entkommen, dann werden er und Ulla sich mit einer kleinen Rente bescheiden müssen, während Uli und Sabine das Geld mit vollen Händen ausgeben können. Die Welt ist eben ungerecht, die Frage ist nur, ob zu deinen Gunsten oder Ungunsten.

Manche Menschen haben Wutanfälle, Olaf hat Neidanfälle. Auslöser ist diesmal, dass Uli ein Grundstück, das ihm selbst erst seit wenigen Wochen gehörte, mit irrwitzigem Gewinn an einen ausländischen Investor verkauft hat. Ein Glücksfall, wie Uli betont, wobei er das eigentlich nicht erwähnen muss, denn praktisch alle seine Coups sind reine Glücksfälle.

Olafs Neid schwappt also spontan hoch, was sich darin äußert, dass seine Laune in den Keller sackt. »Wo zur Hölle steckt eigentlich Walter? Kommt der heute schon wieder zu spät, oder was? Wirklich, das nervt.«

Uli stutzt. »Zu spät? Wozu denn zu spät?«

»Na, ich dachte, wir wollten mal langsam anfangen«, improvisiert Olaf.

»Womit denn anfangen?«, hakt Uli nach. »Mit Rumsitzen, oder was?«

»Nein. Aber kann ja sein, dass wir heute mal bowlen wollen«, fabuliert Olaf munter drauflos.

»Bowlen?«, wiederholt Uli verständnislos. »Hast du bowlen gesagt?«

»Ja, bowlen«, bestätigt Olaf und deutet mit ausgestreckten Armen auf die neben uns liegenden Bowlingbahnen. »Das hier ist ’ne Bowlinghalle. Hier kann man bowlen, wenn man will.«

Uli schaut sich um und tut so, als würde ihm erst jetzt auffallen, dass er sich in einer Bowlinghalle befindet. »Das ist ja ein Ding! Arni, hast du gewusst, dass das hier ’ne Bowlinghalle ist?«

»Nicht direkt«, antworte ich. »Aber ich hatte immer schon so eine Ahnung, wenn wir uns die Bowlingschuhe angezogen haben.«

Uli schaut auf seine Bowlingschuhe hinunter. »Stimmt! Warum hast du das nicht früher gesagt, Olaf? Da treffen wir uns jahrelang in dieser Bowlinghalle und haben nicht die geringste Ahnung davon, was wir hier alles verpassen. Ein Glück, dass du uns endlich die Augen geöffnet hast.«

Olaf winkt genervt ab. »Schon gut. Ich geh mal eine rauchen.«

»Ja, aber beeil dich«, ruft Uli ihm hinterher. »Wir wollen gleich anfangen.«

Olaf macht eine wegwerfende Handbewegung, während er die Raucherkabine im Eingangsbereich ansteuert.

Uli schüttelt den Kopf und sieht mich an. »Was hat er denn nur?«

»Du weißt doch, dass er neidisch auf dein Geld ist.«

Uli hebt ratlos die Arme, was sein elegantes Maßhemd und die teure Uhr an seinem karibisch gebräunten Handgelenk gut zur Geltung bringt. »Aber hört das denn nie auf? Ich meine, so langsam müsste er sich doch mal damit abgefunden haben, findest du nicht?«

»Was ist denn mit Olaf los?«, mischt sich nun Walter ein, der gerade angekommen ist und unseren schlecht gelaunten Freund offenbar im Eingangsbereich getroffen hat.

»Nichts, er ist nur neidisch auf mein Geld«, antwortet Uli und winkt die Bedienung heran.

»Oh, ganz was Neues«, erwidert Walter und stellt seine abgewetzte Lederumhängetasche neben die Sitzbank.

