Und Gott sprach: Wir müssen reden! / Der Teufel ist auch nur ein Mensch - Hans Rath - E-Book

Und Gott sprach: Wir müssen reden! / Der Teufel ist auch nur ein Mensch E-Book

Hans Rath

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Beschreibung

Und Gott sprach: Wir müssen reden Den Psychotherapeuten Jakob Jakobi hat das Glück verlassen. Geschieden, pleite und beruflich gescheitert: So gebeutelt trifft Jakobi auf Abel Baumann, einen ebenfalls glücklosen Zirkusclown. Der leidet offenbar an einer kuriosen Persönlichkeitsstörung, denn er hält sich für Gott. Und sucht einen Therapeuten. Jakob ist fasziniert von den vielfältigen, seiner Meinung nach aber komplett irdischen Talenten des sympathischen Spinners. Doch bald ist der Psychologe nicht mehr so sicher, mit wem er es wirklich zu tun hat. Und wer hier eigentlich wem hilft. Und Gott sprach: Der Teufel ist auch nur ein Mensch Psychotherapeut Jakob Jakobi bekommt ungebetenen Besuch von einem Kerl namens Anton Auerbach. Der möchte nichts Geringeres als Jakobs Seele kaufen, denn seit Jakobs Begegnung mit Gott ist diese Seele besonders wertvoll. Für wen? Für den Teufel natürlich. Und genau der behauptet Auerbach zu sein. Jakob ist genervt. Und denkt weder dran, seine Seele zu verkaufen, noch «Toni» für voll zu nehmen. Doch der vermeintliche Teufel hat das eine oder andere Ass im Ärmel. Mehr und mehr wird Jakobs Leben zur Hölle. Da wäre es wirklich gut, Gottes Beistand zu bekommen …

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Seitenzahl: 688

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Impressum

Sonderausgabe November 2016 Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Und Gott sprach: Wir müssen reden! Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2012 Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Und Gott sprach: Der Teufel ist auch nur ein Mensch! Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2014 Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg ISBN 978-3-644-20016-6 www.rowohlt.de

Hans Rath

Und Gott sprach: Wir müssen reden! / Der Teufel ist auch nur ein Mensch!

Hans Rath

Und Gott sprach: Wir müssen reden!

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Vor Ihnen sitzt der liebe Gott höchstpersönlich», erklärt mein Gegenüber und wischt sich die Lachtränen aus dem Gesicht.

Wir schweigen.

«Witzig», sage ich nach einer Weile und gebe mich unbeeindruckt. «Ich hab Sie mir immer anders vorgestellt.»

Baumann hebt den Zeigefinger und sagt mit gespielter Strenge: «Das ist verboten. Man darf sich kein Bild von mir machen.»

«Na, immerhin scheint Gott Humor zu haben», sage ich.

Über Hans Rath

Inhaltsübersicht

WidmungGott ist komischGott ist erfinderischGott ist ratlosGott ist unterwegsGott ist kooperativGott ist frustriertGottes GeliebteGottes SohnGottes BeweiseGottes WunderGottes WegeGottes KäsetafelGott zaubertGott leidetGott ruftGott schwebtGott gehtGott lebtLeseprobeUnd Gott sprach: Du musst mir helfen!

«Wenn es Gott nicht gäbe,

müsste man ihn erfinden.»

Voltaire

Gott ist komisch

Mitten in der Nacht steht meine Exfrau vor der Tür.

«Was ist passiert?», frage ich entgeistert.

«Ich brauch deine Hilfe. Meine Ehe steht auf der Kippe.»

«Deine aktuelle Ehe?», stottere ich und streiche mir verwirrt durchs Haar.

«Natürlich meine aktuelle Ehe», erwidert sie patzig. «Welche denn sonst? UnsereEhe ist seit drei Monaten geschieden. Da kann nix mehr kippen.»

«Danke, dass du mich daran erinnerst», sage ich matt.

«Gern geschehen. Was ist jetzt? Kann ich reinkommen?»

Kalte Nachtluft kriecht an ihr vorbei in mein winziges Apartment.

«Nicht so gern», antworte ich ehrlich.

«Und warum nicht?», fragt sie und späht argwöhnisch über meine Schulter. «Hast du etwa eine andere Frau hier?»

«Was heißt denn: eine andere Frau?», frage ich. «Wir sind geschieden. Wenn mir der Sinn danach steht, kann ich hier Bunga-Bunga-Partys feiern, ohne das mit dir abzusprechen.»

«Ja! Das sähe dir wieder mal ähnlich!», ruft sie. «Weil du nicht über mich hinwegkommst, wirfst du dich gleich der erstbesten Schlampe an den Hals, die dir über den Weg läuft.»

Ich seufze. Es liegt mir nicht, mich zu streiten, wenn ich müde bin. Ellen weiß das. Während unserer Ehe hat sie deshalb am liebsten frühmorgens oder spätabends Krach angefangen.

«Lass uns morgen reden», bitte ich freundlich.

Sie presst die Lippen aufeinander und überlegt. Für Sekundenbruchteile habe ich die Hoffnung, dass sie tatsächlich einlenken könnte. Ein Irrtum, wie ich nach sieben Jahren Ehe eigentlich wissen müsste.

«Dir ist aber schon klar, dass dieses Apartment mir gehört, oder?», pflaumt sie mich an. «Und die Praxis, für die du auch schon eine ganze Weile keine Miete mehr bezahlst, gehört ebenfalls mir. Ich finde, da kann ich durchaus mal einen klitzekleinen Gefallen von dir erwarten.»

Sie sieht mich an. Ich kenne diesen Blick. Wenn ich ihr jetzt die Tür vor der Nase zuschlage, wird sie mir den Strom oder das Wasser abdrehen lassen. Oder beides. Vielleicht droht mir auch die Zwangsräumung. Ellen kann sehr ungemütlich werden, wenn man nicht nach ihrer Pfeife tanzt.

Genervt trete ich zur Seite, damit sie hereinkommen kann.

«Nun hab dich nicht so», sagt sie und marschiert Richtung Küche. «Du hast doch geschworen, für jeden da zu sein, der Hilfe braucht.»

«Hab ich nicht», erwidere ich und schließe die Tür. «Psychologen leisten keinen hippokratischen Eid, falls du das meinst.»

Sie verschwindet in die Küche. «Hast du etwa keinen Weißwein?», höre ich sie rufen. Sie wartet nicht ab, ob ich antworte, sondern beginnt, geräuschvoll meinen Kühlschrank zu durchwühlen.

«Im Eisfach», sage ich und lasse mich müde auf einen Küchenstuhl sinken.

«Im Eisfach? Da kann die Flasche aber platzen», gibt sie zu bedenken.

«Dann mal gut, dass du gekommen bist», erwidere ich. «Du hast mich zwar heute um meinen Schlaf und insgesamt um ein paar Jahre meines Lebens gebracht, aber wenigstens platzt mir obendrein nicht auch noch eine Flasche Weißwein.»

Sie gießt sich ein und hebt fragend die Flasche. Ich nicke und bekomme ebenfalls ein Glas.

«Okay. Schieß los!», sage ich und nehme einen Schluck.

«Wie? Hier? In dieser winzigen Küche soll ich über meine Eheprobleme reden? Ist das dein Ernst?»

«Wo wäre es dir denn lieber? Ich hätte noch ein winziges Bad anzubieten, oder ein winziges Schlafzimmer.»

«Was soll das nun wieder heißen?», bellt sie. «Etwa, dass ich dir kein anständiges Apartment zur Verfügung stelle? Weißt du eigentlich, dass dein guter Freund Adam Weberknecht …»

«Adam Weberknecht ist nicht mein guter Freund. Im Grunde kenne ich ihn kaum.»

«Jedenfalls lebt er seit seiner Scheidung unter einer Brücke!»

«Dann hat er bestimmt mehr Platz als ich. Vielleicht besuche ich ihn mal.»

Sie stößt verächtlich Luft durch die Nase, nippt am Wein und verzieht das Gesicht. «Uh. Teuer war der aber nicht, oder?»

«Zwei Euro irgendwas», antworte ich schulterzuckend.

«Ja. So schmeckt er auch. Vielleicht bringst du Adam Weberknecht eine Pulle davon mit, wenn du ihn unter der Brücke besuchst.»

«Sorry, Ellen. Sobald ich mir wieder Jahrgangschampagner leisten kann, melde ich mich bei dir.»

«Weißt du eigentlich, was dein Problem ist, Jakob?», fragt sie spitz.

«Ja. Dass du mir über den Weg gelaufen bist», erwidere ich.

Sie überhört den Einwand. «Dein Problem ist, dass du ein Weichei bist. Schon die kleinsten Schwierigkeiten hauen dich um.»

«Schön, dass wir jetzt wissen, was mein Problem ist. Vielleicht kommen wir dann jetzt mal zu deinem Problem.»

«Nur, damit das klar ist. Ich will von dir nichts geschenkt. Diese Beratung hier stellst du mir bitte ganz normal in Rechnung, okay?»

«Okay. Mach ich.»

«Allerdings werde ich dein Honorar natürlich zunächst mal mit den ausstehenden Mieten verrechnen. Du bist ja …»

«Schon gut, Ellen», winke ich ab. «Sag mir doch jetzt einfach, was du auf dem Herzen hast.»

Sie nippt an ihrem Wein und sieht sich um. «Diese winzige Küche schlägt mir wirklich aufs Gemüt.»

«Ellen, es ist mitten in der Nacht. Hat das alles nicht Zeit bis morgen? Ich geb dir den ersten Termin. Versprochen. Du kannst meinetwegen gleich um acht Uhr vorbeikommen. Okay?»

Sie nimmt einen weiteren Schluck Weißwein und mustert mich. «Ich hab mir schon gedacht, dass die Praxis schlecht läuft, als du mit den Mieten in Rückstand geraten bist. Aber ich wusste nicht, dass du am Rande des Ruins stehst.»

