Man tut, was man kann - Hans Rath - E-Book
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Hans Rath

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Beschreibung

Männer: ein bisschen Macho, ein bisschen sensibel, mal großmäulig und mal ganz kleinlaut. Und sie lassen keine Gelegenheit aus, sich zum Affen zu machen ... Dr. Paul Schuberth, 42, geschieden, bildet da keine Ausnahme. Er war gerade dabei, sich ein bisschen in Kathrin zu verlieben, da lässt sie ihn sitzen – für ihren hinkenden Ex mit Segelohren. Das tut weh. Zu Hause muss Paul derweil einen gestrandeten Freund nach dem anderen aufnehmen und nächtliche Sinnkrisensitzungen beaufsichtigen: Schamski hat sich zum x-ten Mal von einer Frau getrennt, die doch nicht die richtige war. Günther betet Iggy an – doch ohne Paul gelingt ihm nicht mal ein simpler Smalltalk. Bronko kommt als Künstler und als Pauls Fahrer nur mühsam in die Gänge, lässt sich aber mitunter überraschende Weisheiten entlocken ...

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Hans Rath

Man tut, was man kann

Roman

Über dieses Buch

Männer: ein bisschen Macho, ein bisschen sensibel, mal großmäulig und mal ganz kleinlaut. Und sie lassen keine Gelegenheit aus, sich zum Affen zu machen ...

Dr. Paul Schuberth, 42, geschieden, bildet da keine Ausnahme. Er war gerade dabei, sich ein bisschen in Kathrin zu verlieben, da lässt sie ihn sitzen – für ihren hinkenden Ex mit Segelohren. Das tut weh.

Zu Hause muss Paul derweil einen gestrandeten Freund nach dem anderen aufnehmen und nächtliche Sinnkrisensitzungen beaufsichtigen: Schamski hat sich zum x-ten Mal von einer Frau getrennt, die doch nicht die richtige war. Günther betet Iggy an – doch ohne Paul gelingt ihm nicht mal ein simpler Smalltalk. Bronko kommt als Künstler und als Pauls Fahrer nur mühsam in die Gänge, lässt sich aber mitunter überraschende Weisheiten entlocken ...

Vita

Hans Rath, Jahrgang 1965, studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie in Bonn. Er lebt in Berlin, wo er sein Geld unter anderem als Drehbuchautor verdient. Schon mit dem Sachbuch «‹Sie Affe!› ‹Du Schwein!› – Die Kunst der Beleidigung» hat Hans Rath seinen Sinn für Humor unter Beweis gestellt und Rezensenten von Playboy bis Brigitte begeistert.

FÜR DIE EINE.

Hi, ich bin die Kathrin

Ich habe gerade zum ersten Mal mit Kathrin geschlafen.

Sie ist eine tolle Frau, charmant, witzig, sexy, und sie weiß genau, was sie will. Eine Frau zum Heiraten, könnte man sagen. Ich bin deshalb auch sicher, sie findet eines Tages den Mann, der zu ihr passt und sie von ganzem Herzen liebt. Dieser Mann wird dann auch nicht hier liegen, ihren Pagenkopf auf seiner Brust, und darüber nachdenken, wie er sich einigermaßen elegant vom Acker machen kann.

Sie löst sich aus meiner Umarmung, stützt sich auf ihren Ellbogen.

«Woran denkst du gerade?», fragt sie, legt ihren kleinen Kopf in ihre zierliche Hand und mustert mich interessiert. Ich vermute, es gibt keine Frage auf der ganzen Welt, die mehr Lügen provoziert hat als diese.

«An dich», antworte ich wahrheitsgemäß.

Sie lächelt. «Aha. Und was denkst du so über mich?»

Ach Kathrin, ich denke gerade, dass ich vielleicht doch, wie ursprünglich geplant, den Abend damit hätte verbringen sollen, über mein Leben nachzudenken. Dann würde ich nämlich jetzt nicht hier liegen und mir wünschen, dass du eines Tages einen Mann findest, der dich auf Händen trägt und dir jeden Wunsch von den Augen abliest. Eigentlich wünsche ich mir sogar, er stünde zufällig vor der Tür und ich könnte euch schnell mal miteinander bekannt machen, um dann schleunigst zu verschwinden.

Sie sieht mich an, wartet.

«Ich dachte gerade darüber nach, wie wohl ein Mann sein müsste, damit er dein Traummann ist.»

Ich überlege kurz, ob das zu schwärmerisch klang.

Sie grinst, springt aus dem Bett und läuft nackt in Richtung Küche.

Hübscher Hintern.

«Willst du dich um die Stelle bewerben?», fragt sie kokett und verschwindet hinter der Tür. Das Geräusch eines Entsafters ist zu hören.

Nein, Kathrin, ich will mich nicht um die Stelle bewerben, aber ich würde dir das gerne schonend beibringen, denn du bist wirklich, wirklich nett, und der Sex mit dir ist auch alles andere als langweilig. Im Grunde ist er sogar … wie soll ich mich ausdrücken …?

«Saft?» Ihr Gesicht erscheint im Türrahmen.

«Was?»

«Ob du auch einen Saft möchtest.»

Ich nicke, obwohl ich Saft eigentlich nur morgens trinke und dann auch gerne mal nicht. Sie verschwindet wieder in der Küche, und erneut ist das Geräusch des Entsafters zu hören.

Für einen kurzen Moment erwäge ich, aus dem Bett zu springen, meine Klamotten zusammenzuklauben und fluchtartig die Wohnung zu verlassen. In einem Hollywoodfilm sähe das so aus, dass sie mit zwei Gläsern Saft im Schlafzimmer erscheint, derweil das leise Klacken der Eingangstür zu hören ist. Sie versteht, was passiert ist, lässt ein wenig die Schultern sinken und sieht so traurig aus, dass man sie vom Fleck weg heiraten will.

Schäbige Nummer, hätte ich vielleicht vor zwanzig Jahren hingelegt, aber jetzt bin ich zu alt für den Scheiß. Ich komme weder schnell genug aus dem Bett, noch kann ich schnell genug meine Sachen zusammenklauben – von dem weiten Weg zur Eingangstür ganz zu schweigen.

Die Küchentür öffnet sich, Kathrin erscheint mit den Säften.

«Apfel, Möhre, Fenchel mit einem Hauch Sellerie.» Sie sagt es ein bisschen so wie ein Sommelier, der stolz die Spitzengewächse der Weinkarte aufzählt. Dann balanciert sie die beiden randvollen Gläser durch den Raum, stellt sie auf den Nachttisch, schlüpft unter die Decke, schmiegt sich an mich und robbt schließlich langsam auf meinen Oberkörper, bis ihre Schenkel meine Hüfte umschließen und ihr Kopf auf meiner Brust liegt.