Walter kann Olafs Neid nicht nachvollziehen, denn er macht sich rein gar nichts aus Geld. Seit mehr als dreißig Jahren lebt er auf Studentenniveau und ist damit sehr zufrieden. Ein achtundvierzigjähriger promovierter Literaturwissenschaftler, der darauf wartet, dass irgendwo ein alter Professor von der Stange fällt, der sein akademisches Leben ebenfalls schwerpunktmäßig mit Naturlyrik verbracht hat. Den würde Walter dann beerben, um bis zum Ende seiner Tage romantische Gedichte zu lesen und ab und zu mit den wenigen Studenten, die das ebenfalls interessiert, darüber zu plaudern. Walter rechnet nicht damit, dass er in den nächsten fünf Jahren einen Lehrstuhl ergattern kann. Wenn alles gut läuft, dann wird er seine eigentliche berufliche Laufbahn beginnen, wenn Olaf die Rente durch hat.

Uli hat es geschafft, die Bedienung an den Tisch zu holen. »Jemand einen Aperol Spritz?«

Ich nicke, Walter schüttelt den Kopf. »Für mich bitte nur Mineralwasser.«

»Geht auf mich«, erklärt Uli. »Hab heut ein gutes Geschäft gemacht.«

»Dann gern«, antwortet Walter prompt.

»Dann also vier Aperol Spritz«, entscheidet Uli. »Der Neidhammel will bestimmt auch einen.«

»Das hat der Neidhammel gehört«, erwidert Olaf, der gerade seine Zigarettenpause beendet hat. »Trotzdem besten Dank.«

»Ach, sieh an. Wenn du dir einen Nikotinschuss gesetzt hast, dann bist du gleich viel freundlicher«, stellt Uli fest.

»Wirklich? Solltest du dann vielleicht auch mal probieren«, schlägt Olaf vor.

Uli winkt ab. »Lieber nicht. Ich würd gern mit siebzig noch halbwegs fit sein.«

»Glaubst du etwa, ich nicht?«, erwidert Olaf entrüstet.

»Davon merkt man aber nicht viel«, mischt Walter sich ein. »Wusstest du, dass starke Raucher unter den Über-Siebzigjährigen deutlich unterrepräsentiert sind? Die meisten Hardcore-Raucher werden nämlich gar nicht so alt.«

Olaf sieht mich an und hebt ratlos die Hände. »Der eine geht mir mit seinem Schotter auf den Senkel, der andere mit seinen blöden Gesundheitstipps. Wie soll man denn da, bitte schön, keine schlechte Laune haben?«

Ich will etwas erwidern, aber Uli kommt mir zuvor: »Arnold darfst du da nicht fragen. Der hat momentan doch selbst chronisch schlechte Laune.«

»Echt? Findest du?«, frage ich verblüfft.

»Ja klar. Komm, das ist nun wirklich nicht zu übersehen, Arni.«

Ich schaue fragend zu Walter, der zunächst noch den Kopf hin und her wiegt, dann aber nickt. Olaf hält demonstrativ Ausschau nach der Kellnerin, was ich als weitere Zustimmung werte.

»Willst du meine Meinung dazu hören?«, fragt Uli.

»Eigentlich nicht«, antworte ich. »Aber schieß los.«

»Ich glaube, als Kathrin und du mit der Planung für eure Silberhochzeit begonnen habt, da ist dir plötzlich klar geworden, dass du seit mehr als fünfundzwanzig Jahren mit derselben Frau zusammen bist. Und das hat dich in eine Lebenskrise gestürzt.«

»Das ist totaler Quatsch«, erwidere ich unwirsch. »Außerdem bist du doch selbst seit einer Ewigkeit verheiratet.«

»Ja, seit zweiundzwanzig Jahren«, bestätigt Uli.

»Und? Wieso bist du dann nicht auch in einer Lebenskrise?«

Uli zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Kommt ja vielleicht noch. Aber immerhin habe ich dann eine sehr tolerante Ehefrau an meiner Seite und genug Geld, um Lebenskrisen relativ angenehm zu gestalten.«

»Du gehst mir auf den Sack mit deinem Geld«, wirft Olaf ein.