«Wie kommst du darauf?»

«Ein Psychologe, der mitten in der Nacht noch Termine für den nächsten Morgen vergeben kann, steht ganz offensichtlich finanziell mit dem Rücken an der Wand.»

«Danke für deine Einschätzung», sage ich. «Und jetzt lass uns über dich reden.»

«Du kannst es mir ruhig sagen, wenn du knapp bei Kasse bist.»

«Möchtest du mir was leihen oder dich nur an meiner Not ergötzen?»

Sie überlegt.

«Lass gut sein, Ellen. Als ich erfahren habe, dass unser Ehevertrag nur den Zweck hatte, die Millionen deines todkranken Erbonkels vor mir in Sicherheit zu bringen, hast du für alle Zeit das Recht verloren, dich in meine finanziellen Angelegenheiten zu mischen. Wenn es dich glücklich macht, kannst du mich gerne damit erpressen, dass ich materiell von dir abhängig bin. Aber spar dir bitte deine Ratschläge.»

Sie sieht mich an und zieht die Mundwinkel nach unten. Dabei spannen sich ihre Lippen, was sie immer tun, wenn Ellen zum Angriff schreitet.

Ich komme ihr zuvor. «Und jetzt sag mir endlich, warum du hier bist, sonst gehe ich nämlich wieder ins Bett.»

Es klingelt.

«Da ist er ja», sagt Ellen hastig.

«Wer?»

«Armin. Mein Mann. Du musst ihn zur Vernunft bringen. Er ist rasend vor Eifersucht, und auf mich hört er einfach nicht.»

Wieder klingelt es. Diesmal länger.

Mir schwant etwas. «Du hast gewusst, dass er kommen würde. Du hast ihn absichtlich hergelockt, damit nicht du dich mit ihm herumschlagen musst, sondern ich.»

«Logisch!», antwortet sie. «Wer ist denn hier der Psychologe?»

Ich brauche einen Moment, um zu verdauen, dass meine Exfrau mich ganz selbstverständlich mitten in der Nacht in ihre Eheprobleme reinzieht.

«Okay. Hat er Drogen genommen?», frage ich. «Oder ist er betrunken?»

Sie schüttelt den Kopf. Wieder klingelt es.

«Moment! Ich komme!», rufe ich in Richtung Haustür und wende mich dann wieder Ellen zu: «Noch was, das ich wissen sollte?»

«Er ist Boxer.»

«Boxer?»

«Ja. Berufsboxer.»

«Da steht ein rasend eifersüchtiger Typ vor meiner Tür, der professionell Leute zusammenschlägt? Hast du sie noch alle, ihn herzubringen?»

Ellen zuckt mit den Schultern. «’tschuldigung, aber …»

«Welche Gewichtsklasse?»

«Federgewicht», antwortet Ellen.

Ich luge durch den Türspion. Im Halbdunkel kann ich einen Hänfling erkennen, der mir gerade mal bis zum Kinn reicht. Er ist zwar etwas aufgebracht, wirkt aber ungefährlich. Ein beruhigender Anblick.

«Ich komme jetzt raus», sage ich und drehe den Schlüssel herum. Fast im gleichen Moment wird die Tür aufgestoßen, und Armin stürmt in die Wohnung, so schnell, dass ich gar nicht realisiere, wie er zum Schlag ausholt. Im Grunde wird mir erst klar, dass Ellens Mann gleich auf mich eindreschen wird, als seine Faust sich wenige Millimeter vor meiner Nase befindet. Ich habe noch kurz für den hoffnungsfrohen Gedanken Zeit, dass die Sache glimpflich ausgehen könnte, dann höre ich ein Knirschen und spüre einen stechenden Schmerz im Gesicht. Es fühlt sich an, als würde mir jemand die Nase mit einem Vorschlaghammer in den Schädel treiben.

Während ich wie ein nasser Sack zu Boden sinke, beschließe ich, meinen Job an den Nagel zu hängen. Blühen wird mir das nach Lage der Dinge ja sowieso. Es ist traurig, aber wahr, dass meine Praxis miserabel läuft. Bis endgültig die Lichter ausgehen, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein. Obendrein bin ich ganz bestimmt kein guter Psychologe, wenn meine Menschenkenntnis so dermaßen schlecht ist wie jetzt gerade. Schade, denke ich, als ich mit einem Krachen auf der hässlichen Auslegware lande. Eigentlich mag ich meinen Job. Außerdem habe ich leider nichts anderes gelernt. Dann wird mir schwarz vor Augen.

Ich erwache in einem Krankenwagen. Mein Kopf dröhnt. Ich spüre ein Pochen hinter den Schläfen. Neben mir sitzt ein schlaksiger Typ mit ungesunder Hautfarbe. Er kaut irgendwas und blättert dabei in einer Illustrierten. «Liegen bleiben», sagt er, ohne hochzusehen.

Ich lege den Kopf wieder zurück, und das Pochen wandert in die Nasengegend. «Könnte ich bitte was gegen die Schmerzen haben?»

«Sorry, aber ich hab mir den Rest der Packung gerade eingeworfen», nuschelt er und schluckt dann ostentativ.

«Sind Sie auch ein Patient?», frage ich irritiert.

Er schüttelt den Kopf. «Ich bin Dr. Kessels. Der Arzt.»

«Aha», erwidere ich verunsichert. «Und warum essen Sie mir dann meine Schmerzmittel weg?»

«Weil ich seit dreißig Stunden auf den Beinen bin und keine Amphetamine mehr habe. Oder wollen Sie, dass mein Magengeschwür mich umbringt?»

«Das nicht. Aber meine Nase tut auch höllisch weh.»

Er seufzt genervt und schlägt mit der Faust gegen die Verbindungswand zur Fahrerkabine. «Mach die Funzel an! Hier hat’s jemand eilig.»

Die Sirene jault auf, ruckartig beschleunigt der Wagen.

«Danke», sage ich.

Er winkt ab. «Das wird Ihnen nicht viel nutzen. In der Notaufnahme sind bestimmt noch drei Dutzend Leute vor Ihnen dran. Mit ’ner angebrochenen Nase stehen Sie ziemlich weit hinten auf der Liste.»

«Vielleicht könnten Sie noch mal über mich drüberfahren, bevor Sie mich abliefern», schlage ich vor.

Er lacht heiser, bekommt einen Hustenanfall und bekämpft ihn mit einem Asthmaspray, das er nach einigem Suchen in einer Kiste mit Krimskrams findet. Schwer atmend setzt er sich wieder auf seinen Hocker. «Sie dürfen einen Kettenraucher nicht so zum Lachen bringen.»

Mit quietschenden Reifen kommt der Wagen zum Stehen.

Auf dem Krankenhausflur herrscht Jahrmarktsatmosphäre. Wie der Arzt prophezeit hat, tummeln sich hier ein paar Dutzend Kranke nebst Familien und Freunden. Die meisten plaudern, um die Wartezeit zu verkürzen. Einige telefonieren, andere spielen Karten. Ich soll ein mehrseitiges Antragsformular ausfüllen und mich auf ein paar Stunden Wartezeit einstellen. Immerhin bekomme ich unkompliziert eine Schmerztablette.

Ich suche mir einen Platz und beginne, das Formular zu studieren.

«Und ich dachte schon, ich wäre der Einzige hier, der komisch aussieht», höre ich eine Stimme sagen.

Vor mir steht ein Endvierziger in einem Clownskostüm. Er hat beide Daumen hinter die gepunkteten Hosenträger geklemmt und grinst. Auf seiner Stirn und im angegrauten Dreitagebart sind Reste von Schminke zu erkennen. Scheint so, als käme er direkt aus der Manege.

«Sie sehen aus wie Jack Nicholson in Chinatown», sagt er und setzt sich neben mich. «Guter Film, übrigens. Kennen Sie den?»

Ich überlege, was der Clown meinen könnte, und strecke mich, um in der gegenüberliegenden Glasscheibe zu erkennen, dass der übernächtigte Dr. Kessels meine Nase provisorisch geschient und dabei Unmengen von Pflaster verbraucht hat. Ich sehe aus, als hätte der Kerl mich nicht nur zusammenflicken, sondern abdichten wollen.

Seufzend lehne ich mich wieder zurück und schaue den Clown an, der mich mustert und vermutlich immer noch auf eine Antwort wartet. Inzwischen habe ich leider seine Frage vergessen. Gerade will ich nachhaken, da kommt er mir zuvor.

«Wer hat Ihnen nur so einen sauberen Punch verpasst?» Er wirkt regelrecht fasziniert von meinem Nasenbruch.

«Der Mann meiner Exfrau», antworte ich.

«Der Bursche hat Talent», erwidert der Clown.

«Kein Wunder. Er ist Berufsboxer.»

«Dann sollten Sie froh sein, dass Sie sofort umgefallen sind. Sonst hätte er Sie wahrscheinlich noch schlimmer zugerichtet.»

Ich stutze. «Woher wollen Sie wissen, dass ich sofort umgefallen bin?»

«Ach … ich hab früher selbst ein bisschen geboxt», antwortet er. «Und das da …» Er zeigt auf meine Nase. «… sieht nach einem lupenreinen Knockout aus. Ich vermute, bevor sie ‹piep› sagen konnten, lagen Sie bereits am Boden. Und ich vermute auch, der Schlag kam völlig unerwartet, denn einen so schönen Nasenbruch kriegt man praktisch nicht hin, wenn der Gegner die Deckung oben hat.»

Ich muss lächeln. Der Kerl gefällt mir.

Er reicht mir die Hand. «Ich bin übrigens Abel Baumann.»

«Jakob Jakobi», erwidere ich. «Freut mich. Und warum sind Sie hier?»