«Was ist mit den Säften?», frage ich und überlege kurz, ob das jetzt zu prosaisch klang.

«Die sind für später», lächelt Kathrin und arbeitet sich küssend an meinem Hals hoch.

Dann sind sicher die Vitamine raus, denke ich, während Kathrin beginnt, sich langsam und rhythmisch auf mir zu bewegen. Dabei macht sie ein leises Geräusch, das an das Schnurren einer Katze erinnert.

Kathrin, ich weiß nicht, ob das hier ’ne gute Idee ist. Vielleicht gehst du jetzt mal runter, wir trinken zusammen ein schönes Glas Apfel-Möhre-Fenchel-Saft mit einem Hauch Sellerie und reden darüber, warum aus uns kein Paar werden wird, selbst dann nicht, wenn wir den Rest unseres Lebens in diesem Bett verbringen und vögeln, bis deine Stofftiere uns genervt mit den kleinen Kristallfiguren aus deinem Setzkasten bewerfen.

Statt meinen Mund aufzumachen lege ich meine Hände auf ihren Hintern, schließe die Augen und lasse meinen Kopf ins Kissen sinken.

Worüber beklage ich mich eigentlich?

Darüber, dass es so gekommen ist, wie es kommen musste?

 

Kathrin hatte doch bereits bei unserer ersten Begegnung unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie mich nach ein paar kurzen psychologischen Eignungstests in Form einiger Abendessen flachlegen würde, um mein Profil auch in erotischer Hinsicht zu komplettieren und im Fall der Fälle umgehend eine gemeinsame Zukunft in Angriff zu nehmen. Ich vermute übrigens, für diese gemeinsame Zukunft gibt es bereits einen detaillierten Plan, ich dürfte nach erfolgreicher Abschlussprüfung aber vielleicht noch Änderungsvorschläge machen.

Als Kathrin jedenfalls ein paar Tage zuvor ihre Hand in die meine schob, sich mit «Hi, ich bin die Kathrin» vorstellte und dabei oberhalb eines adretten blassgrauen Kostüms ihr strahlendstes Lächeln anknipste, wusste ich sofort, dass ich fällig war. Eine Frau Ende dreißig, die sich für eine drittklassige Vernissage in Schale wirft, als müsste sie danach noch für den Chefposten der New York Stock Exchange kandidieren, ist entweder eine erfolglose Galeristin oder auf der Suche nach dem Mann fürs Leben.

Kathrin war, wie sich etwas später herausstellte, keine Galeristin, hatte aber eine besondere Beziehung zu dem ausstellenden Maler, einemdünnen, langhaarigen Mann mit dem beknackten Künstlernamen «Bronko».

Ich verstehe praktisch nichts von bildender Kunst, aber irgendwie wurde ich beim Betrachten der weiblichen Aktzeichnungen, die das Gros der Exponate ausmachten, das Gefühl nicht los, dass Bronko offenbar noch nie eine Frau nackt gesehen hatte. Eigentlich dachte ich schon beim Betreten der Galerie, dass dem Künstler beide Hände abgehackt gehörten. Und genau genommen handelte es sich auch nicht um eine Galerie, sondern um eine renovierungsbedürftige Wohnung, die mit ein paar Strahlern und Stehtischen als Galerie getarnt worden war. Dennoch präsentierten sich die Initiatoren selbstbewusst, die Kaufpreise der Bilder zusammengenommen überstiegen den Wert des Hauses, in dem sie hingen, um ein Vielfaches.

Ich stellte mir gerade vor, wie zwei Kunstsachverständige, die die Exponate aus versicherungstechnischen Gründen zu taxieren hatten, angesichts der ausgewiesenen Preise lachten, bis ihnen die Tränen in die Augen schossen, als mich jemand ansprach.

«Hallo. Wie gefällt Ihnen meine Ausstellung?»

MEINE Ausstellung? Offenbar stand ich Bronko höchstpersönlich gegenüber. Im Eingangsbereich hing ein großformatiges Foto von ihm, darauf war er in nachdenklicher Pose zu sehen, er blickte zu Boden, seine langen Haare fielen ihm ins Gesicht und verdeckten es größtenteils. Der Grund dafür wurde mir nun schlagartig klar. Bronkos Blick glich auf erschreckende Weise dem von Marty Feldman, wobei ich schwöre, Bronko schielte wesentlich schlimmer. Er schielte so schlimm, dass ich die damit verbundene unmenschliche Anstrengung am eigenen Leib zu spüren glaubte und für einen Moment befürchtete, gleich aus Solidarität mitzuschielen.

Da ich aber immer noch nicht wusste, ob Bronko die Gruppe zu meiner Linken angesprochen hatte oder ein etwas weiter rechts stehendes Pärchen, versuchte ich es mit einem Lächeln.

Er verharrte und verstärkte meinen Verdacht, dass er tatsächlich mit mir sprach. Also, gute Frage, wie gefiel mir seine Ausstellung?

Um niemandem wehzutun, also eigentlich, um Diskussionen aus dem Weg zu gehen, habe ich mir angewöhnt, in solchen Fällen dem Künstler nicht die volle Wahrheit zu sagen und gleichzeitig unter Beweis zu stellen, dass ich im Prinzip ungebildet und im besonderen Fall sachfremd bin. Ich nenne das «glücklicher Idiot spielen», es hat mir schon über viele kritische Situationen hinweggeholfen. Kein Künstler kann im Moment seines vermeintlich größten Triumphes, also beispielsweise anlässlich einer Hängung seiner erotischen Phantasien in einer Abbruchbude, mit Kritik umgehen. Selbst der Hauch eines Zweifels an seiner Genialität würde stundenlange Diskussionen nach sich ziehen. Wittert ein Künstler obendrein, dass man auch nur ein bisschen von Kunst verstehen könnte, wird er nicht ruhen, bis man die Handschrift zumindest eines Genies in seinen Werken entdeckt hat. Das gilt übrigens für Künstler aller Gattungen. Man muss sich deshalb einerseits begeistert und andererseits bescheuert geben.

«Ausgezeichnet», log ich also schamlos, «ich bin zutiefst beeindruckt. Ich gehe eigentlich selten auf Vernissagen, also genau genommen nie, aber ich bin froh, heute Abend hier zu sein.» Kurze Kunstpause. «Der Sekt ist übrigens auch hervorragend.» Beim letzten Satz hob ich mein Ikea-Glas mit der darin befindlichen Discounter-Plörre und lächelte abermals.