»Ist ja jetzt auch egal«, sagt Uli. »Wenn Arni glaubt, dass ich völlig falschliege, dann will ich nichts gesagt haben. Also: Liege ich völlig falsch?«

Alle Augen richten sich auf mich.

»Tja … na ja«, sage ich zögerlich. »Manchmal frage ich mich schon, wo die letzten fünfundzwanzig Jahre geblieben sind. Geht euch das nicht so? Bin ich der Einzige, der sich darüber wundert, wo die Zeit hin ist? Ich meine, gefühlt ist es gestern gewesen, dass ich Kathrin das Jawort gegeben habe. Eben noch waren wir ein junges, verliebtes Paar mit verrückten Plänen. Und im nächsten Moment sitzen wir angegraut in einer Gaststätte und planen unsere Silberhochzeit. Ist das nicht Wahnsinn?«

Ich schaue in skeptische Gesichter.

»Also wenn du mich fragst, dann steckst du definitiv in einer schweren Sinnkrise«, stellt Olaf fest.

»Jep. Da liegt er zu hundert Prozent richtig«, stimmt Walter zu.

»Siehste? Sag ich doch«, resümiert Uli zufrieden.

»Vier Aperol Spritz«, verkündet die Bedienung und serviert die knallroten Drinks auf dem hellgrauen Plastiktisch.

»Ah, das trifft sich gut«, frohlockt Uli. »Trinken wir doch darauf, dass Arnold sein verlorenes Vierteljahrhundert wiederfindet.«

Er hebt sein Glas, Olaf und Walter folgen. Ich zögere zuerst – und schließe mich dann an. »Aber danach wechseln wir das Thema, okay?«

6

»Heute ist also Donnerstag, der 16. Februar 2045.«

»Das ist korrekt«, antwortet Gustav. »Entspann dich jetzt. Der Arzt ist in zwölf Minuten hier.«

»Und wir beide kennen uns seit fünfzehn Jahren.«

»Genau.«

»Und ich duze dich.«

»So ist es.«

»Okay.« Ich lehne mich zurück und versuche mich zu entspannen. Das ist leichter gesagt als getan, weil die Situation mich nicht nur verunsichert, sondern auch ein wenig beunruhigt.

Gustav scheint das zu merken. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun, Arnold?«

»Ja. Ich brauch ein bisschen frische Luft. Wärst du so nett, die Jalousie hochzuziehen und das Fenster zu öffnen?«

Gustav schaut zuerst zum Fenster, dann sieht er mich an. »Du weißt, dass da kein Fenster ist, oder?«

Ich verstehe nicht, was er meint. »Das Fenster ist … kein Fenster?«

»Nein.«

»Aha. Was ist es dann?«

»Es ist die Simulation eines Fensters«, erklärt Gustav. »Eine Ansammlung von Nanobots.«

Er sieht mir an, dass ich nicht weiß, wovon er redet. »Nanobots sind dir aber ein Begriff, oder?«

»Nanobots«, wiederhole ich ratlos. »Nein, tut mir leid. Keine Ahnung.«

Er nickt grüblerisch. »Hm.«

»Was meinst du mit Hm?«

»Ich überlege, ob es deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen könnte, wenn ich dir die Welt erklären würde, in der wir leben.«

»Gute Idee«, sage ich. »Ist womöglich ein Fass ohne Boden, aber versuchen können wir es doch trotzdem.«

»Die Frage ist nur, ob es dir hilft, dich zu erinnern, oder ob dich die Informationen dermaßen überfordern, dass sie den gegenteiligen Effekt haben und deine Gedächtnisblockade noch verstärken«, überlegt Gustav.