«Komische Geschichte», sagt Baumann. «Ich hatte heute einen Auftritt bei einer Betriebsfeier. Danach kriegte ich Stiche in der Herzgegend. Organisch ist aber alles in Ordnung. Mir ist das in letzter Zeit schon ein paarmal passiert. Ist wohl psychosomatisch, meint der Arzt.»

«Gut möglich», erwidere ich. «Sind Sie denn beruflich oder privat großem Stress ausgesetzt?»

Baumann nickt. «Kann man schon so sagen.»

«Und belastet Sie das? Fühlen Sie sich oft müde und abgekämpft? Oder schlafen Sie schlecht?»

Wieder überlegt Baumann, dann stutzt er. «Hey! Moment mal! Sie kennen sich aus mit diesen Psychosachen, oder?»

Ab und zu tauchen in meinem Privatleben gewisse Fragetechniken aus meiner Therapiearbeit auf. Eine Berufskrankheit, mit der ich mich inzwischen abgefunden habe. «Stimmt. Ich bin Psychotherapeut.»

«Das ist toll», erwidert Baumann. «Ich soll mir einen wie Sie suchen, damit mein Herzklabaster aufhört. Hat mir eben der Arzt geraten.»

Normalerweise würde ich Baumann jetzt meine Visitenkarte geben und ihn in meine Praxis bitten, aber da Ellens Mann mich im Bademantel zur Strecke gebracht hat, habe ich kein Geld, keine Papiere und erst recht keine Visitenkarten dabei. Außerdem wollte ich eben noch meinen Job an den Nagel hängen. Vielleicht sollte sich dieser Baumann also lieber einen anderen Therapeuten suchen. Einen mit professionellem Auftreten und beruflicher Perspektive.

«Tut mir leid, aber ich praktiziere zur Zeit nicht», lüge ich.

Er sieht mich an und überlegt. «Also, wenn es am Geld liegt …», sagt er dann, «das ist kein Problem. Ich habe Geld.»

«Nein. Es liegt nicht am Geld. Ich befinde mich nur gerade in einer Phase der beruflichen Neuorientierung.»

«Aha.» Baumann wirkt enttäuscht. «Was kostet denn so was eigentlich?», will er wissen. «Nur damit ich mal einen Anhaltspunkt habe.»

«Bei mir dauert eine Sitzung fünfundvierzig Minuten und das kostet achtzig Euro. Wie viel die Krankenkasse davon übernimmt, muss man im Einzelfall sehen. Ich mache bei neuen Patienten immer eine Probesitzung, um herauszufinden, ob die Chemie stimmt. Das wird von den meisten Kassen nicht erstattet.»

«Schade, dass Sie gerade nicht praktizieren», sagt Baumann. «Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Chemie zwischen uns beiden stimmen würde.»

Mit gespieltem Bedauern hebe ich die Schultern.

«Und ich kann Sie nicht wenigstens dazu überreden, diese Probesitzung mit mir abzuhalten? Sie wären wirklich zu nichts verpflichtet.» Er zieht einen Hunderter aus seinem Clownskostüm und wedelt mir damit vor der Nase herum. «Die haben mich bar bezahlt. Ich kann mir also eine Probesitzung bei Ihnen leisten. Ich würde im Voraus zahlen. Und ’n kleines Frühstück für uns beide wäre auch noch drin.»

«Sie wollen jetzt sofort ein Therapiegespräch?»

«Ja. Warum nicht? Um die Ecke gibt es ein Café, wo wir reden können. Um diese Zeit ist da bestimmt nichts los. Und Sie müssen hier doch sowieso noch ein paar Stunden warten.»

Da hat er recht. Allerdings behandele ich nur sehr ungern Patienten, die ich noch nicht kenne, außerhalb meiner Praxis und außerhalb der Sprechzeiten. Andererseits könnte ich einen Kaffee und ein ordentliches Frühstück gebrauchen. Außerdem scheint dieser Baumann ein netter Kerl mit überschaubaren Problemen zu sein. Also, warum nicht ein paar Prinzipien über Bord werfen, wenn die Situation es erfordert? Das predige ich meinen Patienten ja schließlich auch immer.

«Einverstanden», sage ich kurzentschlossen und erhebe mich. «Ich hole mir jetzt noch ein paar Schmerztabletten, und dann gehen wir frühstücken. Aber wenn Sie mich schon für die Sitzung bezahlen, dann geht das Frühstück auf mich.»

Baumann nickt erfreut. «Klingt fair.»

Eine halbe Stunde später sitzen wir in einem Café unweit des Krankenhauses. Hinterm Tresen steht eine macchina in der Größe eines Caprifischerbootes. Ein kleiner Italiener poliert die Metalloberfläche, als würde er eine Bikinischönheit mit Sonnenmilch einreiben. Seine früh verblühte Ehefrau kümmert sich um alles andere. Wahrscheinlich führen die beiden keine glückliche Ehe, aber immerhin ist der Cappuccino Weltklasse.

«Hat unsere Sitzung eigentlich schon angefangen?», will Baumann wissen, während die Signora uns Fenchelsalami, Parmaschinken und andere Köstlichkeiten auftischt.

«Die frischgepressten Säfte kommen auch gleich», erklärt sie und huscht davon.

«Nein. Sie bestimmen, wann es losgeht», antworte ich an Baumann gewandt. «Wenn Sie bereit sind, fangen wir an.»

«Okay. Ich bin bereit. Was wollen Sie denn wissen?»

«Was möchten Sie mir denn erzählen?»

Baumann nippt an seinem Cappuccino, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. «Was wir heute hier besprechen, das bleibt doch unter uns, oder?»

«Ja. Prinzipiell unterliegen Psychologen der Schweigepflicht. Warum fragen Sie?»

Er merkt auf. «Was heißt denn: prinzipiell?»

Ich zucke mit den Schultern. «Na ja. Wie immer gibt es Ausnahmen. Wenn ich den Eindruck habe, dass Sie eine Gefahr für sich oder andere sind, dann bin ich unter bestimmten Voraussetzungen gesetzlich dazu verpflichtet, das zu melden. Aber solche Fälle kommen eher selten vor.»

Er nickt grüblerisch.

«Haben Sie etwas auf dem Herzen, das juristisch problematisch sein könnte?», frage ich.

Baumann zuckt mit den Schultern. «Was weiß denn ich, was Sie für juristisch problematisch halten? Ich bräuchte schon die Garantie, dass Sie mich nicht einsperren lassen. Das würde mir nämlich gerade überhaupt nicht in den Kram passen.»

«Diese Garantie kann ich Ihnen leider nicht geben», entgegne ich. «Es gibt Gesetze, und an die muss ich mich halten.»

Er seufzt und blickt eine Weile nachdenklich zur Decke.

«Vielleicht möchten Sie noch einmal in Ruhe überlegen, ob Sie überhaupt mit mir sprechen wollen», schlage ich vor. «Wir können das hier einfach vergessen. Sie brauchen auch nichts zu bezahlen.» Mein Blick fällt auf die vor uns stehenden Köstlichkeiten, und ich füge rasch hinzu: «Wäre allerdings nett, wenn Sie mir das Geld fürs Frühstück pumpen würden. Ohne Ihr Honorar bin ich nämlich so pleite wie zuvor.»

Er überlegt immer noch. «Verstehe», sagt er nach einer Weile. «Könnten Sie mir denn versprechen, dass Sie eine solche Entscheidung nicht allein auf Basis der Gesetzgebung treffen, sondern auch von Ihrem Bauchgefühl abhängig machen? – Wissen Sie, ich traue dem Gesetz nicht besonders.»

«Aber Sie trauen meinem Bauchgefühl?», frage ich überrascht.

Er nickt. «Sie haben heute einen Schlag ins Gesicht bekommen. «Offenbar wissen Sie, dass man sich im Leben so sehr irren kann, dass es weh tut.»

Auch ich lehne mich nun zurück und nehme einen Schluck Cappuccino. Wer ist der Mann, der mir da gerade gegenübersitzt? Anscheinend habe ich den netten Kerl im Clownskostüm falsch eingeschätzt. Wer weiß, welche Überraschungen dieser Abel Baumann noch bereithält. Jedenfalls hat er mein Interesse geweckt. «Gut, ich verspreche es», sage ich. «Und nun bin ich gespannt, was Sie mir zu erzählen haben.»

Baumann räuspert sich und lehnt sich vor. In diesem Moment kommt die Signora an unseren Tisch und bringt die frischgepressten Säfte. Dabei macht sie eine hektische Bewegung und rammt versehentlich ihren Ellenbogen gegen meine angebrochene Nase. Für Sekundenbruchteile sehe ich einen makellosen Sternenhimmel. Dann wird mir erneut schwarz vor Augen.

Gott ist erfinderisch

Ich erwache in einem winzigen Krankenzimmer. Mühsam richte ich mich auf. Kommt mir vor, als hätte ich überall Muskelkater, selbst in Regionen meines Körpers, wo ich niemals Muskeln vermutet hätte. Was ist mit mir passiert? Ich schaue zum Fenster und stelle fest, dass es dunkel wird. Hatte der Tag nicht eben erst angefangen? Seltsam.

Ich teile das Zimmer mit zwei alten Männern. Der eine schnarcht leise, der andere liegt mit weit geöffnetem Mund da und gibt keinen Mucks von sich. Würde die Bettdecke sich nicht im Rhythmus der Atemzüge heben und senken, könnte man den Kerl glatt für tot halten.

Mein Blick fällt auf einen winzigen Fernseher, der an der gegenüberliegenden Wand unterhalb der Decke klebt. Sieht aus, als hätte jemand versucht, ihn so aufzuhängen, dass man möglichst wenig vom Fernsehprogramm erkennen kann. Gerade läuft stumm ein Fußballspiel. Könnte auch Eishockey sein.

Ein leises Knarren. Die Tür öffnet sich und das ebenso dezent wie sorgfältig geschminkte Gesicht meiner Mutter erscheint.