Bronko schielte weiterhin links an mir vorbei Richtung Büfett, andererseits rechts an mir vorbei Richtung Tür. Ich vermutete mal, er fixierte mich, und für einen kurzen Moment hatte ich die schlimme Befürchtung, er könnte ein attischer Seher sein und mich durchschaut haben. Dann aber hob er ebenfalls sein Glas, prostete mir zu, erwiderte: «Das ist doch schön, genießen Sie den Abend», und machte sich davon, um mutmaßlich einen graumelierten Herrn mit Schal anzusteuern, den ich wahlweise für einen Kulturfunktionär oder den Inhaber einer Schwulenbar hielt.

In jenem Moment, in dem Bronko sich abwandte, wirbelte Kathrin herum.

«Hi, ich bin die Kathrin.»

«Hallo, Kathrin.»

«Ich habe gerade mitbekommen, wie Sie mit Bronko gesprochen haben, und ich finde es ganz toll, dass Sie ihm Mut machen. Er wünscht sich doch so sehr, ein Künstler zu sein …»

Kathrin, das kenne ich, ich wünsche mir manchmal auch, ein Philanthrop zu sein. Oder zumindest ein netter Kerl.

«… die Ärzte hatten ja schon fast die Hoffnung aufgegeben, es sah so aus, als würde er nie wieder richtig sehen können …»

Vor meinem geistigen Auge sah ich Halbgötter in Weiß, fassungslos, kopfschüttelnd und mit Tränen in den Augen über Bronkos Patientenakte gebeugt.

«… aber dann hat dieser Professor Siebenstein aus der Schweiz einen riskanten Eingriff gewagt und ihn gerettet.»

Kathrin strahlte mich an, als hätte sie mir gerade den Stoff für einen internationalen Kinohit geliefert. Ich stellte mir Tom Cruise in der Rolle des Bronko vor, auf einen kalten, silbrig schimmernden OP-Tisch geschnallt, umringt von einem internationalen Ärzteteam, angeführt von Professor Siebenstein, für dessen Verkörperung Sean Connery später einen Oscar bekommen würde.

Ich nippte an meinem Sekt und erwog, so etwas zu sagen wie «War jedenfalls nett, Sie kennenzulernen» und mich wieder Bronkos Kritzeleien zuzuwenden, aber Kathrin versperrte mir den Weg. Offenbar bestand sie auf ein bisschen Smalltalk.

«Sie kennen ihn ziemlich gut, oder?», fragte ich.

«Ja, er ist mein Bruder – aber wollen wir nicht du sagen?»

Ihr Bruder, aha. Ich überlegte, wer denn dann Kathrin verkörpern würde in «Licht der Leidenschaft» – so hatte ich den Kinohit über Bronkos Augenoperation mal provisorisch genannt. Müsste so ein Typ sein wie die junge Liza Minelli. Obwohl Kathrin ein ebenmäßigeres Gesicht hatte und deutlich unglamouröser war. Vielleicht Keira Knightley? Nein, viel zu schön. Natalie Portman? Um Gottes willen, nein, viel, viel zu schön. Von der Anmutung her würde am ehesten die junge Mireille Matthieu passen. Vielleicht müsste man sich in Frankreich umsehen. Wie hieß noch gleich diese Darstellerin aus «Die fabelhafte Welt der Amélie»?

Kathrin wartete. Sie wollte ein Du. Und sie wollte meinen Namen.

«Gerne. Ich bin Paul.»

«Kathrin – aber das weißt du ja schon. Noch ’n Sekt?»

So, jetzt hing ich drin. Kathrin wollte sich offenbar nicht nur kurz dafür bedanken, dass ich ihrem sehbehinderten Bruder Mut gemacht hatte, weiter an seiner Malerkarriere zu arbeiten. Vielmehr wähnte sie sich einem sensiblen Zeitgenossen gegenüber, der mit Behinderten gut umgehen konnte, demgemäß vielleicht auch tier- und kinderlieb war, leidlich zeugungsfähig aussah, sich für Kultur interessierte und seiner Kleidung nach zu urteilen einer geregelten Tätigkeit nachging. Ich war also gerade auf ihrer Kandidatenliste gelandet.

«Klar», sagte ich und versuchte einen möglichst lockeren Eindruck zu machen, derweil mein Leben vor meinem geistigen Auge im Zeitraffer ablief wie in der «Merci»-Werbung. Kathrin und ich als Teenager. Wir veranstalten eine Schneeballschlacht, fallen uns dabei lachend und küssend in die Arme. Schnitt. Kathrin und ich als junges Paar. In unserem ersten eigenen Pkw düsen wir Richtung Italien, sie lacht, ich lache ebenfalls, in der Ferne ist Canossa zu sehen. Schnitt. Kathrin ist hochschwanger, schmückt einen Weihnachtsbaum. Ich komme gerade aus dem Büro, offenbar bin ich selbständig und bis über beide Ohren verschuldet, aber jetzt, da ich die heimische Wärme spüre, fällt sämtliche Anspannung von mir ab. Ich sehe sie dankbar an, sie lächelt aufmunternd. Schnitt. Der Baum, den Kathrin eben noch geschmückt hat, hat sich in einen prachtvollen Weihnachtsbaum verwandelt, der in einem hochherrschaftlichen Haus steht. Ich befürchte, es ist die Zeit des Internetbooms, und wir sind zu obszön viel Geld gekommen, weshalb alle unsere fünf Kinder auf Privatschulen gehen und wir nur noch Klamotten von Uli Knecht tragen. Kathrin, mittlerweile apart ergraut, prostet mir mit einem Jahrgangschampagner zu, derweil ich mein Glas Single Highland Malt erhebe. Schnitt. Kathrin, inzwischen jenseits der sechzig, hat ihren für Hunderttausende von Euro gelifteten Körper auf einer Liege unter südlicher Sonne drapiert. Sie sieht keinen Tag älter als fünfundvierzig aus. Ich liege daneben, werde von einer attraktiven Seychelloise mit Single Highland Malt versorgt und frage mich, wo mein Leben geblieben ist. Das sieht man mir aber nicht an. Was man sieht, ist, dass Kathrin mich anlächelt und ich zurücklächle. Niemand könnte erraten, wer von uns die Dritten trägt.

«Paul? Träumst du?»

Kathrin reichte mir ein neues Glas Sekt und prostete mir aufreizend zu. Ich ahnte, die nächste Frage würde sein, was ich denn so mache, beruflich, beispielsweise.

«Okay, Paul, was machst du so? Beruflich, meine ich.»

Kathrin, ich habe die schlimme Befürchtung, dass wir beruflich sehr gut zueinanderpassen werden, aber das heißt noch nichts.

«Du zuerst.»

«Fremdsprachensekretärin. Aber leider ist es schwierig, eine Stelle zu finden, deshalb arbeite ich momentan als Sekretärin – eigentlich Assistenz der Geschäftsführung, aber tatsächlich bin ich die Sekretärin.»