»Wie soll das gehen mit dieser Verstärkung?«, frage ich. »Meine Blockade ist offenbar hundertprozentig. Da kann sich nichts mehr verstärken.«

»Auch wieder wahr.« Gustav nickt. »Okay, versuchen wir es einfach. Erste Frage: Was ist ein Nanobot? Antwort: Nanobots sind winzige Roboter, meist nicht größer als ein Staubkorn, die sich zu größeren Einheiten organisieren können. Der Boden, die Wände und die Decke dieses Zimmers sind mit einer Schicht Nanobots bedeckt, die Licht, Strukturen, Farben und einfache dreidimensionale Gebilde nachahmen können. Seit rund zehn Jahren benutzt man diese Technik, um die Innenarchitektur von Häusern flexibler gestalten zu können. Nebenbei sind Nanobots nicht nur in der Lage, die Temperatur und die Frischluftzufuhr zu regulieren, sie beseitigen auch Staub und Schmutz. Gebäude mit dieser Technik sind also selbstreinigend.«

Ich nicke bedeutungsvoll. Dann mache ich eine Kunstpause. Schließlich lache ich schallend. »Alles klar. Ich glaube, so langsam weiß ich, was hier gespielt wird. Kann es sein, dass meine lieben Freunde mir gerade einen Streich spielen?«

Gustav schüttelt den Kopf. »Nein.«

»Oh doch. Ich bin mir sogar sehr sicher.«

»Nein, Arnold. Ganz bestimmt nicht. Du hast überhaupt keine Freunde, die dir einen Streich spielen könnten.«

»Klar habe ich Freunde«, widerspreche ich. »Wir treffen uns alle vierzehn Tage zum Bowlen und obendrein ständig bei allen möglichen Anlässen.«

»Ja, so war das Anfang der zwanziger Jahre. Jetzt befinden wir uns im Jahre 2045. Dein Freundeskreis existiert nicht mehr.«

Ich bin sicher, dass Gustav Quatsch erzählt, will mich aber nicht streiten. Ich werfe die Bettdecke zurück, was mir Mühe macht. »Wie dem auch sei, wenn du das Fenster nicht öffnen willst, dann mache ich das mal eben.«

Er hebt beschwichtigend die Hände. »Nein, schon gut. Bitte leg dich wieder hin, Arnold.«

»Okay, dann machst du es eben auf. Ich brauche jedenfalls sofort frische Luft.«

»Tja. Wie schon gesagt, es ist kein richtiges Fenster, sondern …«

»Gustav, hör auf mit dem Quatsch. Ich weiß zwar nicht, was hier gespielt wird, aber ich werde es herausfinden. Und dieses Ding da in der Wand ist definitiv ein Fenster. Punkt.«

»Okay, wenn du mir nicht glaubst, dann sieh es dir mit eigenen Augen an.«

Ich nicke gelangweilt und betrachte das Fenster, das mit einem Mal zu verblassen beginnt, um schließlich vor meinen Augen wie durch Zauberei ganz zu verschwinden. Die Geräusche von draußen verstummen und auch das sich in den Ritzen der Jalousie brechende Sonnenlicht ist plötzlich weg. Stattdessen erstrahlt jetzt die Zimmerdecke in fluoreszierendem Licht. Dazu ist leise Sphärenmusik zu hören.

»Was war denn das jetzt?«, frage ich baff.

»Wie schon gesagt, mithilfe von Nanobots kann dieses Zimmer jederzeit und beinahe beliebig umgestaltet werden.«

Ungläubig schaue ich mich um. »Alles hier besteht aus diesem Nanozeug?«

»Alles, bis auf die Möbel«, erklärt Gustav. »Man könnte sie auch aus Nanobots herstellen, aber das ist teuer. Außerdem wolltest du unbedingt konventionelle Möbel haben.«

Ich schaue mir den Holzfußboden an. »Kannst du den auch verändern?«

»Klar.«

»Dann mach doch mal.«

»Okay. Was hättest du denn gern?«

»Egal. Such dir was aus.«

Ich begutachte das edle Parkett und sehe, wie es vor meinen Augen verblasst und sich dann in einen hellen Steinfußboden verwandelt.