«Er ist wieder unter den Lebenden», sagt sie zu jemandem, den ich nicht sehen kann. «Du musst später rauchen gehen, Schatz.»

«Schon okay», antwortet die Stimme hinter der Tür. Es ist mein Bruder Jonas.

Ein paar Sekunden später stehen die beiden am Kopfende meines Bettes.

«Was ist passiert?», will ich wissen. «Und warum seid ihr beide hier?»

Mutter runzelt vorwurfsvoll die Stirn, dann wendet sie sich zu Jonas. «Hab ich es nicht gleich gesagt? Er wird es uns nicht danken. Wie üblich.»

«Was danken?», frage ich und ärgere mich darüber, dass Mutter in der dritten Person über mich spricht, während ich anwesend bin. Obwohl sie weiß, dass es mich auf die Palme bringt, macht sie das regelmäßig.

Ihr strafender Blick trifft mich. «Wir haben stundenlang in dieser schrecklichen Cafeteria gehockt und darauf gewartet, dass du endlich aus dem Koma aufwachst. Wir waren schon ganz krank vor Sorge.»

«Koma? Was denn fürn Koma?»

Jonas macht eine beschwichtigende Handbewegung und bedeutet mir mit einem Seitenblick, dass unsere Mutter ein wenig übertreibt. Auch das macht sie regelmäßig.

«Es gab Komplikationen bei deiner OP», erklärt Jonas. «Dein Leben stand auf Messers Schneide. Um ein Haar hätten sie dich verloren.»

Die Information dringt nur langsam in mein Bewusstsein. Zugleich spüre ich ein seltsames Unbehagen. Ich habe nicht die geringste Erinnerung an die letzten Stunden. Vermutlich hätte ich meinen eigenen Tod verschlafen. Vorsichtig betaste ich meine Nase. Ich erinnere mich nun wieder an Abel Baumann, die Kellnerin und meinen doppelten Knockout.

«Keine Sorge. Sie haben alles wieder gut hinbekommen», erklärt Jonas.

«Aber du musst uns jetzt hoch und heilig versprechen, dass du mit dem Trinken aufhörst», sagt Mutter theatralisch.

Ich blicke fragend zu Jonas, der zuckt ahnungslos mit den Schultern.

«Einer Mutter kann man nun mal nichts vormachen», fährt sie fort. «Ich weiß doch, dass die meisten Komplikationen bei einer Vollnarkose auftreten, weil es sich bei den Patienten um schwere Alkoholiker handelt. In solchen Momenten kommt die Wahrheit dann eben doch ans Licht.»

Ich seufze. «Mutter, ich bin kein Alkoholiker.»

«Da habe ich aber von Ellen was ganz anderes gehört. Dem Inhalt deines Kühlschrankes nach zu schließen, ernährst du dich von Billigwein.»

Hätte ich mir ja denken können, dass sich die beiden längst ausgetauscht haben. Meine Exfrau und meine Mutter verstehen sich nämlich blendend. Kein Wunder, denn charakterlich gleichen sie sich wie ein Ei dem anderen. Ich habe ein paar Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass ich mit Ellen quasi meine Mutter geheiratet habe, psychologisch gesehen. Das ist zwar schrecklich, aber nachvollziehbar. Ein Therapeut ist ebenso wenig gegen Neurosen gefeit wie ein Zahnarzt gegen Karies. Wobei dieser Vergleich hinkt, weil Zahnschmerzen meist nach ein paar Tagen vorbei sind, während eine neurotische Ehe gerne mal sieben Jahre dauern kann.

«Ellen wollte übrigens auch kommen. Sie hat versucht, ihre Termine zu verschieben. Hat aber nicht geklappt. Sie lässt dich grüßen. Wenn du willst, dann holt sie dich morgen ab.» Mutter zieht ihr Smartphone hervor und entriegelt es mit einem Wisch. «Soll ich ihr simsen?»

«Nein», sage ich. «Und wieso kann ich nicht sofort raus? Mir geht’s gut.»

«Sie wollen dich noch eine Nacht hierbehalten», antwortet Jonas. «Ist nur zur Beobachtung.»

«Also ich würde auch keine Nacht länger als nötig in diesem alten, zugigen Kasten bleiben», erklärt Mutter und zupft an ihrer Kurzhaarfrisur. «Wobei ich gesehen habe, dass in den picobello renovierten Einzelzimmern für die Privatpatienten sogar Plasmafernseher hängen.»

«Wie schade, dass ich kein Privatpatient bin», erwidere ich. «Einen Plasmafernseher hätte ich auch gern gehabt, als ich im Koma lag.»

Mutter verzieht ihre schmalen Lippen zu einem spöttischen Lächeln. «Vielleicht kann dir ja dein Bruder eine Nacht in der gehobenen Zimmerkategorie spendieren.»

«Mutter! Bitte!», wirft Jonas mit gespielter Empörung ein. In Wahrheit könnte er stundenlang zuhören, wenn sie ihn über den grünen Klee lobt.

«Wusstest du eigentlich, dass die Bank ihm einen äußerst lukrativen Job in Übersee angeboten hat?»

Ich nicke Jonas anerkennend zu. «Nein. Aber gratuliere. Und wo da genau in Übersee?»

«Was spielt denn das für eine Rolle?», blafft Mutter.

«Ich finde, es ist schon ein Unterschied, ob er künftig an der Wall Street sitzt oder irgendwo in den Anden.»

«Weder noch», erwidert Jonas herablassend. «Sie wollen, dass ich dabei helfe, eine Investmentbank in Florida aufzubauen.»

Wäre Arroganz ansteckend, müsste mein Bruder jetzt auf die Quarantänestation. Und zwar zusammen mit unserer Mutter.

«Florida», wiederhole ich und pfeife anerkennend. «Das ist doch ein Paradies für Rentner, habe ich gehört. Magst du Mutter nicht mitnehmen? Ihr könntet abends am Strand sitzen, Hummer essen und über mich lästern.»

«Schon klar, dass du mich loswerden willst», erwidert Mutter. «Aber ich bleibe natürlich in Berlin. Erstens würde ich unseren Familiensitz nie im Leben verkaufen, und zweitens kümmert sich eine Mutter immer besonders um jenes Kind, das ihr die größten Sorgen bereitet. Bei Jonas weiß ich, dass er seinen Weg gehen wird. Er ist noch nicht mal vierzig, hat einen guten Job und verdient eine Menge Geld. Es würde mich außerdem nicht wundern, wenn er uns bald eine hübsche Amerikanerin vorstellt …»

«Mutter, ich habe schon verstanden, dass ich dein Problemkind bin», unterbreche ich. «Aber besten Dank für die vielen verletzenden Details.»

«Gern geschehen», entgegnet Mutter mit einem eiskalten Lächeln.

«Deine Befürchtungen sind übrigens unbegründet», fahre ich fort. «Ich komme gut allein zurecht und habe nicht die Absicht, dich um Hilfe zu bitten.»

Mutter zieht verächtlich Luft durch die Nase. «Du kommst allein zurecht? Da höre ich aber ganz andere Geschichten. Ellen hat mir erzählt, du kannst die Miete nicht bezahlen, weder für das Apartment noch für die Praxis. Außerdem scheinen dir die Patienten nicht gerade die Bude einzurennen.» Sie seufzt bedeutungsvoll. «Ein Glück, dass dein Vater das nicht miterleben muss. Er würde sich ganz bestimmt …»

Ein energisches, kurzes Klopfen lässt sie verstummen. Dann öffnet eine korpulente Krankenschwester schwungvoll die Tür und verkündet: «Ich bitte jetzt alle Besucher mal kurz auf den Flur. Es dauert nur ein paar Minuten. Vielen Dank!»

Die Visite erspart mir Mutters Vortrag über all jene Enttäuschungen, die ich meinem Vater glücklicherweise nicht mehr zumuten muss, weil er vor fünf Jahren das Zeitliche gesegnet hat. Man könnte sagen: in weiser Voraussicht. Knapp vor seinem Siebzigsten ereilte ihn ein Herzinfarkt. Kein ungewöhnliches Schicksal für einen ebenso arbeitsbesessenen wie unsportlichen Alkoholiker. Wobei Vaters tägliche halbe Flasche Scotch oder Brandy nie als Alkoholismus bezeichnet werden durfte. Da er ausnahmslos nach 17 Uhr trank und nie Anzeichen eines Rausches zeigte, galten seine acht bis zehn doppelstöckigen harten Drinks am Tag offiziell immer als kultivierte Variante des Feierabendbierchens.

Routiniert verteilt die Krankenschwester Medikamente. Meine Bettnachbarn bekommen randvolle Tablettenboxen, nach Tageszeiten sortiert. Auf mein Tischchen stellt sie einen kleinen Plastikbecher mit zwei Pillen darin. «Nur ein mittelschweres Schmerzmittel. Reine Vorsichtsmaßnahme, falls Ihnen heute Nacht die Nase weh tun sollte.»

«Danke», sage ich.

Sie nickt und zieht mit den Worten «Der Arzt ist auch gleich da» die Tür ins Schloss. Ich kann für den Bruchteil einer Sekunde Mutter sehen, die gerade auf Jonas einredet. Bestimmt schildert sie ihm meine desolaten Lebensumstände und spart nicht mit düsteren Farben und apokalyptischen Wendungen. Seit Vaters Tod muss ich mir regelmäßig von ihr anhören, dass ich als Psychotherapeut und Stütze der Gesellschaft eine herbe Enttäuschung bin. Mutter glaubt, dass ich in Vaters viel zu große Fußstapfen treten wollte. Psychologisch gesehen ist das ein Totschlagargument, weil alle Kinder zunächst einmal in die Fußstapfen ihrer Eltern treten wollen. Die Frage ist nur, ob man dem vorgezeichneten Weg dann später wirklich folgt oder davon abweicht.