Passt. Genau, wie ich befürchtet hatte.

«So, jetzt du.»

«Ich arbeite in der Personalabteilung eines Zeitungsverlages.»

«Als Sachbearbeiter, oder wie?» Kathrin ahnte, dass ich ihr was verschwiegen hatte.

«Eigentlich leite ich die Abteilung.»

«Oh, ’n Personalchef», sagte Kathrin mit einem Hauch von Ironie, der aber wahrscheinlich nur kaschieren sollte, dass sie sehr zufrieden war mit dem, was sie gehört hatte. Vermutlich fragte sie sich gerade, ob ich womöglich einen Porsche führe. Wäre zwar schick, aber eben auch problematisch beim Tausch gegen einen Kombi, den man ja bräuchte der Kinder und des Hundes wegen.

«Ich fahre aber trotzdem keinen Porsche», sagte ich und versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, ob ich gerade ihre Gedanken erraten hatte. Hatte ich aber wohl nicht.

«Und bist du allein hier?»

Ich schüttelte den Kopf. «Mit ’nem Freund.»

«Mit einem Freund oder mit … deinem Freund?»

Bravo, Kathrin. Schachmatt in vier Zügen. Das hat bislang noch niemand geschafft: mit nur einer Frage sowohl meinen aktuellen Familienstand als auch meine sexuelle Orientierung abzuarbeiten.

Ich lächelte und erwog einen winzigen Moment, mich als schwul zu outen. Aber auch das macht man in meinem Alter nicht mehr.

«Mit einem Freund. Ich stehe auf Frauen, bin nicht verheiratet und momentan auch nicht liiert.» Um das Ganze hier mal abzukürzen, dachte ich.

Kathrin strahlte. «Ich auch, übrigens.»

«Du stehst auf Frauen?»

Sie lachte. «Nein, ich meine … du weißt schon, was ich meine.»

Ja, Kathrin, ich weiß sehr genau, was du meinst. Du meinst, wir sollten jetzt mal das Eis brechen und den Abend nutzen, um ein paar banale Fragen zu klären und dabei Gemeinsamkeiten zu entdecken. Also: Fisch oder Fleisch, Rotwein oder Weißwein, Stadtmensch oder Landei, Kino oder Theater, Anzug oder Jeans. Anschließend ritueller Telefonnummerntausch.

Ein paar Tage später eine Verabredung zum Abendessen, Abklopfen der wechselseitigen Wünsche und Träume. Möchte man eine große, eine kleine oder etwa gar keine Familie? Will man ein kleines Haus im Süden oder doch lieber einen großen Bauernhof zum Selbstrenovieren? Wo will man in zehn, zwanzig, dreißig Jahren sein? Gibt es etwas, das man unbedingt noch tun muss, bevor man alt ist? Dazu Anekdoten aus der Jugend, ein paar Familiengeschichten, geschickt eingestreute Bemerkungen über kleinere und größere Macken wie Fernsehgewohnheiten oder Erbkrankheiten. Grob sollten dabei die beiderseitige Sozialisation und das jeweilige psychologische Profil umrissen werden, all das selbstverständlich ungezwungen, humorvoll und in angenehmer Atmosphäre. Flirten ist erlaubt, sogar erwünscht, der Abend endet ohne Sex, aber mit einem Abschiedskuss, der idealerweise mehr als ein Abschiedsküsschen, aber weniger als ein leidenschaftlicher Kuss ist.

Kurze Pause. Neuerliche Verabredung. Smalltalk nebst Vertiefung der Tagesordnungspunkte des ersten Abendessens, dabei ab und an Körperkontakt, der wie zufällig wirkt. Abschiedskuss, der sich in einen leidenschaftlichen Kuss verwandelt. Sex. Nochmal Sex. Optional nochmal Sex.

«Hast du schon den Fisch probiert?»

«Noch nicht.»

«Der ist wirklich gut. Ich persönlich esse ja ziemlich gerne Fisch.»

Ich schaute mich mal kurz dezent um, bevor ich mich weiter reinritt.

Nach Günther, dem blöden Arsch.

Günther, der mir die Vernissage überhaupt erst eingebrockt hatte, war nämlich derweil mit dem eigentlichen Grund unseres Besuches keinen Millimeter weitergekommen. Günther ist ein einundvierzigjähriger Dauersingle, der seine Chancen bei den Frauen glatt verdoppeln könnte, wenn er sich von dem Flokati-Imitat, das ihm im Gesicht baumelt und das er stolz «Vollbart» nennt, trennen würde. Er hält die Fusseln für ausgesprochen männlich und unterstreicht diese vermeintlich maskuline Ausstrahlung gern mit grobgestrickten Pullovern und legeren Hosen, weil er glaubt, beides würde ihm einen Hauch von Seefahrerromantik verleihen. Meinen Einwand, dass die meisten Frauen sich bei seinem Anblick im Geiste hochschwanger und umringt von einer Horde ärmlich gekleideter Kinder an einer einsamen Steilküste stehen sehen, wo sie verzweifelt nach den heimkehrenden Fischerbooten Ausschau halten, ignoriert Günther beharrlich und verweist darauf, dass er ja mit Seefahrt nichts zu tun habe, sondern in der IT-Branche sei.

Schon klar, Günther, aber das macht es nicht besser. Frauen, die deinen Bart sehen und erfahren, dass du in der IT-Branche bist, wähnen sich alternativ in den Fängen eines Computernerds, der lediglich Cracker und asiatische Gewaltvideos im Haus hat und nicht in der Lage ist, Gefühle zu zeigen – es sei denn, ein wildfremder Multiplayer auf der anderen Seite der Erdkugel segnet in irgendeinem Ballerspiel virtuell das Zeitliche.

Zugegeben, immerhin passt Günthers Bart ganz gut zu seinem hünenhaften Aussehen. Er verkörpert die Ruhe und Gelassenheit eines Mannes, an dessen Schulter eine Frau sich anlehnen kann. Ich werde aber das Gefühl nicht los, dass Günther diese Teddybärentour inzwischen übertreibt. Er bewegt sich langsamer, als er sich eigentlich bewegen könnte, spricht langsamer, als er eigentlich sprechen könnte, und vor allem denkt er inzwischen auch langsamer, als er denken könnte. Deshalb ist es auch nur noch ein winziger Schritt, bis Günthers Ruhe und Souveränität für Tranfunzeligkeit und Begriffsstutzigkeit gehalten werden. Aber das will Günther alles nicht hören, denn Günther hat eine Mission, von der selbst ich ihn nicht abbringen kann. Günther, der Seefahrtromantiker, will in den Hafen der Ehe, und zwar subito.