»Nanobots können Oberflächenstrukturen simulieren und dabei einfache dreidimensionale Formen annehmen«, erklärt Gustav. »Wenn du hier gern einen Teppich hättest, dann könnte auch der aus Nanobots zusammengesetzt werden. Der Flachbildschirm da hinten ist auch nur eine Simulation. Möchtest du, dass ich ihn auch verschwinden lasse?«

»Nur zu«, sage ich launig und erlebe erneut, dass ein Gegenstand sich vor meinen Augen in Luft auflöst.

Ich trinke einen Schluck Kaffee, den Rest der Tasse schütte ich gegen die Wand, wo die Flüssigkeit einen braunen Fleck hinterlässt. »So, und wie war das doch gleich? Diese Nanodinger sind selbstreinigend, richtig?«

Gustav wiegt den Kopf hin und her. »Nicht ganz. Es gibt zwar Modelle, die selbstreinigend sind, aber die Nanobots, die hier verwendet wurden, sind es leider nicht.«

Peinlich berührt schaue ich zu dem hässlichen Kaffeefleck. »Oh. Sorry.«

»Kleiner Scherz«, sagt Gustav, ohne mit der Wimper zu zucken. »Alle Nanobots sind selbstreinigend.«

Ich beobachte, wie auch der Kaffeefleck augenblicklich verschwindet.

»Wie steuert man diese Dinger eigentlich?«, will ich wissen.

»Du sagst, was du willst, und ich mache das dann«, antwortet Gustav.

»Ja, aber wie machst du das?«, hake ich nach.

»Ich bin vernetzt, unter anderem mit der Haustechnik.«

»Ja, aber wie funktioniert das? Du musst doch eine Fernbedienung haben oder irgendwas in der Art.«

Gustav sieht mich an. Er scheint zu überlegen. »Nein. Vereinfacht gesagt, sind die Schaltkreise der Haustechnik mit meinen Schaltkreisen verbunden. Drahtlos, versteht sich.«

Ich weiß nicht, was er meint. »Mit deinen Schaltkreisen?«

»Genau.«

»Wieso hast du Schaltkreise?«

»Weil ich ein synthetischer Charakter bin.«

»Ein … was?«

»Eine künstliche Intelligenz mit einem synthetischen Körper«, erklärt Gustav geduldig.

»Eine … was?«

»Eine künstliche Intelligenz mit …«

»Gustav, ich hab gehört, was du gesagt hast. Ich hab es nur nicht verstanden. Willst du mir etwa weismachen, dass du ein Roboter bist?«

»Roboter haben zwar nicht das, was man heute unter künstlicher Intelligenz versteht«, erwidert Gustav. »Aber früher hätte man mich vermutlich so genannt. Insofern hast du recht. Ja, ich bin ein Roboter.«

7

Die Abende auf der Bowlingbahn enden für gewöhnlich in Tonis Trattoria, denn die Snacks, die man im Bowlingcenter bestellen kann, sind miserabel. Nach mehreren Versuchen, irgendwas auf der Karte zu finden, das nicht frittiert ist, haben wir aufgegeben. Uli fand ohnehin, dass er nicht Multimillionär geworden ist, um sich von Fritten und paniertem Mist zu ernähren. Also hat er seinen Stammitaliener Toni überredet, uns kurz vor Ladenschluss eine große Vorspeisenplatte und ein paar Flaschen Brunello hinzustellen. Inzwischen ist Uli sogar stolzer Besitzer eines Zweitschlüssels. Toni hatte nämlich irgendwann keine Lust mehr darauf, sich die halbe Nacht um die Ohren zu schlagen. Deshalb macht er meistens Feierabend, wenn wir kommen, und überlässt es Uli, den Laden abzuschließen.

»Du musst unbedingt was von der Peperonata essen«, sagt Walter zu Olaf, der als Letzter an den Tisch kommt, weil er vor der Tür noch schnell eine rauchen wollte.

»Und wenn ich mir nichts aus Paprika mache?«, fragt Olaf und setzt sich.

»Dann solltest du sie trotzdem essen«, beharrt Walter. »Paprikaschoten enthalten Antioxidantien, und die sind sehr wichtig, besonders für starke Raucher.«

»Warum musst du neuerdings eigentlich ständig darauf herumreiten, dass ich rauche?«, fragt Olaf verstimmt.