Ich gebe zu, in meinem Fall scheinen die Dinge klar auf der Hand zu liegen. Mein Vater ist der berühmte Psychologe Bartholomäus Jakobi. Sein Buch über die verkaufspsychologische Wirkung der Spektralfarben gilt als Standardwerk und hat ihm zunächst wissenschaftliche Anerkennung eingebracht, dann diverse Gastprofessuren und damit schließlich eine große Villa in Berlin-Zehlendorf. Obwohl Mutter nicht müde wird, das Haus als unseren Familiensitz zu bezeichnen, lebt sie dort seit Jahren allein und weigert sich, zumindest einen Teil des viel zu großen Anwesens unterzuvermieten.

Erneut wird die Tür geöffnet, und jener schlaksige Typ mit ungesunder Hautfarbe, der sich mir letzte Nacht als Dr. Kessels vorgestellt hat, erscheint.

«Hallo! Wie geht es Ihnen?»

Ich zucke mit den Schultern. «Danke. Eigentlich ganz gut.»

«Das freut mich», sagt er und hustet heiser. «Tut mir leid, dass Sie noch bis morgen hierbleiben müssen, aber ich möchte kein Risiko eingehen. Sonst sterben Sie womöglich ausgerechnet heute Nacht, und dann heißt es wieder, ich hätte die OP verbockt.»

«Und? Haben Sie sie verbockt?», frage ich launig.

«Natürlich habe ich sie verbockt», erwidert er und schielt auf meinen Becher mit Schmerztabletten. «Anfängerfehler. Ich habe der Narkoseschwester eine falsche Anweisung gegeben. Ist aber nur passiert, weil ich seit fast fünfzig Stunden auf den Beinen bin.»

«Hört sich an, als müssten Sie den Laden allein schmeißen», werfe ich ein.

«Sagen wir so: Das aktuelle Gesundheitssystem ist nicht gerade arbeitnehmerfreundlich.» Er lässt meine Pillen nicht aus den Augen.

«Eine würde ich Ihnen abtreten», sage ich. «Die andere brauche ich vielleicht noch selbst.»

«Hey! Das ist aber nett von Ihnen! Danke!» Er fischt eine der Pillen aus dem Plastikbecher und schiebt sie sich in den Mund. «Sie müssen sich jedenfalls keine Sorgen machen. Ich bin sicher, morgen früh ist alles überstanden. Und Ihre Nase dürfte auch wieder wie neu werden.»

«Was genau ist denn eigentlich mit mir passiert?», frage ich.

Er öffnet die Pillenschachtel meines Bettnachbarn und pickt sich ein paar Tabletten heraus, als wären es Erdnüsse. «Nichts Besonderes. Ihr Herz ist stehengeblieben.»

«Oh», erwidere ich verblüfft.

«Nur ein paar Minuten.»

«Ehrlich gesagt klingt das für mich ziemlich lange.»

«I wo!», erwidert er und wirft sich seine gesammelten Pillen in den Mund. «Es klingt dramatischer, als es ist. Stimmt schon, in gewisser Weise waren Sie eine kurze Weile tot. Und vor zweihundert Jahren wären Sie es wohl auch geblieben.» Er lacht kurz auf und hustet ein paarmal. «Aber für uns heute ist das Routine. Kein Grund zur Panik.»

«Dann ist es ja ein hübscher Zufall, dass ich noch am Leben bin.»

«Das ist die richtige Einstellung!», entgegnet er und wendet sich zur Tür. «Ich muss zurück in den OP. Komplizierte Herzgeschichte. Wir sollten ihm beide die Daumen drücken. Kann ich noch was für Sie tun?»

Ich will schon den Kopf schütteln, da fällt mir doch noch etwas ein. «Draußen stehen ein Kerl um die vierzig und eine ältere Dame mit kurzen, dunklen Haaren. Könnten Sie denen bitte sagen, dass ich Ruhe brauche und jetzt nicht mehr gestört werden darf?»

Er lächelt. «Familie, was? Kein Problem. Ich wimmel die beiden ab.»

Im nächsten Moment ist er verschwunden. Sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen. Ich benutze eine schäbige Ausrede, um Mutter und Jonas wegzuschicken, obwohl die beiden nur meinetwegen den ganzen Tag im Krankenhaus verbracht haben. Mein Gewissen zwickt mich zum Glück nicht lange. Zum einen werde ich mir noch viele Jahre anhören müssen, wie meine engste Familie heute aufopferungsvoll um mein Leben gefiebert hat. Zum anderen bin ich tatsächlich hundemüde. Meine Notlüge war also lediglich eine kleine Übertreibung. Langsam fallen mir die Augen zu.

Als ich wieder erwache, herrscht tiefste Nacht. Draußen ist es zappenduster. Der Raum wird nur vom matten Schein des Fernsehbildschirms erleuchtet. Meine Bettnachbarn sehen sich einen alten Film an. Die beiden sind nun hellwach. Man hört Tütenknistern und Essgeräusche.

Ich konzentriere mich auf den Bildschirm und erkenne James Stewart. Gerade spricht er mit einem freundlichen Kerl in altmodischer Unterwäsche. Die Szene kommt mir bekannt vor. Das ist einer dieser Streifen, die jedes Jahr zu Weihnachten wiederholt werden. Ich überlege, wie der Film heißt, und erinnere mich, dass James Stewart sich das Leben nehmen will und der freundliche Kerl ein Engel ist, der ihn retten soll. Ich glaube, das Wort Leben kommt sogar im Titel vor. Während ich angestrengt überlege, werde ich erneut von bleierner Müdigkeit gepackt. Wieder fallen mir die Augen zu, und wieder werde ich ins Reich der Träume hinabgezogen.

Als ich erwache, fühle ich mich frisch und ausgeruht. Es ist Morgen. Die Wintersonne taucht den Raum in kaltes Licht. Erstaunt stelle ich fest, dass meine Zimmernachbarn verschwunden sind, und zwar mitsamt ihren Betten. Ich setze mich auf und schaue mich um.

«Ich dachte, ein Einzelzimmer wäre Ihnen lieber», höre ich Abel Baumann sagen. Er sitzt etwas versteckt an dem kleinen Besuchertisch vor meinem Bett, hat zwei dampfende Tassen Kaffee mitgebracht und hält mir nun eine davon hin. «Möchten Sie? Ist ganz frisch.»

«Danke.» Ich nehme die Tasse entgegen, überlege aber zugleich, ob ich es Baumann ein bisschen krummnehmen sollte, dass er mir bis ans Krankenbett gefolgt ist. Ich mag ihn zwar, und er hat irgendwie eine gute Aura. Trotzdem muss ich darauf achten, die professionelle Distanz zu wahren. Ich nehme einen Schluck Kaffee. Tut gut. «Wo sind denn die beiden Alten hin, die hier lagen?»

«Die hab ich in ein anderes Zimmer verlegen lassen», sagt Baumann.

Erst jetzt fällt mir auf, dass er sein Clownskostüm gegen einen Arztkittel getauscht hat.

«Arbeiten Sie etwa hier?», frage ich irritiert.

Baumann streicht über seine grauen Bartstoppeln. «Nein. Den Kittel hier hab ich nur geliehen.»

Er sieht mein fragendes Gesicht und fügt hinzu: «Ehrlich gesagt, mache ich das häufiger, dass ich mir … ähm … Dinge leihe.»

«Sie leihen sich einen Arztkittel und lassen Patienten verlegen?», frage ich mit kritischem Blick.

Baumann zuckt mit den Schultern. «Wenn mich schon alle hier für den neuen Chefarzt halten, dann kann ich es uns doch auch ein bisschen nett machen, oder? Außerdem schulden die mir was. Immerhin hab ich schon Visite gemacht.»

«Sie haben … Visite gemacht?», frage ich erschrocken. «Das ist definitiv nicht in Ordnung. Ich hoffe, Sie wissen das.»

Baumann winkt ab. «Ich hab den Leuten nur Mut zugesprochen. Dafür kommt man ja wohl nicht gleich in den Knast, oder?»

«Oh. Da wäre ich mir nicht so sicher.»

«Eigentlich bin ich ja auch nicht der Visite wegen gekommen. Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht. Und ich dachte, nebenbei könnten wir einen Termin für unsere erste Sitzung ausmachen. Hat ja gestern nicht geklappt.»

«Stimmt.» Mir fällt ein, dass ich heute entlassen werden soll. Wir könnten uns später treffen. «Sie sind nicht zufällig mit dem Auto da, oder?»

Baumann schüttelt den Kopf. «Ich gehe meistens zu Fuß.»

Ich überlege, ob ich Baumann um Taxigeld bitten soll. Ich schulde ihm ja ohnehin noch das Frühstück. Allerdings spricht es nicht gerade für eine funktionierende professionelle Distanz, wenn sich ein Psychologe ständig Geld von seinem Patienten pumpt. Bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann, wird die Tür aufgerissen, und die korpulente Krankenschwester erscheint, diesmal in Begleitung von zwei Polizisten.

«Das ist er», verkündet sie und zeigt auf Abel, dessen freundliches Lächeln nicht über sein urplötzliches Unbehagen hinwegtäuschen kann.

«Können Sie sich als Mitarbeiter dieses Krankenhauses ausweisen?», fragt einer der Polizisten in forschem Ton.

Abel schüttelt den Kopf. «Ich hab den Kittel nur geliehen. Ich wollte ihn gleich wieder zurückgeben …», beginnt er zu erklären, wird aber von dem anderen Polizisten unterbrochen: «Sie müssen mitkommen.»

Rasch und routiniert haken die beiden Beamten den verdutzten Baumann unter und geleiten ihn zur Tür.

«Entschuldigen Sie die Störung», sagt einer der beiden zu mir, der andere nickt zustimmend. Abel sieht mich flehentlich an, schweigt aber. Bevor ich etwas sagen kann, sind die Polizisten mit ihm und der Krankenschwester auf dem Gang verschwunden.