Zwei Dinge stehen dem im Weg. Erstens ist Günther ein sehr talentierter Programmierer, aber ein beschissener Geschäftsmann. Er hat eines der kommerziell erfolgreichsten Onlinespiele der Welt mitentwickelt, sich aber von seinen Kompagnons derart über den Tisch ziehen lassen, dass Günther noch heute in einer Studentenbude hockt, um einen Schuldenberg in Höhe des Matterhorns abzuzahlen, während seine ehemaligen Geschäftspartner sich in der Karibik die Sonne auf ihre Ärsche scheinen lassen. Günther ist also ein Bär mit dem Gemüt eines Vorschuldkindes, in naher Zukunft vermutlich mit dem Gemüt eines zurückgebliebenen Vorschulkindes.

Zweitens gibt Günther sich auch deshalb gerne betont maskulin, weil er zu kaschieren versucht, dass in ihm eine ganze Hasenbande wohnt, wenn es um das Thema Frauen geht. Wenn Günther sich für eine Frau interessiert, dann tut er alles, aber auch wirklich alles, um sie kennenzulernen, mit Ausnahme dessen, dass er sie einfach anspricht. Stattdessen hat Günther grundsätzlich einen meist obskuren und immer rasend komplizierten Plan, um die Angebetete auf sich aufmerksam zu machen. Wenn ich seine Nummer im Display sehe, gehe ich deshalb davon aus, dass Günther mich zu Flamenco-Kursen, Slam-Poetry-Nächten oder auch schon mal auf eine Messe für Percussioninstrumente schleppt, weil dahinter einer von Günthers Plänen steckt, eine Frau näher kennenzulernen.

Heute geht es um Iggy, die eigentlich Ingrid heißt, aber von allen Iggy genannt wird. Iggy ist eine dunkelhaarige, etwas früh gealterte, aber keineswegs unattraktive Kellnerin, die mal Modedesign studieren wollte, aber irgendwie in diversen Aushilfsjobs strandete. Ihrem Äußeren nach zu urteilen, muss sie dann auch irgendwann den Spaß an Mode verloren haben. Vor rund einem Jahr hat sie mit zwei Freundinnen das Pan Tao aufgemacht, eine Eckkneipe, die nach der Renovierung nun ein Eckbistro ist. Man ersetzte die dunklen Hölzer durch helle, strich die Wände strahlend weiß und verpasste dem Raum mit ein paar hippen Ausstattungsstücken und einem mächtigen Kronleuchter Großstadtflair. Die wenigen Stammgäste, vornehmlich trunksüchtige Schwadroneure, suchten sich eine andere Siffbude und machten einem jungen, urbanen Publikum Platz, welches aber in Windeseile die Lust am Pan Tao verlor. Iggy und ihre Freundinnen hatten nämlich versucht, die kostspielige Renovierung durch Sparmaßnahmen bei den Getränken und beim Essen wettzumachen. Als sich im Viertel herumgesprochen hatte, dass der Wein im Pan Tao Kopfschmerzen verursachte, die denen von Granatsplitteropfern im Ersten Weltkrieg nicht unähnlich waren, und das Essen im günstigsten Fall schwere Übelkeit, im schlechtesten den sofortigen Tod herbeiführte, kam man auf die rettende Idee, das gastronomische Angebot in Stadtteile zu exportieren, wo noch nicht bekannt war, dass selbst streunende Hunde sich von den Mülltonnen des Pan Tao fernhielten.

Das Ganze nannten Iggy und ihre Freundinnen «Catering-Service».

Es war der rettende Einfall, denn zu diesem Zeitpunkt hatte das Pan Tao noch genau zwei Gäste, nämlich Günther und mich. Mir ist bis heute schleierhaft, wie es möglich ist, in einer menschenleeren Kneipe NICHT mit der Kellnerin ins Gespräch zu kommen, aber Günther schaffte es irgendwie. Obwohl ich mein Bestes tat, ein Gespräch zwischen Iggy und Günther in Gang zu kriegen, beschränkte sich die Konversation immer nur auf ein paar einsilbige Bemerkungen, dann schlenderte Iggy zurück zum Tresen, zündete sich eine Zigarette an und langweilte sich mit einer Illustrierten. Als ich mich irgendwann weigerte, alle paar Tage im Pan Tao zu dinieren, denn dann hätte ich meine Ernährung auch gleich auf Rattengift umstellen können, suchte Günther den Laden alleine auf, setzte sich an den Tresen, las die Zeitung und tat so, als würde er auf diese Weise den Feierabend einläuten.

An einem dieser Abende kam es dabei zu einem Moment knisternder Erotik, der im Leben von Günther wohl als historisch bezeichnet werden muss. Günther hatte seine Geldbörse vergessen und war schon drauf und dran, sich aus Scham zu entleiben, als Iggy locker abwinkte und sagte: «Lass stecken, ich schreib’s an.»

Mehrere Stunden brütete Günther über dem geheimen Sinn dieser Worte, derweil er sich diverse Alkoholika in den Kopf schüttete, dann rief er mich an, es war so gegen halb vier morgens.

«Lass stecken? Ich schreib’s an? Deswegen holst du mich aus dem Bett, Günther?»

«Ich glaub, sie mag mich, sie lässt ja bestimmt nicht jeden anschreiben, oder?», entgegnete Günther mit schwerer Zunge.

«Günther, du bist der einzige Gast, den sie haben. Ob ein zweiter auch anschreiben lassen dürfte, wenn es ihn gäbe, kann ich dir nicht sagen.»

Eine kurze Pause entstand, ich hörte mehrfaches Schlucken, Günther stürzte offenbar einen Drink hinunter.

«Was trinkst’n da?»

«Red Bull mit Ramazotti.»

«Jesus Christus.»

«Schmeckt gut.»

Wieder machte Günther eine Pause, diesmal dachte er offenbar nach.

«Glaubst du, ich habe eine Chance bei ihr?», fragte er dann.

Ach, Günther! Was soll ich denn darauf antworten? Ich weiß es nicht. Ich brauch schon ein paar mehr Anhaltspunkte als «Lass stecken, ich schreib’s an». Frag sie, ob sie mit dir essen geht. Oder ins Kino. Vielleicht gibst du dich auch einfach damit zufrieden, abends mit ihr die Zeitung zu lesen, das klingt ja schon nach einer ziemlich passablen Ehe.

Ich sah Günther vor mir, traurig in seinem winzigen Apartment hockend, umringt von leeren Flaschen, Kabelgewirr und technischem Gerät.

«Na ja, es ist ein Anfang», sagte ich.

«Findest du wirklich?» In seiner Stimme schwang Hoffnung.