»Tue ich doch gar nicht«, erwidert Walter.

»Doch. Ein bisschen schon«, springe ich Olaf bei.

»Walter hat aber recht«, mischt Uli sich ein. »Wenn du von deiner Rente was haben willst, dann musst du mehr auf deine Gesundheit achten. Und das bedeutet nun mal, entweder lässt du die Kippen weg, oder du treibst Sport und achtest auf eine gesunde Ernährung. Wenn du so weitermachst, dann wirst du jedenfalls keine hundert Jahre alt.«

»Wer will denn schon hundert Jahre alt werden?«, fragt Olaf und schiebt sich demonstrativ eine Scheibe Salami in den Mund.

»Ich, zum Beispiel«, erwidert Uli. »Warum auch nicht? Das Leben ist schön, und ich würde es gern noch viele Jahre genießen.«

»Genießen? Mit hundert bist du heilfroh, wenn du deine Füße sehen und deinen Harndrang einigermaßen kontrollieren kannst«, erwidert Olaf. »Ich glaube, mit Genuss hat das überhaupt nichts zu tun.«

Uli nimmt einen Schluck Brunello. »Wer weiß, was die Wissenschaft bis dahin für Fortschritte macht. Es werden doch ständig irgendwelche Pillen erfunden, die den Alterungsprozess verlangsamen. Vielleicht sind wir als Hundertjährige total fit. Wäre doch möglich, dass wir die erste Generation von agilen und glücklichen Greisen werden, oder?«

»Tolle Vorstellung«, sagt Olaf. »Eine Welt voller Tattergreise, die jungen Frauen hinterherstolpern. Ich glaube, da möchte ich nicht so gern mitmachen.«

Uli sieht mich an. »Was ist mit dir, Arnold? Willst du auch keine hundert werden?«

Ich zucke mit den Schultern. »Doch, irgendwie schon. Aber ehrlich gesagt befürchte ich, dass ich mir das nicht leisten kann.«

»Wenn du noch länger mit deinem Buchladen herumkrauterst, dann kann es dir durchaus passieren, dass du als armer Schlucker endest«, erwidert Uli. »Ich hab dir schon vor Jahren gesagt, dass du alles verkaufen und dich mit Aktien eindecken sollst. Hättest du auf mich gehört, wärst du jetzt ein gemachter Mann.«

»Und wovon soll ich leben, wenn ich meinen Laden verkauft habe?«

»Lass dich irgendwo als Geschäftsführer anstellen. Du kriegst ein hübsches Festgehalt, und das unternehmerische Risiko tragen andere.«

Ulis Plan klingt verlockend, funktioniert aber auch nur dann, wenn man so viel Glück hat wie er. Ich fürchte, ich gehöre leider nicht zu diesen Menschen. Bestimmt würden die Börsen weltweit an genau jenem Tag auf Talfahrt gehen, an dem ich unser ganzes Geld in Aktien gesteckt hätte. Und obendrein würde Kathrin mir noch die Hölle heißmachen, weil ich unter die Zocker gegangen wäre.

»Also ich fände es ja durchaus interessant, hundert zu werden«, sagt Walter. »Vielleicht bekomme ich meine Professur erst mit Ende fünfzig. Da wäre es doch praktisch, wenn ich nicht schon ein paar Jahre später in Rente gehen müsste. Außerdem gibt es in der Naturlyrik noch eine Menge Forschungsbedarf. Allein mein Buchprojekt über das Motiv der rauschenden Bäume bei Joseph von Eichendorff könnte locker zehn Jahre in Anspruch nehmen.«

»Gut, bei Eichendorff bin ich jetzt raus«, sagt Uli.

»Ist aber ein hochinteressanter Künstler gewesen«, wirft Walter ein. »Es gibt kaum einen Dichter, der das Motiv der rauschenden Bäume …«

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