Ich brauche ein paar Schrecksekunden, um zu begreifen, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, Abel Baumann einfach so seinem Schicksal zu überlassen. Er mag noch nicht offiziell mein Patient sein, aber immerhin hat er mich bereits für die erste Sitzung gebucht.

Entschlossen werfe ich die Decke zurück, springe aus dem Bett und will zur Tür hechten, aber mein Kreislauf kommt nach der langen Ruhephase nicht so schnell auf Touren. Ich falle der Länge nach hin. Glücklicherweise wird dabei ausnahmsweise meine Nase nicht in Mitleidenschaft gezogen. Dafür bin ich nun schlagartig hellwach.

Als ich den Gang betrete, sind die Polizisten gerade im Begriff, mit Abel im Fahrstuhl zu verschwinden.

«Moment!», rufe ich. «Warten Sie! Ich komme mit!»

Die Beamten sehen sich erstaunt an, immerhin stellt sich einer der beiden in die Lichtschranke, um die Fahrstuhltür zu blockieren. Ich eile durch den Krankenhausflur und sehe, dass Baumann erleichtert lächelt.

«Stehen Sie denn in irgendeiner Beziehung zueinander?» Der Polizist, der die Fahrstuhltür blockiert, sieht mich argwöhnisch an.

«Herr Baumann ist mein Patient», antworte ich.

Der Beamte mustert meine ungewaschenen Haare und den schmuddeligen Bademantel. Dann dreht er sich zu Baumann, der mit seinem schneeweißen Kittel problemlos als Koryphäe der Humanmedizin durchgehen würde.

«Stimmt das?», fragt der Beamte.

Baumann nickt. «Ja. Das ist mein Psychotherapeut.»

Der Polizist wirft seinem Kollegen einen kurzen, aber vielsagenden Blick zu. Dann bedeutet er mir mit einem Kopfnicken, dass ich ebenfalls in den Fahrstuhl steigen soll.

Gott ist ratlos

Mein Plan, Abel Baumann Scherereien zu ersparen, geht total schief. Am Ende kriegen wir beide Ärger. Abel, weil er ein Wiederholungstäter ist. Man hat ihn schon Dutzende Male verhaftet, weil er sich für einen anderen ausgab. Noch vor kaum zwei Wochen war er ein paar Straßen weiter als Architekt unterwegs und koordinierte über mehrere Tage hinweg die Arbeiten an einem riesigen Hotelkomplex. Mit dem Ergebnis, dass nun die Hälfte der Zimmer fehlt, weil Baumann angeordnet hat, diverse Zwischenwände rauszureißen. Er habe die Zimmer größer, heller und freundlicher gestalten wollen, gab er später zu Protokoll. Dummerweise waren die betreffenden Wände von nicht unerheblicher Bedeutung für die Statik des Gebäudes. Anders ausgedrückt: Der Rohbau hätte jede Minute in sich zusammenkrachen können. Die Ingenieure, die nun damit beschäftigt sind, zu retten, was zu retten ist, haben es jedenfalls als ein Wunder bezeichnet, dass das Gebäude überhaupt noch steht.

Der Revierleiter, ein Gemütsmensch mit Walrossbart, macht mir zum Vorwurf, dass ich von alldem nichts wusste. Polizeioberrat Schavinski findet, wenn ich schon als psychologischer Betreuer auftrete, dann sollte ich zumindest eine leise Ahnung davon haben, wen ich eigentlich betreue. Ich verbitte mir kategorisch jede Einmischung in meine Tätigkeit als Psychologe, muss aber insgeheim natürlich zugeben: Der Mann hat völlig recht. Außerdem möchte Schavinski mir ja nur ans Herz legen, künftig etwas besser auf meinen Patienten aufzupassen, damit der Papierkram sich in Grenzen hält.

Zwischenzeitlich meldet einer von Schavinskis Beamten, dass ich mein Krankenbett verlassen habe, ohne die Formalitäten zu erledigen. Ich vermute, die dicke Schwester hat mich verpetzt. Ich soll jedenfalls unbedingt noch unterschreiben, dass ich auf eigenes Risiko abgehauen bin. Das entsprechende Formular werde man der Polizei per Fax zukommen lassen. Ich sehe Polizeioberrat Schavinski an, dass er es mir persönlich übelnimmt, nicht wenigstens den Papierkram im Krankenhaus erledigt zu haben.

Dummerweise kann ich Ellen nicht erreichen. Sie könnte meinen Ausweis holen und ihn mir vorbeibringen. Zumindest das ist sie mir schuldig.

Ich spreche ihr auf die Mailbox, habe aber wenig Hoffnung, dass sie mich bald zurückruft. Als Millionärin ist Ellen eine umschwärmte Frau. Und da die meisten Leute mehr von ihr wollen als nur eine kleine Gefälligkeit, geht sie gewöhnlich erst spätabends die Mailboxliste ihrer Bittsteller durch.

Polizeioberrat Schavinski entscheidet deshalb, dass wir für ein paar Stunden die Gastfreundschaft seines Hauses in Anspruch nehmen werden. So lange nämlich, wie es dauern wird, den Papierkram zu erledigen und abzuklären, ob Baumann hinter Gittern bleiben muss oder nicht.

Man sperrt uns in eine Art Abstellkammer, in der zwei knochenharte Pritschen auf uns warten. An den Fußenden liegen säuberlich gefaltete, dunkelgraue Decken, die schon beim Hinsehen kratzen. Immerhin bekommen wir eine Kanne Kaffee und ein paar belegte Brote spendiert.

Wir frühstücken schweigend. Baumann scheint etwas auf dem Herzen zu haben. Tatsächlich räuspert er sich nach einer Weile und sagt: «Tut mir übrigens sehr leid, dass ich Sie in diese Lage gebracht habe.»

Ich winke ab. «Immerhin haben wir so Gelegenheit, in Ruhe miteinander zu reden.»

Baumann hebt erstaunt den Kopf. «Heißt das etwa, Sie wollen mir immer noch helfen?»

«Das weiß ich noch nicht», erwidere ich. «Aber wir haben ja beschlossen, dass wir das in einer Probesitzung herausfinden werden.»

Baumann wirkt verblüfft. «Und ich dachte schon, Sie wären stinksauer auf mich. Immerhin sitzen wir meinetwegen in Haft.»

Ich zucke mit den Schultern. «Wenn Leute zu mir kommen, dann stecken sie grundsätzlich in Schwierigkeiten. Das bringt mein Beruf so mit sich.»

Er nickt erfreut. «Das heißt also, wir können sofort loslegen?»

«Wenn Sie möchten, gern», erwidere ich.

«Klar möchte ich. Was wollen Sie wissen?»

«Zum Beispiel, was es für Sie bedeutet, in das Leben anderer Menschen hineinzuschlüpfen.»

«Och. Nichts Besonderes», entgegnet Baumann.

«Warum machen Sie es dann ständig?»

«Um zu helfen.» Er klingt, als würde er sich wundern, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin.

«Aha. Und wem hilft es, wenn Sie sich als Architekt ausgeben und ein Hotel unbewohnbar machen?»

Baumann winkt ab. «Mit dem ursprünglichen Konzept wäre es unbewohnbar geworden. Ein idealer Platz, um frustrierte Geschäftsleute auf Selbstmordgedanken zu bringen. Glauben Sie mir, ich habe ein halbes Dutzend Suizide allein im ersten Jahr verhindert. Die sollten mir eigentlich dankbar sein. Bestimmt werden sie jetzt obendrein mit Designpreisen überschüttet.»

«Ich vermute, es kostet eine Menge Geld, Ihr Design wieder rückgängig zu machen. Rechnen Sie also nicht mit allzu viel Dankbarkeit.»

«Ach was! Diese angeblichen Spezialisten für Baustatik sind doch nur gerufen worden, damit der Bauherr jetzt die Versicherung bescheißen kann. Die Statik des Gebäudes ist astrein. Ich hab nur Wände rausgenommen, die man sowieso nicht braucht.»

«Und woher wissen Sie das so genau? Sind Sie etwa Architekt?»

Baumann nickt. «Ist zwar schon eine ganze Weile her, aber ich habe tatsächlich mal als Architekt gearbeitet.»

Ich lehne mich amüsiert zurück und nehme einen Schluck Kaffee. «Heute Morgen haben Sie sich als Arzt ausgegeben. Wollen Sie mir erzählen, dass Sie auch Mediziner sind?»

Baumann zuckt gleichgültig mit den Schultern. «Stimmt aber. Ob Sie es nun glauben oder nicht.»

Ich stelle meine Tasse zur Seite. «Und das gilt natürlich auch für all die anderen Fälle, in denen Sie geholfen haben, richtig?»

Baumann nickt wieder. «Genau. Ich bin vielseitig.»

«Aber Ihr eigentlicher Job ist Zirkusclown», stelle ich fest.

«Wie man’s nimmt», erwidert Baumann. «Ich war zwar einige Jahre mit einem Zirkus unterwegs, trete aber heute nur noch sporadisch auf. Man kann mich über so eine Agentur buchen. Ich mache Kindergeburtstage, Hochzeiten, Weihnachtsfeiern. Eben alles, was so anfällt.»

«Als dieser Schavinski über Sie gesprochen hat, da klang es, als wären Sie in allen möglichen Branchen unterwegs.»

«Bin ich ja auch», stellt Baumann fest.

«Und wie muss ich mir das vorstellen?», frage ich. «Was haben Sie in letzter Zeit so alles gemacht?»

Er legt den Mittelfinger an die Stirn und beginnt, sie mit kleinen, kreisenden Bewegungen zu bearbeiten. «In letzter Zeit», murmelt er und überlegt. «Da war ich zum Beispiel Jugendrichter …»

«Weil Sie natürlich auch Jura studiert haben», hake ich ein und bemühe mich, sachlich zu klingen.