Nein, fand ich definitiv nicht, aber ich wollte ihn aufmuntern.

«Ja, finde ich wirklich.»

«Gut», sagte er, und für den Moment schien er zufrieden. Ein paar Tage später erfuhr Günther zufällig, dass das Pan Tao ein Catering für eine Vernissage ausrichten würde. Das nächste magische Zeichen war ihm damit erschienen.

Günthers Plan war, die Vernissage zu besuchen und dabei wie zufällig Iggy zu begegnen, um einerseits ein paar Worte zu wechseln und andererseits Gesprächsstoff für seine nächsten Besuche im Pan Tao zu haben.

Ich erklärte ihm zwar mit der Engelsgeduld eines Sonderschullehrers, dass Iggy vermutlich auf der Vernissage alle Hände voll zu tun haben würde und ihn deshalb vielleicht nicht einmal zur Kenntnis nähme und sie zudem nicht der Bilder wegen dort sei, weshalb ich den Abend als Basis für künftige Gespräche für eher nicht geeignet hielt. Aber Günther, überzeugt davon, dass die Götter ihm wohlgesinnt waren, ließ sich nicht beirren. Derweil ich mit Kathrin parlierte, scharwenzelte er so lange um Iggy herum, bis die ihm ein Glas Sekt anbot und dabei «Hallo» sagte, wobei Günther später Stein und Bein schwor, sie hätte ihn erkannt.

Für Günther war damit das nächste Etappenziel seines vermutlich hundert Jahre währenden Werbens um Iggy erreicht, er steuerte direkt auf mich und Kathrin zu und erklärte, er müsse sich jetzt ein wenig die Beine vertreten, ihm sei nicht wohl. Auch das ist normal. Sobald Günther seine herkulischen Pläne in die Tat umgesetzt hat, spielt sein Kreislauf verrückt. Oder sein Magen. Oder beides.

«War das dein Freund?»

Ich nickte und sah Kathrin an, dass Günther nicht mal für Bruchteile von Sekunden auch nur in die Nähe ihrer Kandidatenliste gekommen war, was ich heimlich gehofft, aber auch nicht wirklich geglaubt hatte.

«Ich kümmere mich besser mal um ihn», raunte ich Kathrin zu und machte Anstalten, zu gehen.

«Telefonieren wir mal?»

«Klar, warum nicht?», erwiderte ich und stellte im nächsten Moment fest, dass ich es genauso lustlos meinte, wie es wohl geklungen hatte.

Kathrin ignorierte den Tonfall, zog ein Stückchen Papier hervor, riss es in zwei Teile, schrieb ihre Nummer auf eines der beiden und reichte mir das andere Stück, zusammen mit dem Kugelschreiber. In meinem Alter schreibt man übrigens auch keine falschen Telefonnummern mehr auf.

Draußen fand ich Günther gegen eine Laterne gelehnt, etwas blass um die Nase, aber offenbar auch beschwingt, weil sein kniffliger Plan so über die Maßen gut funktioniert hatte.

«Geht’s dir gut? Soll ich dich nach Hause fahren?»

«Lass uns noch irgendwo ’n Drink nehmen», erwiderte Günther.

Auch das gehörte zum Ritual von Günthers seltsamen Rendezvous, nämlich das liebevolle und penible Auswerten der erreichten Ziele.

Da ich das wusste, war ich beim Betrachten von Bronkos Bildern schon mal im Geiste das umliegende Angebot an Bars durchgegangen und hatte versucht, mir das jeweilige Getränkeangebot zu vergegenwärtigen.

Meine Wahl war auf einen Laden nur zwei Blocks entfernt gefallen. Zwar erinnerte ich mich, dass die Bardame aussah wie ein Transvestit und die Inneneinrichtung offenbar von Bronko entworfen worden war, aber sie hatten ein paar passable Weine auf der Karte.

Den Rest des Abends verbrachten Günther und ich übrigens damit, die mannigfaltigen Bedeutungen des Wortes «Hallo» zu erörtern.

Ich ruf dich an

Ich habe gerade zum zweiten Mal mit Kathrin geschlafen. Jetzt versuche ich nach meinem Saftglas zu greifen, ohne sie aufzuwecken, denn sie ist in meinem Arm eingenickt. Als ich mich vorsichtig bewege, stöhnt sie leise, rollt sich auf die andere Seite des Bettes und schläft weiter.

Gelegenheit für mich, einen kräftigen Schluck Apfel-Möhre-Fenchel-Saft mit einem Hauch Sellerie zu kippen und danach das Gesicht zu verziehen, als hätte man mir gerade in die Weichteile getreten. Wenn wir eine Zukunft haben wollen, Kathrin, dann müssen wir dringend über deine Saftrezepte reden. Aber wir haben ja glücklicherweise keine Zukunft.

Ich sitze auf der Bettkante und überlege, ob ich nach Hause fahren soll. Es ist ungefähr Mitternacht. Ich könnte Kathrin einen Zettel hinlegen. «Guten Morgen! Wollte dich nicht aufwecken, muss aber sehr früh raus und bin deshalb nach Hause gefahren. Schönen Tag! Ich ruf dich an.»

Die romantische Variante wäre, irgendwo in der Wohnung eine Blume aufzutreiben und sie in ein Glas zu stellen, um damit den Zettel zu beschweren. Optional könnte man noch einen Saft pressen und ihn zusätzlich ans Bett stellen, neben Blume und Zettel. Dann müsste aber auch der Text angepasst werden. «Guten Morgen! Hoffe, du hattest schöne Träume. Wäre jetzt sehr gerne bei dir, muss aber so früh raus, dass ich beschlossen habe, dich nicht zu wecken. Wünsche dir einen wundervollen Tag und würde mich wirklich freuen, wenn wir heute telefonieren könnten. Lieber noch würde ich dich sehen … Kuss, Paul.»

Als ich etwas später im Wagen sitze, habe ich mich für Zettel eins entschieden, und zwar ohne Blume und Getränk.

Ich muss morgen tatsächlich früher raus als sonst, weil für den Nachmittag eine Vorstandssitzung angesetzt ist, ich am Vormittag zwei Termine habe, die damit in Zusammenhang stehen, aber trotzdem nicht darauf verzichten möchte, mit meinem Hund spazieren zu gehen. Ich befürchte, wenn ich bei Kathrin bleibe, wird sie mir einen Strich durch die Rechnung machen, und zwar mit Sex.

Eigentlich ist besagter Hund nicht mein Hund, ich nenne ihn nur so, weil wir uns inzwischen seit fast einem Jahr kennen. Ich hätte gerne einen eigenen Hund, aber ich bin zu bequem, scheue die Verantwortung und will auch nicht, dass mir irgendwer die Hand leckt.

Günther hat mich auf die Idee gebracht, mich als ehrenamtlicher Hundeausführer beim Tierheim zu melden. Man muss lediglich eine Art Wissenstest bestehen und bestätigen, dass man keine Ansprüche gegen das Tierheim erhebt, sofern man von einem der Hunde in Stücke gerissen wird, dann kann’s auch schon losgehen.

Mein Hund heißt Felix, ist aber trotzdem der traurigste Hund der Welt. Um ihn nicht mit seinem Namen zu verhöhnen, nenne ich ihn Fred. Er hört zwar nicht auf «Fred», aber das macht nichts, er hört nämlich auch nicht auf «Felix». Fred ist ein Bullterrier-Jagdhund-Mix, mittelgroß, braun, kurzhaarig, mit einer langen Schnauze und kleinen, dunklen Augen. Er sieht weder hübsch noch possierlich aus, was einer der Gründe dafür ist, warum er seit zwei Jahren nicht vermittelt wird. Der andere Grund ist, dass Fred nichts und niemanden auf der Welt ausstehen kann. Er mag keine anderen Hunde, keine Kinder, keine Katzen, und mich mag er auch nicht. Letzteres hat ihn mir vom ersten Moment an sympathisch gemacht.

Da Fred die meisten ehrenamtlichen Hundeausführer bereits gebissen oder zumindest angefallen hat, legt niemand Wert darauf, mit ihm rauszugehen. So hat es sich ergeben, dass Fred mein Hund wurde. Er wird heute bis zur Mittagspause warten müssen, denn ich möchte erst wissen, was in der nachmittäglichen Sitzung auf mich zukommt, und zwar abseits der Tagesordnung.

Im Büro empfängt mich Frau Hoffmann, wie jeden Morgen mit einer großen Tasse Tee, schwarz und stark.

«Guten Morgen, Herr Dr. Schuberth», sagt Frau Hoffmann. Sie legt allergrößten Wert auf korrekte Umgangsformen und korrekte Anreden.

«Guten Morgen, Frau Hoffmann.»

Frau Hoffmann ist fast fünfundsechzig und geht in ein paar Monaten in den Ruhestand, um sich fortan dem Erwandern deutscher Mittelgebirge zu widmen, ihrem liebsten Hobby. Sie war immer mit ihrem Beruf verheiratet, deswegen ist sie ledig und kinderlos. Mit ihrer Ausbildung zur Sekretärin begann sie 1959, jener Zeit, in der Menschen mit ihren korrekten Titeln angesprochen wurden, es ein kafkaeskes Vorzimmersystem gab und Chefs gottähnliche Respektspersonen waren. Frau Hoffmann mochte diese adrette und übersichtliche Welt, sie interessierte sich weder für die Beatles noch für den Vietnamkrieg oder die Hippiebewegung, ganz zu schweigen von allem, was danach kam. Mit Fax- und Kopiergeräten hat sich Frau Hoffmann noch gerade eben anfreunden können, und als die ersten Computer auf den Markt kamen, hat sie sich unter größten Schmerzen umgestellt, Mobiltelefone und das Internet hält sie aber bis heute für Erfindungen des Teufels und verweigert beides, weil Sekretärinnen damit vollends die Kontrolle über ihre Chefs verloren.

Da Frau Hoffmann trotz diverser Schulungen, die zusammengenommen die Dauer eines Harvardstudiums überschreiten, bis heute nicht in der Lage ist, mit dem Internet umzugehen oder E-Mails zu versenden, habe ich sie zum guten Geist des Vorstandes gemacht. Zwar ist sie offiziell meine Sekretärin, sie kümmert sich aber auch um Besorgungen für andere Vorstandsmitglieder, um Gruß- und Weihnachtskarten, um die gastronomische Vorbereitung von Meetings, den Empfang von Besuchern oder die Organisation von Weihnachtsfeiern. Kurz gesagt, um alles, was nichts mit moderner Datenkommunikation zu tun hat.

Ich vermute, sie glaubt, dass ich meine schützende Hand über sie halte, weshalb sie trotz mangelnder Fachkenntnisse und diverser Entlassungswellen ihren Job behalten hat. In dem Glauben lasse ich sie auch. Die Wahrheit ist, schon vor Jahren hätte das Unternehmen Frau Hoffmann eine Abfindung in Höhe des nigerianischen Bruttosozialproduktes zahlen müssen, weshalb es schlicht billiger war, sie bis zur Rente zu behalten.

Eigentlich mag ich ihre höfliche Verweigerungshaltung allem Modernen gegenüber sogar. Sollte sie irgendwann das Zeitliche segnen, werde ich ihr einen Grabstein in Form eines Bakelittelefons spendieren, auf dem steht: «Hier ruht Frau Hoffmann, sie lebte von 1959 bis 1962, war dann aber noch rund siebzig Jahre auf der Welt.»

«Herr Dr. Burger wäre dann da», sagt Frau Hoffmann.

«Dann rein mit ihm», antworte ich und sehe ihre Missbilligung. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn ich gesagt hätte: Ich lasse bitten.

Dr. Burger ist unser Marketingvorstand, ein sehr kleiner Mann mit einer sehr großen Brille, der mich immer an einen vorwitzig auf den Hinterbeinen stehenden, kurzsichtigen Otter erinnert.

Burger nimmt Platz, Frau Hoffmann zieht sich dezent zurück.

«Halten Sie mich eigentlich für einen leidenschaftlichen Menschen?», fragt er ohne jegliche Vorwarnung.

Ich kann ein Lachen nicht unterdrücken, kaschiere es aber ziemlich perfekt mit einem vorgetäuschten Hustenanfall.

«Erkältet?», fragt er besorgt.

Ich winke ab, zeige auf den Tee, deute an, mich verschluckt zu haben.

«Pardon. Wie war die Frage?»

Ich möchte sie zu gern nochmal hören.

«Halten Sie mich für einen leidenschaftlichen Menschen?», fragt Dr. Burger mit unvermindertem Ernst.

Nun, Dr. Burger, ich habe bislang immer gedacht, dass Sie abends Bücher über Aquaristik lesen oder Ihre Unterhosen bügeln, aber jetzt, wo Sie es sagen, könnte ich mir auch vorstellen, dass Sie sich regelrecht ans Leben verschwenden. Womöglich verzichten Sie sogar wissentlich auf ein Ersatzbrillenputztuch, Sie wilder Kerl.

Ich bringe es nicht über mich, die Frage zu bejahen, deshalb rette ich mich ins Ungewisse. «Worauf wollen Sie hinaus?»

Er wirft eine Art Haarreif, an dem zwei Hasenohren aus Kunstfell befestigt sind, auf meinen Schreibtisch. Sieht aus wie das, was Playmates immer bei Partys und rund um die Uhr in der Villa von Hugh Heffner tragen.