«Genau. Ich gebe aber zu, das ist auch schon eine ganze Weile her», erwidert Baumann ungerührt.

«Und was haben Sie da so gemacht? Als Jugendrichter, meine ich?»

«Unter anderem ein paar Kids freigesprochen, die wegen diverser Einbrüche angeklagt waren.»

«Hatten Sie Mitleid, oder waren die Kids wirklich unschuldig?»

«Sie haben versucht, ihre großen Brüder zu decken.»

«Dann haben Sie diesen Kids also geholfen, eine Straftat zu vertuschen.»

«Nicht ganz», sagt Baumann. «Ich habe wenig später als Staatsanwalt noch dafür gesorgt, dass die wahren Täter verhaftet werden.»

«Sie waren also auch Staatsanwalt», stelle ich fest und muss mich erneut bemühen, nicht ironisch zu klingen. «Haben Sie sich dann auch noch bei der Strafkammer eingeschlichen und die Bande höchstpersönlich verurteilt?»

Baumann wiegt den Kopf hin und her. «Das wollte ich, aber die haben mich beim Fälschen von Beweisen erwischt.»

Ich schweige einen Moment. «Welche Jobs haben Sie noch so angenommen?»

Baumann nippt an seinem Kaffee. «Mal überlegen. Ich war Sprengstoffexperte, Bankangestellter, Kernphysiker, Feuerwehrmann, Kapitän …»

«Schiffskapitän oder Flugzeugkapitän?», frage ich und bin nun doch amüsiert über Baumanns Aufzählung. Wie zur Hölle schafft man es nur, sich in derartige Jobs reinzumogeln? Ich werde Schavinski bei Gelegenheit um Akteneinsicht bitten. Bis dahin hoffe ich, dass Baumanns besonders riskante Abenteuer nur seiner Phantasie entspringen.

«Beides», erwidert Baumann locker.

«Sie haben sich als Pilot ausgegeben? Im Ernst?» Meine Heiterkeit verwandelt sich abrupt in Bestürzung. «Und was war das für ein Flugzeug?»

«Eine 737.»

«Ein Frachtflugzeug, hoffe ich.»

Baumann schüttelt den Kopf. «Nein. Eine Passagiermaschine.»

«Eine Passagiermaschine?», wiederhole ich fassungslos. «Sie haben Leute durch die Gegend geflogen?» Ich hoffe sehr, dass er nur eine Wahnvorstellung zum Besten gibt.

Baumann nickt. «Knapp einhundert. Aber nur nach Marokko und zurück», fügt er rasch hinzu, als würde das die Sache irgendwie besser machen.

Ich lasse die Dimension von Baumanns Weltverbesserungsversuchen auf mich wirken. Wenn seine Geschichten wahr sind, dann ist er definitiv eine Gefahr für sich und andere. Und das heißt, sofern er nicht in einer geschlossenen Abteilung landen will, muss er seine Hilfsaktionen einstellen. Und zwar sofort.

«Herr Baumann, es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen …», beginne ich diplomatisch, «… aber sie dürfen sich nicht länger fremde Identitäten aneignen. Das kann nicht nur für Sie, sondern auch für andere Menschen tödlich enden.»

Baumann wirkt enttäuscht. Aber die Standpauke kann ich ihm leider nicht ersparen.

«Wenn Sie sich ohne Pilotenschein ans Steuer einer Passagiermaschine setzen», fahre ich fort, «dann ist das …»

«Ich habe einen Pilotenschein», unterbricht Baumann sachlich.

«Ach ja?», erwidere ich und kann mir nun doch einen ironischen Unterton nicht verkneifen: «Und ist der vielleicht auch schon etwas älter? Ähnlich, wie Ihre Examen in Jura und Medizin? Oder Ihr Architekturstudium?»

Baumann streicht sich nachdenklich über seinen Dreitagebart. «Ja, da ist was dran», nuschelt er verlegen, fügt dann aber hinzu: «Wobei das ja ganz offensichtlich nicht heißt, dass ich die Dinge verlernt habe.»

Ich merke, ich muss deutlicher werden. «Hören Sie, wenn Sie sich als Arzt verkleiden und den Leuten Mut machen, finde ich das ja noch irgendwie okay. Aber es ist schlicht unverantwortlich, dass Sie sich als Pilot ausgeben und eine vollbesetzte Passagiermaschine fliegen.»

Baumann schüttelt energisch den Kopf. «Unverantwortlich wäre es nur gewesen, wenn ich nicht eingesprungen wäre. Der Pilot, der die Maschine eigentlich hätte fliegen sollen, wäre aufgrund einer kleinen Kursabweichung mit einem Privatflugzeug kollidiert.» Baumann macht eine Kunstpause. «Nur ein Flüchtigkeitsfehler, aber niemand hätte diese Katastrophe überlebt.» Er wiederholt mit ernstem Gesicht: «Wirklich. Niemand.»

Ich habe mir zwar über Baumanns psychischen Zustand noch keine abschließende Meinung gebildet, aber schon jetzt ist klar, dass er ernste Probleme hat. «Und woher wissen Sie, dass es zu dieser Katastrophe gekommen wäre?», frage ich.

«Ich weiß es einfach», antwortet Baumann.

«Aha. Heißt das, Sie sind so eine Art Medium?», spekuliere ich.

Baumann schüttelt den Kopf. «Nein. Das nicht.»

Da er keine Anstalten macht, sich zu erklären, beschließe ich, ihn ein wenig zu provozieren. Vielleicht löst das seine Zunge. «Dann sind Sie vielleicht ein genialer Physiker, der so etwas wie eine Zeitmaschine erfunden hat?»

Baumann lächelt, schüttelt wieder den Kopf. «Nein. Auch das nicht. Ich hab zwar einiges erfunden, aber nichts davon war genial.»

«Aha. Und warum kennen Sie dann Gottes geheime Pläne?», frage ich. «Sind Sie vielleicht der liebe Gott höchstpersönlich?»

Baumann zuckt merklich zusammen, dann lacht er schallend. «Beeindruckend!», ruft er und wird von einem neuerlichen Lachanfall geschüttelt. Tränen laufen ihm über die Wangen. «Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Dr. Jakobi. Ich bin es wirklich.»

Ich stutze. Hat Baumann da gerade wieder eine Wahnvorstellung beschrieben, oder steigt er lediglich auf meinen Witz ein?

«Vor Ihnen sitzt der liebe Gott höchstpersönlich», erklärt mein Gegenüber und wischt sich die Lachtränen aus dem Gesicht.

Wir schweigen.

«Witzig», sage ich nach einer Weile und gebe mich unbeeindruckt. «Ich hab Sie mir immer anders vorgestellt.»

Baumann hebt den Zeigefinger und sagt mit gespielter Strenge: «Das ist verboten. Man darf sich kein Bild von mir machen.»

«Na, immerhin scheint Gott Humor zu haben», sage ich.

Baumann nickt. «Es bleibt Gott nichts anderes übrig, als die Dinge mit Humor zu nehmen.» Sein Lächeln verwandelt sich in einen Anflug von Melancholie. Nachdenklich schaut er zu Boden. «Es ist die Wahrheit, Dr. Jakobi. Ich bin es wirklich.» Er beugt sich vor und sieht mir nun direkt in die Augen. «Ich bin Gott. Und ich bin, unter uns gesagt, ziemlich im Arsch. Es wäre also schön, wenn Sie mir helfen könnten, Doktor.»

Langsam greife ich nach meiner Tasse, führe sie bedächtig zum Mund und nehme einen kleinen Schluck. Dann noch einen. Und dann noch einen. Es ist ein Ritual, um Zeit zu gewinnen. Immer, wenn ich eine Denkpause brauche, aber dafür die aktuelle Sitzung nicht unterbrechen will, trinke ich ein paar Schlückchen Kaffee in Zeitlupe.

Im Geiste fasse ich zusammen: Mein neuer Patient leidet an einer schweren schizophrenen Psychose, die sich einerseits darin äußert, dass er wechselnde Identitäten annimmt, um die Welt zu verbessern. Andererseits hat Abel Baumann die immerhin originelle Wahnvorstellung, nicht nur irgendein Auserwählter zu sein, sondern Gott höchstpersönlich. Unklar ist noch, ob wir wirklich die gleiche Person meinen, wenn wir von Gott sprechen. Es gibt ja eine Menge Menschen in Politik und Wirtschaft oder auch im Showgeschäft, die sich für Götter halten, ohne gleich biblische Dimensionen für sich zu beanspruchen. Ich beschließe, hier einzuhaken. «Wen oder was meinen Sie genau, wenn Sie von Gott sprechen?»

Baumann lacht. «Welchen Teil von Gott haben Sie denn nicht verstanden, Dr. Jakobi?»

«Sie wollen mir also sagen, dass Sie Gott, der Allmächtige, sind», präzisiere ich.

«Gott, der Allmächtige», wiederholt Baumann und schmeckt den Wörtern nach. «Das ist leider lange her. Ich bin nicht mehr allmächtig. Wenn ich es noch wäre, dann säßen wir jetzt nicht hier.»

«Gott ist nicht allmächtig?», wundere ich mich.

«Nicht die Bohne», bestätigt Baumann.

«Aber das war nicht immer so», werfe ich ein.

«Nein. Die ersten Probleme haben sich zwar schon vor langer Zeit angekündigt, aber so richtig schlimm ist es vor etwas mehr als zwanzig Jahren geworden.»

Ich ahne, dass wir uns dem Trauma nähern, das für Baumanns Psychose verantwortlich oder zumindest mitverantwortlich sein könnte. «Es gab also einen konkreten Auslöser.»

Baumann nickt, zögert aber, weiterzusprechen.

Ich mache eine aufmunternde Geste, doch er schüttelt den Kopf und lehnt sich wieder zurück. «Heute nicht. Unsere Zeit ist gleich rum.»

Erstaunt schaue ich auf die Uhr. «Nein. Wir haben noch genug Zeit. Außerdem habe ich sowieso gerade nichts Besseres vor.»

«Doch», sagt Baumann. «Sie werden gleich freigelassen. Ich muss leider noch eine Weile hier bleiben. Aber das ist kein Problem. Gegen Abend komme ich auch raus.»

Hab ich was nicht mitbekommen? Ich erhebe mich und schaue durch das kleine vergitterte Türfenster. «Niemand da», verkünde ich.

Einen Atemzug später wird am Ende des Ganges eine Tür entriegelt, und Polizeioberrat Schavinski erscheint in Begleitung einer seiner Mitarbeiter.

Erstaunt blicke ich zu Baumann.

Der zuckt mit den Schultern. «Ein bisschen was hab ich schon noch drauf», sagt er. «Immerhin bin ich ja Gott.»

Die Zellentür öffnet sich, und Schavinski tritt ein.

«Ihr Bruder wartet draußen. Sie können gehen. Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns.» Er blickt zu Baumann. «Sie müssen leider noch eine Weile hierbleiben. Aber wir arbeiten dran, dass Sie heute auch im eigenen Bett schlafen können.»

«Rufen Sie mich an?», frage ich Baumann.

Der nickt, zieht eine Visitenkarte hervor und drückt sie mir in die Hand. «Falls Sie in der Gegend sind, schauen Sie einfach vorbei.»

Ich werfe einen kurzen Blick auf die Karte. «Keine Telefonnummer?»

«Brauch ich nicht. Ich weiß, wenn Sie kommen.»

Der Revierleiter wirft mir einen besorgten Blick zu.

«Mein Patient macht Witze», sage ich und stecke die Karte in meinen Bademantel.

Gott ist unterwegs

Mein Bruder trägt teuren Zwirn, lehnt lässig an seiner Nobelkarosse und raucht eine Filterlose. «Du siehst scheußlich aus», sagt er zur Begrüßung.

«Ich freu mich auch, dich zu sehen», erwidere ich und öffne rasch die Beifahrertür, weil ein eiskalter Wind durch meinen Bademantel weht.

Jonas schnippt seine Zigarette weg, steigt ein und startet den Motor. Dann greift er nach einer Packung Nikotinkaugummis und schiebt sich eines in den Mund. «Stell dir vor! Mit diesen Dingern bin ich jetzt schon runter auf zwanzig am Tag. Toll, oder?» Er lässt den Wagen langsam in den stockenden Verkehr rollen.

«Toll», bestätige ich. «Dein Husten klingt auch schon viel heller.»

Er nickt zufrieden. «Perspektivisch will ich es mir ja ganz abgewöhnen», sagt er. «Geht nur gerade im Moment nicht. Zu viel Stress.»

Eine Weile kämpfen wir uns schweigend durch die mittägliche Rushhour.

«Jakob?»

«Mm?»

«Wie schlecht geht es dir eigentlich wirklich?» Es klingt, als wäre er auf eine höchst dramatische Weise beunruhigt. Den Hang zum Theatralischen hat er von Mutter geerbt.

Da ich keine Lust habe, mit meinem erfolgreichen Bruder über meine Misserfolge zu reden, sage ich: «Gut. Sie tut kaum noch weh.»

Er wirft mir einen ärgerlichen Seitenblick zu. «Du weißt ganz genau, dass ich nicht deine Nase meine.»

«Sondern?», frage ich mit gespieltem Erstaunen. Es ist ein absichtlich schlecht gespieltes Erstaunen.

Jonas verdreht genervt die Augen. «Ich meine natürlich deine finanzielle Situation. Abgesehen davon finde ich es etwas beunruhigend, wenn ich meinen Bruder bei der Polizei aufgabeln muss.»

«Ich hab einem Patienten geholfen», sage ich. «Und was meine finanzielle Situation betrifft: Geht so.»

«Hab ich mir fast gedacht. Brauchst du Geld?»

«Nein. Ich komm schon über die Runden.»

«Mutter macht sich aber Sorgen», sagt er, und wieder ist da dieser Anflug von Pathos in seiner Stimme.

«Ich weiß», erwidere ich. «Das ist ihr großes Hobby, seit Vater tot ist. Das hat aber nichts mit mir zu tun. Sie kompensiert nur, dass es niemanden mehr gibt, den sie bemuttern kann.»

«Sie hat Vater nicht bemuttert.» Jonas sagt es mit Nachdruck. Wie immer, wenn wir im Gespräch an diesen Punkt kommen, will er der Wahrheit nicht ins Auge sehen.

«Sie hat ihm Papieruntersetzer unters Glas geschoben, damit er beim Saufen keine Kringel auf den Tisch macht. Und sie hat stillschweigend die Karaffe mit seinem Fusel nachgefüllt. Wenn du mich fragst, dann hat sie ihn nicht nur bemuttert, sie hat ihn zu Tode bemuttert.»

Jonas schnauft verärgert. «Jakob, du bist ein ganz schlimmes Schandmaul.»

«Ich vermute, das liegt in der Familie», erwidere ich.

Jonas hat gar nicht zugehört. «Und du bist undankbar», fährt er fort. «Wir wollen dir ja schließlich nur helfen.»

Das stimmt sogar, allerdings ist der Preis, den ich dafür zahle, hoch. Als ich meinen Bruder zuletzt angepumpt habe, musste ich mir einen sehr langen Vortrag über die moralische Verkommenheit von Leuten mit Konsumschulden anhören. Dabei hatte ich gar nicht vor, mit seinem Geld einen Teleshoppingkanal leer zu kaufen, ich wollte nur die nächste Miete finanzieren. Damals dachte ich irrtümlicherweise noch, meine Pechsträhne wäre nicht von Dauer. Jedenfalls habe ich an diesem Tag begriffen, dass mein Bruder nur Banker geworden ist, damit er sich moralisch überlegen fühlen kann. Im Grunde verachtet er Armut als ein Zeichen von Schwäche.

Wenn Jonas mir jetzt generös von sich aus Geld anbietet, dann entweder, weil er etwas im Schilde führt, oder weil ich in seinen Augen endlich so tief gesunken bin, dass sein moralischer Sieg auf der Hand liegt.

«Ich kann dir nicht mal eben aus der Patsche helfen, wenn ich erst in Florida bin», erklärt Jonas. Klingt, als würde er mir alle paar Tage das Leben retten. Dabei ist es schon was Besonderes, dass er seine wertvolle Mittagspause opfert, um mich bei der Polizei aufzulesen. Eigentlich braucht Jonas seine Mittagspause nämlich, um durchzuarbeiten.

«Also, wenn du Geld brauchst, sag es einfach», setzt er nach. «Und sag es bitte bald.» Er lässt sein Fenster heruntersurren, zieht eine Zigarette hervor und zündet sie an.

Es wird binnen zwei Sekunden arschkalt. Da ich meinem Bruder in seinem eigenen Wagen nicht das Rauchen verbieten will, schweige ich und kuschele mich, so gut es geht, in meinen Bademantel. Die gefühlte Temperatur liegt trotzdem unterhalb des Gefrierpunktes. Bald fühlen sich meine Lippen taub an, und ich schlottere ein wenig.

«Ist dir kalt?»

«Bisschen», sage ich zähneklappernd.

Er wirft die Zigarette hinaus und lässt das Fenster wieder hochsurren. «Sag doch was, Mensch!»

«Du hast mir noch nie Geld angeboten», stelle ich fest, als sich meine Körpertemperatur normalisiert hat. «Und du hast zuletzt Mittagspause gemacht, als es eine Bombendrohung in deiner Bank gab.»

Jonas wirft mir einen irritierten Seitenblick zu. Er wirkt verunsichert.

«Willst du mir nicht einfach sagen, was du wirklich auf dem Herzen hast?»

Er wirkt ertappt, greift nach seinen Nikotinkaugummis, steckt sich gleich zwei in den Mund und überlegt. Ich warte.

Endlich räuspert er sich. «Die Wahrheit ist, dass ich die Schnauze voll habe vom Finanzsektor. Ich werde zwar nach Florida ziehen, aber nicht, um dort einen neuen Job anzunehmen. Meine Kündigung liegt schon bei der Bank.»

Hoppla. Ich habe zwar mit Neuigkeiten gerechnet, aber nicht mit einer solch fetten Schlagzeile. Mein Bruder, Mutters Musterknabe, schmeißt die Brocken hin, weil ihm sein persönliches Glück wichtiger ist als das Ansehen der Familie. Respekt.

«Mutter wird dich töten», sage ich.

Er nickt. «Deswegen darf sie es nie erfahren. Als du im Krankenhaus gewitzelt hast, dass sie doch mit in die Staaten ziehen könnte, hab ich fast einen Herzschlag bekommen. Stell dir vor, sie hätte die Idee toll gefunden!»

«Sie darf es nie erfahren?», wiederhole ich perplex. «Bist du sicher, dass du dir als erwachsener Mann solche albernen Versteckspiele antun willst?»

«Fragst du mich das als Bruder oder als Psychotherapeut?»

Guter Einwand. Muss ich selbst mal drüber nachdenken.

«Jakob, du weißt doch, wie sie einen mit ihren gutgemeinten Ratschlägen verfolgen kann. Ich brauche jetzt erst mal ein paar Monate, um den Kopf frei zu kriegen.»

«Hast du Geld?», frage ich. «Soll ich dir was pumpen?»

Er grinst, fischt eine Zigarette aus seinem Sakko und lenkt den Wagen an den Straßenrand. Wir sind da.

«Versprichst du mir, dass diese Sache unter uns bleibt?»

«Keine Sorge. Ich schweige», sage ich. «Und danke fürs Bringen.»

Er nickt zufrieden. «Brauchst du noch irgendwas?»

Ich schüttele den Kopf und lasse die Autotür ins Schloss fallen. Jonas hebt zum Gruß die Hand und gibt Gas.