Ich überlege. Keine Ahnung, was er vorhat, aber wenn es mir gelingt, Dr. Burger dazu zu bringen, die Hasenohren aufzusetzen, dann hatte es einen Sinn, heute auf der Welt zu sein. Ich versuche es mit der denkbar blödesten Masche. «Was, bitte schön, ist das denn?»

Dr. Burger sieht mich erstaunt an. «Sie kennen das nicht?» Er nimmt den Haarreif, streift ihn sich über seine Halbglatze. Er sieht jetzt aus wie ein kurzsichtiger Otter, der gerne im Moulin Rouge auftreten würde.

Das war ja lächerlich einfach.

«Interessant», sage ich und plane meinen nächsten Hustenanfall.

Die Tür öffnet sich, Frau Hoffmann erscheint. «Kann ich Ihnen vielleicht etwas …», sie sieht Dr. Burger mit den Hasenohren, ist für einen winzigen Moment irritiert, schafft es aber, ihre Fassung zu bewahren, «… zu trinken anbieten?»

Nur frisches Wasser und ein wenig Heu, liegt mir auf der Zunge, aber ich frage: «Kaffee?», und Dr. Burger nickt, dass seine Hasenohren wackeln.

«Und für mich noch einen Tee, bitte», ergänze ich.

Frau Hoffmann zieht sich distinguiert zurück.

«Das ist toll», sage ich zu Dr. Burger, «haben Sie so was auch noch für mich?»

Er schüttelt den Kopf, zieht die Hasenohren von selbigem und reicht sie mir. «Nein, aber probieren Sie einfach die hier.»

Ich nehme die Ohren und setze sie mir auf. Es geht mir ausschließlich darum, Frau Hoffmanns Gesicht zu sehen, wenn sie uns die Getränke bringt und dabei erdulden muss, wie zwei Führungspersönlichkeiten in ein ernsthaftes Gespräch vertieft sind und dabei abwechselnd Hasenohren tragen.

«Die sind auf dem deutschem Markt nicht unter zwei Euro zu haben», erklärt Burger und nimmt keinen Anstoß daran, dass ich absichtlich nicke, damit die Ohren wippen.

«Ich kann sie auf dem chinesischen Markt für unter einem Euro besorgen.» Wieder nicke ich heftig. Wann kommt denn endlich Frau Hoffmann?

«Wissen Sie, wie viele davon jährlich in Deutschland verkauft werden?» Er macht eine Kunstpause, ich schüttle den Kopf und lasse die Ohren zittern. «Mehr als zwei Millionen.»

Endlich kommt Frau Hoffmann, bringt die Getränke und versucht demonstrativ, mich dabei keines Blickes zu würdigen. Könnte ihr so passen.

«Frau Hoffmann?», sage ich und recke meine Hasenohren. «Sagen Sie doch bitte Herrn Engelkes, dass wir den Termin ein wenig verschieben müssen, ich bin hier noch beschäftigt.»

Sie nickt verächtlich und geht.

«Ich weiß, ich sage das nicht zum ersten Mal», hakt Dr. Burger nach, «aber für ein Unternehmen unserer Größenordnung hätte es immense monetäre Vorteile, eine eigene Firma für den Vertrieb von Werbeartikeln zu besitzen.» Diesen Plan hat Burger mir und allen Vorstandskollegen schon so an die hunderttausend Mal unterbreitet. Ich vermute, er hat sich ursprünglich auf dem asiatischen Markt nach einer Frau umsehen wollen, die ihn nicht um zwei Haupteslängen überragt, ist aber nicht fündig geworden und hat dann behauptet, er wäre nur der Werbegeschenke wegen in Fernost gewesen. Ich habe den Spaß an den Ohren verloren und werfe sie auf den Schreibtisch, was Burger wohl als abschlägige Reaktion wertet.

«Denken Sie doch bitte darüber nach. Ich möchte dem Vorstand heute den Plan nochmal unterbreiten», sagt er fast flehentlich.

Ich schaue auf die Ohren, dann auf den kurzsichtigen Otter vor meinem Schreibtisch, nicke schließlich. «Gut. Werde ich tun, Herr Dr. Burger.»

Als Burger verschwunden ist, lässt Frau Hoffmann mich wissen, dass Engelkes erst am frühen Nachmittag für einen Termin zur Verfügung steht. Wundert mich ein wenig, denn Engelkes gehört zu meinen Untergebenen, ein junger Kerl, unterwegs in Sachen Human Resources. Dass er mir neuerdings Termine diktiert, muss ich ihm abgewöhnen, kann ich aber später noch machen. Momentan kommt mir die Situation nicht ungelegen, denn damit habe ich jetzt Zeit für meinen Hund.

Fred ist so schlecht drauf wie immer. Verkorkste Kindheit. Wenn man den Gerüchten im Tierheim Glauben schenken darf, dann hat Fred Sachen mitgemacht, die selbst in der Hundehölle nur an hohen Feiertagen auf dem Plan stehen. Angeblich hat er bei Junkies gehaust, die ihn gequält und vernachlässigt haben. Er beißt, wenn man ihn anfassen will, weil er mit brennenden Zigaretten und Glassplittern traktiert wurde. Er beißt auch, wenn man den Zwinger verlassen will, weil er tagelang allein gelassen wurde und dann kein Fressen bekam. Deshalb schlingt er auch sein Futter oder die sündhaft teuren Hundesnacks, die ich ihm manchmal mitbringe, herunter, ohne zu kauen.

Inzwischen hat Fred verstanden, dass es keinen Sinn hat, mich zu zerfleischen, wenn ich ihm sein Brustgeschirr anlegen will, denn dann fällt der Spaziergang aus, weil ich mich, wie in unseren Anfangstagen häufiger geschehen, in ärztliche Behandlung begeben muss. Also lässt er die Vorbereitungen für den Spaziergang mittlerweile knurrend über sich ergehen.

Fred wäre gerne ein reinrassiger Jagdhund, weshalb seine Lieblingsbeschäftigung ist, links und rechts des Weges wild schnüffelnd nach Beute Ausschau zu halten. Ich habe deshalb eine lange Leine gekauft, damit er so viel Bewegungsfreiheit hat, dass er die Bären und Luchse, die sich seiner Meinung nach in den gepflegten Anlagen des Stadtparks versteckt halten, professionell aufscheuchen kann. Tatsächlich ist Fred als Jagdhund unbegabt. Ich bilde mir ein, Hasen im Stadtpark gesehen zu haben, die hinter seinem Rücken Faxen machten, derweil er nicht in der Lage war, ihre Witterung aufzunehmen.